Du willst es doch auch! - Margriet Sitskoorn - E-Book

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Margriet Sitskoorn

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Beschreibung

Warum naschen wir Schokolade, auch wenn wir uns fest vorgenommen haben, auf Süßes zu verzichten? Weshalb vergammeln wir die Stunde für das Fitnesscenter vor dem Fernseher? Wieso musste es das dritte Paar schicker Pumps sein, trotz Ebbe auf dem Konto? - Obwohl wir felsenfest davon überzeugt sind, die guten Vorsätze umzusetzen und mehr Sport treiben, weniger shoppen und Diät halten möchten, tun wir es trotzdem nicht. Woran liegt das? Was hindert uns daran, uns so zu verhalten, wie wir das eigentlich vorhaben? Warum haben wir uns nicht im Griff? Schuld daran ist unser Gehirn, weiß die Neurowissenschaftlerin Margriet Sitskoorn und führt uns vor Augen, wie wir ticken und unsere Sünden lieben lernen können.

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Seitenzahl: 259

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Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Lübbe Digital

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KGDie niederländische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Passies van het brein. Waarom zondigen zo verleidelijk is« bei Uitgeverij Prometheus/Bert Bakker, Amsterdam.Für die Originalausgabe: Copyright © 2010 by Margriet Sitskoorn Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln Textredaktion: Marion Labonte, Wachtberg Umschlaggestaltung: Manuela Städele Umschlagmotiv: © shutterstock/Doodle art Datenkonvertierung E-Book: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-8387-1025-9 Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

INHALT

Vorwort

Die sieben Sünden und das Gehirn

Habsucht

Neid

Stolz

Trägheit

Wut

Lust

Gefräßigkeit

Leidenschaften des Gehirns

Literatur

Glossar

Schaubild des Gehirns

Abbildungsverzeichnis

Danksagung

VORWORT

Warum fällt es uns manchmal bloß so schwer, sündhaften Verlockungen zu widerstehen? Warum lassen wir uns hin und wieder zu Handlungen verleiten, die für uns persönlich und für andere negative Konsequenzen haben? Wie kommt es, dass wir manchen Reizen scheinbar nichts entgegensetzen können? Warum lassen wir uns zu einer unmittelbaren Befriedigung unserer Bedürfnisse verführen, obwohl wir ahnen, dass wir es später bereuen werden? Warum sündigen wir so oft wider besseren Wissens?

In diesem Buch möchte ich den Zusammenhang zwischen unserem Gehirn und dem verführerischen Sog unserer Sünden beleuchten. Es gibt unzählige Arten zu sündigen: Manche Menschen treiben andere durch ihre Habsucht in den Ruin, andere sind Schokolade oder Sex verfallen und fügen damit ihrem Leib und Liebesleben Schaden zu. Und wieder andere ergeben sich ihrer Wut und entfernen sich schließlich von sich selbst und ihren Mitmenschen. Ich weiß natürlich nicht, welche Sünden Sie begehen oder begangen haben. Aber ich weiß, dass es eine Reihe von Sünden gibt, denen der Zahn der Zeit nichts anhaben konnte: eine Reihe, die gewiss auch eine Sünde enthält, zu der Sie eine Geschichte erzählen könnten; eine Reihe, die eine Sünde – vielleicht sogar zwei, drei oder vier davon – enthält, zu der Sie sich in Ihrer Vergangenheit haben verleiten lassen und die in der Folge Ihr heutiges Leben und vielleicht auch das Leben anderer nachhaltig geprägt hat. Die Reihe, von der ich hier spreche, ist die der sieben Sünden: Habsucht, Lust, Neid, Hochmut, Gefräßigkeit, Wut und Trägheit.

Über diese sieben Sünden wurde – und wird immer noch – viel geschrieben. Philosophen und Theologen, Psychologen und Schriftsteller, Maler und Filmemacher setzen sich seit Jahrhunderten intensiv mit diesen eng verwobenen Sünden auseinander. Dabei ist die Beziehung zwischen den Sünden und dem menschlichen Gehirn jedoch höchst selten thematisiert worden. Die Zeit dafür ist nun reif – sowohl in wissenschaftlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. In den Kognitions- und Neurowissenschaften wächst das Wissen über den Zusammenhang zwischen dem Wesen des Menschen und seinem Gehirn. Themen wie Aggression, Empathie, Ekel, Motivation, Intention, freier Wille, Selbstwahrnehmung und Moralität sind heute Gegenstand der Hirnforschung. Wir erfahren immer mehr darüber, warum wir so handeln, wie wir handeln, und warum wir wollen, was wir wollen. Dieses Wissen verschafft uns nicht nur Einblicke in unsere edlen Motive, sondern auch in unsere weniger achtbaren Beweggründe; es zeigt auf, warum wir übereinander reden, anderen ein Bein stellen, uns auf Diebstahl, Gaunereien, Nachbarschaftsstreitereien und Kämpfe einlassen. Um solche Einsichten und ihren Bezug zu den sieben Sünden geht es in diesem Buch.

