Dunbridge Academy - Anyone - Sarah Sprinz - E-Book

Dunbridge Academy - Anyone E-Book

Sarah Sprinz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich will nicht irgendwer für sie sein, ich will Alles sein

Charles Sinclair ist Victoria Belhaven-Wynfords bester Freund. Seit der fünften Klasse ist er derjenige, dem Tori sich anvertrauen kann. Nur von den Bauchschmerzen, die einfach nicht verschwinden wollen, seit sie ihren Schwarm Valentine datet, kann sie ihm nicht erzählen. Unterbewusst spürt Tori, dass es nicht Liebe ist, was Valentine und sie verbindet - anders als bei ihrem besten Freund. Doch Sinclairs Aufmerksamkeit gehört ihrer Mitschülerin Eleanor, an deren Seite er bei der alljährlichen Theateraufführung der Dunbridge Academy als Romeo auf der Bühne stehen wird. Nicht dass es Tori etwas ausmachen würde. Wäre sie nicht diejenige, die in der Drehbuch-AG nun auch noch höchstpersönlich die Liebesgeschichte für ihn und seine Julia schreiben soll ...

"Sarah Sprinz schreibt Bücher, von denen man vor dem Lesen nicht weiß, wie sehr das Herz sie braucht. ANYONE ist eine authentische, bewegende Geschichte über perfekt-unperfekte Charaktere, das Vertrauen in sich selbst und wahre Freundschaft. Ich habe mich in jedes Wort verliebt." JULIA von JULEZREADS

Band 2 der DUNBRIDGE-ACADEMY-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Sarah Sprinz

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 558

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

Irgendwer

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Danke

Triggerwarnung

Die Autorin

Die Romane von Sarah Sprinz bei LYX

Impressum

SARAH SPRINZ

Dunbridge Academy

ANYONE

ROMAN

ZU DIESEM BUCH

Seit dem Neujahrsball der Dunbridge Academy fühlt sich Victoria Belhaven-Wynford nicht mehr wie sie selbst. Womöglich liegt es daran, dass sie seitdem Valentine Ward, den Rugbycaptain und heimlichen König des Internats, datet, ohne zu wissen, ob er wirklich der Richtige für sie ist. Ihr bester Freund Charles Sinclair scheint davon jedenfalls wenig begeistert. Sinclair, den Tori nicht um seine Meinung gebeten hat. Und Sinclair, den sie ein einziges Mal in ihrem Leben geküsst hat, und seitdem erfolglos versucht, über ihn hinwegzukommen, denn anscheinend sind sie zwar Seelenverwandte, doch eben nicht mehr als das. Dass Sinclair beim alljährlichen Schultheaterstück des Internats den Romeo spielen soll und seine ganze Aufmerksamkeit ihrer Mitschülerin Eleanor widmet, die für die Rolle der Julia ausgewählt wird, kommt Tori da gerade recht. Bis sie für die Aufführung in der Drehbuch-AG an der Liebesgeschichte feilen soll, die ihr bester Freund und sie im echten Leben wohl niemals haben werden …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Sarah und euer LYX Verlag

Für alle, die sich selbst verloren haben.

Es wird nie zu spät sein, euch wiederzufinden.

All the world’s a stage,

and all the women and men

merely players.

William Shakespeare

PLAYLIST

two ghosts – harry styles

fuck up the friendship – leah kate

cigarette daydream – cage the elephant

night changes – one direction

partners in crime – finneas

people watching – conan gray

idfc – blackbear

to be so lonely – harry styles

1 step forward, 3 steps back – olivia rodrigo

fool’s gold – one direction

always you – louis tomlinson

just fucking let me love you – lowen

moral of the story – ashe feat. niall horan

bored – billie eilish

same mistakes – one direction

entertainer – zayn

favorite crime – olivia rodrigo

all too well (10 minute version) – taylor swift

why won’t you love me – 5 seconds of summer

the beach – wolf alice

i want to write you a song – one direction

out of my league – fitz and the tantrums

love story – taylor swift

we made it – louis tomlinson

IRGENDWER

CHARLES

Siebte Klasse

Tori ist mein erster Kuss, in einem dunklen Flur während der Horrorfilmnacht Ende September. Valentine Ward aus der Achten hat die ursprüngliche DVD gegen eine mit Altersfreigabe »ab achtzehn« ausgetauscht, kaum dass Mr Ringling das Fernsehzimmer verlassen hat. Wenn er Aufsicht hat, schläft er meistens im Aufenthaltsraum ein und hat keine Ahnung, was wir eigentlich tun. In dieser Nacht hoffe ich, dass ihn der Wind weckt, der um die alten Gemäuer pfeift.

Ich würde gerne sagen, dass ich Tori nach draußen folgen musste, weil sie sich gruselt, aber die Wahrheit ist, Tori folgt mir nach draußen, als ich nach den ersten dreiundzwanzig Minuten aufstehe. Es ist nicht so, als hätte ich Angst. Oder würde heimlich weinen. Nein, gar nicht. Wirklich nicht.

Ich ziehe nur gerade ernsthaft in Betracht, heute nicht im Internat zu schlafen, sondern Dad anzurufen, um ihn zu bitten, mich abzuholen. Andererseits wäre ich dann zu Hause ganz allein in meinem Zimmer. Oben im Schlafsaal höre ich wenigstens, dass die anderen da sind. Henry, der manchmal im Schlaf redet, und Gideons Schnarchen, wenn er auf dem Rücken liegt.

»Hey.«

Ich fahre herum, zu dieser Tori-förmigen Gestalt, die plötzlich im Halbdunkeln vor mir steht. Sie ist die verfluchte Meisterin im Sich-Anschleichen, das müsste ich eigentlich inzwischen wissen. 

»Hey.« Ich straffe die Schultern. »Alles klar?«

»Geht es dir gut?«, fragt sie, und in ihren Augen glitzert das bisschen Licht von der Treppenhausbeleuchtung. Ein Windstoß bläht die Vorhänge auf und bewegt ihre Haare. Tori sieht anders aus, wenn sie ihr offen über den Rücken fallen. Im Unterricht trägt sie sie immer geflochten oder hochgebunden. Die Dielen knarzen, als sie einen Schritt auf mich zukommt.

»Ja, ich … mir ist nur eingefallen, dass ich noch …« Ja, was? »Na ja, ist eigentlich auch egal.« Ich schlucke. Warum kann ich nicht erst denken und dann reden?

»Ich finde Horrorfilme auch bescheuert«, sagt sie.

Ich spanne mich an. Auch … Was heißt hier auch? Wer sagt, dass ich sie bescheuert finde? Ich liebe Horrorfilme. Sie machen mir nichts aus. Aber warum sage ich dann nichts? Ich kann nur weiter auf dieser Fensterbank sitzen und den Atem anhalten. Tori steht vor mir, und sie bewegt sich nicht. Ihre Augen, die eigentlich braun sind, sehen fast schwarz aus. Mein Herz stolpert, als sie näher kommt. Sie steht zwischen meinen Knien-nah. Ich kann ihr pfirsichiges Shampoo riechen-nah. Sie beugt sich vor und küsst mich-nah.

Sie küsst mich.

Schnell, kurz, irgendwie unbeholfen. Es ist ein Wimpernschlag, ein Sekundenbruchteil. Es ist so schnell vorbei, dass ich nicht einmal sagen kann, ob ihre Lippen weich sind. Ob sie so sind, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich zweifle ernsthaft daran, dass das gerade wirklich passiert ist, aber mein rasender Puls scheint sich ziemlich sicher zu sein.

Tori weicht zurück, während ich die Hand hebe, um meinen Mund zu berühren. Mein Herz pocht laut in meinen Ohren, und ich will, dass sie es noch mal macht. Ich will ihre Handgelenke umfassen und sie wieder zu mir ziehen. Aber ich wage es nicht. Weil sie meine beste Freundin ist. Meine beste Freundin, die ich küssen will und … Verdammte Scheiße. Ich will sie küssen. Ich will es. Ich will nicht irgendwer für sie sein, ich will alles sein.

Ich stehe auf, um nach ihr zu greifen, doch genau in der Sekunde dringen unterdrückte Schreie und Lachen aus dem Fernsehraum. Wir zucken gleichzeitig zusammen, ein Windstoß drückt den Fensterflügel neben mir nach innen, irgendwo fliegt laut knallend eine Tür zu.

Als ich Tori wieder anschaue, sieht sie ein bisschen aus wie ein blasses Gespenst. Ihre Augen sind riesig und erschrocken. Sie beißt sich kurz auf die Unterlippe, bevor sie zu sprechen beginnt.

»Tut mir leid, ich …«

»Nein«, sage ich schnell und mache einen Schritt auf sie zu. Bereut sie es? Ist es, weil ich nicht reagiert, geschweige denn den Kuss erwidert habe? Ich sollte …

»Hey!« Valentine Wards Stimme lässt mich herumfahren. Er kommt gerade aus Richtung der Toiletten. »Macht ihr rum, oder was?«

Toris Blick streift mich, er fühlt sich an wie eine heiße Ohrfeige. Und dann dreht sie sich um und stößt ein Lachen aus, bitter und nervös. »Ähm, nein? Sinclair hat nur Angst.«

Natürlich. Charles Sinclair, der sich nie traut, der immer alles falsch macht.

