Du sollst nicht töten - Jürgen Todenhöfer - E-Book

Du sollst nicht töten E-Book

Jürgen Todenhöfer

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Beschreibung

Jürgen Todenhöfer mit einem sehr persönlichen Plädoyer für den Frieden

»Wieso darf man Kinder töten?« Auf diese Frage bekommt Jürgen Todenhöfer schon als Kind nach dem Bombenangriff auf Hanau 1945 keine Antwort. Heute, nachdem er viele Jahre damit verbracht hat, Kriegsgebiete zu bereisen, Menschen dort zu erkennen, wo andere nur Feinde sehen wollen, erinnert er sich und stellt wieder die alles entscheidende Frage: »Wie kann, was im eigenen Land als schändliches Verbrechen gilt, außerhalb der Grenzen eine Heldentat sein?«

Sein Buch, das sich vornehmlich aus seinen dramatischen Erlebnissen während des Arabischen Frühlings speist, legt Zeugnis ab von Hass, Demütigung und Vernichtung – gestern und heute. Immer wieder fragt er sich, warum Menschen moralische Grenzen überschreiten. Nicht nur jene, die vergewaltigen, foltern und töten, sondern auch jene, die am Schreibtisch andere aussenden »zur Verteidigung« von Freiheit und Frieden. Immer wieder konfrontiert Jürgen Todenhöfer das Bild, das öffentlich von Kriegen gezeichnet wird, mit der Realität vor Ort. Er gibt den Namenlosen ein Gesicht und zeigt uns unsere beschämenden Feindbilder.

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Seitenzahl: 596

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Jürgen Todenhöfer

Du sollst nicht töten

Mein Traum vom Frieden

C. Bertelsmann

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1. Auflage

© 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Die Fotos im Bildteil stammen, sofern nicht anders angegeben, von Julia Leeb, Frédéric Todenhöfer und Belal El-Mogaddedi.

Die Rechte liegen beim Autor.

Karten: Peter Palm, Berlin

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12036-8V002www.cbertelsmann.de

Wir haben die Sklaverei, die Hexenverbrennung, den Kolonialismus, den Rassismus und die Apartheid überwunden. Wenn es uns gelingt, auch noch den Krieg zu ächten, hat die Menschheit einen großen Schritt nach vorne getan.

Jürgen Todenhöfer

Ist es dir nie rätselhaft vorgekommen, dass es boshaft ist, einen Menschen zu töten, aber ruhmreich, zehntausend zu töten?

Lewis Fry Richardson im sokratischen Dialog mit Shakespeares Portia

FürAbdul Latif

Über sieben Monate war ich 2011 bis 2013 im Mittleren Osten unterwegs. Da ich ahnte, dass es zu großen Umwälzungen kommen könnte, nahm ich stets Zeugen mit. Julia, Frédéric, Belal und Khaled. Manchmal waren wir zu zweit, manchmal zu viert.

Meine Begleiter führten jeden Tag Protokoll. Oft bis tief in die Nacht hinein. Und sie fotografierten, so viel sie konnten. Von manchen Reisen besitze ich drei Protokolle sowie meine persönlichen Notizen. Mir war wichtig, alles, was ich erlebte, belegen zu können. Eine innere Stimme sagte mir, dass vieles bestritten würde. Wie gut, dass ich auf sie gehört habe.

Beim Schreiben des Buches habe ich von den Niederschriften meiner Begleiter kräftig profitiert. Dafür danke ich meinen Weggefährten. Vor allem aber danke ich ihnen dafür, dass sie unendlich viel riskiert haben, um diese Beschreibung von Krieg, Bürgerkrieg und Revolution aus nächster Nähe zu ermöglichen. Abdul Latif hat dafür sein Leben gegeben.

Inhalt

Prolog

Die Fahrt nach Brega

Der Angriff

I. Am Ende bleiben nur Tränen

Frühe Begegnungen mit dem Krieg

Die Zerstörung Hanaus

Abrechnung in Algier

Die Krise von Bizerta

Das Massaker von Wiriyamu

Die Sowjets in Afghanistan

Der Tod des Mudschahid

Die Krankenhäuser Pakistans

Spielzeugbomben

Die Kriege des George W. Bush

Terrorzuchtprogramme

Kriegslügen zu Afghanistan

Die Trauerfeier von Asisabad

Spoghmai und Esmatullah

Das Treffen mit den Taliban

Die Tat des Oberst Klein

Irrfahrt nach Bagdad

Manal

Marwa

Dschamal

Unsinnige Aktionen gegen unsinnige Kriege?

Die Kinder von Kunduz

Karsai und der Taliban-Führer

Das Haus der Hoffnung

II. Droge Krieg

Kriegslust

Die Vergewaltigung der Sprache

Die Dämonisierung des Gegners

Feindbild Islam

Die edlen Vorwände

Kriegsruhm

Die Freude am Töten

Jack und das »schöne Töten«

Das Märchen vom anständigen Krieg

Gibt es »gerechte« Kriege?

Süßigkeiten statt Bomben

El-Alamein

III.Der Aufbruchversuch der arabischen Welt

Schicksalstage in Kairo

Revolutionäre Tage in Libyen

IV. Sonderfall Syrien

Wo, bitte, geht es hier zur Revolution?

Daraa, die verbotene Stadt

Die Festnahme

Das Freitagsgebet in der Umayyaden-Moschee

Tanaya, das Straßenmädchen aus Bagdad

Hohn in Deutschland

Auf der Suche nach der Wahrheit

Staatsfeind

Demonstrationen für Assad?

Maaloula – ein aramäisches Märchen

Im Taxi nach Homs und Hama

Scheherazad

Die Gefangenen von Damaskus

Der Marxist Al-Khayyer

In Jeans zu Assad

Assads Feinde, Assads Freunde

Der Großmufti

Zur Freitagsdemo nach Homs

Die Toten von Al-Dschasira

Im Kreuzfeuer

Der Informations-GAU

Massaker-Marketing

»Osama im Laden«

Audiatur et altera pars

Die Zivilcourage eines jungen Journalisten

Gegen den Strom

E-Mails an Scheherazad

Die Schreibtischstrategen schlagen zurück

INTERMEZZO ZWISCHEN ZWEI REISEN

Die Fahrt nach Gaza

Der Jahrestag der ägyptischen Revolution

V. Die syrische Tragödie

Syrien mit Frédéric

Der Rebell von Baba Amr

Die Krankenhäuser von Damaskus

Der Patriarch

Sinan, der Rebell von Homs

Die Todesstraße nach Damaskus

»Gebt einander ein Zeichen des Friedens!«

Das Interview mit Assad

Der schroffe Empfang

Fußball-Europameisterschaft in Damaskus

Die Scharfschützen des Regimes

Wenn Demonstranten töten

Ahmad aus Hula

Vorgespräch mit Assad

Das Interview

Der Abend mit Al-Qaida

Skypen mit Rebellen aus Homs

Der syrische Knoten

Das Kidnapping einer Revolution

Die Gnadenlosigkeit beider Seiten

Die Unwahrheiten des Westens in einer Nussschale

Die Legende vom Kampf um Demokratie

Die Aufgabe der USA

Assad oder Al-Qaida

Der Siegeszug Al-Nusras

Verhandlungen mit den USA?

Gedanken zum Frieden …

… zum Tod

… und zum Rücktritt

VI. Eine andere Sicht auf Iran

Iran, Israel und die Juden

Die Holocaust-Rede in Teheran

Bei den Ayatollahs von Ghom

Der nukleare Wahnsinn

Amerikanisch-iranische Sprachlosigkeit

Die Reise zum US-Geheimdienst

Die starken Nerven des Botschafters

Mein jüdischer Freund in Teheran

Im »Großen Basar«

Die Heimat Khomeinis

Traumstadt Isfahan

Will Iran die Bombe?

Schabbat in Teheran

Im Uralt-Reaktor von Teheran

Die Witwe des Atomforschers

Hochzeiten in Teheran

Epilog Das libysche Drama

Die Flucht

Der Marsch durch die Wüste

Rettung?

Der Tag danach

Passlos in Kairo

Die Heimreise

Die Rückkehr zur Familie des Freundes

Der Bericht des Bruders

Die libysche Mama

Das Kriegsvideo des Gaddafi-Kämpfers

Intervenieren – ja oder nein?

Der Friedhof der Panzer

Die Gefangenen von Bengasi

Der kleine Held

Das Festmahl

Die Augen Abdul Latifs

Der Fall von Tripolis

Die Nacht mit Gaddafis Berater

Aimans Raserei

Endlich Tripolis

Die Plünderer von Bab Al-Aziziya

Gaddafis Luxus-Jet

Die Wüsten-Nonne

Die Blitzbefreiung

Die Freiheitsfeier

Die Verlierer der Revolution

Gaddafis Tod

Rückkehr ins Tal der Flammen

Orts- und Sachregister

Personenregister

BILDTEIL

Ägypten

Gaza

Syrien

Irak

Iran

Afghanistan

Libyen

Prolog

Die Fahrt nach Brega

Montag, 14. März 2011, 14 Uhr.

Auf einer Wüstenstraße fahren wir in unserem silbergrauen Hyundai Richtung Brega. Wir – das sind mein 54-jähriger libyscher Gastgeber Abdul Latif, der 21-jährige dunkelhäutige Libyer Yussuf, die 30-jährige deutsche Videojournalistin Julia Leeb und ich. Unser Ziel ist die kleine libysche Ölstadt Brega. Sie liegt rund 200 Kilometer südwestlich von Bengasi. In Bengasi hatte vor vier Wochen die Revolution begonnen. Drei Tage später hatten Gaddafis Truppen die Stadt verlassen und sich Richtung Brega zurückgezogen. Jetzt ist angeblich auch Brega befreit.

Die Farbe des Himmels hebt sich kaum vom Grau der Wüste ab. Immer wieder wirbelt der Wind die Sandkörner meterhoch auf und peitscht sie gegen die Windschutzscheibe. Die Landschaft wirkt unwirtlich, abweisend. Nirgendwo ein Zeichen von Leben.

