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WIE OFT KANN EIN HERZ BRECHEN, BEVOR ES NICHT MEHR WEITERSCHLÄGT?
Grace’ Welt stürzt in sich zusammen, als sich ihr Freund Henry von ihr trennt. Auch noch ein Jahr später fühlt sie sich, als hätte sie sich selbst verloren. Einzig ihr bester Freund Gideon, mit dem sie jede Ferien im Internat verbracht hat, gibt ihr Halt. Doch nach einem schmerzhaften Sommer ohne jeglichen Kontakt kommt er zu Beginn der zwölften Klasse zurück an die Dunbridge Academy, und Grace erkennt den Jungen, dem sie alles erzählen konnte, kaum wieder. Jede Faser in ihr sehnt sich nach Gideon, aber ihr Herz wurde schon einmal gebrochen - kann sie es wirklich erneut aufs Spiel setzen?
»Mit dieser Geschichte für Grace und Gideon hat Sarah all meine Erwartungen übertroffen. Sie zeigt, wie nah Schmerz, Angst und Liebe sich sind. Und wie wichtig und schwer es sein kann, über sich hinauszuwachsen. Dieses Buch hat mein ganzes Herz.« lxvanessaxl
Welcome back an der Dunbridge Academy: die Geschichte von Grace & Gideon
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Playlist
Playlist
Elfte Klasse
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
Zwölfte Klasse
Danke
Die Autorin
Die Romane von Sarah Sprinz bei LYX
Impressum
SARAH SPRINZ
Dunbridge Academy
ANYMORE
ROMAN
Seit sich ihr Freund Henry von ihr getrennt hat und ihre beste Freundin Olive ein Schuljahr am Internat wiederholen muss, hat Grace das Gefühl, als würde ihr alles über den Kopf wachsen. Anstatt sich auf das letzte Schuljahr mit ihren Freunden zu freuen, fühlt sie sich verletzt und verloren. Erst recht, nachdem sich ihr bester Freund Gideon die gesamten Sommerferien über kein einziges Mal bei ihr gemeldet hat. Als er zu Beginn der zwölften Klasse zurück an die Dunbridge Academy kommt, merkt Grace, dass sie sich fremd geworden sind. Nichts ist mehr wie vor dem Sommer, als Gideon ihr während der Proben für das Schultheaterstück Halt gegeben hat. Nur die schmerzhafte Sehnsucht ist geblieben und wächst, je klarer Grace wird, dass niemand außer Gideon sieht, wie es ihr wirklich geht. Aber kann sie ihr Herz noch einmal für jemanden riskieren, nachdem es ihr auf die schlimmste Art gebrochen wurde?
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier einen Contenthinweis.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Sarah und euer LYX Verlag
Für meine
Leserinnen und Leser, ohne die diese
Geschichte nicht existieren würde.
Ich danke euch für alles.
von Grace für Henry
you’re losing me – taylor swift
when emma falls in love (taylor’s version) – taylor swift
the less i know the better – tame impala
tolerate it – taylor swift
cassandra – taylor swift
castles crumbling – taylor swift feat. hayley williams
i told you things – gracie abrams
death by a thousand cuts – taylor swift
that’s so true – gracie abrams
surburban legends (taylor’s version) – taylor swift
i wish you cheated – alexander stewart
so long, london – taylor swift
memories – conan gray
i know it won’t work – gracie abrams
built to be bad – grace gachot & alex sampson
my tears ricochet – taylor swift
i miss you, i’m sorry – gracie abrams
loml – taylor swift
lose you to love me – selena gomez
little freak – harry styles
this love (taylor’s version) – taylor swift
goodbye – miley cyrus
when you love someone – alexander stewart
remember that night? – sara kays
new year’s day – taylor swift
von Grace für Gideon
wildflower – billie eilish
chance with you – mehro
the joker and the queen – taylor swift feat. ed sheeran
best – gracie abrams
state of grace (taylor’s version) – taylor swift
loved you first – one direction
blue – billie eilish
the view between villages – noah kahan
free now – gracie abrams
they don’t know about us – one direction
another love – tom odell
say yes to heaven – lana del rey
the edge – sydney ross mitchell
sailor song – gigi perez
i love you, i’m sorry – gracie abrams
teenage dream – stephen dawes
those eyes – new west
dandelions – ruth b.
forever&more – role model
home – good neighbours
dog days are over – florence + the machine
hits different – taylor swift
story of my life – one direction
outro – m83
the manuscript – taylor swift
September
Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist.
Eine von Henrys Lieblingsweisheiten, hat er wohl mal irgendwo aufgeschnappt. Wahrscheinlich von seiner älteren Schwester Maeve.
Er glaubt wirklich daran, er sagt das ständig. Wenn wir in der Bibliothek sitzen, eigentlich lernen wollen, aber stattdessen nicht aufhören können, uns zu küssen. Wenn er bei mir zu Hause ist und aufbrechen müsste, um rechtzeitig zur Flügelzeit zurück im Internat zu sein, aber einfach nicht gehen will. Wenn er mich in die dunklen Nischen der Bogengänge zieht und zwischen den Arkaden mein Gesicht in seine warmen Hände nimmt – um uns herum glitzert der Staub in der Sonne wie in einem verdammten Märchen. Aber im echten Leben gibt es keine Märchen, wer hätte es gedacht.