»Ich habe keine Angst«, sage ich, während ich ihr folge.

Und woher sollte ich wissen, dass es die erste Lüge sein würde von unendlich vielen, die wir einander erzählen?

1. KAPITEL

VICTORIA

»Was hast du so lange da drinnen getan?«

Lächle. Er meint es nicht so. Und selbst wenn, es macht dir nichts aus.

»Mich kurz frisch gemacht«, erwidere ich so gleichgültig wie möglich und straffe die Schultern. In meinem Kopf höre ich die Stimme meiner Mutter.

Wenn du ein Kleid dieses Kalibers tragen willst, musst du aufrecht gehen. Schultern nach hinten, heb das Kinn.

Ich weiß, wie es funktioniert. Ich hatte genügend Gelegenheit, für Anlässe wie den Neujahrsball der Dunbridge Academy zu üben. Valentine ebenfalls, schließlich lautet sein Nachname Ward, doch obwohl ich einen Schritt näher trete, reicht er mir nicht den Arm. Er schaut mich gar nicht richtig an, sondern wendet sich wieder seinen Zwölftklässler-Freunden zu. Sie lachen und unterhalten sich, machen ihre Witze, die ich nicht verstehe, während sie rauchen und die eisige Luft in meine Lunge kriecht. Die Musik aus dem Festsaal ist dumpf im Hintergrund zu hören. Schülerinnen und Schüler stehen in kleinen Grüppchen auf dem gepflasterten Platz zwischen den alten Gebäuden aus dunklem Backstein. Teure Anzüge, atemberaubende Ballkleider, glitzernde Armreife und Ohrringe im Wert von Kleinwagen, Armbanduhren, so exklusiv und kostspielig, dass sie nur zu Anlässen wie diesem getragen werden. Es ist der eine Abend im Jahr, an dem die Dunbridge Academy ihrem Ruf als Eliteinternat alle Ehre macht. Man kann das Geld geradezu riechen. Ein bisschen so wie bei den Abendessen und Veranstaltungen, zu denen ich meine Eltern manchmal begleite.

Ich sehe zu der geöffneten Flügeltür, aus der ich gekommen bin. Eben noch war mir viel zu heiß, aber die Kälte hier draußen erinnert mich daran, dass es Mitte Januar ist. Mein sandfarbenes Kleid ist bodenlang und hat enge Ärmel, doch der dünne Satinstoff wärmt nicht im Geringsten. Eine feine Gänsehaut zieht sich über meinen Nacken. Ich verschränke fröstelnd die Arme und trete neben Val. Mein Rückenausschnitt ist definitiv spektakulär und war das ausschlaggebende Argument für dieses Kleid, doch gerade wünschte ich, ich hätte mich für etwas Wärmeres entschieden. Ich sollte wieder reingehen. Ich rauche nicht und könnte im Warmen warten, bis Val zurück ist. Oder er könnte mir sein Jackett anbieten, aber das scheint ihm nicht im Entferntesten in den Sinn zu kommen.

Meine Füße tun weh, ich bin müde, aber es ist noch nicht einmal Mitternacht. Reiß dich zusammen, Belhaven-Wynford. Letztes Jahr warst du bis kurz nach halb zwei auf der Tanzfläche und hattest die Nacht deines Lebens. Werde ich langsam alt, ist es das? Oder liegt es daran, dass ich damals mit Sinclair, Henry, Olive und den anderen viel mehr Spaß hatte? Wo sind sie überhaupt? Val sieht nicht so aus, als würde er mich vermissen, wenn ich jetzt für einen Moment zu meinen Freunden gehe. Ich bin kurz davor, mich auf die Suche nach ihnen zu begeben, als ich erneut Leute aus dem Foyer nach draußen kommen sehe.

Sinclair hat beide Hände in den Hosentaschen seiner dunklen Anzughose vergraben, und er ist betrunken. Ich erkenne es an seiner Haltung, selbst im schummrigen Licht der Laternen und Feuerschalen, die draußen aufgestellt wurden. Flackerndes Licht an den Mauern des Innenhofs und der glühende Blick meines besten Freundes, der sich sofort auf mich richtet. Ich kenne Sinclair in der dunkelblauen Schuluniform der Dunbridge Academy, deren Jackett er leidenschaftlich hasst und das er fast nur über die Schulter geworfen trägt, doch der schwarze Anzug, den er zu den Lederschuhen und dem weißen Hemd ausgesucht hat, schmiegt sich wie angegossen an seinen schlanken Körper. Ich weiß nicht, was er mit seinen blonden Haaren gemacht hat, aber sie fallen ihm heute besonders lässig in die Stirn. Er sollte mir dankbar sein, dass ich ihm ausgeredet habe, kurz vor dem Ball noch zum Friseur zu gehen. Er sieht immer aus wie ein frisch geschorener Pudel, wenn er danach zurückkommt. Aber heute Nacht sieht er gut aus, und er hat keine Ahnung.

Emma, die mit Henry hinter ihm geht, winkt mir zu, als sie mich entdeckt. Sie windet sich aus Henrys Arm, den er ihr über die Schulter gelegt hat, und läuft auf mich zu. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand dieses eng anliegende dunkelblaue Kleid so rocken würde wie sie. Emma ist die sportlichste und zugleich eleganteste Person, die ich kenne, und gemeinsam mit Henry, der tragen kann, was er will, und immer aussieht wie ein verfluchter Prinz, sind sie das ultimative Power-Couple.

»Bin gleich wieder da«, murmele ich und drehe mich von Val und der Rauchwolke weg, die gerade in meine Richtung weht. Mir ist ein bisschen übel, was nicht ausschließlich an dem Zigarettenqualm liegt. Den ganzen Tag schon spüre ich eine gewisse Grundanspannung, die dafür gesorgt hat, dass ich beim Abendessen kaum einen Bissen runterbekommen habe. Ich warte noch auf den Moment, an dem die Nervosität endlich nachlässt und ich den Ball genießen kann.

»Und, wie ist die Stimmung, Freunde der Nacht?« Es ist erstaunlich, wie gut gelaunt ich klingen kann, obwohl ich mich innerlich taub fühle.

Sinclairs Blick legt sich schwer auf mich, als ich das Frösteln unterdrücke. Er nimmt die Hände aus den Hosentaschen, und ich weiß, dass sie warm sind. Aber ich gehe nicht zu Sinclair und lasse ihn den Arm um mich legen, einfach, weil wir das immer so machen und er der einzige Kerl ist, der mich berühren kann, ohne dass es etwas bedeutet. Ich bleibe stehen, Emma sagt etwas, aber der Inhalt ihrer Worte dringt nicht zu mir durch. Sinclair weicht meinem Blick aus. Ich versuche zu lächeln, aber es ist schwierig, weil ich nicht aufhören kann, mich zu fragen, warum es seit einer Weile so seltsam zwischen uns ist. Warum ich mich wie eine Verräterin fühle, weil ich mit Val hier bin und den Abend mit ihm und seinen Freunden verbringe anstatt mit meinen eigenen. Es ist schließlich nicht so, als hätte Sinclair mich an Vals Stelle gefragt, ob ich seine Begleitung sein möchte. Ich habe wie jedes Jahr darauf gewartet, weil jeglicher Feminismus meinen Körper verlässt, wenn es um dieses Neujahrsball-Thema geht, und ich insgeheim gefragt werden will, so wie die ganzen Protagonistinnen in all den Büchern gefragt werden. Von ihm. Sinclair. Natürlich halb ironisch, als beste Freunde, auch wenn alle etwas hineininterpretiert hätten. Aber Sinclair hat mich nicht gefragt. Natürlich nicht. Er hat Ellie Inglewood gefragt, die damit bei ihren Freundinnen angegeben hat. Jetzt hat Sinclair ein paarmal mit ihr getanzt und anschließend nur noch bei Henry und den anderen herumgestanden. Normalerweise wäre ich mit Gideon gegangen oder mit Omar. Jemandem, den ich mag und gut kenne. So gut, dass ich mir sicher sein kann, dass er nichts von mir will. Tja, aber in diesem Jahr ist nichts normal, denn ich gehe mit Val, der garantiert etwas von mir will. Das ist es schließlich, was mir an ihm gefällt. Gewollt werden. Wer will nicht gewollt werden von Valentine Ward, dem Captain des Rugbyteams und heimlichen König der Dunbridge Academy?

Emma fächelt sich ein bisschen Luft zu und kichert, also ist sie mit großer Wahrscheinlichkeit angetrunken. Henry beugt sich zu ihr und küsst sie. Die einzige Sache, die mich am Neujahrsball stört. Der Alkohol, der jedes Jahr in rauen Mengen heimlich eingeschleust wird.

Ich schaue zu Sinclair, der aus seinem Jackett schlüpft. Eine steile Falte hat sich zwischen seine Augenbrauen gegraben, als er es mir reicht. Ich zögere.

»Du frierst«, erklärt er knapp. Seine Stimme klingt kühl, aber gleichzeitig ist da etwas in seinen hellen Augen, das mich weiche Knie bekommen lässt.