Doch die Stimmung im Auto ist fast überschwänglich. Wo Abdul Latif ist, herrscht gute Laune. Seine Herzlichkeit verzaubert alle Menschen. Seit er vor drei Tagen im regnerischen Tobruk sein Haupt mit den wallend weißen Haaren lachend durch das Fenster unseres Autos steckte, nenne ich ihn »my smiling hero – meinen lächelnden Helden«. Ich hatte ganz vergessen, dass es so positive Menschen gibt.

Heute ist für Abdul Latif ein besonderer Tag. Er ist nicht nur berauscht vom Hochgefühl der arabischen Revolution. Er freut sich auch spitzbübisch, dass er den Rebellenführer der Region Adschdabiya/Brega, General Suleiman Mahmoud, überlistet hat. Der kahlköpfige Mann mit dem grauen Bismarck-Schnauzer hatte Julia und mir einen langen Vortrag über Clausewitz und Rommel gehalten. Als er erfuhr, dass ich Rommels Sohn mehrfach getroffen hatte, leuchteten seine Augen. Doch dann erklärte er umso entschiedener, eine Weiterfahrt nach Brega komme nicht infrage. Da sei gestern noch gekämpft worden. Menschen, die die Rommel-Familie persönlich kannten, seien für solche Abenteuer »viel zu wertvoll«. Er war stolz auf diese merkwürdige Begründung.

Für mich war die Fahrt nach Brega damit erledigt. Ernüchtert waren wir in Abdul Latifs Auto gestiegen und hatten von der Entscheidung des Clausewitz-Generals berichtet. Als Abdul Latif unsere Enttäuschung sah, blitzten seine Augen schalkhaft.

Er wusste längst, wie er uns nach Brega bringen würde. Während er auf uns gewartet hatte, hatte ihn Yussuf, ein junger Libyer, gefragt, ob er nach Brega mitkommen könne. Er habe dort Familie. Er wisse einen Schleichweg durch die Wüste. Sicherheitshalber hatte Yussuf auch noch bei seiner Familie angerufen. Sie hatte bestätigt, dass die Ölstadt frei sei. Das Gleiche hatte ein langes Telefonat Abdul Latifs mit einem seiner besten Freunde in Brega ergeben.

Die Truppen Gaddafis, die die Stadt tagelang besetzt hatten, waren demnach abgezogen. Wir würden die Möglichkeit erhalten, mit Libyern zu sprechen, die die Besetzung erlebt hatten. Die schildern konnten, ob die Berichte der Medien über Massenerschießungen und Massenvergewaltigungen zutrafen. Die darlegen konnten, was Dichtung und Wahrheit war. Abdul Latif weiß, dass es genau das ist, was ich herausfinden will.

»Sie wissen doch, uns hält niemand auf«, lacht er. Dann singt er mit seiner rauchigen Stimme nicht ganz notenrein: »Yes, with a little help from my friends.« »Beatles«, sage ich. »Nein, Joe Cocker«, schmunzelt er. Er liebt Joe Cocker, Pink Floyd und Tangerine Dream.

Ein Sandsturm kommt auf. Abdul Latif lehnt sich weit nach vorn, um die Piste nicht zu verfehlen. Trotzdem kommen wir immer wieder vom Weg ab und rattern durch holpriges Wüstengelände. Der Sturm legt sich, aber es bleibt düster. Yussuf fotografiert unablässig mit seinem Handy, obwohl kaum etwas zu sehen ist. Am liebsten macht er Aufnahmen von Julia.

Plötzlich tauchen wie aus dem Nichts in der Ferne drei dunkle Punkte auf. Flimmernd nähern sie sich, werden größer, bedrohlicher. Da sie aus dem Gegenlicht kommen, können wir nicht erkennen, ob es Schützenpanzer oder mit Artillerie ausgestattete Pritschenwagen sind. Langsam, ihre Scheinwerfer auf- und abblendend, kommen sie auf uns zu. Im Irakkrieg hatten entgegenkommende blinkende Fahrzeuge immer höchste Gefahr bedeutet. Ihr Signal hieß: »Sofort Weg freimachen!« Wer nicht schnell genug reagierte, wurde weggeschossen. In den Hauptkampfjahren 2004 bis 2007 waren die Autobahnen des Irak gesäumt von ausgebrannten Fahrzeugen, deren Fahrer das zu spät verstanden hatten.

Abdul Latif fährt sofort an den Rand der Piste und stellt den Motor ab. Atemlos warten wir ab. Selbst als die düsteren Fahrzeuge sich bis auf 50 Meter genähert haben, sehen wir nur, dass es sich um Pickups, um Pritschenwagen, handelt. Ob sie Gaddafi-Kämpfer oder Rebellen transportieren, können wir nicht feststellen. Ihre Geschütze sind auf uns gerichtet.

Yussuf ist grau um die Nase, die tapfer filmende Julia bleich. »Freund oder Feind?«, frage ich Abdul Latif leise. Auch er weiß es nicht. Soldaten und Aufständische sehen hier meist gleich aus. Doch plötzlich reißt Abdul Latif die Senussi-Flagge der Rebellen hoch und hält sie gegen die Windschutzscheibe. An irgendetwas muss er erkannt haben, dass es Rebellenfahrzeuge sind. Die Aufständischen veranlasst das nicht, die Richtung ihrer Geschütze zu ändern. Sie schauen uns finster an. Wenige Meter vor uns halten sie.

Abdul Latif greift zu seiner Geheimwaffe, meinem ins Arabische übersetzten Buch Warum tötest du, Zaid?. Es hat uns in den drei Tagen, die wir in Libyen sind, schon mehrere Türen geöffnet. Ein Deutscher, der ein Buch in arabischer Sprache veröffentlicht, kann kein Feind sein, dachten die meisten. Wenn uns jemand mit Misstrauen begegnete, hatte Abdul Latif blitzschnell das Buch hervorgezogen und daraus vorgelesen. Selbst Mustafa Abd Al-Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, war einer Lesung nicht entkommen. Zehn Minuten lang musste sich das frischgebackene Oberhaupt des freien Libyen in der Rebellenstadt Al-Baida Auszüge aus dem Zaid anhören. Vor allem jene, die Libyen betrafen.

Unsere Wüstenrebellen sehen allerdings wie eine Räuberbande aus, die nur selten Bücher in die Hand nimmt. Doch Abdul Latif kennt kein Erbarmen. Noch während sie ihm ihre Waffen vor die Nase halten, beginnt er seinen Vortrag. Dabei deutet er mehrfach fast theatralisch auf mich. Unerschrocken kämpft seine Stimme gegen den heulenden Wind an, der fast zum Orkan angeschwollen ist. Staunend schauen die Kämpfer zu, wie Abdul Latif, einem Wüstenprediger gleich, mit ausladenden Gesten aus meinem Buch vorliest. Die Szenerie ist skurril.

Abdul Latif ist von seinem Vortrag selbst so mitgerissen, dass er auf Englisch schließt: »Die Russen und die Amerikaner haben uns nicht aufgehalten. Ihr werdet das jetzt auch nicht tun.« Dann lacht er sein herzliches Lachen, dem noch niemand widerstanden hat.

Sein Vortrag mitten in der Wüste ist so spektakulär, dass einige der Rebellen Beifall klatschen. Einer will mir gleich seine Kalaschnikow schenken. Aber ich lehne dankend ab. Auch weil Julia filmt. »Meine Waffe ist die Feder«, sage ich und bin froh, dass der Wind die pathetischen Worte gleich wieder fortträgt. Eine Diskussion über die Revolution beginnt. Dann bekommen wir alle eine Dose Maracujasaft. Dankbar trinken wir das süße Zeug. Es ist das erste Getränk seit heute morgen.

In der Zwischenzeit werden wir von zwei weißen Pkws überholt. Seine Insassen, darunter ein Kleinkind, winken uns fröhlich zu. Sie haben Gepäck auf dem Dach und wollen offenbar auch nach Brega. Wir nehmen nun die Warnungen der Rebellen nicht mehr ganz so ernst. Wenn Familien mit Kindern durchkommen, schaffen wir das auch.

Nach herzlichen Umarmungen und dem unvermeidlichen Siegeszeichen geht es weiter. Die Rebellen hätten uns am liebsten eskortiert. Aber das haben wir überall abgelehnt. Auch in Brega wollen wir nicht mit bewaffneter Begleitung einfahren.

Abdul Latif gibt uns Datteln. Er selbst isst nur eine, weil er Diabetiker ist. Er erzählt uns, dass die Beduinen den Kern der letzten Dattel stets im Mund behalten. Er rege den Speichelfluss an und vermindere den Durst. In der Wüste könne das lebenswichtig sein.

Es gibt einen weiteren Grund, warum Abdul Latif heute so guter Stimmung ist. Er hatte frühmorgens einen Brief an Abd Al-Dschalil entworfen, in dem er aufzeigte, wie man eine NATO-Intervention noch vermeiden könne.

Wir haben über diese Frage in den letzten Tagen stundenlang diskutiert. Abdul Latif ist wie ich der Auffassung, dass eine Verhandlungslösung noch immer möglich ist. Die Alternative zur militärischen Intervention sei eine diplomatische Offensive. Ban Ki-moon, der sich bisher meist nur als Angsthase profiliert habe, müsse in Begleitung von Blauhelmen sofort nach Bengasi – als persönlicher Garant für die Sicherheit der Bevölkerung. Sarkozy und Berlusconi, die bekanntlich gute Freunde Gaddafis seien, müssten gleichzeitig zu Gesprächen nach Tripolis. Gaddafi werde sich diesen Verhandlungen nicht entziehen. Der persönliche Kontakt zu den Führern des Westens sei ihm stets wichtig gewesen.

Gleichzeitig sollten die arabischen Staaten demonstrativ die Lieferung einer eng begrenzten, symbolischen Zahl von Flugabwehrraketen an die Rebellen vorbereiten, um Gaddafi von Luftangriffen abzuschrecken. Parallel solle die UNO vor Bengasi und Tripolis Flottenverbände aufkreuzen lassen und eine wirksame Drohkulisse aufbauen.