Dieses populärwissenschaftliche Buch bietet also weder eine historische Darstellung noch eine theologische oder philosophische Abhandlung der Sünden. Es geht vielmehr auf Entdeckungsreise und sucht nach Antworten auf die Frage, wie die Sünden in unserem Gehirn verankert sind, wie sie uns steuern, uns Stolpersteine in den Weg legen, uns zu Fall bringen und uns wieder aufstehen lassen. Es zeigt auf, wie sie uns zu unsozialem Verhalten animieren, zugleich aber Soziales in sich tragen; wie sie mit Schmerz und Genuss zusammenhängen, wie wir sie ausleben, unterdrücken und an unser Leben anpassen. Und es verdeutlicht, warum wir den Verlockungen immer wieder verfallen und wie die Sünden uns zu guter Letzt zu Weisheit führen können.

Der holländische Originaltitel (Leidenschaften des Gehirns. Warum Sündigen so verführerisch ist) verweist schon in seiner Begrifflichkeit auf den Zusammenhang zwischen Angst und Leiden sowie zwischen Leidenschaft und Hingabe – es sind Ausprägungen der Leidenschaft, die sich auch im Kontext der Sünden und der entsprechenden charakteristischen Verhaltensweisen wiederfinden. Es geht hier also um Dinge, die uns, gelinde gesagt, nicht unberührt lassen; die uns vielleicht sogar stärker berühren, als wir glauben. Während der Arbeit an diesem Buch wurde mir bewusst, dass es unmöglich ist, über das Sündigen zu schreiben oder zu lesen, ohne persönlich involviert zu werden. Mir wurde klar, dass ein Buch über das Sündigen eigentlich ein interaktives Buch ist, das beim Lesen auch autobiografische Bezüge herstellt. Es ruft Erinnerungen, Sehnsüchte und Vorsätze ins Gedächtnis, die das eigene Leben stark beeinflusst und geprägt haben.

Das Buch stellt im Anschluss an ein einleitendes Kapitel Überlegungen zu den genannten sieben Sünden an. Jedes Kapitel beginnt mit der Geschichte eines Menschen, der aufgrund einer (Dys-)Funktion seines Gehirns zum Spielball einer der Sünden geworden ist: Da ist z.B. der Mann, der aufgrund einer Hirnschädigung seine Lust nicht mehr zügeln kann; oder die Frau, die aufgrund einer Erkrankung buchstäblich alles essen will, worauf ihr Blick fällt. Im Anschluss behandeln die einzelnen Kapitel den Zusammenhang zwischen dem Gehirn, der jeweiligen Sünde und dem entsprechend normalen Verhalten. Die Grafiken am Ende des Buches zeigen eine vereinfachte Darstellung des Gehirns mit Verweis auf die wichtigsten Genuss und Schmerz verarbeitenden Areale. Jedes Kapitel weist abschließend ein Dilemma mit Bezug zur im Kapitel thematisierten Sünde auf. Hier geht es unter anderem um Methoden der Einflussnahme auf andere und um Fragen wie: »Würden Sie eine Substanz nutzen, die andere motiviert, Ihnen ihr Geld zu geben?«, oder: »Würden Sie eine Manipulationstechnik anwenden, um jemanden in Ihr Bett zu locken?« Das Buch schließt mit dem Kapitel »Leidenschaften des Gehirns«, das die Erkenntnisse der vorangegangenen Kapitel bündelt. Dort wird zum einen deutlich werden, dass es durchaus Gründe für die große Macht unserer Sünden gibt. Zum anderen wird sich zeigen, dass die Sünden – der zahlreichen Probleme, die sie uns bereiten, zum Trotz – auch tugendhafte Züge in sich tragen.

Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen einen Einblick in die Zusammenhänge zwischen Ihrem Gehirn, Ihren Sehnsüchten und Ihrem Verhalten vermitteln kann und Ihr Interesse an weiteren Erkenntnissen auf diesem Gebiet weckt.

DIE SIEBEN SÜNDEN UND DAS GEHIRN

Die unglaubliche Geschichte des Phineas Gage

Zunächst scheint der Mittwochnachmittag des 13. September 1848 völlig normal zu verlaufen. Ganz in der Nähe des kleinen Ortes Cavendish in Vermont in den USA arbeiten die Gleisarbeiter hart am Unterbau der Rutland-Burlington-Bahnstrecke. Um das Gleisbett legen zu können, müssen sie noch zahlreiche Felsbrocken entfernen. Ihre Spitzhacken schlagen die großen Felsblöcke entzwei, die Bruchstücke werden anschließend in Ochsenkarren verladen und weggebracht. Der Vorarbeiter der Männer, die diese Schwerstarbeit erledigen, heißt Phineas Gage. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt, engagiert, energisch, intelligent und beharrlich.

Phineas ist ein willensstarker Mann mit guter Physis und guten sozialen Fähigkeiten, der respektvoll mit seinen Mitmenschen umgeht und Grobheiten und andere Unarten ablehnt. Er leistet gute Arbeit und ist aufgrund seines fachlichen Könnens und seiner angenehmen Art bei seinen Männern und Vorgesetzten beliebt. Seine Chefs halten ihn sogar für den tüchtigsten und fähigsten Vorarbeiter des Unternehmens.