Als er aufgehört hat, mich zu lieben, wollte ich es nicht wahrhaben. Ich habe es verdrängt, ich habe mir eingeredet, es ist nur eine Phase, weil man mal verliebter und mal weniger verliebt ist, jeder Instagram-Account mit Beziehungsratschlägen versichert einem, dass das dazugehört, kein Grund zur Sorge. Aber bei uns war es anders.
Sind wir ehrlich, ihr habt es doch auch gespürt. Dass er sich in Emma verlieben wird.
Ihr wusstet es in der Sekunde, in der wir im Schulbus vom Flughafen zum Internat saßen und Henry das Gesicht in meine Richtung gedreht hat, aber eigentlich nur diese neue Austauschschülerin aus Deutschland ansehen wollte. Ihr konntet ihn verstehen. Sie ist wunderschön, süß, man möchte sie irgendwie beschützen, aber sie hat auch etwas Geheimnisvolles, wenn sich dieser dunkle Schatten über ihr Gesicht legt, während sie erwartungsvoll aus dem Fenster schaut.
Henry ist hin und weg von ihr, und es wird Wochen dauern, bis er sich das eingestehen kann. Sie ist ein Rätsel, und Henry Bennington liebt es, Rätsel zu lösen. Eine Herausforderung, etwas Aufregendes, Neues. Das Gegenteil dessen, was wir sind nach drei Jahren Beziehung, die sich anfühlen wie ein halbes Leben.
Diese Sommerferien haben wir noch weniger voneinander gehört als sonst. Henry ist zurück, er fühlt sich fremder an als sonst, noch fremder, und nun das. Der ultimative Beweis. Ich langweile ihn, ich kann das schon seit einer Weile in seinem Gesicht sehen. Wenn er diesen Schlafzimmerblick bekommt und den leicht angepissten Zug um seinen perfekten Mund. Wenn er abwesend nickt, obwohl ich etwas sage, das wir früher intensiv, aber respektvoll zu Tode diskutiert hätten. Oh, die intensiven, aber respektvollen Diskussionen mit Henry Bennington, das war vielleicht großartig. Ist schon lange her. Jetzt diskutieren wir nicht länger. Wir einigen uns stumm darauf, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben, und fragen stattdessen Hey, wie hast du geschlafen? – Ja, ich auch – Cool, bis dann, liebe dich.
Er sagt nicht mehr Ich liebe dich. Er sagt es nur noch wie eine Abkürzung. Wie eine Pflicht, der er selbstverständlich nachkommt. Inzwischen höre ich es gar nicht mehr von ihm, weil er es auch nicht mehr von mir hört. Es wäre schließlich gelogen. Ich müsste stattdessen sagen Ich hasse dich, aber selbst das würde nichts mehr mit ihm machen. Er würde antworten Okay, warum das? und hoffen, dass ich zu höflich bin, um es ihm zu erklären. Dabei hasse ich ihn tatsächlich. Es ist besser, ihn zu hassen als Emma Wiley aus Deutschland, aber Emma Wiley aus Deutschland ist der Grund dafür, dass mein Freund mich verlässt.
Ihr müsst verstehen, dass es die beste Sache der Welt ist, im gleichen Jahrgang auf dasselbe Internat zu gehen, wenn man sich liebt und ständig sieht. Und, ihr ahnt es, es ist die schlimmste Sache, wenn man sich nicht mehr liebt und immer noch ständig sieht. Ich kann mir nur wenig Schlimmeres vorstellen.
Die Weinflasche in meiner Hand war schwer, als ich vorhin im alten Gewächshaus angefangen habe zu trinken. Die Musik ist laut, die Mitternachtsparty in vollem Gange.
Jetzt ist die Flasche nicht mehr schwer. Dafür ist es mein Kopf, und die meisten sind bereits ins Bett gegangen, aber ich will nicht gehen. Ich will auch nicht wie ein Wachhund hier sitzen und alles beobachten, weil ganz ehrlich, ich tue doch sowieso nichts, wenn Emma lacht und Henrys Blick weich wird, er immer gleich in ihre Richtung schaut, nachdem er etwas gesagt hat, weil Emmas Reaktion darauf die einzige ist, die ihn interessiert. Manchmal riskiert er beinahe alles und legt den Arm auf die Lehne eines Stuhls, wenn sie neben ihm sitzt. Also ohne sie zu berühren natürlich, weil Emma immer fast ganz auf der Kante hockt und sich nicht zurücklehnt, aber wenn sie sich zurücklehnen würde, dann würden sie sich berühren. Direkt vor meinen Augen. Wäre es mir lieber, wenn sie das täten? Keine Ahnung, natürlich nicht, aber irgendwie schon. Dann könnte ich endlich wütend werden, aufspringen, Henry konfrontieren, ihn ganz verletzt anschreien, weinen, verzweifelt wegrennen, hoffen, dass er mir folgt, mich draußen am Arm packt, an sich zieht und donnerschlagartig küsst, auch ganz verzweifelt sagt, dass doch nur ich es bin, die er will, aber sie tun es ja nicht. Sie liefern mir ja nie einen Grund, nie was Greifbares, also sitze und warte ich.