Morgen will Abdul Latifs Sohn diesen Brief dem Revolutionsführer überbringen. Am Tag danach will Abdul Latif noch einmal zu ihm fahren. Gemeinsam mit mir. Er glaubt fest, dass wir ihn umstimmen können. Diplomatie und Abschreckung seien sinnvoller als Militärschläge der NATO.

Eine Befreiung Libyens durch die früheren Kolonialmächte hält er für absurd. Die Tunesier und Ägypter hätten ihre Revolutionen auch ohne die NATO geschafft. In Libyen sei bereits zu viel Blut geflossen. Auch die Soldaten Gaddafis seien Libyer. Die wenigsten seien Söldner aus Schwarzafrika, wie der Westen behaupte.

Abdul Latif beginnt zu erzählen. Wie sehr er den Westen bewundere, den er als Importeur von Arzneimitteln jedes Jahr bereist. Sogar die Italiener, die sein Land jahrzehntelang ausgebeutet hatten, mag er. Auch wenn er gern über ihre Eitelkeiten lacht. »Man muss verzeihen können«, meint er. »Das Leben ist zu kurz, um zu hassen.«

Dann spricht er über den Tod, den er als sufistisch geprägter Muslim nicht fürchtet. Wie alle Muslime wünsche er sich eine Erdbestattung. Als ich erkläre, dass ich für eine Feuerbestattung sei, schüttelt er lachend den Kopf. Das sei keine gute Idee. Darüber müssten wir noch mal sprechen. Außerdem würde ich noch gebraucht. Ich halte lachend dagegen, er werde viel mehr gebraucht. Von hinten kräht Julia aus Spaß dazwischen, das letzte Hemd habe offenbar viele Taschen. Wie meine Windjacke. Es ist ein ungewöhnlich heiteres Gespräch über den Tod.

Da wir uns nicht einigen können, wer mehr gebraucht werde, versprechen wir uns feierlich, in jedem Fall vorher noch gemeinsam in Tripolis die Befreiung Libyens zu feiern. Und anschließend ein paar Tage auf meiner Berghütte im Südtiroler Sulden zu verbringen. Um über Gott und die Welt zu diskutieren. Über den Sufismus und seine Philosophie der Freundschaft, Toleranz und Liebe.

Abdul Latif telefoniert zwischendurch mehrfach mit Freunden in Brega. Doch 30 Kilometer vor Brega, dort, wo die Sandpiste wieder in eine asphaltierte Straße übergeht, bricht der Empfang ab.

Plötzlich sehen wir, verteilt auf einer Strecke von etwa hundert Metern, sechs ausgebrannte Autos. Ich bitte Abdul Latif anzuhalten. »Why not?«, antwortet er wie üblich. Dann setzt er wegen des kalten Windes seine schwarze Zipfelmütze auf und steigt aus.

»Tal der Flammen« heiße der Ort hier, murmelt er. Julia beginnt zu filmen. Während wir zu den Autowracks gehen, ziehe ich meine Windjacke an. Die mit den vielen Taschen. Der Wind reißt sie mir fast aus der Hand.

Die Szenerie ist furchteinflößend. Die meisten der Pkws haben – als sie beschossen wurden – versucht, zu wenden und über die Wüste zu entkommen. Ohne Erfolg. Der unsichtbare Schütze hat sie zu bizarren Gebilden zusammengeschossen. Wahrscheinlich enthielten seine Raketen Phosphor oder Napalm. Die Plastikteile der Wagen sind zusammengeschmolzen oder verbrannt.

Auf der Straße liegen frische Baguettes, eine unversehrte Schachtel französischen Käses sowie zwei unbeschädigte orangefarbene Ölarbeiterhelme. Sie waren möglicherweise auf dem Dach eines der Autos verstaut und bei der Explosion weggeschleudert worden. Abdul Latif und Yussuf beginnen, die Straße von den zahlreichen Trümmern der Autos zu räumen.

Der Angriff

Beim Aussteigen hatte ich noch gedacht, die Fahrzeuge seien am frühen Morgen oder am Vorabend beschossen worden. Doch dann sehe ich unter den Rädern zweier Wagen züngelnde Flammen. Mit Julia gehe ich zu einem dieser Fahrzeuge, um nach den Insassen zu suchen. Doch ich sehe nur Asche. Abdul Latif und Yussuf, die mir gefolgt sind, wenden sich ab. Sie gehen zu unserem Wagen zurück.

Plötzlich schießt mir durch den Kopf, dass ich möglicherweise vor einem der Autos stehe, das uns vorhin überholt und dessen Insassen uns fröhlich zugewinkt hatten. Dass das bisschen Asche auf den zerschmolzenen Metallsitzen ihre Überreste sind. Dass wir uns auf einem Hinrichtungsplatz befinden, den noch niemand lebend verlassen hat. Egal, ob wir wenden, weiterfahren oder stehen bleiben.

Ich will Julia, die hinter mir steht, zurufen: »Das ist eine Todesfalle.« Doch im selben Moment zischt – meine Gedanken überholend – eine Boden-Boden-Rakete an uns vorbei. Mit flachem Knall trifft sie unser Auto. »Deckung«, brülle ich Julia zu. »Geh in Deckung!«

Ich denke in diesem Augenblick noch, wir könnten uns hinter eines der ausgebrannten Autowracks werfen. Doch schon beginnen um uns herum krachend Artilleriegeschosse einzuschlagen. Dazwischen bellt kehlig ein Maschinengewehr und bestreicht die Straße.

Julia und Yussuf rennen verzweifelt Richtung Wüste. Mit erhobenen Händen. Sie wollen den Schützen zeigen, dass sie unbewaffnet sind. Aber das haben die bestimmt längst gesehen. Sie jagen Julia und Yussuf wie Hasen. Prasselnd, zischend schlagen ihre Geschosse neben, hinter, vor ihnen ein. Auch dicht bei mir.

Wo ist Abdul Latif? Sein Auto ist ein riesiger rotgelber Feuerball, eingehüllt in eine sich aufwölbende tiefschwarze Rauchwolke. Ich will auf die Flammenkugel zugehen. Doch Yussuf schreit fast hysterisch von Weitem: »Go, go, Abdul Latif dead!« Ich rufe ihm ungläubig nach: »Wo ist Abdul Latif?« Keuchend brüllt Yussuf zurück: »Abdul Latif killed, come, come!« Dann entschwinden Yussuf und Julia Deckung suchend in die Wüste.

Es ist schwer, die Gefühle dieser Sekunden zu beschreiben. Die totale Verblüffung über den Überfall auf diesem harmlosen Stück Wüstenstraße. Das Wissen, in einer Falle zu stecken. Die dumpfe Ahnung, dass dies die letzten Augenblicke unseres Lebens sein könnten. Das erdrückende Gefühl, Verantwortung für unsere kleine Gruppe zu haben.

Ich kann und will nicht losrennen. Ich will nicht fort von der Straße, auf der ich vor wenigen Minuten noch mit Abdul Latif über seine Zipfelmütze gewitzelt habe. Fast magisch zieht es mich zu dem Feuerball hin, der sein Auto war. Julia erzählt später, ich hätte mich trotz des Eisenhagels kaum bewegt. Mehrfach hätte ich mich ungläubig umgedreht. Irgendwann habe sie nur noch nach vorne geblickt und nicht mehr zurückgeschaut. Auch aus Angst, mich das nächste Mal nicht mehr zu sehen.

Mir ist klar, dass ich von der Straße runter muss. Unentwegt schlagen hier surrend, rauschend Artilleriegeschosse und Maschinengewehrgarben ein. Jeden Augenblick kann der Raketenschütze eine weitere punktgenaue Boden-Boden-Rakete abfeuern. Ich muss weg. Doch wohin? Die Einschläge zerschellen nicht nur auf der Straße, sie wühlen auch die Wüste auf.

Wie in Trance folge ich Julia und Yussuf, die hinter einer Sanddüne verschwunden sind. Doch das wütende Artilleriefeuer, das Zischen, Pfeifen, Dröhnen gehen weiter. Es wirbelt den Sand auf, nimmt mir die Sicht.

Abdul Latif ist tot, und ich vielleicht bald auch. Ich spüre, dass alles entschieden ist, und gehe noch langsamer. Man kann seinem Schicksal nicht entkommen. Stets hatte ich geahnt, dass dieser Augenblick eines Tages kommen würde. Ich hatte mir vorgenommen, nicht davonzulaufen, sondern das letzte Stück des Weges mit Anstand zu Ende zu gehen. Außerdem bin ich gar nicht mehr in der Lage zu rennen. Meine Beine sind schwer wie Blei, während um mich herum der Tanz des Teufels weitergeht.

Julia und Yussuf liegen längst hinter einem zwei Meter hohen Sandhügel. Yussuf fragt, wo ich bleibe. Julia antwortet tonlos: »Der kommt nicht mehr.« Sie wagt nicht, über die Düne zu schauen. Aus Angst, entdeckt zu werden. Aber auch weil sie die Gewissheit fürchtet, dass ich nicht mehr kommen würde. Nur gelegentlich hält sie die Kamera hoch und drückt blind ab.

Doch auf einmal hat sie mich im Bild. Sie sieht auf ihrer Kamera, wie ich langsam auf den Dünenkamm zugehe. Kurz danach lasse ich mich neben ihr und Yussuf in den Sand fallen. Ich presse mein Gesicht in den Sand, um nicht zu zeigen, was ich fühle. Was um Himmels willen ist da in den letzten 15 Minuten geschehen? Alles ist völlig irreal. »Tod durch Gaddafi – in der libyschen Wüste ermordet«, das konnte doch nur ein Albtraum, ein schlechter Film sein. Irgendwann musste dieser Irrsinn zu Ende sein.

Aber er geht weiter. Die Schützen Gaddafis nehmen nun das Gelände rund um unsere Düne großflächig unter Beschuss. Die mörderischen Geräusche werden noch dumpfer, grollender. Mörser, Granaten, Raketen schlagen donnernd 50, 100 Meter von uns entfernt ein. Tief wühlen sie die Erde auf, schleudern Sandfontänen in die Luft. Dunkle Rauchschwaden steigen über 100 Meter hoch und verdüstern den Himmel. Alle paar Sekunden schlägt fauchend eines dieser schweren Geschosse ein. Jeder Einschlag ist wie ein Erdbeben.