Bevor ich auch nur daran denken kann, das Jackett zu nehmen, spüre ich einen schweren Arm um meine Schultern.

»Gehen wir wieder rein?«

Ich rieche den Alkohol in Vals Atem und will den Kopf wegdrehen, aber ich zwinge mich, es nicht zu tun. Am Ende wird er sauer, wenn ich ihn jetzt vor meinen Freunden bloßstelle. Er ist empfindlich, was das angeht, das ist nichts Neues. Und er hat seine Gründe, auch wenn ich mir wünschen würde, dass er sich mir dazu öffnen würde. Aber seit wir mehr miteinander zu tun haben, kann ich an einer Hand abzählen, wie oft Val über seine Schwester gesprochen hat. Sein Verhältnis zu ihr scheint nicht besser geworden zu sein, nachdem sie die Dunbridge Academy vor ein paar Jahren verlassen hat, um in Oxford zu studieren.

»Gerne.« Ich nicke, während Sinclair sein Jackett wieder anzieht. Seine Lippen sind eine schmale Linie, so fest presst er sie aufeinander.

»Wo hast du Ellie gelassen?«, fragt Val in diesem herablassenden Tonfall, auf den Sinclair absolut allergisch reagiert. »Schon ins Bett gebracht, oder ist sie mit ihren Kindergartenfreundinnen spielen?«

»Val«, murmele ich beschwichtigend und versuche ihn zur Seite zu schieben. Es ist die eine Sache, die mich wirklich nervt. Dass er und Sinclair ständig aneinandergeraten und diese unnötigen Machtspielchen treiben müssen.

Sinclair ballt die Hände zu Fäusten. »Schnauze, Ward!«

»Nicht so frech, okay?«, sagt Val und macht einen Schritt auf ihn zu. Er ist größer als Sinclair, und auch wenn ich nicht glaube, dass sie unreif genug sind, um sich wirklich zu prügeln, werde ich nervös.

»Ja? Sonst was?«, zischt Sinclair. »Wird dein beschissener Onkel davon hören? Schade, dass er nicht mehr hier unterrichtet.«

»Pass auf, was du sagst.«

»Val … Lass uns gehen.« Ich ziehe Valentine am Arm zurück, aber er schüttelt meine Hand ab.

»Weiß deine Mutter, dass du auf ihrem Neujahrsball trinkst?«, fragt er.

»Nein, aber sie wird sich freuen zu erfahren, woher der Alkohol kommt.«

»Fick dich, Sinclair«, knurrt Val. Ich atme leise auf, als er sich endlich mitziehen lässt. Es fühlt sich falsch an, mit ihm Richtung Eingang zu gehen und Sinclair und die anderen stehen zu lassen. »Sorry«, murmelt er, sobald wir außer Hörweite der anderen sind. »Ich weiß, das war unnötig und sie sind deine Freunde.«

Ich öffne den Mund, aber ich bin zu überrascht, um etwas zu sagen. Zumindest etwas Angemessenes. »Nicht schlimm.« Äh, doch? Ich finde es nicht in Ordnung, wie er mit meinen Freunden spricht. Aber anscheinend merkt Val das selbst. Und er wirkt wirklich schuldbewusst und vergräbt die Hände in den Hosentaschen.

»Das hier ist genauso bescheuert wie die lächerlichen Galas meiner Mutter«, sagt er und bleibt stehen. »Alle sind nur da, um gesehen zu werden.«

Ich nicke und denke an die Veranstaltungen von Veronica Ward, zu der meine Familie regelmäßig eingeladen ist. Die Villa von Vals Familie befindet sich eine knappe Dreiviertelstunde von meinem Elternhaus entfernt. Unsere Väter golfen zusammen, wenn sie nicht gerade als Begleitung unserer Mütter bei irgendwelchen Geschäftsessen erscheinen. Vals Mum ist ein großer Name in der Immobilienbranche, während meine Mutter als Galeristin die Upper Class mit Gemälden ausstattet, deren Wert mitunter in der Größenordnung netter Einfamilienhäuser liegt. Sie arbeiten häufig zusammen. Eine Hand wäscht die andere, könnte man sagen. Die Wahrheit ist jedoch, dass man in unseren Kreisen einfach gern unter sich bleibt.

Der Name Ward war mir schon als Kind ein Begriff. Valentine dürfte es mit Belhaven-Wynford nicht anders gehen. Es stand außer Frage, dass wir uns an der Dunbridge Academy wieder begegnen würden, schließlich ist das Internat die Anlaufstelle der britischen High Society, um ihren Sprösslingen Zugang zu erstklassiger Bildung zu ermöglichen. Böse Zungen behaupten, dass hier praktischerweise auch die Erziehung für sie erledigt wird, aber darüber kann ich nicht urteilen, schließlich kenne ich es nicht anders. Wäre ich eine Figur in einem meiner Romane, müsste ich dieses Leben in der elitären Blase wohl aus Prinzip verabscheuen, aber die Wahrheit ist, dass ich zu schätzen weiß, was Mum und Dad William und mir ermöglichen. Es wäre undankbar, das nicht anzuerkennen, auch wenn der Druck, den der gesellschaftliche Einfluss meiner Familie mit sich bringt, manchmal schwer auf meinen Schultern lastet. Neben meinem Bruder ist Val tatsächlich der Einzige, mit dem ich darüber reden kann. Meistens bin ich froh, dass meine Freunde damit nichts zu tun haben. Aus wohlhabenden Elternhäusern stammen sie zwar alle, doch die Lebensrealität meiner Familie ist ihnen trotzdem fern.

»Wir können auch gehen«, schlage ich vor. Meine leise Hoffnung verpufft, als Val den Kopf schüttelt. Wäre ja auch zu schön gewesen, endlich aus diesen High Heels zu kommen.

»Nein, schon gut«, meint er. »Außerdem siehst du zu heiß aus, um jetzt zu verschwinden. Die anderen sollen noch ein bisschen länger Grund haben, neidisch zu sein.«

Mir wird heiß. Die anderen … Also Sinclair. Wobei ich nicht glaube, dass mein bester Freund eifersüchtig auf Val wäre. Mir ist schließlich auch egal, dass Sinclair auf Eleanor aus der Zwölften steht. Völlig egal.

»Wie du möchtest«, sage ich.

Val lächelt, ein Anblick, den ich nicht oft zu sehen bekomme. Normalerweise ist sein Gesicht ähnlich hart wie der Ausdruck in seinen braunen Augen. Seine Knochenstruktur ist nicht von dieser Welt. Valentine Ward, Wangenknochen, Wangenknochen, Wangenknochen und eine klassische Nase, die ihn wie einen dieser stolzen griechischen Götter aussehen lässt. Er ist schon ziemlich attraktiv, vor allem wenn er wie jetzt einen perfekt sitzenden dunklen Anzug trägt, der seine Schultern betont, die auf die genau richtige Art und Weise breit sind. Valentine Ward ist groß, schlank und athletisch. So wie man sich den Rugbycaptain eines Eliteinternats eben vorstellt.

Er legt seine Hand an meinen unteren Rücken. »Ich habe gehört, ihr kommt nächstes Wochenende zu uns zum Essen«, sagt er, während wir hineingehen.

»Dann hast du mir etwas voraus«, erwidere ich. »Ich weiß von nichts.«

»Meine Mutter möchte, dass ich dabei bin. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, deine Eltern zu begleiten. Würde den Abend um einiges erträglicher machen.«

Ich zögere. Es ist nicht so, als wüssten meine Eltern nicht, dass Val und ich uns annähern, wie Mum es zu nennen pflegt. Aber es wäre das erste Mal, dass wir als Paar vor ihnen auftreten. Falls wir das überhaupt sind. Ein Paar … Ich habe keinen blassen Schimmer, aber ich möchte auch nichts überstürzen. Wir gehen gemeinsam auf den Neujahrsball, und das kann alles und nichts bedeuten. Als Val mich vor den Weihnachtsferien gefragt hat, ob ich seine Begleitung sein möchte, galt mein erster Gedanke Sinclair. Erst dann konnte ich mich freuen. Val hat sich wirklich Mühe gegeben. Er ist mit mir durch Ebrington Tales geschlendert, obwohl ich weiß, dass er Bücher sterbenslangweilig findet, bevor wir im Blue Room Café heiße Schokolade getrunken haben und er mich schließlich gefragt hat. Es war absolut richtig, Ja zu sagen, auch wenn ich danach die halbe Nacht wach lag und mir das Gesicht meines besten Freundes vorstellen musste, wenn er davon erfahren würde.

»Ich rede mal mit ihnen«, sage ich rasch. »Kommt Pippa auch?«

Vals Miene verhärtet sich, während er den Kopf schüttelt. Es ist immer kritisch, seine Schwester zur Sprache zu bringen. Philippa Ward hat vor vier Jahren den Abschluss an der Dunbridge Academy gemacht, ehe sie mit drei Stipendien ihr Jurastudium in Oxford aufgenommen hat. Sie ist die absolute Überfliegerin und der ganze Stolz der Wards. Nicht dass Valentines Eltern auf ihn nicht auch stolz wären, aber sie sind sehr auf die schulischen Leistungen ihrer Kinder fokussiert. Und Val glänzt nicht gerade im Unterricht. Seit sein Onkel nicht mehr am Internat unterrichtet, scheint es sogar noch enger für ihn zu werden.