Neben der Führung seiner Mitarbeiter hat Phineas eine weitere wichtige, nicht ganz ungefährliche Aufgabe. Er muss die Felsbrocken, die auf der Trasse der künftigen Gleise liegen und zu groß sind, um sie mit der Spitzhacke zu bearbeiten, in handhabbare Stücke verwandeln. Dazu bedarf es eines mehrschrittigen Verfahrens: Zunächst bohren seine Männer Löcher in die Felsblöcke, in denen Phineas anschließend Schießpulver und eine Lunte deponiert. Dann drückt er Sand oder eine ähnliche Substanz auf das Schießpulver, um die Kraft der Explosion in den Felsbrocken zu lenken und dadurch das Gestein in Stücke zu reißen. Der Sand wird dabei mit einem speziell dafür hergestellten, fast 110 Zentimeter langen und etwa 6 Kilo schweren Stopfeisen angedrückt, das vorne zu einer Spitze und hinten zu einem etwas breiteren, runden Abschluss geformt ist. Erst wenn alle sich in Sicherheit gebracht haben, erfolgt die Zündung. Unmittelbar darauf kommt es zur Explosion, die den Felsbrocken aufsprengt.

Phineas hat diese Handlungen schon unzählige Male ausgeführt, doch am 13. September 1848 läuft alles anders. Phineas steckt das Schießpulver und die Lunte in das Loch im Fels. Den Eisenstab hält er in der Hand. Vielleicht ruft jemand seinen Namen, vielleicht sieht er etwas Ungewöhnliches – wir wissen es nicht genau. Jedenfalls wird er bei der Vorbereitung der Explosion von irgendetwas abgelenkt. Er wirft einen Blick nach hinten, das Stopfeisen gleitet ihm aus der Hand und auf den Stein. Ein Funke blitzt, ein Knall erschallt – und dann ereignet sich eine enorme Explosion. Von ihrer Wucht wird auch die Eisenstange erfasst; alles geht so schnell, dass keine Zeit für Reaktionen bleibt. Die Stange schießt quer durch Phineas’ Kopf. Sie dringt direkt unterhalb des linken Jochbeins in sein Gesicht ein, schießt hinter seinem Auge durch den vorderen Bereich seines Gehirns, tritt am Scheitel wieder aus dem Schädel aus und fällt in etwa fünfundzwanzig Metern Entfernung zu Boden.

Phineas Gages Schädel und die Stange, die ihn bei der Explosion durchbohrte. Laut John Fleischmann wurden die Fotos 1868 von Dr. Harlow aufgenommen.

Männer rennen schreiend umher. Der Rauch der Explosion verzieht sich. Alle erholen sich allmählich vom ersten Schreck – und dann fällt ihr Blick auf Phineas. Er liegt auf dem Rücken und blickt verstört um sich. Sein Gesicht ist blutüberströmt und in seinem Schädel klafft eine offene Wunde, ein Teil seines verletzten Gehirns ist sichtbar. Einige Männer laufen zu ihm hin und helfen ihm auf, Phineas spricht mit ihnen. Sie bringen ihn zu einem Ochsenkarren, auf den er sich setzen kann. Aufrecht sitzend karren sie ihn über holprige Sandpfade zum Hotel seines Vermieters Joseph Adams in Cavendish.

Als sie dort ankommen, steigt er aus. Er setzt sich auf die Treppe der Hotelveranda und schildert den Umstehenden in knappen Worten, was ihm zugestoßen ist. Alle sind fassungslos: Wieso kann dieser Mann, dem gerade eine Eisenstange durch den Kopf geschossen ist und der so fürchterlich ramponiert aussieht, noch sprechen und laufen? Phineas wartet, während sie Hilfe holen.

Nachdem der Arzt des Ortes, Doktor John Martyn Harlow, endlich gefunden ist, führt er Phineas auf das Hotelzimmer. Er wäscht das Blut ab, reinigt die Wunde und schiebt die losen Schädelfragmente wieder zurück an ihren Platz. Dort, wo Teile des Knochenpuzzles fehlen, bleibt die Wunde offen. Phineas scheint sich zunächst recht gut zu fühlen, doch das ändert sich mit fortwährender Dauer. Nach einer Weile entwickeln sich Ödeme, sein Gehirn schwillt an. Aber Phineas hat Glück im Unglück, denn der offene Schädel verhindert eine tödliche Hirnquetschung und bietet seinem Gehirn Platz, sich auszudehnen. Eine offene Schädelwunde hat andererseits allerdings auch Nachteile, die schon bald zutage treten. Phineas bekommt hohes Fieber, seine Kopfwunde beginnt zu eitern, sein offen liegendes Gehirn ist entzündet. Doktor Harlow tut, was er kann. Er hält die Wunde des Patienten sauber, lässt den Eiter ablaufen und verbindet die Wunden neu. Nach einigen Wochen geht es Phineas besser, das Fieber sinkt, er hat wieder Appetit, die Wunden beginnen zu heilen. Der Patient, dem ein Eisenstab durch den Kopf geschossen war, erholt sich.