»Wo ist Abdul Latif?«, frage ich mehrfach Julia und Yussuf. »Wir müssen ihn suchen.« Yussuf verdreht die Augen. Er hält mich für verrückt. »Tot«, raunt er. Er habe gesehen, wie er in sein Auto gestiegen sei. »Ich stand neben ihm. Er ist im Auto verbrannt.« Mit der rechten Hand macht er die Bewegung des Schlüsselumdrehens. »Ich gehe ihn suchen«, flüstere ich Julia zu. Doch jetzt wird Julia, die bisher kein Wort gesagt hat, zornig: »Das ist doch einfach nur verrückt«, zischt sie. »Dann bist erst du tot und danach wir. Wir sind doch hier nicht in einem James-Bond-Film. Abdul Latif ist tot.«

Ich liege völlig entmutigt zwischen Yussuf und Julia. Im Grunde möchte ich weinen. Um Mister Sonnenschein, um Mister »Why not«, um Abdul Latif. Doch ich weiß, dass ich Julia und Yussuf jetzt Kraft geben sollte, obwohl ich selber keine mehr habe. Um uns herum pflügen Gaddafis Truppen die Wüste um. Irgendwann werden auch wir untergepflügt. Wenn wir nur den geringsten Fehler machen.

Julia fragt, ob ich den Hemingway-Film Wem die Stunde schlägt gesehen hätte. Habe ich, aber ich will nicht darüber reden. Der Film geht ja schlecht aus. Doch Julia, der tausend Bilder durch den Kopf rasen, lässt nicht locker. Wenn wir uns schon nicht wehren können, möchte sie wenigstens darüber sprechen. Sie ist schließlich die engste Freundin meiner Tochter Valérie, fast ein Mitglied der Familie. »Was glaubst du, wie lange leben wir noch?«, fragt sie. Ich antworte: »Zwanzig Minuten, zwanzig Jahre, ich weiß es nicht.« Ich versuche, ihr Mut zu machen. »Wir kommen hier wieder raus. Irgendwie.« Aber Julia, die wenigstens noch einmal ihre Eltern in Bayern sehen möchte, ist sich da nicht mehr so sicher. Doch sie nickt tapfer.

Ich sage ihr nicht, dass unsere Chancen, hier rauszukommen, nicht viel größer sind als die der zu Asche verbrannten Fahrzeuginsassen im »Tal der Flammen«. Wir sitzen in einer Todesfalle. Gaddafis Schützen kreisen uns systematisch ein. Der Mörser-, Granaten- und Raketenring wird immer enger. Irgendwann werden sie vielleicht einen Jeep zu uns rüberschicken, um alles zu beenden. Das wäre auch billiger als das sinnlose Höllenfeuerwerk, das sie unaufhörlich abbrennen.

Julia kann offenbar Gedanken lesen. »Soll ich die Filme mit den Rebellen löschen für den Fall, dass sie einen Jeep schicken?«, fragt sie. »Das hilft uns dann auch nicht mehr«, antworte ich. An meiner Jacke trage ich das Abzeichen der Rebellen in den Farben des befreiten Libyen. »Sie werden mir den Kopf abschneiden, wenn sie das sehen«, denke ich. Aber das Zeichen bleibt am Revers.

Ich überlege, welches meiner drei Kinder wen anrufen wird, wenn uns eine dieser verdammten Granaten trifft. Ich weiß genau, wie jedes einzelne von ihnen reagieren wird. Aber wird man überhaupt erfahren, was hier geschehen ist?

Ein dicker, schwarzer Wüstenkäfer versucht, vom Kamm der Düne auf uns zuzukrabbeln. Auf halber Höhe überschlägt er sich. Vorsichtig setze ich ihn auf die Dünenkante zurück. Nach einer Weile rollt er wieder auf uns zu. Für Steilhänge unbegabt.

Plötzlich sehe ich zwischen Julia und mir einen leuchtend gelben Punkt. Die Lasermarkierung eines Scharfschützen? Für einen Augenblick stockt mir der Atem. Ich sehe mich nach allen Seiten um. Doch dann stellt sich die Lasermarkierung als schimmernde Wüstenspinne heraus. Ich lege sie unter die Zweige eines Kreuzdorns, der einzigen Buschart, die hier wächst.

Alle haben Durst und Hunger. Seit dem kargen Frühstück in Bengasi hat es außer Maracujasaft und einer Dattel nichts mehr gegeben. Julia denkt an Abdul Latifs Dattelkernstrategie. Da sie keine Dattel hat, nimmt sie einen Stein in den Mund, um ihren Durst zu vergessen.

Das Raketen- und Granatfeuer lässt nicht nach. Dumpf rumpelnd schlagen die Geschosse ein. Neben und vor uns tanzen die Sandkörner auf der bebenden Erde. »Die verballern ein Vermögen«, sagt Julia. »Wir scheinen ihnen viel wert zu sein.« Ein Ende des Beschusses ist nicht abzusehen. Alle paar Minuten schlagen Granaten ein. Unablässig.

Der Angriff im »Tal der Flammen« fand um 15.30 Uhr statt. Jetzt sind etwa zwei Stunden vorbei. Erst um 19 Uhr wird es dunkel. Bis dahin sind wir entweder von Granaten zermalmt oder erfroren. Es wird kälter. Auch der Wind wird stärker.

Ich sehe, dass Yussuf an seinem alten Handy herumspielt. Ich nehme es ihm aus der Hand und entferne SIM-Karte und Batterie. Allzu leicht sollten wir es den Schützen nicht machen, uns zu orten. Ich will nicht im Wüstensand sterben.

Noch vor wenigen Monaten hatte ich in meinem Buch Teile dein Glück beschrieben, wie sehr ich die Schmetterlinge von Salvador da Bahia bewunderte. Nach einem in der Gluthitze Brasiliens durchtanzten Sommer setzen sie sich im Frühherbst abends an den Strand. Dort warten sie, bis eine Welle sie auf das türkisblaue Meer hinausträgt. Ich hatte unvorsichtigerweise geschrieben, dass sich der Tod trotz vieler gefährlicher Situationen nie für mich interessiert habe. So etwas sollte man nicht schreiben. Man darf das Schicksal nicht herausfordern.

Unsere Lage ist nicht nur bedrohlich, sie ist auch absurd. In München besitzt einer der Söhne Gaddafis, Saif Al-Arab, 70 Meter von meiner Wohnung entfernt ein großes Haus. Jeden Tag bin ich an dem schneeweißen Bungalow vorbeigegangen und habe gedacht, wie klein doch die Welt ist. Jetzt werde ich, statt ihm in meiner Straße zu begegnen, im libyschen Wüstensand von den Truppen seines Vaters mit Granaten eingedeckt.

Über all das würde ich gern mit Abdul Latif diskutieren, einem der wenigen Menschen, mit dem ich über alles sprechen konnte. Doch es gibt ihn nicht mehr. Ich hatte es mir zur Lebensaufgabe gemacht, diskriminierten Muslimen eine Stimme zu geben. Jetzt war ich mitschuld am Tod eines der großartigsten Muslime, die mir begegnet sind.

Yussuf will nicht mehr liegen bleiben. Abwechselnd deutet er zum Himmel und auf die dunkle Sonnenbrille, die er sich demonstrativ aufgesetzt hat. »Bang, bang«, flüstert er. Er will uns klarmachen, dass es in wenigen Stunden dunkel werde und die libysche Luftwache dann die Wüste mit Nachtsichtgeräten absuchen werde. Er will weg, solange es noch hell ist. Ein Wahnsinn!

Ich versuche ihm zu erklären, dass er bei Tageslicht noch leichter zu entdecken sei. Vor allem, wenn er jetzt losrenne. Dann wüssten die Schützen endlich genau, wo wir sind. Bisher hätten sie davon offenbar nur eine vage Vorstellung. Aber Yussuf hat panische Angst vor Nachtsichtgeräten. Er hält sie für diabolische Wundermaschinen. Julia ist von dem Gedanken, hier wegzukommen, ebenfalls beeindruckt. Ich habe Schwierigkeiten, den beiden beizubringen, dass man mit Nachtsichtgeräten nicht besser sehen kann als mit Tagessichtgeräten. Julia kann ich gerade noch überzeugen, Yussuf nicht. Er ist auf dem Sprung. Immer wieder deutet er auf seine Brille und auf den Himmel. Erst als ich ihn heftig anfahre, hört er auf, auf Julia einzureden.

Doch den Gedanken an Flucht hat er noch lange nicht aufgegeben. Auch Julia schwankt. Ich überlege, ob ich die beiden notfalls mit Gewalt daran hindern muss, in den sicheren Tod zu laufen. Aber wie? Genau in diesem Augenblick schlägt mit donnerndem Krachen wenige Meter vor unserem Sandhügel eine Rakete ein. Der ohrenbetäubende Einschlag ist so nah, dass sich die Düne zu heben scheint und die Erde sekundenlang schwankt. Wir versuchen, uns am Boden festzukrallen. Sand rieselt auf uns herunter. Die Pranke des Tigers hätte uns um ein Haar getroffen. Zwei Meter weiter, und alles wäre vorbei gewesen. Plötzlich denkt niemand mehr an Flucht. Mein Mund ist voller Sand.

Unsere einzige Überlebenschance scheint zu sein, uns ganz dicht an die Düne zu pressen. Sie als Schutzschild zu benutzen. Selbst wenn noch tausend Schwarzkäfer und Wüstenspinnen auf uns herunterpurzeln. Der Tod ist jetzt ganz nah. Vielleicht denke ich gerade meine letzten Gedanken.

I. Am Ende bleiben nur Tränen

Frühe Begegnungen mit dem Krieg

Die Zerstörung Hanaus

Wie die Erde beben und schwanken kann, hatte ich schon in meiner Kindheit erlebt. Am 19. März 1945 in Hanau. Ich war gerade mal vier Jahre alt. Doch die Bilder und Gefühle von damals haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Ich bin ein Kriegskind.