»Nein, sie hat Prüfungen«, entgegnet er knapp und zieht die Hand zurück. Großartig. Es ist jedes Mal ein spitzer Stich in die Brust, wenn er so abblockt, anstatt seine Gefühle zu zeigen. Ich rede mir ein, dass er es nie gelernt hat. Veronica und August Ward sind keine kalten Menschen, aber ich habe sie auch nicht gerade für ihre überschwängliche Herzlichkeit im Gedächtnis.

»Warte«, sagt Val und schaut kurz zu beiden Seiten, dann geht er entschlossenen Schrittes zur Garderobe, die sich seitlich im Foyer befindet. In einer relativ uneinsehbaren Ecke entdecke ich Cilian, der sich gerade über einen Tisch beugt. Mir wird kalt, als ich begreife, was sie hier machen.

Ich habe es immer für ein Gerücht gehalten, dass die Abschlussklässler heimlich koksen, aber anscheinend war das naiv von mir. Ich bleibe stehen, während Val auf die anderen zugeht. Ein paar Achtklässler kommen aus dem Saal und werfen uns skeptische Blicke zu. Hoffentlich sieht uns keiner der Lehrer. Ich beiße mir leicht auf die Unterlippe, während ich mich umsehe.

»Tori.« Vals Stimme klingt fragend. Als ich mich zu ihm drehe, zieht er auffordernd die Augenbrauen nach oben.

Ich schüttele rasch den Kopf. »Nein danke.«

Danke … Bescheuerter geht’s nicht.

»Ach komm schon.« Cilian schaut auf.

»Ich möchte nicht«, sage ich mit der festesten Stimme, zu der ich gerade fähig bin.

»Du bist eine Belhaven-Wynford, machen wir uns nichts vor. Der Schnee gehört bei euch doch zum guten Ton.«

»Lass gut sein«, springt mir Val zu meiner Überraschung bei. In seiner Stimme liegt etwas Bedrohliches, das Cilian sofort verstummen lässt. Dieser wirft mir einen abschätzigen Blick zu, bevor er sich wegdreht.

»Sorry«, sagt Val in meine Richtung. »Ich mache das normalerweise nicht, aber die letzten Wochen waren echt beschissen.«

Ich nicke nur in die seltsame Stille, die plötzlich herrscht, während Val sich über den Tisch beugt und einen Finger an seine Nase legt. Es wirkt nicht gerade so, als täte er das hier zum ersten Mal. Und es gefällt mir nicht. Es gefällt mir überhaupt nicht. Ich finde es schon schlimm genug, dass alle trinken, aber vielleicht bin ich auch zu empfindlich. Irgendwie kann ich Val sogar verstehen. Seit sein Onkel die Dunbridge Academy verlassen musste, hat er es nicht gerade leicht. In weniger als acht Wochen beginnen die Abiturprüfungen der Zwölftklässler, und na ja, er hat womöglich auf seine Unterstützung gesetzt. Ich bin selbst alles andere als eine Streberin, aber meine Noten sind einigermaßen solide. Als ich Val letztens angeboten habe, dass wir zusammen lernen könnten, hat er das ein bisschen in den falschen Hals bekommen. Wir haben gestritten, er hat den Nachmittag mit diversen Langhanteln und dem Rudergerät im Fitnessraum des Internats verbracht, und ich habe beschlossen, mich nicht mehr einzumischen.

Val richtet sich wieder auf. Er fährt sich mit dem Handrücken über die Nase, legt den Kopf für einen Moment in den Nacken. Seine Nasenflügel beben, während er die Luft einzieht.

»Alles okay?«, frage ich leise, als er anschließend seinen Arm um meine Schultern legt.

Er nickt, ohne mich anzusehen. »Willst du tanzen?«

Ich zögere, denn wenn ich ehrlich bin, würde ich am liebsten zu Sinclair, Emma und den anderen. Es ist der erste Neujahrsball, den ich nicht mit meinen besten Freunden verbringe. Aber es ist auch der erste, bei dem ich ein echtes Date habe. Es ist das, was ich wollte. Ich zwinge mich zu einem Lächeln.

»Gerne.«

Val trinkt aus der Ginflasche, die Cilian ihm reicht, und mein Magen zieht sich etwas zusammen. Ich schüttele den Kopf, als Val sie mir hinhält.

»Vielleicht später.«

Lüge.

Val sagt nichts, aber er verdreht die Augen, während er die Flasche erneut an seine Lippen führt. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.

Laute Musik empfängt uns, als wir durch die großen Flügeltüren in den Ballsaal treten. Ich erkenne den Song bereits an den ersten Takten. »Thinking Bout You« von Ariana Grande. Die Tanzfläche ist voll, Pailletten und die Kristallleuchter glitzern im Licht. Mein Magen macht einen kleinen Hüpfer, als Val mir den Arm reicht, während wir die wenigen Stufen der breiten Steintreppe vom Eingang hinabgehen. Als ich kurz zu ihm schaue, sieht er wieder versöhnlicher aus. Das Licht fällt auf sein Gesicht, wirft Schatten über seine scharfen Züge. Ich bin mit Valentine Ward auf dem Neujahrsball. Es ist wirklich wahr.

Und alle sehen zu. Ich spüre die Blicke auf mir, als wir unten ankommen. Val nimmt seinen Arm nicht weg. Er führt mich in die Mitte des Saals, vorbei an den Leuten, die sich am Rand der Tanzfläche an den Stehtischen unterhalten. Mittelstufenschülerinnen und -schüler, die sich gegenseitig anstoßen und verstohlen auf uns deuten.

Es fühlt sich ein bisschen an wie ein Traum, als Val sich zu mir dreht und die Hand an meinem Rücken platziert. Ich spüre seine Muskeln, als ich seinen Oberarm greife. Es ist nur ein winziger Moment, doch ich denke plötzlich an Sinclair und den Tanzkurs in der Achten. Als der Bizeps meines besten Freundes überraschend hart war und ich ihn irgendwie nicht anfassen konnte, ohne dieses flaue Gefühl im Magen zu bekommen. Wie Mr Acevedo uns fast vor die Tür geschickt hätte, weil wir in jeder Stunde nur hysterisch gelacht und die Schritte falsch ausgeführt haben. Es trifft mich wie ein Stromschlag, als ich über Vals Schulter hinweg zum Eingang hinaufschaue. Direkt in Sinclairs ausdrucksloses Gesicht. Er lehnt oben am Geländer neben der Flügeltür. Emma und Henry sind dazu übergegangen, hemmungslos rumzuknutschen, Gideon steht neben ihm, seine Lippen bewegen sich. Aber Sinclair gibt sich nicht einmal Mühe, so zu tun, als hörte er zu. Er schaut nach unten. Zu Val und mir, und sein Blick gräbt sich auf direktem Weg in meine Seele.

»Hey, hier spielt die Musik.«

Ich drehe den Kopf zurück zu Val. Sein Lächeln passt nicht zu seiner scharfen Stimme. Hat er Sinclair und die anderen bemerkt, oder war das gerade nur witzig gemeint? Ich suche in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er verärgert ist, finde aber keine.

»Sorry.« Ich lächle.

Val zieht mich etwas näher. »Hast du Spaß?«, fragt er.

Ich nicke, es ist ein Reflex. »Ja, sehr.«

»Ach, Tori …« Er seufzt kopfschüttelnd, während wir uns im Takt der Musik bewegen. »Was mache ich falsch?«

»Wieso?«, entgegne ich sofort. »Es ist großartig, ehrlich.«

»Willst du lieber zu deinen kleinen Freunden?«

Ist das wirklich so offensichtlich? Ich muss mir mehr Mühe geben.

»Nein. Ich bin mit dir hier.«

»Das bist du«, sagt Val. Auf einmal sieht er mir in die Augen. Nicht nur kurz, beiläufig, es ist ein richtig tiefer Blick, der mich von innen heraus lähmt. Küssen wir uns jetzt? In den Romanen und Filmen wäre es nun an der Zeit dafür. Tanzfläche, eng umschlungen. Vorbeugen, Augen schließen. Hilfe.

Ich weiß nicht, ob Val meine Panik spürt. Er weicht etwas zurück, hebt den Arm, ich drehe mich. Als er mich anschließend wieder zu sich zieht, spüre ich seine Hand weiter unten als noch gerade eben. Ein nervöses Kribbeln fließt durch meinen Körper. Von meinem Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Es ist fast so, als würde ich jede seiner Berührungen überdeutlich wahrnehmen. Das Lied endet, und natürlich ist es wie in all diesen schlechten Highschool-Filmen. Eine langsame Nummer beginnt. Val legt beide Hände an meinen Po und drückt mich an seinen Körper.

»Vorsicht, mein Freund.«

Keine Ahnung, wo sie plötzlich herkommt, doch bevor ich verstehe, was geschieht, rückt Eleanor Attenborough Vals Hände an meinem unteren Rücken zurecht. Und mit zurecht meine ich deutlich nach oben.