Am 25. November, nicht einmal drei Monate nach dem Unfall, ist Phineas wieder so weit genesen, dass er in sein Elternhaus im dreißig Kilometer entfernten Örtchen Lebanon in New Hampshire zurückkehren kann. Doktor Harlow schildert den Befund seines seltsamen Patienten in einem Artikel für das Boston Medical & Surgical Journal: Er hat zwar den Eindruck, dass Phineas vollkommen wiederhergestellt ist, sein Patient kann schließlich gehen und sprechen und scheint sich guter Gesundheit zu erfreuen, doch eines lässt den Arzt nicht ruhen: Phineas scheint nicht ganz er selbst zu sein. 1851 erscheint im American Phrenological Journal and Repository of Science, Literature and General Intelligence anonym ein Artikel über den außergewöhnlichen Heilungsprozess eines Patienten. In ihm heißt es: »Während und nach seinem Genesungsprozess verhielt sich der Mann grob, bediente sich gotteslästerlicher Ausdrücke und benahm sich so vulgär, dass seine Gesellschaft für anständige Menschen nicht zu ertragen war.« Beschreiben diese Worte Phineas Gage? Diesen einst so tüchtigen, intelligenten, sozial kompetenten und beharrlichen Mann?

Unterdessen versucht Phineas wieder in seinem alten Leben Fuß zu fassen. Die Sehfähigkeit seines linken Auges ist zwar in Mitleidenschaft gezogen, davon abgesehen fühlt er sich jedoch stark und gesund. Er kehrt zu seiner Arbeit beim Gleisbau zurück, doch der Unfall hat ihn so verändert, dass seine Arbeitgeber ihn entlassen. Er muss sich etwas Neues suchen. Aber was? Er geht auf Reisen und landet unter anderem in Boston und New York. In New York arbeitet er eine Weile in P. T. Barnum’s American Museum. Sein Auftritt ist Teil einer Freakshow, in der die Zuschauer für 25 Cent zudem »exotische Frauen, Zwerge, Riesen und Meerjungfrauen« bestaunen können. Phineas stellt sich mit der Eisenstange zur Schau, die er überall mit hin nimmt.

1851 arbeitet er in den Stallungen von Jonathan Currier. Dort begegnet er einem Mann, der in Valparaíso eine Postkutschenlinie aufbauen will. Phineas begleitet ihn nach Chile, wo er einige Jahre verbringt. Doch leider verschlechtert sich sein Gesundheitszustand, sodass er nach acht Jahren beschließt, zurückzukehren.

Nach seiner Ankunft arbeitet er zunächst auf einer Farm, aber auch das geht nicht lange gut. Irgendwann im Februar 1860, als er mit seiner Familie am Mittagstisch sitzt, beginnt er am ganzen Körper zu zucken. Er hat einen epileptischen Anfall, dem schon bald weitere folgen. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich dramatisch. Dennoch versucht er immer wieder, eine neue Arbeit aufzunehmen. Doch an jedem Arbeitgeber hat er – wie seine Mutter es formuliert – schon nach kurzer Zeit wieder etwas auszusetzen. Seiner Mutter fällt auf, wie gerne er sich mit seinen kleinen Nichten und Neffen beschäftigt, er unterhält sie mit fantastischen Geschichten. Auch an Haustieren und kleinem Krimskrams hat er große Freude.

Am 18. Mai zieht Phineas zu seiner Mutter. Einige Tage nach seinem Einzug erleidet er erneut einen schweren epileptischen Anfall. Weitere folgen, und schließlich kapituliert sein Körper. Der Mann, dem zwölf Jahre zuvor eine Eisenstange durch den Kopf geschossen war, dem man aufgeholfen hatte, der seinen eigenen Unfall kommentiert und einfach weitergemacht hatte, stirbt am Abend des 21. Mai 1860, neunzehn Tage vor seinem siebenunddreißigsten Geburtstag. Phineas Gage wird auf dem Lone Mountain Friedhof beerdigt.

Einige Jahre später versucht Doktor Harlow, der Phineas und seine Familie aus den Augen verloren hat, herauszufinden, wo sich Phineas aufhält und wie es um ihn steht. Er macht den Wohnort seiner Mutter ausfindig und schreibt ihr einen Brief. Mit Bedauern wird ihm daraufhin mitgeteilt, dass Phineas sechs Jahre zuvor gestorben ist. Doktor Harlow ist sich darüber im Klaren, dass es für eine Autopsie zu spät ist, dass Phineas’ Schädel in wissenschaftlicher Hinsicht aber sehr aufschlussreich sein kann. Daher bittet er Phineas’ Mutter um die Erlaubnis, die Leiche ihres Sohnes zu exhumieren, dem Grab Phineas’ Schädel zu entnehmen und ihm diesen zu überlassen. Phineas Mutter willigt ein. Die Leiche wird an einem trüben Herbsttag des Jahres 1867 exhumiert, der Schädel wird vom Körper getrennt und nach einer langen Zugfahrt bei Doktor Harlow in Massachusetts abgeliefert.