Eigentlich war der Krieg damals längst entschieden. Von meinen Großeltern und meiner Mutter wusste ich, dass die Amerikaner schon in wenigen Tagen in Hanau einmarschieren würden. Dann wäre der schreckliche Irrsinn, wie meine Mutter den Krieg nannte, endlich vorbei. In der Tat ratterten die amerikanischen Panzer schon anderthalb Wochen später in Hanau ein.

Seit Wochen hatte es fast jeden Tag Fliegeralarm gegeben. Wir Kinder waren dann stets sofort in den Keller gescheucht worden. Falls wir schon geschlafen hatten, wurden wir schnell wieder angezogen. Es konnte ja sein, dass wir nach einem Angriff auf die Straße mussten. Hanau war bereits mehrfach bombardiert worden. Von den Amerikanern tagsüber, von den Engländern nachts. Ich war nach den nächtlichen Angriffen oft heimlich losgezogen, um die Umgebung zu erforschen und Granatsplitter zu sammeln. Das war meine Art, mit den Zerstörungen meiner Stadt umzugehen. Regelmäßig bekam ich dafür den Hintern versohlt.

Krieg war für uns Kinder Alltag. Die heulenden Fliegeralarme, das Pfeifen und Krachen der Bomben, das Tackern der Flugabwehrgeschütze und auch der Tod. Fast jeden Abend hatte man über Hanau das Brummen eines einzelnen, angeblich englischen Flugzeugs gehört. Die Leute hatten es »Eiserner Gustav« genannt. Der »Eiserne Gustav« warf keine Bomben ab. Niemand wusste genau, was seine Aufgabe war, wenn er Hanau in großer Höhe überflog. Bis zum 19. März 1945.

An diesem Tag steckt meine Mutter meine zwei Geschwister und mich früh ins Bett. Obwohl es keine besonderen Anzeichen eines Angriffs gibt, bleiben wir angezogen. Vielleicht hat meine Mutter eine Vorahnung. Gegen 4.30 Uhr morgens hören wir ein furchtbares Krachen und dumpfe, dröhnende Erschütterungen. »Flieger!«, schreien meine Mutter und meine Großmutter. »In den Keller mit euch!« Blitzschnell werden wir in unseren winzigen »Luftschutzkeller« gejagt. Ich nutze die panische Aufregung, um wie so oft auszubüxen. Ich muss sehen, was da draußen geschieht. So heftig hat es noch nie gedonnert und gekracht.

Unser Haus liegt am Stadtrand neben großen Getreidefeldern. Von hier aus sehe ich das größte, schrecklichste Feuerwerk meines Lebens. Die Erde zittert und bebt. Glutrot brennt der Himmel. Heulend fliegt eine Fliegerstaffel nach der anderen ihre Angriffe. Berstend schlagen ihre Bomben in der Altstadt ein. Nur spärlich hört man dazwischen das Hämmern deutscher Flugabwehrgeschütze. Die Schüler, die die Flak bedienen sollen, sind von dem gespenstischen Angriff genauso überrascht worden wie alle anderen Hanauer.

Ein verirrtes Geschoss schlägt 100 Meter von mir entfernt auf den Stoppelfeldern ein. Ich renne hin und finde in einem tiefen Erdtrichter einen noch warmen Granatsplitter.

Dann laufe ich schnell wieder auf die Burgallee. Dort geschieht offenbar Wichtigeres. Ich werde diese Bilder nie vergessen. Es regnet Feuer. Höllische Mächte beherrschen den Himmel. Sie haben alle Schleusen geöffnet und schütten ihre Glut über meine Stadt. Ganz Hanau brennt.

Wie Moskitoschwärme erscheinen am Himmel immer neue Fliegerverbände und werfen ihre Brand- und Sprengbomben in die sterbende Stadt. Ich sehe brennende Menschen, die sich auf die Straße und in die Gräben werfen, sich wälzen, um das Feuer zu ersticken. Doch der grünlich-klebrige Phosphor, den die Flugzeuge abwerfen, frisst sich unerbittlich in sie hinein. Brennenden Phosphor kann man nicht ersticken.

Nach einer Viertelstunde endet das Pfeifen und Jaulen der Flugzeuge, das Explodieren und Bersten ihrer Bomben. Hanau ist vernichtet. In der Ferne vernehme ich verzweifeltes Weinen und Wimmern von Menschen.

Meine Mutter scheint mich in der Nähe des Höllenspektakels zu vermuten. Immer wieder ruft sie laut weinend meinen Namen in die Nacht. Nie wieder in meinem Leben habe ich meine Mutter so verzweifelt schreien hören. Auf Zehenspitzen gehe ich in unser Haus zurück.

Wie ich am nächsten Tag von meinem Großvater erfahre, haben die Flugzeuge der britischen Luftwaffe 90 Prozent der Hanauer Innenstadt zerstört. Über 2000 Menschen starben. Überwiegend Zivilisten.1

Mein Großvater war ein mittelgroßer, hagerer Mann. Er ist in dieser Nacht um Jahre gealtert. Wie viele Hanauer war er wenige Stunden nach dem Angriff in die Stadt gehastet, um zu helfen, zu lindern, zu trösten. Er schildert meiner Großmutter und meiner Mutter stockend das Elend, das Leid, den Jammer, den er im zerstörten Hanau gesehen hat.

Er berichtet von Frauenleichen, die durch den »Phosphorteppich«, den die Piloten auf die Stadt gelegt hatten, bis auf die Hälfte ihrer Größe geschrumpft waren. Von verbrannten russischen Zwangsarbeitern, von zerstörten Lazaretten. Er erzählt von dem fast endlosen Zug ausgebombter, verrußter, zerlumpter Hanauer, die sich im Morgengrauen im Stadtteil Kesselstadt angestellt haben, um etwas zum Essen und Anziehen zu bekommen. Und um sich als »ausgebombt« registrieren zu lassen.

Um Fassung ringend erzählt er von den vielen toten Kindern, die er im beißenden Qualm der Trümmer gesehen hat. Von den zwei toten Mädchen, die er, zusammen mit Freunden, eingeklemmt und verbrannt in heruntergefallenen Elektrizitätsleitungen gefunden hat. Dann höre ich meinen Großvater zum ersten Mal schluchzen.

Ich sitze ganz still in der Küche, als mein Großvater im Wohnzimmer nebenan vom Untergang Hanaus berichtet. Dann gehe ich in die Stube und frage ihn – wie meine Mutter später erzählt – mit dem großen Ernst eines kleinen Kindes: »Darf man im Krieg auch Kinder töten?« Mein Großvater antwortet nicht. Auf meine ewigen Kinderfragen habe ich nie eine Antwort erhalten. Bis heute nicht.

Später erfahre ich, dass in jener Nacht angeblich 279 britische Bomber über 350000 Brandbomben und über 440 Sprengbomben abgeworfen hatten.2 Doch das ist Statistik. Was ich nie vergessen werde, ist das Beben der Erde, die brennenden Menschen, die blutrot leuchtende, sterbende Stadt meiner Eltern. Das also ist Krieg. Wir Deutschen haben ihn angefangen. Aber darf man deshalb Städte verbrennen und Kinder töten?

Der Teufel bediente sich in jener Kriegsnacht nicht nur der Deutschen. Vielleicht ahnte ich damals zum ersten Mal, dass es keine anständigen Kriege gibt.

Abrechnung in Algier

Meine nächste Begegnung mit dem Krieg, dem ich nach Hanau nie mehr begegnen wollte, begann in Paris. 1959 und 1960 studierte ich in der französischen Hauptstadt. Ich wohnte im Studentenviertel Saint-Germain. Dort erlebte ich große Demonstrationen für und gegen den französischen Kolonialismus in Algerien. Von Woche zu Woche wurden die Auseinandersetzungen heftiger. Ich erinnere mich, wie einmal an der Kreuzung Boulevard Saint-Germain und Boulevard Saint-Michel zwei riesige Demonstrationszüge aufeinanderprallten. Sie hatten die Polizeiblockade durchbrochen, die derartige Zusammenstöße verhindern sollte. Es kam zu einer wüsten Schlägerei.

Wie so oft bei derartigen Zusammenstößen schlugen die Demonstranten ihren Gegnern als Erstes die Brille vom Gesicht. Da dies beide Seiten taten, krochen bald Dutzende von studentischen Protestlern auf der Erde herum, um ihr wichtigstes Studiergerät wiederzufinden. Wer es nicht fand, wusste, dass er während der nächsten Wochen den Besuch der Universitätsbibliothek vergessen konnte. Umso heftiger prügelte man auf die andere Seite ein und schlug möglichst viele gegnerische Brillen herunter.

Meist kam nach kurzer Zeit die französische Polizei dazu und drosch ebenfalls auf die Kontrahenten ein. Besonders gefürchtet waren die Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS), eine berüchtigte Spezialeinheit der Nationalpolizei. Sie setzten ihre großen hölzernen Schlagstöcke gnadenlos ein. Besonders schlimm waren jene Demonstranten dran, die durch die Metro-Stationen zu entkommen versuchten. Durch die engen Eingangstüren und -kontrollen entstand fast immer ein Stau, in den die CRS-Polizisten hemmungslos hineinschlugen.

Oft gab es nicht nur Verletzte, sondern auch Tote. Unter den Toten waren vor allem Algerier. Manchmal starben sie auch erst beim späteren Verhör durch die Polizei. Diese Verhörmethoden wurden den staatlichen Sicherheitskräften auch öffentlich vorgeworfen. Später entledigten sie sich dieses Problems, indem sie einen Teil der Toten einfach in die Seine warfen. Mindestens 200 Algerier wurden auf diese Weise »entsorgt«. Jahrzehntelang wurden diese Morde energisch geleugnet. Heute sind sie unstrittig.3

Wissensdurstig und neugierig, wie ich war, beschloss ich, im Sommer 1960 nach Algerien zu fahren, um mir vor Ort ein Bild von der Lage zu verschaffen. In der billigsten Unterdeck-Klasse eines alten französischen Dampfers fuhr ich für 50 französische Francs nach Algier. Die Nacht war elend. Wegen des starken Seegangs erbrachen sich fast alle Mitreisenden. Ich auch. Doch am nächsten Morgen stand ich stolz am Kai von Algier. »Alger la blanche«, die berühmte »weiße« Hauptstadt der umkämpften französischen Kolonie, lag vor mir.