»Du hältst dich doch für einen Gentleman, nicht wahr?« Sie wirft ihm einen Kuss zu, als er empört den Mund öffnet. Ihr Blick streift mich, sie mustert mich kurz. Es ist kein einschüchternder Blick, eher ein aufmerksamer. Ein Ist es okay für dich, was hier gerade passiert?-Blick.

Sie dreht sich erst weg, als ich unsicher lächle, und verschwindet in der Menge.

»Alter, Eleanor«, murmelt Val, bevor er sie nachäfft. »Vorsicht, mein Freund … Scheiße, ist sie eifersüchtig, oder was?«

Ich bleibe stumm. Möglich, dass Val das anders sieht, aber auf mich wirkt es nicht gerade so, als traure Eleanor ihm nach. Wie lange waren die beiden überhaupt zusammen? Höchstens zwei Monate – selbstverständlich lange genug, dass jeder an der Dunbridge Academy darüber gesprochen hat. So ist das hier nun mal.

»Wenn du mich fragst, hat die sie nicht mehr alle.« Ich kann nicht reagieren, so schnell nimmt Val meine Hand und zieht mich mit sich. »Wie auch immer, lass uns abhauen.«

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es keine gute Idee ist, ihm zu widersprechen, also folge ich ihm. Val wirkt heute irgendwie etwas sprunghaft. Gerade wollte er schließlich tanzen und noch nicht gehen. Liegt das am Kokain? Dann sollte er jetzt erst recht nicht allein sein, oder?

Sinclair, Gideon, Emma und Henry sind verschwunden, als wir die Stufen zur Tür hinaufgehen. Vals Freunde im Foyer ebenfalls. Er schaut mich nicht an, sondern zieht sein Handy aus der Tasche, während wir nach draußen gehen.

»Die sind garantiert hinter der Turnhalle«, murmelt er und zögert. »Ist dir kalt?«

Mein Magen hüpft, als er tatsächlich sein Jackett auszieht und es mir reicht. Geht doch. Das ist mein erster Gedanke. Der zweite: Oh mein Gott, Valentine Ward bietet mir seine Jacke an. Sie ist mir natürlich zu groß, und ich liebe es.

»Wollen wir zu den anderen?«, fragt er.

Ich nicke. »Klar.«

»Oder willst du jetzt doch lieber zu deinen Freunden?«

Er fragt es ohne diesen Vorwurf in der Stimme, aber sein Blick ist schwer von Erwartungen, als er mich ansieht. Es gibt nur eine richtige Antwort, das weiß ich.

»Nein.« Ich schüttele den Kopf. Zumal ich auch gar nicht weiß, wo sie nun sind. »Lass uns gehen.«

Val lächelt dieses Lächeln, bei dem sich nur ein Mundwinkel hebt. Es ist so attraktiv.

»Ich wusste, dass du dich richtig entscheidest«, sagt er. Wir gehen um die Ecke, und er drückt mich gegen eine Wand, in seinem Jackett und der Dunkelheit. Mein Herz explodiert. »Victoria Belhaven-Wynford, du bist zu cool für deine Elftklässler-Freunde, hat dir das schon mal jemand gesagt?«

»Du bist der Erste.«

Val schmunzelt. »Bin ich das?«

Und dann küsst er mich.

Es ist eine einzige fließende Bewegung, und ich habe sie nicht kommen sehen. Ich spüre die Kälte der Wand durch sein Jackett und meinen pulsierenden Herzschlag, direkt an Vals Lippen.

Atme durch die Nase. Schließ die Augen. So steht es in all den Romanen. Gott, sogar die Frauen in den Büchern, die das zum ersten Mal machen, kriegen es hin. Sie haben es im Blut. Und das hier ist nicht mal mein erster Kuss. Okay, es ist der erste richtige, aber wenn ich die Augen zumache, ist da Sinclair auf dieser Fensterbank, und die blonden Haare fallen ihm vor die Augen, während wir gleichzeitig zurückweichen.

Val umfasst meinen Kopf und zieht mich näher. Er fragt nicht, ob das hier in Ordnung ist. Er nimmt mich in Besitz, als wäre es die einzig überlebenswichtige Aufgabe einer Frau, in Besitz genommen zu werden. Bücher haben mir beigebracht, dass das romantisch ist, aber gerade fühlt es sich irgendwie eher bedrohlich an. Wie eine Aufforderung zu etwas, für das ich eventuell gar nicht bereit bin.

Ich weiche nicht zurück, weil ich dazu keine Möglichkeit habe. Und weil ein Teil von mir genießt, was gerade passiert. Mein Magen kribbelt, meine Knie sind weich.

Ich zucke zusammen, als Leute näher kommen. Val schenkt ihnen keine Beachtung. Er schiebt sein Bein zwischen meine Knie, und mein Körper reagiert. Nervöses Pochen. Ich küsse ihn.

Und mein bester Freund sieht dabei zu.

Es ist ein leerer Blick aus Sinclairs Augen, und er schießt eiskalt auf direktem Weg in meinen Bauch. Ein Sekundenbruchteil vergeht, dann dreht er sich weg. Der unterdrückte Laut, der mir entfährt, lässt Val aufhören.

Seine Lippen glänzen, seine Pupillen sind weit, als er zurückweicht. Er macht mir auf eine erregende Art und Weise Angst.

»Bin ich der Erste?«, wiederholt er.

Ich weiß nicht, was er hören will. Würde es ihm gefallen, wenn es so wäre? Der Kuss mit Sinclair damals in der Siebten zählt genau genommen nicht. Er war nur Spaß. Ich nicke. Mein Mund ist trocken.

2. KAPITEL

CHARLES

Sie küsst ihn.

Und ja, was soll ich sagen? Es fühlt sich furchtbar an.

Tori küsst Valentine Ward. Oder er küsst sie, ich kann nicht länger darüber nachdenken, denn es macht mich wahnsinnig. Da ist nur heiße, lähmende Verzweiflung in meinem Bauch, die oben schwimmt, egal wie viele Schlucke von diesem verfickten Gin ich nehme.

Tori kann tun und lassen, was sie will, aber muss es wirklich hier direkt vor meinen Augen sein? Ich hätte nicht auf diesen beschissenen Neujahrsball gehen sollen. Es ist lächerlich. Ellie Inglewood ist längst abgezischt, um mit ihren Freundinnen unangenehme TikToks zu drehen. Mit Sicherheit lästern sie auch, weil ich so langweilig bin. Ich habe nicht mal einen Versuch unternommen, sie zu küssen, dabei hat sie das garantiert gehofft. Es ist das Bild, das alle von mir haben. Sinclair, der weiß, was er will, und es sich selbstbewusst nimmt. Der Kondome im Spind hat, aber in Wirklichkeit nicht einmal in die Nähe davon kommt, sie zu benutzen. Es ist einfacher, sich hinter frechen Sprüchen und zweideutigen Kommentaren zu verstecken, als zu dem zu stehen, was man tatsächlich ist. Ungeküsst. Na ja, nicht ganz, aber zu mehr als diesem Kuss mit Tori damals habe ich es bedauerlicherweise nicht gebracht. Kein Wunder, dass sie lieber mit Valentine Ward rummacht, denn im Gegensatz zu mir scheint er zu wissen, was er tut.

»Willst du nicht mal eine kleine Wasserpause einlegen?«, fragt Gideon.

Er soll die Schnauze halten. Er ist selbst betrunken, wenn auch nicht so sehr wie ich. Was solls? Es ist der Neujahrsball. Alle wissen, dass wir trinken, niemanden interessiert es. Na gut, es gibt auch diese Menschen wie Henry, die stocknüchtern sind. Und er klebt an Emmas Lippen, als wäre sie der einzige Mensch auf der Welt. Ich gönne es meinem besten Freund, so ist es nicht, aber in letzter Zeit bin ich einfach sehr wütend.

»Nein«, sage ich also und ignoriere Gideons Kopfschütteln. »Wollen wir noch mal rein?«

»Alter, ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre. Wenn die Lehrer uns so sehen …«

»Die sind doch auch alle dicht.«

»Deine Mum garantiert nicht.«

Ich gebe einen unwilligen Laut von mir. Okay, das sollte meine Mutter – und gleichzeitig Rektorin der Dunbridge Academy – tatsächlich nicht sehen. Dass ich ihr Sohn bin, setzt die Schulregeln leider nicht einfach außer Kraft. Im Gegenteil. Manchmal glaube ich, Mum ist besonders streng mit mir, damit niemand in Versuchung kommt, ihr vorzuwerfen, sie würde mich bevorzugen. Die Null-Promille-Grenze für alle unter achtzehn gilt auch für mich. Wenn wir erwischt werden, sind wir dran. Die Verwarnung, die Henry, der Experte, uns letzten Herbst mit seinem sehr nachvollziehbaren Saufgelage nach dem Tod seiner Schwester eingebrockt hat, ist mit Beginn des neuen Halbjahrs im Januar glücklicherweise verfallen, aber man muss es ja nicht gleich wieder drauf anlegen.

Womöglich habe ich doch recht viel getrunken, wir sind plötzlich in einem der alten Gewächshäuser. Ich habe vergessen, wie wir hergekommen sind. Aber ich habe nicht vergessen, wie Valentine Ward Tori rückwärts gegen diese Mauer gedrückt hat. Mir wird nämlich kotzübel, wenn ich nur daran denke, dass er sie anfasst. Warum lässt sie das zu? Der Kerl ist widerlich, und sie ist viel zu schlau für ihn.