Harren sie aus, bis ich verschwinde, um sich dann zu küssen? Haben sie sich schon geküsst? Wenn nein, worauf warten sie? Sie sehen die ganze Zeit schon aus, als würden sie am liebsten zusammen von hier verschwinden, aber das wäre wohl zu auffällig. Dann wüssten alle, was abgeht, nicht nur ich.
Wobei, ab und zu frage ich mich, ob ich tatsächlich die Einzige bin, die etwas bemerkt. Manchmal schaut Gideon so komisch. Er ist nicht nur Henrys bester Freund, sondern auch meiner. Wir kennen uns, seit wir denken können, besuchen seit der fünften Klasse gemeinsam die Dunbridge, und wir wissen alles übereinander. Also jedenfalls beinahe.
Wenn Gideon Attwell so guckt, kann ich wohl aufhören, mich selbst zu gaslighten und mir einzureden, ich würde nicht sehen, was ich sehe. Er ist maximal abgefuckt. Es ist selbstverständlich nur eine Nuance. Keine steile Zornesfalte zwischen seinen buschigen Brauen oder angepisst verzogene Lippen, das wäre zu viel für jemanden wie ihn, einen ernsthaften und noblen Kerl, der sich stets im Griff hat. Ein warnendes Funkeln in seinen bernsteinfarbenen Augen, vorgeschobener Kiefer. Natürlich würde er nie etwas sagen. Er ist es gewohnt, in Henrys Schatten zu stehen. Das war schon immer so. Henry kriegt die Mädels, die Lacher, die Auszeichnungen und die Verantwortung. Er ist eben einfach perfekt, wisst ihr ja. Deshalb bleibt mir leider keine andere Wahl, als ihn zu lieben, auch wenn es mich ruiniert und womöglich in den dunkelsten Abgrund hinabstoßen wird, den man sich vorstellen kann.
Ich trinke noch einen Schluck und blinzele müde. Henry blinzelt auch müde, garantiert wäre es ihm recht, wenn ich verschwinde, damit er auch verschwinden kann. Mit Emma.
Er hebt den Kopf, als ich mich zu ihm drehe. »Muss dann mal ins Bett.«
Er nickt, beugt sich vor und küsst mich zum Abschied. Macht der Gewohnheit. Grace an der Hand nehmen, sie heranziehen, Mund auf ihre Lippen pressen, lächeln, früher hat er dann den Kopf schief gelegt, aber das macht er jetzt ja nicht mehr. Das würde ich auch gar nicht wollen. Schließlich kann er mich mal. Ich werde daher nach Hause gehen, versuchen zu schreiben, bemerken, dass ich zu blockiert bin, und stattdessen durch die Englisch-Pflichtlektüre blättern, so als wäre ich dann in der Lage, eine bessere Prüfung abzulegen als er.
Er sagt Schlafgut, er sagt Schreibmir,wennduzuHausebist, so als würde er ernsthaft daran glauben, mir dann noch zu antworten, wenn ich das tue, oder nachzufragen, wenn ich es nicht tue. Aus den Augen, aus dem Sinn. Jetzt gibt es nur noch Emma.
»Warte mal.«
Mein Herz überspringt einen Schlag. Für den kürzesten Moment glaube ich, dass er mir nach draußen gefolgt ist. Henry, etwas außer Atem, weil er vom alten Gewächshaus durch den dunklen Park gerannt ist, um mich einzuholen. Damit wir reden können, bemerken, dass wir uns doch noch lieben, uns heftig streiten, aussprechen und schließlich hemmungslos küssen können.
»Gideon?«, frage ich, als ich mich umgedreht habe. Eher ernüchtert, aber auch froh, dass er es ist.
»Ja.« Er bleibt vor mir stehen und fährt sich mit einer Hand durch die Haare. Seine Brust hebt und senkt sich angestrengt. »Du gehst schon?«
Die Sache ist die: Für Gideon Attwell laufen all meine Gedanken, meine Gefühle, Sorgen und Wünsche in Form eines perfekt lesbaren Banners in meinen Augen ab. Wann immer ich ihn ansehe, reicht ihm ein Blick, und er versteht. Er kennt mich einfach zu gut. Das liegt selbstverständlich daran, dass jeden Sommer, wenn er im Internat geblieben ist und Henry in den Ferien weg war, in fernen Ländern, bei seiner Familie, eine Welt entstanden ist, in der nur wir beide existiert haben. Gideon Attwell und ich, ohne unsere Freundinnen und Freunde, ohne alles, was uns stören könnte. Genau genommen waren das die besten Wochen. Sie haben etwas zwischen uns geformt, von dem ich noch nicht herausgefunden habe, was es ist.
Er braucht keine Worte, um mit mir zu kommunizieren. Er liest mich wie ein Buch. Jetzt muss ich meine Schrift verschlüsseln, fremde Hieroglyphen, damit er nichts bemerkt von all den schlimmen Dingen in meinem Kopf.
»Ja, ich bin müde«, sage ich, und Gideon nickt nur, ohne mir zu glauben.
Sein Blick liegt auf mir, und es überkommt mich einfach. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich stelle mir vor, was wäre, wenn er mich jetzt einfach küssen würde.