Harlow studiert den Schädel eingehend und beschließt, mehr als neunzehn Jahre nach dem Explosionsunfall, das Schweigen über seinen besonderen Patienten zu brechen. Doktor Harlow hatte, wahrscheinlich aus Gründen der Schweigepflicht, stets wenig über den Zustand seines Patienten mitgeteilt und beständig versichert, Phineas wirke völlig gesund. Nun charakterisiert er ihn in seinen Schriften folgendermaßen: »Das Äquillibrium oder Gleichgewicht zwischen seinen intellektuellen Fähigkeiten und seinen animalischen Trieben scheint zerstört zu sein. Er ist bisweilen launisch, respektlos, gibt sich manchmal hemmungslos seinen niederen Trieben hin (was früher nicht zu seinen Eigenschaften zählte) und zeigt wenig Respekt vor seinen Mitmenschen. Er reagiert ungehalten auf Einschränkungen oder Ratschläge, wenn sie seinen Wünschen entgegenstehen, ist manchmal hartnäckig und halsstarrig, er ist launisch und wankelmütig. Er denkt sich Pläne für die Zukunft aus, die ebenso schnell entworfen werden, wie sie verworfen werden, zugunsten anderer scheinbar leichter durchführbarer Pläne. In seinen intellektuellen Fähigkeiten und Äußerungen kindlich, besitzt er die animalischen Leidenschaften eines starken Mannes. In dieser Hinsicht hatte sich Phineas’ Persönlichkeit so grundlegend verändert, dass seine Freunde und Verwandten sagten, er ›sei nicht mehr Gage‹.«

Phineas’ Schädel sowie die Eisenstange, die ihn durchbohrt hat, können durchaus besichtigt werden. Doktor Harlow hatte sie seinerzeit dem Warren Anatomical Museum der Harvard Medical School in Boston vermacht, wo sie auf Anfrage noch immer zu bewundern sind.

Das Gehirn, die Sünden und die moderne Welt

Das ist eine traurige Geschichte. Phineas Gage, der sich zuvor durch seine Tugenden ausgezeichnet hatte, wurde nach der Schädigung seines Gehirns gewissermaßen durch die Vielzahl seiner Sünden charakterisiert. Er war nicht mehr freundlich, respektvoll, intelligent, energisch und anpackend, sondern verhielt sich – laut Doktor Harlows Beschreibung – launisch, respektlos, ausfallend und geringschätzig gegenüber seinen Mitmenschen. Anders als vor dem Unfall fiel es ihm nun auch schwer, die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Er war halsstarrig, impulsiv und so wankelmütig, dass er Pläne, die er schmiedete, nicht in die Tat umsetzte. Nach seinem Unfall schienen seine animalischen Leidenschaften die Oberhand über seine intellektuellen Fähigkeiten gewonnen zu haben. Obwohl es nicht unmittelbar aus Doktor Harlows Berichten hervorgeht, wird Phineas in späteren Schilderungen fast jede der sieben Sünden zugeschrieben. Was davon der Wahrheit entspricht, lässt sich heute nicht mehr ermitteln. Fest steht jedoch, dass sich seine Persönlichkeit aufgrund der Hirnschädigung drastisch veränderte, zugespitzt formuliert könnte man sagen, aus sittsam wurde sündig. Der Fall des Phineas Gage, der sich tatsächlich ereignet hat, macht deutlich, dass eine Hirnschädigung eine sozial angepasste, verantwortliche Person in einen Menschen verwandeln kann, der sich nicht um soziale Regeln schert und sich viel stärker als zuvor von seinen Primärtrieben leiten lässt.

Diese Schlussfolgerung wirft eine Reihe von Fragen auf. Wenn man sich durch eine Hirnschädigung von einem tugendhaften in einen sündigen Menschen verwandeln kann, entscheidet dann nicht unser Gehirn über unsere Sünden? Können wir einen Heiligen zu einem Sünder machen, indem wir sein Gehirn gezielt schädigen? Und wenn wir das können, funktioniert es dann auch umgekehrt? Können wir einen Sünder durch Eingriffe in seinem Gehirn zu einem Heiligen machen? Oder zumindest zu einem kleineren Sünder? Oder zu einem kleineren Heiligen?

Diese Frage lässt sich nicht ohne Weiteres angemessen beantworten. Aus dem Bericht über Phineas Gage und Berichten jüngeren Datums über Patienten mit ähnlichen Hirnschäden können wir jedenfalls schließen, dass unsere soziale Kompetenz wie auch unsere Fähigkeiten, grundlegende Impulse zu kontrollieren, vernünftige Entscheidungen zu treffen und die Interessen anderer zu berücksichtigen – um nur einige zu nennen –, mit unserem Gehirn zusammenhängen.

Aber wie? Wie hängen all diese Fähigkeiten, die nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch das Leben der Menschen in unserem Umfeld sehr viel angenehmer machen können, mit unserem Gehirn zusammen?

Heute, mehr als anderthalb Jahrhunderte nach seinem Unfall, trägt Phineas Gage noch immer zur Klärung dieser Frage bei. Denn dank der modernen technischen Möglichkeiten ist es einer Gruppe von Hirnforschern der University of Iowa Hospitals & Clinics in Iowa in den USA unter der Leitung von Hanna Damasio gelungen, Phineas wieder auferstehen zu lassen.

Mithilfe des seinerzeit exhumierten Schädels und unter Einsatz einer Vielzahl moderner Technologien rekonstruierte Hanna Damasio den Weg des Eisenstabes durch Phineas’ Gehirn und den dabei entstandenen Schaden.