Ich trinke weiter. Es brennt gar nicht mehr in meiner Kehle. Dafür dreht es sich ein wenig, wenn ich die Augen schließe, aber das ist nicht so schlimm. Ich würde gerne liegen. Ja, eine gute Idee.

Irgendjemand versucht mich zu halten, ich höre Stimmen und klirrendes Glas. Okay, mir ist ein bisschen schlecht, aber es ist mir egal. Henrys Gesicht wird kurz über mir scharf. Er sagt etwas und schaut wieder weg. Wie spät ist es überhaupt? Vielleicht schlafe ich kurz. Meine Augen sind müde. Mein Kopf ist müde, mein Herz irgendwie auch. Fucking Valentine. Ich hasse ihn wirklich. Tori ebenfalls. Warum ist sie eigentlich so schön? Auch jetzt schon wieder. Ihr Gesicht dreht sich, aber ich will es anfassen. Ich will ihr sagen, dass ich sie liebe, aber das kann man ja nicht tun, ohne alles kaputt zu machen. Diese Beste-Freunde-Scheiße. Es ist so frustrierend. Muss sicher toll sein, dieses Arschloch zu küssen. Also sage ich das.

»Was, Sinclair?«

Ihre Stimme, sie klingt so weich. Weiche Tori-Stimme. Das macht keinen Sinn, oder?

»Musst du kotzen?«

Ich hoffe nicht. Aber ich hoffe eine Menge anderes. Nicht viel davon wird wahr, das wissen wir ja. Aber Toris Finger in meinen Haaren sind warm, und mein Kopf ist schwer, mein Kopf ist so schwer. Ich glaube, sie legt den Arm um mich.

Wehe, sie geht weg.

VICTORIA

Vals Pupillen sind weit und mein Magen ein kleiner Knoten aus Angst. Vielleicht bin ich paranoid, aber unter Drogeneinfluss stehende Menschen beunruhigen mich. Ich denke, ich habe meine Gründe.

Und trotzdem bin ich mit ihm und einer Handvoll anderer Zwölftklässler draußen hinter der Turnhalle, wo eine inoffizielle zweite Party steigt. Weil der Ball lahm ist und ich mich nicht getraut habe, zuzugeben, dass ich gerne noch mal zurück würde. Irgendwie sagt mir mein Gefühl, dass ich mit Sinclair sprechen muss. Er sah richtig fertig aus, als er beobachtet hat, wie Val mich küsst. Fertig und sehr betrunken. Und das sieht ihm nicht ähnlich, denn mein bester Freund weiß, dass ich damit nur schwer klarkomme. Anders als Val, aber ich werde den Teufel tun und mit ihm darüber sprechen. Die Hintergründe meiner Abneigung gegenüber Alkohol und anderen Drogen gehen Val und vor allem seine Familie nichts an.

Irgendjemand hat eine Bluetooth-Box dabei, aus der aggressiver Rap schallt. Val hat mich nicht noch einmal geküsst, er redet jetzt mit seinen Freunden. Ihre Stimmen sind laut, ihr Lachen irgendwie bedrohlich. Die meisten Geschichten, die sie erzählen, verstehe ich nicht. Also lächle ich und lehne zum wiederholten Mal den Alkohol ab, der hier in Strömen fließt.

Was passiert eigentlich, wenn man kokst und trinkt? Geht das zusammen, oder muss ich befürchten, dass Val und die anderen hier demnächst Herzrhythmusstörungen bekommen und leblos zusammenbrechen? Allerdings wirken sie nicht gerade so, als wäre diese Kombination eine Premiere für sie. Und es sind auch Leute in der Nähe, die noch einigermaßen zurechnungsfähig wirken. Eleanor Attenborough und ihre Freundinnen zum Beispiel. Sie stehen ein paar Meter weiter. Ich traue mich nicht, zu ihnen zu gehen, auch wenn mir mein Gefühl sagt, dass ich mich in ihrer Runde vielleicht besser amüsieren würde. Aber ich will nicht die kleine Elftklässlerin sein, die alle nur nervt.

Val könnte eigentlich mit mir reden. Also nicht mit mir allein, das erwarte ich gar nicht. Schließlich ist das der Neujahrsball, und er will eine gute Zeit mit seinen Freunden haben. Völlig nachvollziehbar. Aber na ja, er könnte mich ein bisschen mehr mit einbeziehen, anstatt mich links liegen zu lassen. Andererseits bin ich ja froh, dass er nicht mit mir in irgendeinen dunklen Flur wollte, um Dinge zu tun, für die ich nicht bereit bin. Das hätte ich ihm dann auch klipp und klar mitgeteilt. Denke ich zumindest.

Obwohl ich sein Jackett über den Schultern trage, ist mir kalt. Es ist eben immer noch Januar. Die meisten anderen haben sich inzwischen entweder umgezogen oder tragen zumindest Jacken über ihren Ballkleidern.

Vielleicht sollte ich auch kurz nach oben in mein Zimmer und mir etwas Wärmeres überwerfen. Allerdings bezweifle ich, dass ich dort angekommen die Motivation aufbringen würde, zurück nach unten zu gehen. Es kommt mir langsam wirklich spät vor. Ich will nur wissen, wie viel Uhr es ist, als ich auf mein Handy schaue, aber stattdessen springen mir die Nachrichten von Emma entgegen.

E: Wo bist du?

E: Tori? Alles okay? Ich will nicht nerven, aber vielleicht kannst du kurz zu uns kommen?

T: Ich bin bei Val und den anderen hinter der Turnhalle. Wo seid ihr?

Zu meiner Überraschung ist Emma online. Sie beginnt sofort zu tippen.

E: Auf dem Weg zum Jungsflügel. Henry und Gideon bringen Sinclair ins Bett.

Mir wird wieder ein bisschen wärmer. Genau genommen sogar heiß.

T: Wieso?

E: Er hat es ein bisschen mit dem Alkohol übertrieben …

T: Ich komme

Als ich aufschaue, steht Val immer noch bei den anderen und scheint sich nicht dafür zu interessieren, was ich mache. Eigentlich sollte ich mich verabschieden, aber vielleicht ist er froh, wenn ich ihn jetzt einfach in Ruhe lasse. Vorhin war da schon wieder dieser genervte Unterton in seiner Stimme, als ich neben ihm bei seinen Freunden stand. Ich verstehe den Kerl nicht. In einem Moment ist alles großartig, im nächsten kippt die Stimmung, und ich habe keine Ahnung, was ich jetzt schon wieder falsch gemacht habe. Wenn wir Zeit zu zweit verbringen, ist er anders. Manchmal kommt es mir so vor, als müsste er vor seinen Freunden und insbesondere den Rugbyjungs um jeden Preis so wirken, als hätte er keine Gefühle.

Meine Füße tun weh, ich verfluche die Absätze der Louboutins, während ich den dunklen Weg entlang zum Internat laufe. Sein Jackett gebe ich Val gleich zurück. Es wird mit Sicherheit nicht lange dauern, er wird gar nicht merken, dass ich kurz weg war, und bevor ich wieder zur Turnhalle gehe, kann ich mir in meinem Zimmer schnell etwas Wärmeres anziehen. Rund um den Ballsaal herrscht immer noch reges Treiben, während ich auf den Ostflügel zusteuere. Als ich mehrmals mit den Schuhen in den Fugen zwischen den unebenen Pflastersteinen hängen bleibe, stoße ich ein frustriertes Stöhnen aus. Ich halte mich am Bogen einer der Arkaden fest, während ich erst aus dem linken, dann dem rechten Schuh schlüpfe. Der Boden ist eiskalt, aber gerade ist das eine richtige Wohltat für meine pochenden Füße. Außerdem bin ich so schneller.

Die Flügelzeit ist heute außer Kraft gesetzt, zumindest für uns Ältere, aber trotzdem fühlt es sich verboten an, um diese Uhrzeit die Treppen zum Schlaftrakt der Jungs hinaufzulaufen. Auf dem Flur der Elftklässler ist Licht. Henrys und Sinclairs Türen stehen offen. Als ich mich nähere, kommt Henry gerade aus seinem Zimmer, eine Wasserflasche und ein nasses Handtuch in den Händen. Für einen Augenblick wirkt er ertappt, aber dann erkennt er mich.

»Ah, da bist du ja.« Mit einem Nicken deutet er zu Sinclairs Zimmer. »Er ist ziemlich raus.«

Vorwürfe liegen mir auf der Zunge, während ich Henry durch die Tür folge. Warum habt ihr ihn nicht gestoppt? Ich dachte, in dieser Clique achten wir aufeinander. Aber ich darf nichts sagen, schließlich habe ich es selbst nicht für nötig gehalten, heute bei meinen Freunden zu bleiben.

Der Raum ist voller Leute. Emma steht mit verschränkten Armen und einem besorgten Gesichtsausdruck an der Wand, Gideon hockt bei Sinclair auf dem Bett und hält ihn an der Schulter, um zu verhindern, dass sein Oberkörper nach vorne kippt. Omar zieht ihm die Schuhe aus.