Von Krieg war weit und breit nichts zu spüren. Mein Vater hatte mir erzählt, Krieg sehe immer nur dort wie Krieg aus, wo die Front verlaufe. Wo militärische Operationen stattfänden oder wo Bomben einschlügen. In 90 Prozent der Kriegsgebiete sei das Auffallendste, dass alles normal zu sein scheine. »Kann Krieg normal sein?«, hatte ich mich häufig gefragt.

In einem kleinen Café in der Nähe des Hafens leistete ich mir eine Tasse Kaffee. Alles war ruhig. Nur 100 Meter weiter gab es kurz Hektik. Zwei Männer eilten davon. Später kam ein Auto mit Gendarmen. Die Beamten verschwanden mit dem gestikulierenden Personal im Inneren des Cafés. Nach einer halben Stunde erschien ein Krankenwagen. Doch er fuhr kurz danach wieder ab. »Herzinfarkt, Kreislaufzusammenbruch«, dachte ich und überlegte, ob ich mir noch einen zweiten Kaffee leisten konnte. Ich konnte nicht. Eine Überprüfung des Inhalts meines Geldbeutels machte mir das schnell deutlich. Es sei denn, ich wäre bereit gewesen, Algerien schon nach einer Woche wieder zu verlassen.

Ich stand auf und ging Richtung Kasbah, der burgähnlichen Altstadt Algiers. Ich wusste, dass es dort schwere Kämpfe gegeben hatte. Ich musste aufpassen, dass man mich nicht für einen Franzosen hielt. Das Problem löste sich schnell. Hundert Meter vor dem Eingang zur Kasbah sprachen mich drei junge Algerier an und fragten, woher ich komme. Als sie hörten, dass ich Deutscher war, strahlten sie bis über beide Ohren. Sie fragten, ob sie mir die Kasbah zeigen dürften.

Natürlich durften sie. Einer von ihnen ging in den engen, gewundenen Gassen stets einige Meter voraus und rief: »C’est un Allemand« – »Er ist Deutscher.« »Als Franzose würdest du hier keine zehn Meter weit kommen«, erklärten sie mir. »Die haben zu viele Männer aus der Kasbah verschleppt und getötet.«

So verbrachte ich mitten im Krieg einen entspannten Nachmittag in der Kasbah, dem angeblich gefährlichsten Ort Algeriens. Seit Monaten war kein Ausländer mehr hier gewesen.

Abends war ich Gast der Familie Hassans, eines der drei Jungen. Er war der Stärkste der Gruppe. Als mich auch die anderen einladen wollten, sagte er feixend: »Wir können das ja auskämpfen.« Aber darauf hatten die zwei Kleineren keine Lust gehabt.

Die Eltern Hassans waren bedrückt. Der Krieg, der nun schon sechs Jahre dauerte, steuerte auf eine Entscheidung zu. Welche, das wusste niemand. Der französische Fallschirmjägergeneral Jacques Massu hatte die algerische Befreiungsbewegung FLN 1957 in der Schlacht von Algier vernichtend geschlagen. Er hatte ihr zumindest in Algier das Rückgrat gebrochen. Die Franzosen hatten gefangene algerische FLN-Kämpfer derart gnadenlos und systematisch gefoltert, dass fast alle die Namen ihrer Mitkämpfer preisgegeben hatten. Das hatte nicht nur zur Ausschaltung ihrer Kameraden geführt, es hatte auch die Gefolterten zerbrochen.

Der Riss ging durch viele Familien, auch durch die Familie Hassans. Einige seiner Vettern waren monatelang gefoltert worden. Hassans Eltern wollten mir nicht sagen, mit welchem Ergebnis. Trotzdem wollten sie weiterkämpfen. Wie ihre Väter und Großväter. Seit die Franzosen 1830 Algerien besetzt hatten. »Zur Bekämpfung der Piraterie«, wie man damals behauptete.

Die Gräueltaten der französischen Truppen hatten längst ihr Echo in genauso brutalen Terrorakten der algerischen FLN gefunden, auf die nun auch die französischen Siedler mit Terrorismus reagierten. Der Krieg war nur noch schmutzig. Hassans Vater rutschte jetzt doch heraus, dass zwei seiner Söhne von französischen Siedlern getötet worden waren. Weil sie von einem Vetter verraten worden seien, sagte er bitter.

Dann ging er ans Fenster und lauschte. Ein Auto hatte sich genähert. Alle waren ganz leise, bis er Entwarnung gab. Abends komme es häufig zu Anschlägen französischer Terrororganisationen, erklärte Hassans Vater seine Vorsicht. Man müsse höllisch aufpassen.

Dann fragte er, ob ich heute Morgen bei meinem ersten Kaffee in Algier gesehen hätte, was im Nachbarcafé geschehen sei. Es habe ein règlement de compte gegeben – eine Abrechnung. »Zwei Algeriern wurde die Kehle durchschnitten. Wir wissen nicht, von wem. Keiner weiß hier, wer hinter was steht.«

»Banalität des Krieges«, hatte ich am Morgen noch gedacht und war doch ganz in der Nähe einer seiner mörderischen Aktionen gewesen. Ich war froh, dass ich nicht mehr gesehen hatte.

Wenige Tage später saß ich auf dem Bahnhof von Algier in einem Eilzug nach Constantine. Der Zug war voller englischer und deutscher Fremdenlegionäre. Einige waren betrunken. Besonders ein deutscher Legionär lallte bedenklich, als er mir von seiner Freundin erzählte. Sie hatte ihn verlassen, als man in Deutschland wegen eines Diebstahls nach ihm fahndete. Den Diebstahl hatte er angeblich nicht begangen. Aber so seien die Frauen.

Dann berichtete er von seinen »Heldentaten« in Algerien. Von abgeschnittenen Köpfen algerischer Rebellen. Von gemeinsamen Vergewaltigungen algerischer Dorfmädchen. Von sexuellen Folterspielen mit wimmernden FLN-Kämpfern. Vom »Fasanenschießen« auf Rebellen, die dann anschließend wie eine »Jagdstrecke« nebeneinander aufgereiht wurden. Mir wurde hundeübel. Ich fragte ihn, ob er nicht lieber von seinen früheren Freundinnen erzählen wolle. Aber das wollte er nicht. Er erzählte lieber vom Krieg.

Als der Zug sich endlich in Bewegung setzt, geht er an das heruntergelassene Zugfenster, um frische Luft zu schnappen. Ein kleiner Algerier bietet ihm eine Flasche Limonade zum Kauf an. »Ich nehme den ganzen Kasten«, tönt der deutsche Legionär lachend auf Französisch.

Der Kleine strahlt, als der Fremdenlegionär tatsächlich den ganzen Kasten hochhebt. »10 Francs«, ruft der kleine Junge, »das macht 10 Francs.« Der deutsche Legionär lacht und tut so, als suche er nach Geld. Der Junge rennt angstvoll neben dem anfahrenden Zug her. »Mein Geld«, ruft er verzweifelt. Doch der Legionär lacht nur noch lauter. Dann stemmt er den Kasten hoch und lässt ihn krachend, splitternd auf den Bahnsteig fallen. »Da hast du dein Geld.« Während der Junge in fassungsloses Schluchzen ausbricht, kann sich der deutsche Fremdenlegionär vor grölendem Lachen kaum noch einkriegen.

So hatten die Kolonialmächte die Algerier stets behandelt. 130 Jahre lang. Sie wurden, wie französische Historiker schrieben, wie Hyänen, Schakale oder räudige Füchse gejagt. Sie wurden in Höhlen getrieben und mit Feuer ausgeräuchert. »Kopfabschneiden« gehörte zum Zeitvertreib gelangweilter Kolonialisten. Mit in Salz eingelegten Ohren konnte man gutes Geld verdienen. Die Araber waren, wie Sartre treffend anmerkte, für die Europäer nicht mehr als »höhere Affen«.

Allein in der blutigen Schlussrunde von 1954 bis 1962 wurden 8000 algerische Dörfer dem Erdboden gleichgemacht.4 Oft durch Napalmbomben. Die algerische Sahara wurde für überirdische französische Atombombentests genutzt. An ihren Spätfolgen leidet das Land noch heute. Nach algerischen Angaben starben in den letzten sechs Jahren der französischen Besatzung zwei Millionen Algerier. Nach französischen Angaben waren es »nur« halb so viel.5

In der Verhöhnung des kleinen Algeriers am Bahnhof von Algier konzentrierte sich wie in einem Brennglas, was diesem Volk 130 Jahre lang angetan wurde. Sie bestätigte alles, was ich später bei Camus, Sartre und Fanon über die Verdammten dieser Erde gelesen habe. Wenn ich Beschreibungen der Massaker an Algeriern las, fragte ich mich stets: »Warum ist das, was im eigenen Land ein schändliches Verbrechen ist, außerhalb der Grenzen eine Heldentat?«

Das wurde zu einer der wichtigsten Fragen meines Lebens.

Die Krise von Bizerta

Ein Jahr später war ich wieder in Nordafrika. Diesmal in Tunesien. Der Zufall wollte es, dass ich einer der wenigen, wenn auch leicht verspäteten neutralen Zeitzeugen der sogenannten Bizerta-Krise wurde. Im Grunde war das Wort »Krise« eine der üblichen sprachlichen Verharmlosungen. Die Franzosen hatten in Bizerta 670 Tunesier getötet und 1500 verletzt. Vor allem Zivilisten.