Weltuntergang. Kernschmelze. Nukleare Großkatastrophe der aussichtslosen Sorte, alles vorbei. Er darf mich niemals küssen, aber warum sollte er das auch wollen? Bin ich betrunken? Ich muss ins Bett.
»Verstehe.« Er schluckt beherrscht und sagt mal wieder nicht das, was er eigentlich sagen will. »Hab mich nur gefragt …« Mein Herz schlägt schneller. »Geht es dir gut?«
Ich blinzele zweimal. »Klar. Wieso fragst du?«
»Du bist traurig.« Gideon schiebt die Hände in die Taschen seiner Dunbridge-Jacke und kommt einen Schritt näher. In meinem Magen regt sich etwas, als ich die Breite seiner Schultern registriere und zu ihm aufblicken muss. »War zumindest mein Eindruck. Deshalb wollte ich nachfragen. Ob alles okay ist.«
Ja. Gideon Attwell ist erwachsen geworden in den letzten Jahren. Er ist gewachsen, schlaksige ein Meter achtundachtzig, und dieses rotbraune Haar, das ich lange nicht mehr berührt habe, wie mir gerade auffällt. Nicht, dass ich es jetzt berühren will. Aus welchem Grund auch? Nur weil es weich und voll aussieht und sich sein Blick auf meine Lippen legt, einen kurzen Moment lang? Das wäre völlig albern, ihr habt recht.
»Hat Henry was zu dir gesagt?«
Bei seinem Namen zuckt Gideon leicht zusammen. »Was? Nein. Wieso sollte er?«
»Wegen Emma.« Er tut weh, ihr Name auf meiner Zunge. Wenn sie wenigstens einen beschissenen Namen hätte, aber nein, auch der ist wunderschön.
»Nein.« Gideons Schultern senken sich wieder. »Eigentlich reden wir schon seit einer Weile nicht mehr wirklich.«
»Warum nicht?«
Ein Muskel an seinem Kiefer spannt sich an, aber er zuckt nur mit den Schultern. »So halt.«
»So halt?«, wiederhole ich.
»Ja.« Er kickt einen imaginären Stein mit der Spitze seiner Converse zur Seite. »Haben uns nichts zu sagen.« Ich nicke langsam, was einigermaßen lächerlich ist, denn Gideon sieht aus, als hätte er Henry eine ganze Menge zu sagen. »Es regt mich auf«, fährt er fort. »Was er gerade abzieht.«
Gideon Attwell, der Typ, der stets in Rätseln spricht.
»Mit der Rugby-Aufnahmeprüfung?«, schlussfolgere ich.
»Nein.« Er schaut mir ins Gesicht. »Mit dir.«
Mein Magen dreht sich langsam um sich selbst, bis er sich fast schwerelos anfühlt.
Ich kann nicht mal nicken.
Gideon verlagert das Gewicht von einem Bein auf das andere. Er legt den Kopf etwas schief. Das darf er nicht machen. Ich habe eine Schwäche dafür, so angesehen zu werden, was er weiß, zumindest denke ich das, denn Gideon Attwell weiß ungefähr alles über mich. »Warum machst du das Lauftraining nicht mit ihm?«
»Ich hab für so was keine Zeit.« Ich kann nicht verhindern, dass ich bitter klinge. So will ich nicht sein, aber anscheinend bin ich es. Mein Freund geht lieber mit einem anderen Mädchen laufen, das wusste ich schon, bevor er sich anstandshalber bei mir erkundigt hat, ob ich mit ihm trainieren würde. Ich weiß, wann es sich nicht mehr lohnt, zu kämpfen. Das mit Henry und mir ist schon zu viel verschwendete Energie, ich habe keine mehr übrig.
»Soll ich was zu ihm sagen?«
Ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Ich lache leise, um es im Keim zu ersticken. »Was denn?«
»Dass ich es richtig scheiße finde, was er da gerade macht.«
Erstaunlich. Gideon ist also nicht neutral, er ist auch nicht Team Henry und Emma, so wie gefühlt alle an dieser Schule. Jetzt gerade gibt er mir deutlich zu verstehen, dass er mich wahrnimmt. Damit kann ich selbstverständlich nicht umgehen.
Ich recke leicht das Kinn. »Gideon, er kann laufen gehen, mit wem er will.«
»Er tut dir weh.«
»Tut er nicht.«
»Doch, tut er.« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Und ich hasse es, das zu sehen, Grace. Du weißt gar nicht, wie sehr ich es hasse.«
Mein Atem stockt, ich höre wirklich auf zu atmen, zumindest für einen Moment. Bis er vor mir steht, so nah, dass ich ihn riechen kann, so anders als Henry, so nah, dass der Versuch einer Nach-vorn-Bewegung genügen müsste, ein Neigen meines Kopfes, ein Heben meines Kinns, und alles würde explodieren. In die Luft gehen. Will ich, dass alles in die Luft fliegt? Will ich, dass meine Hände sich heben und seine Brust berühren? Gott, seine Brust. Sein Körper ist warm, meine Augen schließen sich, aber im Gebüsch hinter uns knackt etwas, die Tannen wiegen sich im Wind, ein Käuzchen ruft.
Wir weichen zeitgleich zurück, und ich weiß, ich weiß es einfach.
Ab jetzt wird nichts mehr sein, wie es war.