Ich werde taub und ruhig. Es ist nicht so, als würde ich so etwas zum ersten Mal sehen, nur war es noch nie mein bester Freund, um den ich mich kümmern musste. Sein Gesicht ist weiß, seine Augen sind halb geschlossen.

Ich stelle meine Schuhe auf den Boden, werfe Vals Jackett über einen Stuhl und nehme Henry das Handtuch ab. Es ist kalt und schwer in meiner Hand.

»Hat er schon gekotzt?«, frage ich.

»Ja, auf dem Weg hierher«, sagt Emma. »Denkt ihr, wir sollten Dr Henderson holen?«

»Nein, das gibt nur Stress.« Und ich weiß, was zu tun ist.

Omar macht Platz, während ich zu Sinclair aufs Bett rutsche. Inzwischen lehnt er mit dem Rücken an der Wand.

»Hey.« Super, er reagiert nicht. Immerhin stöhnt er leise, als ich ihm das nasse Handtuch auf die Stirn drücke. Sinclairs Kopf sinkt gegen meine Hand. »Du bist so bescheuert«, murmele ich. Ich meine, was soll die Kacke? Warum schießt er sich so ab?

»Ich glaube, er war kurz bewusstlos, Tori.« Emmas Stimme bebt. Ich kann sie verstehen. Es ist schlimm, wenn man so etwas zum ersten Mal sieht, aber solange man ein paar Dinge beachtet, ist eigentlich alles in Ordnung.

»Wenn er gekotzt hat, müsste es gleich besser werden.« Ich lege die Finger unter sein Kinn. Sein Kopf ist schwer, aber seine Haut ist weich. Als Sinclair blinzelt, wird mir ein bisschen flau im Magen. Seine Augen sind blau und betrunken. Ich bekomme eine Gänsehaut, als er mit schwerer Zunge meinen Namen murmelt.

»Ja, du Vogel«, sage ich, während ich ihm das kalte Handtuch in den Nacken lege. »Was soll das?«

»Was?«

»Das hier. Du bist hackedicht und versaust deinen Freunden den Abend.«

Sinclair lehnt den Kopf gegen die Wand, während ich seine Krawatte lockere. Er hat mich garantiert nicht gehört.

»Der Abend war ja auch beschissen«, murmelt er.

Meine Finger werden zu Eis. Er schaut mich an, aber seine Lider sind schwer. Ich öffne die oberen Knöpfe seines Hemdes und werfe Henry die Krawatte zu. Er hängt sie über die Stuhllehne und legt einen Arm um Emma.

»Ihr könnt gehen, ich bleibe«, sage ich.

»Sicher?«, fragt Henry leise.

»Wenn ich Hilfe brauche, hole ich euch«, verspreche ich.

»Wir sind nebenan«, meint Emma sofort.

Ich muss schmunzeln, obwohl mir nicht zum Lachen zumute ist. »Ich weiß.«

Henry wirft mir einen eindringlichen Blick zu. Er scheint mit sich zu ringen, weil er ein guter bester Freund sein will, aber dann dreht er sich tatsächlich um und folgt Emma nach draußen. Gideon und Omar wirken eher erleichtert, dass sie den Raum verlassen können. Und plötzlich sind es nur noch Sinclair und ich.

»Warum war er beschissen?«, frage ich, nachdem sie die Tür geschlossen haben.

Sinclair ist schon wieder weggetreten und zuckt zusammen. »Hm?«

»Der Abend«, wiederhole ich. »Wieso war er beschissen?«

»Wegen Frauen«, murmelt er. »Ich bin müde …«

»Ich weiß, aber du musst erst dieses Wasser hier trinken, bevor du schlafen kannst.«

»Tori …« Er seufzt.

»Nein, ich verhandele nicht mit dir. Tut mir leid, aber das hättest du dir überlegen müssen, bevor du dir das Hirn weggesoffen hast.«

Er stöhnt gequält, nimmt jedoch die Flasche. Es landet weniger Wasser auf seinem Hemd, als ich erwartet hatte.

»Ausziehen!«, befehle ich, als mir die Spuren von Erbrochenem darauf auffallen.

»Ich bin betrunken«, grummelt er.

»Eben.« Ich stehe auf und gehe an seinen Kleiderschrank. Sinclair hebt tatsächlich die Hand, um das T-Shirt zu fangen, das ich ihm zuwerfe, aber er greift daneben. Er braucht eine halbe Ewigkeit, bis er sein Hemd aufgeknöpft und abgestreift hat. Als Sinclair aufsteht, um auch die Anzughose auszuziehen, gebe ich mir wirklich Mühe, nicht hinzusehen, aber beim Spiel seiner Schulterblätter und der Art, wie sich seine Rückenmuskeln dabei bewegen, ist das leider unmöglich. Endlich schlüpft er in sein Shirt, und ich nutze die Gelegenheit und schlage seine Bettdecke zurück. Er muss sich an meiner Schulter festhalten. Ich bekomme kurz Angst, als er leicht nach vorne taumelt und mir die Schwere seines Körpers nur zu bewusst wird. Manchmal vergesse ich, dass Sinclair fast einen Kopf größer ist als ich. Das ging zugegebenermaßen auch alles wahnsinnig schnell. Vor den Sommerferien am Ende der Neunten waren wir noch beinahe gleich groß, an Neujahr in der Zehnten konnte er plötzlich sein Kinn auf meinen Scheitel legen, als er mich auf dieser Party in Edinburgh von hinten umarmt hat.

Ich spüre Sinclairs Oberarm hart unter meinen Fingern, als ich ihn festhalte. Mein Mund wird trocken. Woher hat er plötzlich diese ganzen verfluchten Muskeln?

Ich drücke ihn an der Schulter zurück nach unten auf die Matratze und trete zwischen Sinclairs Beine. Vermutlich ist ihm schwindelig, und er muss sich irgendwo festhalten, denn ich spüre seine Finger plötzlich an den Rückseiten meiner Oberschenkel. Seine heißen Hände durch den dünnen Stoff des Kleids, das er für mich ausgesucht hat, und plötzlich wünsche ich mir, dass er es mir auszieht. Als er zu mir hochschaut, kribbelt mein Magen. Die blonden Haare fallen ihm in die Stirn. Wie schafft er es, selbst dermaßen betrunken noch unverschämt heiß auszusehen? Sinclairs Kiefermuskeln zucken, er schluckt. Mit den Fingerspitzen streicht er ganz kurz über meine Beine, dann zieht er die Hände zurück. Mein Herz pocht nervös. Ich muss ihm nicht sagen, dass er sich hinlegen soll, er kommt zum Glück allein auf die Idee.

»Und wie ist das so?«, fragt er, als ich mich wieder wegdrehe, um seine Klamotten in den Wäschekorb zu werfen.

»Was?«

»Beachtet zu werden von der Person, die du küssen willst …« Er klingt müde, seine Worte fließen schon ineinander. »Bestimmt krass, das Gefühl.«

Und zack, mir wird kalt.

Was redet er? Meint er Val?

Wen denn sonst, Tori?

Aber warum klingt er so vorwurfsvoll? Kann ihm doch egal sein, wen ich küsse und wen nicht. Sinclair hatte Hunderte Gelegenheiten, es an Vals Stelle zu tun. Wirklich, vielleicht sogar noch mehr. Ich weiß nicht mehr, wann ich aufgehört habe zu zählen. Hunderte, Tausende, und keine einzige hat er genutzt.

Es ist mein Glück, dass Sinclair keine Antwort zu erwarten scheint. Er ist nämlich zu betrunken. Vermutlich hat er seine Worte in der Sekunde vergessen, in der er sie ausgesprochen hat. Ich habe sie nicht vergessen. Er sinkt mit geschlossenen Augen auf das Kopfkissen. Wie kann er jetzt einfach schlafen?

Für einen Moment stehe ich unschlüssig in seinem Zimmer. Am liebsten würde ich nun abhauen, aber leider habe ich Henry und den anderen versprochen, bei ihm zu bleiben.

Ich unterdrücke ein Seufzen. Mir wird bewusst, dass ich barfuß und in diesem langen Ballkleid mitten im Zimmer meines betrunkenen besten Freundes stehe. Am Abend des Neujahrsballs. Wow.

Und trotzdem bin ich irgendwie froh, dass es Sinclairs Zimmer ist und nicht das von Val, in dem ich mich nun ausziehen werde.

Sinclair blinzelt.

»Mach die Augen zu«, befehle ich ihm, während ich nach dem Reißverschluss taste. Glücklicherweise befindet er sich an der Seite, sodass ich keine Hilfe benötige.

»Ich schaue nicht«, murmelt Sinclair. Seine Lider sind schwer, er schließt sie. »Und selbst wenn … ich weiß, wie du nackt aussiehst.«

»Es mag dir unbegreiflich sein, aber Frauenkörper verändern sich zwischen zwölf und siebzehn Jahren.«

»Du warst dreizehn«, nuschelt er.

Verdammt, er hat recht. Aber es war dunkel, als wir damals in der siebten Klasse nachts im Schlosssee von Ebrington baden waren. Ja, ohne Unterwäsche. Aber man hat bestimmt nichts sehen können.