Tunesien war seit fünf Jahren unabhängig. Die Hafenstadt Bizerta war der letzte Militärstützpunkt Frankreichs in dem kleinen nordafrikanischen Land am Mittelmeer. Von hier aus – und nicht vom Hunderte Kilometer entfernten Frankreich aus – führte Paris seinen Krieg gegen Algerien. Hier starteten die französischen Kampfflugzeuge mit ihrer tödlichen Fracht. Von hier aus wurde Algerien monatelang mit Napalm bombardiert.

Die Tunesier hatten Frankreich wiederholt um die Rückgabe Bizertas gebeten. Zuletzt Präsident Bourguiba im Februar 1961 bei einem persönlichen Treffen mit Präsident de Gaulle. Doch auch dieser lehnte ab.

Als Frankreich stattdessen die Start- und Landebahn des Militärstützpunkts sogar noch verlängerte, blockierten Tunesier die Straßen Bizertas mit Barrikaden. Mit Kampfjets, Fallschirmjägern und Panzern fegte das französische Militär die Blockaden weg und vertrieb die gesamte Bevölkerung aus der Stadt.

Auf Einladung tunesischer Bekannter war ich wenige Tage nach den Kämpfen in Tunis angekommen. Auf allen tunesischen Radiosendern lief patriotische Musik. Mehrfach wurden die Militärmärsche von einem erregten Nachrichtensprecher unterbrochen. Auf Französisch und Arabisch meldete er, dass einige der französischen Fallschirmjäger wegen des starken Windes außerhalb Bizertas gelandet seien. Es sei nationale Pflicht jedes Tunesiers, den Sicherheitskräften bei der Suche nach den Fallschirmjägern zu helfen.

Auch bei meinen tunesischen Freunden war die Aufregung groß. Der Ausbau der militärischen Landebahn war in ihren Augen eine absichtliche Demütigung Tunesiens. Die Vertreibung der Bevölkerung Bizertas erst recht. Wir diskutierten bis Mitternacht. Dann fiel ich in einen tiefen Schlaf.

Doch der dauerte nicht lange. Vor dem Haus hatten sich Hunderte von Menschen zusammengerottet, arabische und französische Parolen rufend. Ich hörte, wie mein Gastgeber Junis nach draußen eilte. Dort wurde er in einen heftigen Wortwechsel verwickelt. Aus den lauten Parolen wurden Sprechchöre, gegen die er sich nach einer Weile nicht mehr durchsetzen konnte. Es gelang ihm gerade noch, ins Haus zurückzukommen und die Tür zu verriegeln.

Verstört steht er vor mir. »Jemand hat dich beim Betreten des Hauses gesehen. Sie halten dich für einen französischen Fallschirmjäger. Sie wollen das Haus stürmen. Gib mir deinen Pass, ich versuche es noch mal.«

Junis hat Schwierigkeiten, überhaupt aus dem Haus herauszukommen. Die immer größer werdende Menge drängt gegen die Tür. Ich höre, wie er schreit, schimpft, fleht. Doch die Antworten der Wortführer der Menge werden nur noch wütender. Die Zerstörung Bizertas, die Aufrufe im Radio haben die Menschen aufgewühlt.

Wieder höre ich das Geräusch der laut zugeschlagenen Tür. Dann steht Junis erneut vor mir: »Du musst raus und dich zeigen. Sie haben uns zehn Minuten Zeit gegeben. Dann wollen sie das Haus angreifen. Nimm deinen Pass mit.« Junis schämt sich. Gastfreundschaft ist in der arabischen Welt eines der höchsten Güter. Und jetzt muss er mich dem Risiko aussetzen, dass ich draußen gelyncht werde.

Aber es gibt keine andere Möglichkeit. Ich ziehe mich an, nehme meinen Pass und gehe zur Tür. In meiner Khakihose und meinem Khakihemd kann man mich in der Tat für einen etwas schmächtigen Fallschirmspringer halten. »Ich komme mit«, sagt Junis tapfer. »Ich stelle mich vor dich. Da du größer bist, kann man dich auch so sehen.« Wir gehen raus. Vor Aufregung bekomme ich kaum Luft. Als wir auf der Straße stehen, schiebe ich Junis beiseite und gehe auf die Leute zu. Den geöffneten Pass halte ich hoch.

Es wird plötzlich ganz ruhig. Diesen kurzen Augenblick der Stille versuche ich zu nutzen. So freundlich ich kann, rufe ich auf Arabisch und Französisch: »Anna Almani – je suis Allemand – ich bin Deutscher.« Gleichzeitig halte ich dem Mann, der am weitesten vorne steht und offenbar einer der Wortführer ist, meinen Pass vor die Nase. Auf Französisch sage ich: »Schau, ich bin wirklich Deutscher. Hier ist mein Pass. Ich lasse ihn dir. Aber ich brauche ihn wieder.«

Der etwa 30-jährige Mann blättert und blättert. Das meiste kann er wahrscheinlich nicht lesen. Außer »Deutschland« und »Germany«. Das müsste eigentlich reichen, hoffe ich. Der Mann schaut mich mehrfach prüfend an. Dann ruft er fröhlich, als wäre nichts gewesen, auf Französisch: »Er ist wirklich Deutscher.« In diesem Augenblick bricht ein Jubel aus, als sei ich ein Fußball-Star. »Er ist Deutscher«, rufen die Leute mit leuchtenden Augen. Und Junis fügt laut hinzu: »C’est un ami! – Er ist ein Freund!«

Ich werde herumgereicht, muss Dutzende Hände schütteln. Die Menschen lachen mich so herzlich an, dass ich fast die Angst vergesse, die mir eben noch die Kehle zuschnürte. Da alle gerade so freundlich zu mir sind, frage ich, ob mich einer von ihnen nach Bizerta fahren könne. Jetzt ist die Begeisterung nicht mehr zu bremsen. Jeder will mithelfen, den Deutschen nach Bizerta zu bringen. Die Welt soll erfahren, was dort geschehen ist.

Nach ein paar Minuten finden wir einen Einwohner Bizertas, der bereit ist, mich in die evakuierte Stadt zu fahren. Obwohl das streng verboten ist. Mehmed, so heißt er, wird sagen, er habe wichtige Medikamente in seiner Wohnung vergessen. Herzlich werden Junis und ich verabschiedet. Gegen 2 Uhr morgens fallen wir endlich in den hart verdienten Schlaf.

Am nächsten Morgen geht es in einem alten Peugeot Richtung Bizerta. Nach einer knappen Stunde nähern wir uns der geräumten Stadt. Mehmed erklärt den französischen Soldaten an den zahlreichen Straßensperren, dass er aus Gesundheitsgründen dringend in seine Wohnung müsse. Was ich in Bizerta suche, will niemand wissen. Wir werden durchgelassen.

Das menschenleere Bizerta macht einen düsteren Eindruck. Die Innenstadt ist stark beschädigt. Die eisernen Rollläden der Geschäfte haben große Einschusslöcher, einige Gebäude sind nur noch Ruinen. Mehmed entschwindet in der kleinen Seitenstraße, in der er früher wohnte. Ich beginne, mit meiner kastenförmigen Box-Kamera Fotos der zerstörten Gebäude zu machen. Französische Militärpolizisten, die mit einem Jeep vorbeifahren, sind darüber so erstaunt, dass sie zunächst nicht reagieren. Erst nach einer Weile dämmert ihnen, dass hier möglicherweise etwas geschieht, was in ihren »Kriegsrechtserlassen« nicht vorgesehen ist.

Sie kehren um und verlangen nach meinen Papieren. Was ich hier mache, wollen sie wissen. »Fotografieren«, antworte ich höflich. Und schon sitze ich – nach einem unmissverständlichen Wink mit ihren Maschinenpistolen – auf ihrem Jeep und werde zum Hauptquartier gefahren.

Das Verhör durch den französischen Stadtkommandanten von Bizerta beginnt schroff. Doch es nimmt einen unerwarteten Verlauf. Wir stellen fest, dass ich mit seinen Verwandten in Paris eng befreundet bin. Er kann es kaum fassen, ich auch nicht. Plötzlich sprechen wir über ganz andere Dinge als über mein unerlaubtes Fotografieren und meine sonstigen Verstöße gegen den Ausnahmezustand. Es ist ein gutes Gespräch. Er ist ein intelligenter und sympathischer Mann. Und doch ist er mitverantwortlich für das Massaker von Bizerta. Wie ist das bloß möglich, frage ich mich. Sehen so Mörder aus?

Ich habe mir diese Frage bei Soldaten und anderen staatlichen Sicherheitskräften oft gestellt. Inwieweit sind Gräueltaten, an denen sie mitwirken, auch ihre Schuld? Die Brutalität der französischen Streitkräfte gegen die Bevölkerung von Bizerta war so groß, dass ihre Unrechtmäßigkeit jedem französischen Soldaten bewusst gewesen sein musste. Wann kommt der Punkt, an dem ein Offizier sagen muss: »Das mache ich nicht mit!«? Oder gibt es, wenn die Entscheidung der Politiker einmal gefallen ist, gar keine realistische Chance mehr, den Lauf der Dinge aufzuhalten?

Die Politiker, die die Entscheidungen getroffen haben, sitzen wie üblich weitab vom Schuss. Wann haben Regierungschefs und Kriegsminister jemals schlaflose Nächte verbracht, weil sie an die Opfer ihrer Entscheidungen dachten? An die, die jetzt den Rest ihres Lebens als Krüppel verbringen müssen?

Der Stadtkommandant von Bizerta scheint im persönlichen Umgang trotzdem ein liebenswerter Mann zu sein. Er weist seine Militärpolizisten an, mir die Stadt genau zu zeigen. Vor allem jene Straßen, in denen die schwersten Kämpfe stattgefunden haben.

Nachdenklich fahre ich durch die zerbombte Geisterstadt. Die jungen Militärpolizisten, die mich nun für einen persönlichen Freund ihres obersten Vorgesetzten halten, zeigen mir die interessantesten Schauplätze der Kämpfe. Die schwersten Zerstörungen, das getrocknete Blut der Erschossenen. An den spektakulärsten Schauplätzen machen sie für mich Fotos.