Ihren Berechnungen zufolge muss der Eisenstab in sehr steilem Winkel in Phineas’ Gehirn eingedrungen sein. Die Untersuchung ergab, dass Phineas in mehrfacher Hinsicht Glück im Unglück hatte: Obwohl sich der Stab quer durch das Gehirn gebohrt hatte, waren einige wichtige Hirnareale nicht in Mitleidenschaft gezogen. In der linken Hirnhälfte war der Stab beispielsweise haarscharf am Sprachzentrum des Gehirns, dem Broca-Areal, vorbeigeschossen, was erklärt, weshalb Phineas anschließend noch normal sprechen konnte. Die motorischen Hirnareale waren ebenfalls verschont geblieben, so war Phineas weiterhin imstande zu laufen. Außerdem waren die somatosensorischen Areale seines Gehirns, die Informationen aus den Sinnen integrieren, unverletzt geblieben. Was aber hat dann Phineas Gages Verhaltensänderung bewirkt? Oder anders formuliert, welche Teile seines Gehirns waren eigentlich beschädigt worden? Der Eisenstab hatte sich ungefähr dort, wo beide Hirnhälften zusammentreffen, quer durch die frontale Hirnrinde, also den vorderen Teil des Gehirns (siehe hintere Grafiken), gebohrt. Nach der von Hanna Damasio und ihren Kollegen erstellten Rekonstruktion war vor allem der untere Bereich der vorderen linken Hirnhälfte verletzt worden. (Der Wissenschaftler Peter Ratiu von der Brigham and Women’s Hospital and Harvard Medical School, Boston Massachusetts, und seine Kollegen gelangten aufgrund ihrer digitalen Rekonstruktion des Unfalls zu einem etwas anderen Schluss. Ihrer Ansicht nach waren im Gehirn nicht beide Frontallappen beschädigt worden, sondern ausschließlich die frontalen Areale der linken Hirnhälfte.

Rekonstruktion des Weges, auf dem sich die Eisenstange möglicherweise durch den Schädel und das Gehirn von Phineas Gage gebohrt hat. Abbildung vom Titelblatt der Zeitschrift Science.

Die Darstellung der entsprechenden Rekonstruktion finden Sie im Internet unter der URL http://content.nejm.org/cgi/content/full/351/23/e21/DC1.

Das in Phineas Gages Gehirn beschädigte Areal bezeichnet man als die ventromediale präfrontale Hirnrinde (siehe Falttafel). Es spielt unter anderem bei Entscheidungsprozessen, bei der Interpretation komplexer sozialer Situationen sowie in Bezug auf die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, eine wichtige Rolle.

Das komplexe Gehirn

Viele der in diesem Buch erläuterten Erkenntnisse beruhen auf Patientenstudien sowie auf Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren. Auch wenn sich in solchen Untersuchungen durchaus feststellen lässt, welche Hirnregionen an bestimmten Emotionen oder Verhaltensweisen beteiligt sind, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass diese Hirnregionen im für unser Verhalten und unsere Emotionen zuständigen Gesamtmechanismus des Gehirns nur kleine Rädchen sind.

Wir wissen heute, dass die Funktionen des Gehirns im Allgemeinen von mehreren miteinander verbundenen und zusammenarbeitenden Arealen übernommen werden, auch wenn einzelne Hirnareale durchaus auf bestimmte Funktionen spezialisiert sein können. Es ist also nicht zutreffend, dass jede Sünde an einer bestimmten Stelle im Gehirn lokalisiert werden kann oder Substanzen wie Neurotransmitter und Hormone immer die gleichen Emotionen oder die gleichen Verhaltensweisen auslösen.

Die Funktionsweise des Gehirns ist viel komplexer. Wir wissen nicht einmal alles über die spezifischen Hirnmechanismen, die an einfachen Verhaltensweisen beteiligt sind – in Bezug auf solch komplexe Verhaltensweisen wie unsere Sünden gibt es also noch eine ganze Menge zu entdecken.

Dieser Teil des Gehirns ist mit Hirnregionen verbunden, die für die Emotionsverarbeitung und die Steuerung des Sozialverhaltens von Bedeutung sind (in der Literatur werden die Begriffe ventromediale präfrontale Hirnrinde und orbitofrontale Hirnrinde oft vermischt und nicht deutlich voneinander abgegrenzt).

Auch heutzutage gibt es Patienten mit Hirnschäden ähnlich denen des Phineas Gage, z.B. nach Operationen von Tumoren im vorderen Bereich des Gehirns. Hanna Damasio und ihr Mann Antonio Damasio haben mehrere dieser modernen Phineas-Gage-Patienten untersucht und aus ihren Studien den Schluss gezogen, dass eine entsprechende Hirnschädigung die Prozesse der Entscheidungsfindung sowie der Emotionsverarbeitung beeinträchtigt. Die Patienten zeigen, analog zu Phineas, häufig ein problematisches Sozialverhalten. Es fällt ihnen schwer zu entscheiden, welches Verhalten für ihr soziales und persönliches Leben langfristig das vorteilhafteste ist. Ursächlich hierfür sind zumeist nicht die intellektuellen Fähigkeiten, denn diese bleiben nach Ansicht der Forscher oft auch nach der Schädigung von Teilen des Gehirns intakt. Das Problem liegt eher in der Balance zwischen Emotion und Ratio.