Ihr müsst verstehen, dass sich dieses Schuljahr alles anders anfühlt. Die Rückkehr aus den Sommerferien, der Sonntag vor Beginn der zwölften Klasse. Das letzte Mal Ankunftstrubel, Koffer, die zwischen Land Rovern und Limousinen über das unebene Pflaster im Innenhof der Dunbridge Academy gezogen werden, Lachen, Umarmungen und die verschüchterten Blicke der Neuen. Es könnte alles wie immer sein, aber nichts ist wie immer, denn der Westflügel des Internats ist niedergebrannt, und ich bin zum ersten Mal seit vier Jahren am letzten Sommerferientag ohne jemanden, der mich liebt.
»Heftig, oder?«
Ich muss den Kopf nicht drehen, um zu wissen, dass Henry neben mir steht. Ich muss nur angespannt lächeln und das Brennen in meinen Augen wegblinzeln, während ich mich dafür verfluche, dass seine Stimme einfach für immer die schönste Stimme auf der ganzen Welt sein wird.
Er stützt sich mit den Unterarmen auf die Balustrade neben mir ab. Der Stoff des Schuluniformjacketts spannt leicht über seinen Schultern, und seine Haare sind immer noch ein Traum, dunkel und perfekt.
»Was meinst du?«, murmele ich, während hinter uns ein paar kreischende Sechstklässler vorbeirennen.
»Alles.« Henry zuckt nachdenklich mit den Schultern, woraufhin ich mich frage, ob er uns meint, aber sein Blick liegt auf dem Westflügel. Verpackt in ein Baugerüst, thront das vom Feuer zerfressene Gebäude wie ein Mahnmal über dem Innenhof und überschattet die Euphorie und Wiedersehensfreude der Ankömmlinge. »Morgen ist unser letzter erster Schultag«, fährt Henry fort, mit einem tapferen Zug um den geschwungenen Mund und dieser leicht verträumten Melancholie, die einem keine andere Wahl lässt, als sich auf der Stelle in ihn zu verlieben. Man kann Emma keinen Vorwurf machen. Man kann niemandem einen Vorwurf machen. Auch ihm nicht, er ist einfach so. Man möchte an seiner Seite sein und jeden seiner Gedanken kennen, damit man sie für immer kennt, auch dann noch, wenn man nicht mehr an seiner Seite ist.
»Hör auf, jetzt schon traurige Abschiedsstimmung zu verbreiten«, sage ich, ohne etwas zu fühlen, denn mir wird währenddessen klar, dass es wirklich stimmt. Das Jahr des Abschieds, es ist angebrochen, und ich bin nicht bereit.
»Tue ich nicht.« Henrys Stimme klingt belegt. Für ihn ist das hier richtig schlimm. Henry Bennington hat mit seinen Ärzte-ohne-Grenzen-Eltern an zig Orten gelebt, ist hundertmal umgezogen, hat mehrere Schulen besucht, bevor er hier, an der Dunbridge Academy, ein Zuhause gefunden hat. Ich dachte mal, ich wäre dieses Zuhause für ihn, aber wie sich herausgestellt hat, habe ich mich geirrt.
»Wie geht’s Olive?« Er blickt zu mir auf. Die Sonnenstrahlen fallen auf sein Gesicht, und seine Augen, uff, seine Augen sind grüner, als Augen sein dürften. Ich muss mich kurz sammeln. »Warst du bei ihr?«
»Ja, sie macht Fortschritte.« Das stimmt, und ich danke jeden Tag dem Himmel, dass Olive Henderson aus diesem brennenden Gebäudeteil gerettet wurde, bevor etwas passieren konnte, an das ich unter keinen Umständen denken will. »Ich hoffe, sie kann bald zurückkommen.«
Henry nickt. Dann richtet er sich wieder auf, wofür ich ihn hasse und liebe, denn er steht neben mir, er überragt mich um einen halben Kopf, und mein dummes, dummes Hirn schaltet um und fühlt sich klein und beschützt, so wie immer in seiner Anwesenheit. »Und wie geht’s dir?«
Unsere Lieblingsfloskel seit der Trennung, wir wenden sie regelmäßig an, weil wir so erwachsen sind und hiermit umgehen wie Profis.
»Gut.« Ich möchte weinen, also lächle ich, das Einzige, was dagegen hilft. »Und dir? Habt ihr schöne Ferien gehabt, du und …«
»Grace«, sagt Henry nur, was mich irritiert. Er hält sich nicht an die unausgesprochene Regel, dass es zwischen uns nicht mehr als Small Talk geben kann. Besser für alle Beteiligten, nehme ich an. Besser wäre es jetzt auf jeden Fall, denn sein besorgter Blick gefällt mir nicht. Irgendwie muss ich ihm ausweichen. Irgendwie bin ich physisch nicht in der Lage, ihn zu erwidern.
»Ihr wart gemeinsam in Deutschland?«, fahre ich fort, bevor er mich weiter irritieren kann.