Dann liefern sie mich bei Mehmed ab. Der erschrickt fast zu Tode, als ich an der verabredeten Stelle mit Militärpolizei eintreffe. Er befürchtet das Schlimmste. Doch die jungen Polizisten sind einfach nur nett. Schweigend fahren wir nach Tunis zurück.

Hier erlebte ich auch schöne Tage. Schon damals war ich leidenschaftlicher Langschläfer. Die 20-jährige Jasira, die Junis den Haushalt führte, musste morgens meist lange und heftig an meine Tür klopfen, um mich wenigstens gegen 10 Uhr wach zu bekommen. Eines Tages wurde ihr das zu mühsam. Sie kam einfach in mein Zimmer und warf mir ein paar Kissen an den Kopf.

Ich öffnete mühsam die Augen und sah, wie sie lachend vor mir stand. »Aufstehen!«, sagte sie, »der Tag ist fast rum.« Doch ich wollte noch eine Runde schlafen. Erst als erneut Kissen an meinen Kopf flogen, richtete ich mich halb auf und schaute sie schlaftrunken an. Jasira war Berberin, dunkelblond, eine Schönheit. Ihre weißen Zähne blitzten fröhlich, wenn sie lachte. Und sie lachte viel. Vor allem jetzt über mein verschlafenes Gesicht.

Ich nahm eines der Kissen und feuerte es zurück. Eine lustige Kissenschlacht begann. Jasira lachte noch mehr. Wir hatten beide heiße Köpfe. Plötzlich ging sie zur Tür und schaute mich verschmitzt an. Dann drehte sie langsam den Schlüssel um und versteckte ihn in ihrem Kleid. »Den findest du so schnell nicht«, prustete sie und stürzte sich balgend auf mich. In der Tat brauchte ich lange, um den Schlüssel zu finden. Erst um 12 Uhr kam ich zum Frühstücken.

Während der nächsten drei Tage wurde ich nun stets durch fliegende Kopfkissen geweckt. Welch herrliches Leben! Doch dann war Jasira plötzlich spurlos verschwunden. Ohne ihr Lachen war das Haus kalt und leer.

Mehmed nahm mich zur Seite. Er erklärte mir, Jasira sei in ihr Dorf zurückgekehrt. Sie habe sich in einen jungen Ausländer verliebt. Die Krise von Bizerta habe viele junge Tunesier emotional völlig verwandelt. Sie seien wie im Rausch. Sie täten Dinge, die sie sonst nie wagen würden. Krieg und Revolution veränderten die Menschen total.

Doch Jasira wisse, dass ihre Familie ihre Beziehung nicht akzeptieren werde. Der junge Mann werde sie nie heiraten. Irgendwann werde sie zurückkommen. Wenn der junge Ausländer in seine Heimat zurückgekehrt und in Tunesien wieder Ruhe eingekehrt sei. Dann klopfte er mir kameradschaftlich auf die Schulter. »Kopf hoch! Mir laufen die Frauen auch immer davon.« Noch heute denke ich oft an Jasira.

Kurz vor meiner Rückkehr nach Deutschland schrieb ich für die tunesische Zeitschrift Technique et hommes den ersten Artikel meines Lebens. Über die Krise von Bizerta aus der Sicht eines deutschen Studenten. Er ist nie erschienen. Der tunesische Chefredakteur nahm mich beiseite und sagte achselzuckend: »Der Artikel ist zu hart. Wir leben von Anzeigen. Auch aus Frankreich. Ich kann das nicht drucken.«

»Klar«, dachte ich. »Der Krieg hat viele Gegner. Aber so richtig aus der Deckung kommen sie selten. Schade.«

Das Massaker von Wiriyamu

Mit der 1947 von Mahatma Gandhi gewaltlos erkämpften Unabhängigkeit Indiens hatte das Zeitalter der Entkolonialisierung begonnen. Die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker war stärker als alle Kolonialarmeen der Welt. Doch es wurde ein langer, mörderischer Kampf. Von beiden Seiten. Auch in Mosambik und Angola, die seit fast einem halben Jahrtausend von Portugiesen besetzt waren.

Ende 1972 war ich in den Bundestag gewählt worden und entwicklungspolitischer Sprecher der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion geworden. Im Juli 1973 ging die Nachricht um die Welt, die portugiesische Armee habe in dem mosambikanischen Dorf Wiriyamu über 400 Einwohner ermordet. Hauptquelle der Meldung war ein Artikel des englischen Paters Hastings in der Londoner Times.6 Hastings berichtete erschütternde Einzelheiten.

Die portugiesische Regierung dementierte sofort. Hastings sei bekanntermaßen ein Lügner. Da Portugal NATO-Mitglied war, wussten viele westliche Staaten nicht, wie sie mit den Anschuldigungen umgehen sollten.

Ich beschloss, mir ein Bild vor Ort zu verschaffen. Im August flog ich nach Mosambik. Dort versuchte die Militärführung erst einmal, mich an der Nase herumzuführen. Zur Besichtigung schlug sie ausschließlich Orte in »befriedeten Gebieten« vor. »Aus Sicherheitsgründen.« Ich spürte, dass ich so nie nach Wiriyamu kommen und nur ein friedliches, fröhliches Mosambik erleben würde. Also stellte ich die Militärführung nach zwei Tagen vor die Wahl: Entweder durfte ich die Orte, die ich besuchen wollte, kurzfristig selbst bestimmen. Oder ich würde wieder abreisen.

Da ich von zwei deutschen Journalisten begleitet wurde, hätte die Abreise einen Eklat bedeutet. Eine politische Niederlage für die ohnehin unter Druck stehende portugiesische Regierung. Die Offiziere erkannten, dass sie sich in eine Sackgasse manövriert hatten. Einen Tag lang telefonierten sie mit Lissabon. Alle paar Stunden kamen Kompromissvorschläge. Keiner war akzeptabel. Ich fing an, meine Sachen zu packen. Dann plötzlich gaben die portugiesische Regierung und das militärische Oberkommando in Mosambik nach. Ich bekam für mein Reiseprogramm freie Hand.

Eine Woche lang fuhren wir mit Minensuchfahrzeugen durch »befreite Gebiete«. Wir flogen halsbrecherisch niedrig über die Wipfel des Urwalds, um nicht ins Feuer der Befreiungsbewegung FRELIMO zugeraten. Wir schliefen auf Bastmatten in den provisorischen Camps der portugiesischen Soldaten. Mitten im Kampfgebiet. Die Nächte waren kurz. Wegen der Hitze und wegen der ständigen Gefahr von Angriffen der FRELIMO. Die Buschtrommeln der Rebellen waren ganz nah.

Bei den meisten der uns begleitenden Soldaten hatte ich einen Stein im Brett. Sie waren oft wehrpflichtige Studenten und fanden es gut, dass ich mich geweigert hatte, mir Potemkin’sche Dörfer zeigen zu lassen. So war ich wenige Tage später dort, wo das Massaker geschehen sein sollte. In Wiriyamu, südlich der Stadt Tete, zwischen den Flüssen Sambesi und Luenha.

Mit Enrique, einem jungen portugiesischen Soldaten, stehe ich im kniehohen Savannengras zwischen verbrannten Hütten und verdorrten Bäumen. Enrique sagt leise: »Hier und im Nachbardorf Chawalla hat das Massaker stattgefunden. Getötet wurden überwiegend Frauen, Kinder und alte Männer. Die Kleinkinder wurden in den Armen ihrer Mütter erschossen oder gegen einen Baum geschlagen.«

Ich gehe durch das Dorf. Über die Gräber der Toten ist Gras gewachsen. Doch selbst das ist schon verwelkt. Die Sonne brennt unerbittlich. »Es waren keine 400 Tote, aber das spielt keine Rolle«, fährt Enrique fort. »Wiriyamu ist unsere Schande. All das wird bald zu Ende sein. Diese Regierung und diese Kriege haben keine Zukunft.« Meine Frage, wie er das meint, beantwortet er nicht. Er hat als Soldat schon zu viel gesagt.

Enrique führt mich zu zwei weiteren Ortschaften, die erst kürzlich zerstört worden sind. Zweihundertachtzig Hütten seien hier ausgeraubt und niedergebrannt worden. Der beißende Geruch verbrannter Holzkohle liegt noch in der Luft. »Ein Rache- und Beutefeldzug der FRELIMO. Sie haben Versorgungsprobleme«, sagt Enrique. Ein Mitglied der Dorfmiliz, drei Frauen und drei Kinder seien bei dem Angriff getötet worden.

Ich frage ihn, warum die FRELIMO ihre eigenen Landsleute ermorde. Enrique schaut mich erstaunt an. »Sie fragen das ernsthaft? Das ist Krieg! Wissen Sie nicht, was Krieg ist?« Zwischen den Hütten finde ich Patronenhülsen. Sie stammen aus China. Die Portugiesen konnten es diesmal kaum gewesen sein. Schweigend steigen wir in unseren Jeep.

In dieser Nacht finde ich noch weniger Schlaf als sonst. Ich bin nach Mosambik geflogen, um die Wahrheit über Wiriyamu zu erfahren. Wahrscheinlich bin ich ihr auch recht nahe gekommen. Aber was ist mit den Vergeltungsaktionen der FRELIMO? Die kämpfen doch für die Freiheit ihrer Landsleute und gegen Unterdrückung. Macht der Krieg auch Freiheitskämpfer zu Mördern?

Am nächsten Tag besichtigen wir in Lourenço Marques (Maputo) ein portugiesisches Gefängnis. Hier werden angeblich europäische Missionare gefangen gehalten und gefoltert. Sie sollen die FRELIMO unterstützt haben. Der Kommandant des Lagers bringt uns in frisch geweißelte Räume. Er will uns zeigen, wie großzügig, sauber und rechtsstaatlich hier alles ist. »Sie werden zugeben müssen, so sehen keine Folterkeller aus«, sagt er stolz.

Enrique deutet unauffällig auf eine bestimmte Ecke des Raumes. Dort schimmert durch die flüchtig aufgetragene Farbe ein großer dunkler Fleck. Getrocknetes Blut. Hier ist offensichtlich doch gefoltert worden. Mit versteinertem Gesicht gehe ich nach draußen.