Wenn wir versuchen, die Erkenntnisse aus den Untersuchungen von Phineas-Gage-Patienten auf unseren Alltag zu übertragen, müssen wir uns womöglich eingestehen, dass nicht nur Patienten mit einer Hirnschädigung unter einer Beeinträchtigung der ventromedialen präfrontalen Hirnrinde leiden, sondern dass diese Hirnregion vielmehr gelegentlich bei uns allen nicht optimal funktioniert. Wie sonst wäre es zu erklären, dass wir zwar einsehen können, warum bestimmte Verhaltensweisen – einen über den Durst zu trinken, zu schnell aus der Haut zu fahren oder sich egoistisch zu verhalten – nicht gut für uns sind, wir sie aber beibehalten? Leiden wir nicht alle hin und wieder an einer Frontallappenstörung? Und wie kommt es dazu? Oder anders formuliert: Warum sündigen wir ständig wider besseren Wissens?

Um diese Frage zu beantworten, scheint es mir, nach diesen einleitenden Worten über unsere Sünden, an der Zeit für die Gretchenfrage: »Was ist Ihre persönliche Hauptsünde? Was bringt sie Ihnen und welchen Preis zahlen Sie dafür? Lassen Sie sich in Ihrem Leben – vorsichtig formuliert – von Ihren Genitalien steuern? Hat das gar schon seinen Tribut gefordert? Gönnen Sie Ihren Mitmenschen kaum die Luft zum Atmen, oder macht erst eine Prise Schadenfreude Ihren Tag perfekt, selbst wenn das Gefühl sie quält, die dadurch entstandene Verwüstung sei nicht besonders konstruktiv für ihr eigenes Leben? Können Sie Essen nicht widerstehen, obwohl Sie dadurch buchstäblich Fett ansetzen und Ihnen dieser kurzfristige Genuss die Aussicht auf ein langes Leben nimmt? Können Sie Ihrer aggressiven Impulse nicht Herr werden, obwohl Ihnen eigentlich klar sein müsste, dass die mentalen und physischen Schläge, die Sie austeilen, Sie selbst ebenso hart treffen wie Ihr Gegenüber? Sind Sie manchmal davon überzeugt, dass Sie besser sind als der Rest der Welt und Ihnen mehr als anderen zusteht, fühlen sich dabei aber vielleicht etwas einsam? Und last but not least, greifen Sie nicht ein, wenn Sie sehen, dass in Ihrem Umfeld etwas schiefläuft? Reden Sie sich stattdessen ein, dass Sie zu viel um die Ohren haben, um sich zu engagieren, und verhalten Sie sich so, als ginge Sie das alles nichts an, auch wenn Ihre Passivität Ihr Selbstwertgefühl untergräbt?

Habsucht, Lust, Neid, Gefräßigkeit, Hochmut, Wut und Trägheit. Egal, welche Sünde Sie begehen und welche Folgen dies nach sich ziehen mag – Sie sind keinesfalls als Einziger davon betroffen, denn die sieben Hauptsünden wirken verführerisch auf uns alle und für alle Zeit. Schon im ersten Jahrhundert nach Christus kursierte anscheinend eine christliche Shortlist der Sünden. Im vierten Jahrhundert nach Christus erstellte der Mönch Evagrius Ponticus eine Liste mit acht Hauptsünden, die sein Schüler Johannes Cassianus in der westlichen Welt verbreitete. Zu Beginn des fünften Jahrhunderts verfasste der spanische Schriftsteller Prudentius ein Gedicht mit dem Titel »Psychomachia« (Der Seelenkampf), in dem er sieben Sünden beschrieb. Und im sechsten nachchristlichen Jahrhundert trug Papst Gregor der Große die klassischen Hauptsünden zusammen, die weitgehend mit der uns bekannten Siebenerreihe übereinstimmen. Diese sieben Sünden spielen auch heute noch eine wichtige Rolle.

Denn unabhängig davon, ob Sie gläubig sind oder nicht, ist die Aktualität der sieben Sünden im Alltag augenscheinlich. Denken Sie in Bezug auf Hochmut nur an die protzigen Geländewagen, die im Stadtverkehr in der zweiten Reihe parken, oder an den Gedanken, jemand sei als Ehepartner für das eigene Kind nicht gut genug oder das eigene Viertel sei für Ausländer zu chic. Führen Sie sich in Bezug auf Habsucht den Griff in den Prämientopf, die überquellenden Schränke in Ihrer Wohnung oder den Verlust jeglicher Contenance bei der Aufteilung von Erbschaften vor Augen. Stellen Sie sich bei Neid den Tratsch über einen bestimmten erfolgreichen Kollegen oder das stereotype Lästern über jede hübsche Frau vor oder den Stich, den es einem versetzt, wenn jemand aus dem eigenen Bekanntenkreis besser dasteht als man selbst. Bei Wut treten uns sofort Bilder von Hooligans vor Augen, von Pöbeleien im Nachtleben und von Nachbarn, die sich das Leben durch ihre aggressive Art gegenseitig vergällen. Bei Lust brauchen Sie nur an den Missbrauch von Kindern oder Frauen in der Sexindustrie zu denken oder auch nur an Sex als kommerziellen Bestandteil von Werbung, Videoclips und Filmen. Auch Gefräßigkeit kann man sich leicht ausmalen: Fastfood, Chipstüten im XXL-Format und Wettkämpfe im Hotdog-Essen sind nur einige Beispiele. Und denken Sie bei Trägheit nicht nur an Couch-Potatos, sondern auch an Sprüche wie: »Was geht mich das an?« oder an vollkommenes Desinteresse und Passivität gegenüber Missständen wie der ungerechten Behandlung eines Freundes, der Vereinsamung der eigenen Mutter oder der Verschmutzung der Innenstadt.