»Ja, das war sehr schön.« Henrys Blick gleitet über mich. Ihm passt das hier nicht. Dass ich ausweiche, aber ich muss ausweichen, wenn ich merke, dass er mich so ansieht, meinen Körper wahrnimmt, den er besser kennt als die meisten, ich hasse das, und ich habe Angst, dass er irgendwann etwas dazu sagt. Bislang hat er sich zurückgehalten, aber jetzt haben wir uns acht Wochen nicht gesehen. Ich zupfe am Ärmel des Dunbridge-Sweatshirts, das für einen Tag im August eigentlich viel zu warm ist, aber es ist auch viel zu groß, perfekt, um sich darunter zu verstecken, und außerdem schwitze ich nicht mehr. Eigentlich friere ich nur noch, seit vor ungefähr einem Jahr alles zerbrochen ist. Eine Kälte, die von innen kommt. Ich denke, entweder man kennt sie, oder man ist zu beglückwünschen.
»Wie geht es deinen Eltern?«, frage ich schnell weiter.
Henry öffnet den Mund, aber er kommt nicht zu einer Antwort.
»Da bist du.« Emma taucht neben ihm auf. Dann bemerkt sie mich und lächelt zögerlich. »Hey, Grace. Schöne Ferien gehabt?«
So geht das den ganzen Vormittag, und obwohl sich ein Teil von mir freut, dass der Schulhof wieder mit Leben erfüllt ist, ist ein anderer wie betäubt. Weil sich mein Lächeln nicht echt anfühlt, sondern wie eine Maske. Weil ich sage Ja, total schön, und du?, obwohl nichts an diesen Ferien schön war. Es waren die längsten acht Wochen meines Lebens. Und die einsamsten. Vielleicht sogar die schlimmsten. Ziemlich sicher die schlimmsten. Die ersten drei habe ich damit verbracht, mich zu fragen, wie viel Prozent Hautoberfläche eines menschlichen Körpers verbrennen kann, bevor jemand stirbt, und ob sie im Krankenhaus lügen, wenn sie sagen, dass Olive jung ist und sich erholen wird.
»Hast du Gideon gesehen?«, fragt Henry, wohl an mich gerichtet, und blickt nach vorn auf den Schulhof. Er legt dabei die Hand um Emmas Taille und zieht sie abwesend an sich.
Meine Finger kribbeln, ich schlucke. »Nein.«
»Ist er oben? Habt ihr nicht …?«
»Nein, Henry.« Ich fauche nicht, aber viel fehlt nicht. »Ich habe ihn noch nicht gesehen.«
Eine steile Falte gräbt sich zwischen Henrys Brauen. »Ach so? Ich dachte … Ist er bis zuletzt in London geblieben und nicht früher zurückgekommen?«
In London also. »Frag ihn am besten selbst, falls du ihn findest«, murmele ich. »Ich muss los.«
Muss ich wirklich, neue Schülerinnen und Schüler begrüßen, auf ihre Flügel bringen, aber ich kann nur daran denken, dass es absurd von Henry ist, mich nach Gideon zu fragen.
Seit acht Wochen rätsele ich schließlich, wo er steckt. Warum er mit keinem Wort erwähnt hat, dass er diese Ferien nach Hause fährt, sofort nach dem verhängnisvollen Sommerfest, und warum er in diesen zwei Monaten kein einziges Mal von sich hat hören lassen, obwohl ich ihm geschrieben habe, besorgt war, mich erkundigt habe, ob alles in Ordnung ist.
Nichts.
Funkstille.
Sommerferien ohne Gideon Attwell, zwei Dinge, die eigentlich zusammengehören. Seit Jahren ist das so, eigentlich sogar schon immer. Wir zwei, das seltsam ausgestorbene Internat, Hitzenächte und Sonnentage, von früh bis spät draußen, auf warmen Wiesen, in kühlen Wäldern, Wochen ohne Zeit, nur wir beide, kein Gedanke an niemanden. Manchmal ist Gideon auch früher für eine kurze Weile nach Hause gefahren, meist dann, wenn ich mit meiner Familie in den Urlaub geflogen bin, aber nie länger als zwei Wochen und nie, ohne mir zuvor Bescheid zu sagen. Er hat mir immer Bescheid gesagt. Warum hat er mir diesmal nicht Bescheid gesagt? Es ist, als wäre es ihm egal geworden. Das alles, mit … uns.
Ich weiche einer Gruppe Schülerinnen aus, die ihr Gepäck über den Hof schieben, und lächele ihnen flüchtig zu.
Uns. Unsinn. Schließlich gibt es kein Uns. Also keins im konkreten Sinne, es war nur … Keine Ahnung, was es war. Womöglich der Beweis, dass ich besser auf mich aufpassen muss, weil, bei Gott, ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich so etwas wie mit Henry noch mal mitmachen soll. So eine Enttäuschung und solchen Schmerz.
Gideon war … glücklicherweise da, als ich nach der Trennung meinen Tiefpunkt erreicht hatte, er hat mir zugehört, mich verstanden und ein Stück weit wieder zusammengesetzt. Während dieser Theaterproben im Frühjahr war das verflucht noch mal alles für mich, und ich dachte, für ihn wäre es … wenigstens irgendetwas. Wenigstens gute Freundschaft, aber bei guter Freundschaft verschwindet man nicht plötzlich und taucht acht Wochen lang ab, meldet sich auf keine Nachfrage, oder wie seht ihr das?