Sinclairs Fenster ist gekippt, ein leichter Windzug streicht über meine Schultern, während ich das Kleid ausziehe. Es fällt neben meinen Füßen zu Boden. Ich trage keinen BH darunter, es hat nämlich diesen tiefen Rückenausschnitt und ist vorne um die Brust eng genug, um alles an seinem Platz zu halten. Ich steige aus dem Stoffhaufen auf den Dielen, gehe einen Schritt zur Seite und ziehe ein weiteres von Sinclairs Shirts aus dem Schrank. Es ist das vom Spendenlauf letzten Sommer, und es reicht mir bis über die Oberschenkel.

»Okay«, sage ich und drehe mich wieder zum Bett.

Sinclair reagiert nicht. Er liegt auf dem Rücken, sein Kopf ist zur Seite gesunken. Richtung Wand. Sein herzförmiger Mund ist leicht geöffnet, seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig.

Nun, dann hat er wohl wirklich nicht geschaut. Gut für ihn.

Die seltsame Stille erdrückt mich, als ich in das winzige Bad husche und mir mit seinem Duschgel das Make-up vom Gesicht wasche. Meine Augen brennen, weil ich für die Wimperntusche Seife benutze. Ich gurgele mit seinem Mundwasser, was fürs Erste reichen muss, und trinke eiskaltes Wasser aus meinen Händen. Als ich mich wieder aufrichte, blicken mich meine Augen rot und müde aus dem Spiegel an. Zu meinem Glück finde ich in seinem Badschrank eines meiner Haargummis, die ich ständig überall liegen lasse. Wenn Sinclairs blonde Locken so lang sind wie aktuell, bindet er sich die oberen damit manchmal zu einem kleinen Knödel zusammen. Ich habe eine geringfügige Schwäche für diese Frisur, aber das muss er nicht wissen. Geschickt schlinge ich meine langen kupferroten Haare zu einem Knoten. Wenn ich mit ihm in einem Bett schlafe, liegt er sonst zuverlässig im Laufe der Nacht darauf, was erstaunlich schmerzhaft werden kann.

Sinclair ist immer noch ausgeknockt, als ich zurück ins Zimmer komme. Den Mülleimer aus dem Bad stelle ich vorsichtshalber am Kopfende neben das Bett. Man kann nie wissen. Dann klettere ich über seinen schlafenden Körper. Er zuckt zusammen, als ich mich zwischen ihn und die Wand quetsche.

»Hm?« Er blinzelt.

»Rutsch rüber, du Hühnchen.« Ich schiebe ihn etwas Richtung Bettkante. Ich werde niemals aufhören, ihn so zu nennen. Nicht nachdem er in der Fünften bei unserem Ausflug zu diesem Biobauernhof in Highbourne panische Angst vor den frei laufenden Hennen hatte.

»Ich falle raus«, jammert er.

»Tust du nicht, ich halte dich fest. Aber ich will nicht im Weg sein, wenn du kotzen musst. Gleich neben dir steht ein Eimer.«

»Brauch ich nicht«, murmelt Sinclair. Er hievt sich einen halben Zentimeter zur Seite, dann wird sein Körper neben mir wieder schwer. Weil ich halte, was ich verspreche, rolle ich mich neben ihn auf die Seite und schlinge einen Arm um ihn. Er greift sofort nach meinem Handgelenk und drückt es gegen seine Brust.

»Ist dir schlecht?«, frage ich, als ihm ein leises Stöhnen entfährt.

»Weiß nicht … das Bett schwankt.«

Ich ziehe ihn etwas näher zu mir. »Schlaf jetzt. Ich bin hier, falls was ist.«

»Victoria«, nuschelt er nach einer Weile. Er ist so betrunken. Er sagt nie meinen richtigen Namen.

»Charles?« Ebenso wenig wie ich seinen. Er fühlt sich fremd auf meiner Zunge an. Aufregend, aber nicht unangenehm. Niemand an dieser Schule nennt ihn so. Na gut, bis auf die Lehrer und seine Mum. Dabei klingt er so sanft. Charles. Hm …

Er seufzt und sinkt etwas schwerer gegen mich. »Du riechst gut.«

Mein Bauch beginnt wieder verräterisch zu kribbeln. »So leid es mir tut, aber das kann ich heute ausnahmsweise von dir nicht behaupten.«

»Soll ich noch duschen?« Er versucht, sich von mir zu lösen, gibt aber nach exakt vier Sekunden auf. Seine Muskeln werden weicher, während er in meine Umarmung zurückfällt.

»Nein, ich brauche nicht noch mehr Drama, wenn du unter der Dusche umkippst.«

»Ich kippe nicht um.«

»Du konntest kaum sitzen.«

»Es dreht sich nicht mehr so schlimm.«

»Warte, bis du die Augen zumachst.«

Er stöhnt gequält, als er wohl eben dies tut.

Ich hebe das Kinn etwas an. Sinclairs Haare riechen nicht nach Rauch. Aber das ist auch kein Wunder. Er hat schließlich nicht den ganzen Abend mit seinen Leuten gequalmt, so wie Val.

Sinclair sagt nichts mehr. Ich schließe die Augen. Wenn ich mich jetzt ein bisschen vorneige, könnte ich mit der Nase in seinen Haaren …

»Tori?« Seine Stimme ist leise.

»Ja?«

»Dubistzugutfürjemandenwieihn.« Wörter wie Kaugummi, schwere Zunge. Sinclair verschluckt das Ende, aber verstanden habe ich ihn trotzdem. Leider.

Mir ist kalt. Ich bewege mich nicht, und ich antworte auch nicht. Wenn ich es einfach ignoriere, dann ist es so, als hätte Sinclair das eben nicht gesagt. Hat er ja auch nicht. Es war sein benebeltes Hirn. Aber Betrunkene und Kinder sagen doch angeblich immer die Wahrheit.

Sinclair seufzt müde, und das Geräusch schießt auf direktem Weg zwischen meine Beine. Ein tiefer, entspannter Laut. Ich spüre das leichte Zittern, das durch seinen Körper fährt, wie immer, wenn er einschläft. Sein Kopf sinkt nach vorn, seine Hand lässt meine nicht los.

Es ist mein Glück, dass er mein frustriertes Stöhnen nicht mehr hören kann.

3. KAPITEL

VICTORIA

Mein Handy explodiert vor ungelesenen Nachrichten, als ich mich am nächsten Morgen aus Sinclairs Zimmer schleiche. Er wacht nicht auf, während ich erst über ihn klettere und dann in eine Jogginghose von ihm schlüpfe. Ich vermeide den Blick in seine Richtung, während ich mein Kleid, Vals Jackett und die Schuhe aufsammele. Dann ziehe ich die Tür so leise wie möglich hinter mir zu.

Das ganze Internat ist ruhig, während ich barfuß durch die Flure laufe. Ich erreiche den Westflügel unbemerkt, öffne meine Tür und setze mich aufs Bett. Dann lese ich die Nachrichten.

V: Hast du noch meine Jacke?

V: Wo bist du überhaupt?

V: Eleanor sagt, du wärst abgehauen. Ernsthaft??

V: Ja, also dann, super Abend, schlaf gut …

V: Aber du bist nicht bei diesem Vollidioten, oder?

Valentine hat zuletzt um kurz nach drei geschrieben, als ich längst geschlafen habe. Neben Sinclair. Vielleicht hätte ich Val doch Bescheid geben sollen, anstatt einfach abzuhauen. Wobei es nicht gerade so klingt, als wäre er sonderlich besorgt gewesen. Er hätte auch fragen können, ob alles in Ordnung ist.

Er hat dich geküsst, Tori. Gestern. Das war kein Traum, es ist wirklich passiert.

Ich lasse mich rückwärts auf mein Bett sinken und hebe meine Hand an den Mund. Mit den Fingerspitzen berühre ich meine Lippen.

Ich bin geküsst. Also so richtig geküsst. Das damals mit Sinclair, als wir beide noch Kinder waren, kann man vernachlässigen. Wir haben schließlich nie wieder darüber gesprochen, was dieser Kuss zu bedeuten hatte. Wir haben ihn einfach ignoriert und am nächsten Tag so weitergemacht, als wäre er nie passiert. Ich kann die Nächte nicht zählen, die ich wach lag und mir vorgestellt habe, wie wir es noch mal tun würden. Aber wir haben es nicht wieder getan. Ich habe meinen besten Freund nie wieder geküsst. Und er mich auch nicht.

Ich starre nach oben an die Decke. Und dann kam das gestern Nacht. Sinclair war eifersüchtig. Ich hatte diese Vermutung schon seit Beginn des Schuljahres, als Val plötzlich anfing, sich für mich zu interessieren, und wir mehr miteinander geredet haben. Erst nur über Instagram, dann auch ab und zu in den Schulpausen oder beim Gemeinschaftsdienst im Schulgarten. Meistens hat Sinclair so getan, als wäre es ihm egal, aber gestern Nacht war offensichtlich, dass es ihm nicht gefällt, wenn Valentine Ward mich küsst. Gesagt hat er natürlich nichts. Außer diesen wirren Sätzen später in seinem Bett. Das war seltsam. Aber er war betrunken. Er wusste überhaupt nicht, was er da von sich gegeben hat.

Du bist zu gut für jemanden wie ihn.