Die konkreten individuellen Sünden sind also keine isolierten Phänomene, sondern haben soziale Folgen. Sie bilden den Ausgangspunkt für zahlreiche große Missstände in unserer Welt, wie Krieg und Terrorismus, oder globale Probleme wie die enorme, durch unseren unaufhaltsamen Konsumtrieb verschuldete Umweltverschmutzung, ökonomische Krisen, Menschenhandel oder Sterblichkeit: Auf der einen Seite der Welt sterben Menschen durch Übergewicht, auf der anderen Seite durch Unterernährung. Unsere Sünden spiegeln unsere Einstellung zur Gesellschaft und entwerfen ein Bild der Zukunft dieser Gesellschaft.

Eine eingehende Betrachtung unserer Sünden lohnt nicht nur wegen ihrer unmittelbaren individuellen Bedeutung, sondern auch wegen ihrer Verbindung zur heutigen und zukünftigen Gesellschaft. Was lässt sich aus Sicht der Neuro- und Verhaltenswissenschaften über die persönlichen Verfehlungen sagen und welche sinnvollen Schlussfolgerungen können wir aus diesen Erkenntnissen für unseren Alltag ziehen?

Ich bin mir der unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach der wichtigsten Sünde natürlich bewusst. Nichtsdestotrotz werde ich mit der Habsucht beginnen, da die daran beteiligten Netzwerke des Gehirns eine wesentliche Basis der übrigen Sünden sind. Ich bin zudem der Meinung, dass Habsucht den Nährboden für viele andere Sünden bereitet – und ich bin durchaus nicht die Erste, die diese Auffassung vertritt. Schon Apostel Paulus brachte es wunderbar auf den Punkt: Habsucht ist die Wurzel allen Übels. Lassen Sie uns im Anschluss an das erste Dilemma also mit der Habsucht beginnen.

Dilemma: Meine persönlichen Top Seven

Ich habe Sie bereits gefragt, welche Sünde in Ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt. Ist es Hochmut oder Gefräßigkeit? Lust oder Trägheit? Oder vielleicht doch Wut, Neid oder Habsucht? Können Sie (sich selbst) eingestehen, wovon Sie sich mehr, als Ihnen guttut, leiten lassen?

Ich möchte diese allgemeine Frage anhand einer Frageliste konkretisieren, die 2004 in England in Zusammenhang mit einer BBC-Sendung durchgeführten Umfrage basiert:

Welche der sieben Sünden haben Sie irgendwann einmal begangen? Erstellen Sie eine Rangliste entsprechend der Häufigkeit und geben Sie der Sünde, die Sie am häufigsten begangen haben, eine 1, der folgenden eine 2 usw.

Welche der sieben Sünden haben Sie diesen Monat begangen? Erstellen Sie auch hier eine Rangliste entsprechend der Häufigkeit und geben Sie der Sünde, die Sie am häufigsten begangen haben, eine 1, der folgenden eine 2 usw.

Welche der sieben Sünden würde Ihnen das größte Vergnügen bereiten? Welche das geringste?

Welche der sieben Sünden hatte die negativsten Auswirkungen auf Ihr Leben?

Welche der Sünden hatte die negativsten Auswirkungen auf das Leben anderer?

Welches Fazit würden Sie anhand der Antworten auf diese Fragen ziehen?

Welchen Verlockungen sind Sie am stärksten verfallen? Welche Sünden hatten negative Folgen für Sie und worin bestanden diese Folgen? Welche Ihrer Sünden haben anderen geschadet und warum? Mithilfe welcher Sünden gelingt Ihnen, was Sie erreichen wollen? Sind Sie Ihren Sünden ausgeliefert oder haben Sie Ihre Sünden im Griff?

Möchten Sie etwas an Ihrem Verhalten ändern? Wenn ja, was? Notieren Sie Ihr Fazit auf Seite 181 unter »Meine persönlichen Top Seven« und lesen Sie danach in Ruhe hier weiter. Im letzten Kapitel komme ich noch einmal auf Ihr Fazit zurück.

HABSUCHT

»Tust du es für Geld oder aus Liebe?«

Sagen Sie mir, was ich falsch mache!

Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, sondern die Dinge gleich beim Namen nennen. Ich bin eine gut aussehende (sogar unglaublich gut aussehende) junge Frau von fünfundzwanzig Jahren. Ich bin eloquent und elegant.

Ich möchte einen Mann heiraten, der mindestens eine halbe Million Dollar im Jahr verdient. Mir ist sehr wohl bewusst, dass das vermutlich so klingt, als sei ich hinter dem großen Geld her. Aber wenn Sie bedenken, dass die Mittelschicht in New York etwa eine Million im Jahr verdient, ist eine halbe Million wirklich nicht zu viel verlangt.