Keine Ahnung, ob er schon wieder hier ist. Ob er überhaupt zurückkommt, ob ich ihn dann sehen werde, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht, ob ich ihn sehen will. Ich wüsste nicht, was ich ihm zu sagen hätte. Ich bin zu gekränkt, okay?
Und ich vermisse ihn. Ich vermisse, wer ich bin, bei ihm. Ich vermisse, wie es sich angefühlt hat, aber jetzt hasse ich, wie es sich anfühlt. Diese peinliche Hoffnung, dass alles vielleicht nur ein Missverständnis war. Dass Gideons Handy in Flammen aufgegangen ist und er, egal wie sehr er sich darum bemüht hat, schlichtweg nicht in der Lage war, Kontakt herzustellen und sich bei mir zu melden. Ihr lacht, aber auf diese Weise funktioniert mein Kopf. Hoffen bis zuletzt, auch wenn längst klar ist, dass keine Hoffnung mehr besteht. Weil alles andere viel zu weh täte, und wehgetan hat es in letzter Zeit genug. Aber ich wäre nicht Grace, wenn ich mir das anmerken ließe.
Ich gehe durch die Menge auf ein Mädchen zu, das neben seinen Eltern steht und sich verloren umschaut.
»Hey, du bist neu, oder?« Ich kann lächeln, ich kann helfen, ich kann das alles, auch mit gebrochenem Herzen. »Ich bin Grace. Willkommen an der Dunbridge Academy.«
»Sieh es dir an und geh noch einmal in dich«, sagt Dad, ohne von seinem Handy aufzublicken. »Vielleicht änderst du deine Meinung.«
Ich nicke, ebenfalls ohne ihm ins Gesicht zu sehen, dafür rolle ich mit den Augen und betrachte die übereinandergeschlagenen Beine meines Vaters im cremefarbenen Ledersessel mir gegenüber. Es ist mir ein Rätsel, warum er es für nötig hält, mich auf meiner Rückreise ins Internat zu begleiten. Sonst hat er das auch nie getan. Das Höchste der Gefühle war es, mich am London City Flughafen abzuliefern, aber in aller Regel wurde ich von Mum und ihm direkt in der Einfahrt des Attwell verabschiedet, wo sie dem Wagen hinterhergewunken haben, der mich zum Familienjet gebracht hat. »Der Platz in St. Paul’s wird für dich freigehalten. Redshaw ist mir sowieso noch einen Gefallen schuldig.«
Wie schön für ihn und den Rektor dieser Schule, an die ich nicht wechseln werde.
Ich drücke die Zunge gegen meine Oberlippe und atme hörbar aus. »Ich bin versorgt, vielen Dank.«
»Das weiß ich, Gideon. Und du kennst meine Meinung dazu. Wir würden es befürworten, wenn du zurück nach London kämst, nun wo …«
»Nun wo was?«
Dad spricht nicht weiter. Er blickt nur desinteressiert aus dem Fenster und rückt seinen Krawattenknoten zurecht.
Er spricht es nie aus. Hat er nicht, als er mich im Sommer angerufen hat, und auch nicht, als es schließlich passiert ist.
Du solltest nach Hause kommen, es ist ernst. Ein dumpfes Fiepen tritt in meine Ohren, genau wie damals im Juli. Die Ärzte sagen, noch wenige Tage, maximal ein paar Wochen.
Vielen Dank für diese großzügig bemessene Anreisezeit. Ich habe die Dunbridge Academy völlig überstürzt verlassen, am Morgen nach diesem schrecklichen Brand, der mir vorkommt wie aus einem anderen Leben. Seitdem war ich nicht mehr ich selbst. Wie auch? Ich habe einfach versucht zu überleben, nachdem … Fuck, ich bin wie er, ich kann den Gedanken nicht zu Ende denken.
Ich schlucke hart und schaue ebenfalls nach draußen, wo nichts vom Land zu sehen ist, das wir überfliegen. Nur milchige Wolken und eine grelle Sonne, die in meine Augen sticht. Mein Kopf ist so verflucht im Arsch, was mich nicht wundern sollte, nachdem es letzte Nacht wieder zu lang wurde, weil ich Dinge getrieben habe, mit deren Konsequenzen ich mich jetzt nicht befassen möchte. Und später auch nicht. Es ist sowieso egal, nun, wo ich London verlassen habe, weil es nicht mein Zuhause ist. Nicht, nachdem sie mich vor all den Jahren weggeschickt haben, um mir ein Normales Aufwachsen zu ermöglichen, was genauso abgefuckt und gestört ist, wie es klingt. Einen normalen Alltag statt eines Lebens in dieser absolut unnormalen Situation bei uns zu Hause, die ja niemandem zugemutet werden konnte. Solltet ihr glauben, es wäre ihnen dabei um mein Wohlbefinden gegangen, dann habt ihr euch geirrt. Es geht nie um irgendjemandes Wohlbefinden. Es ging darum, ein Geheimnis zu wahren. Nicht auszudenken, wenn meine Mitschülerinnen und Mitschüler in London mitsamt ihren Oberschichtfamilien mitbekommen hätten, dass in der exklusiven Penthouseresidenz des traditionsreichsten Luxushotels Londons ein Hospiz auf Zeit eingerichtet wurde. So was kommt gar nicht gut, wisst ihr? Es passt nicht ins Geschäftsmodell einer solchen Institution. Keiner will eine tragische Geschichte hören und Mitleid heucheln müssen, nicht bei diesen Preisen pro Nacht, nicht bei fünf Sternen, die für Understatement und sorglosen Luxus stehen, für Diskretion und das falsche Versprechen, nicht weiter entfernt sein zu können von den Problemen des Pöbels. Zu bitter, dass kein Geld der Welt Gesundheit kaufen kann.
»Wir haben darüber gesprochen«, sage ich knapp und schließe die Augen. Mein Kopf dröhnt von letzter Nacht mit Jos Mayfair und der größten Flasche Cristal, die das One4OnePark Lane auf Lager hatte. Schätzungsweise dreißigtausend Pfund hat er auf diese Weise auf den Kopf gehauen, was seine Mutter vermutlich weder merkt noch interessiert, denn diese Art von kindischer Rebellion anzuerkennen, steht nicht auf der Agenda der einflussreichsten Leute Londons. Ich versuche daher nicht einmal mehr, meine Eltern gegen mich aufzubringen. Normalerweise bevorzuge ich das ruhige Dunbridge-Leben ohne Drogen, Drama und den ganzen Scheiß, aber in London lag alles in Scherben, und was macht man da? Richtig, man lässt sich von den Leuten, die selbst völlig im Arsch sind, überreden und schlägt sich Nächte um die Ohren, um schwere Fehler zu begehen. Ich könnte anmerken, dass ich sternhagelvoll war, aber es ist ja nicht nur einmal passiert, sondern dreimal oder vielleicht auch vier-, so genau weiß ich das nicht mehr. Ich erinnere mich nur an irgendwelche dünnen Weiber auf meinem Schoß und den Wunsch, einen Abend lang nichts mehr zu fühlen. Scheint geklappt zu haben, ich weiß nicht mehr viel von diesen Nächten. Ich weiß nur, dass ich nicht allein aufgewacht bin, auch nicht heute Morgen in meinem Zimmer im Attwell. Weiche Teppichböden, schwere Gardinen, dunkles Holz und helle Textilien, die nicht gegen das erdrückende Gefühl ankommen, das sich auf einen legt, sobald man einen Fuß in dieses ikonische Schlachtschiff setzt. Unseren Namen zu tragen kommt mit einer gewissen Verantwortung. Ein Satz, den ich so oft gehört habe, dass ich kotzen könnte, spätestens jetzt, wo meine Eltern mir auf ihren Simba-mäßigen Streifzügen durch die viertausendachthundertundzweiunddreißig Quadratmeter des gelobten Landes erklären, dass das alles eines Tages mir gehören wird. Nicht mehr euch. Sondern mir. Nur mir.
Fuck, mein Schädel. Was kann ich dafür, in dieses dysfunktionale Familienkonstrukt reingeboren worden zu sein, das von allen Nachfolgern verlangt, den Traditionsbetrieb zu übernehmen, bevor es irgendwelche ausländischen Investoren tun? Ich wüsste nicht, was mich daran stören sollte, wenn sie ernsthaft daran interessiert sind, das Unternehmen in unserem Sinne zu führen. Und ich weiß, was ihr denkt. Raff dich mal und check deine Privilegien, du verwöhnter Milliardärssohn, ich versuche mir das auch mehrmals am Tag zu sagen, aber nach all der Scheiße, die passiert ist und auf die ich nun nicht näher eingehen möchte, fällt es mir verdammt schwer, okay? Mich hat nie jemand gefragt, was ich eigentlich will. Ob ich dieses Erbe überhaupt antreten wollen würde. Ob ich eigentlich klarkomme. Ob ich auch Angst habe. Ob ich London mit elf Jahren verlassen und siebenhundert Kilometer entfernt in ein Internat in der schottischen Provinz gehen möchte. Rückblickend einer der besseren Wendepunkte meines Lebens, so bin ich in den Genuss gekommen, zumindest außerfamiliär zu erleben, was Zusammenhalt und Gemeinschaft bedeuten, aber das ändert nichts daran, dass es beschissen hart war. War es allerdings für alle, die gegen ihren Willen dorthin verbannt wurden. Und für den Rest von uns, der freiwillig herwollte, vermutlich auch. Nur deshalb sind wir zu so einer untrennbaren Masse verschmolzen, die nach diesem letzten Schuljahr allerdings getrennt werden muss. Tut jetzt schon weh.
Ich zucke zusammen, als mein Vater etwas sagt.
»Wir wollen dir nicht schaden, Gideon.« Wie auch immer. »Wir wollen lediglich das Beste für dich.«
Ich starre durch das kleine ovale Fenster nach draußen. Die Turbinen des Jets dröhnen in meinen Ohren.
»Dann lasst mich an meiner Schule bleiben«, murmele ich, ohne ihn anzusehen.
Ich kann erst wieder richtig atmen, seit wir in Edinburgh gelandet sind. Im Wagen zum Internat spielt der Fahrer klassische Musik, diesen Quatsch, den mein Vater gerne hört. Ich denke an Grace, damit ich an nichts anderes denken muss, was in der Regel funktioniert, aber jetzt hilft es nur begrenzt. Ein flattriges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, mit jedem Kilometer, den wir uns der Schule nähern. Noch nie war ich so lange Zeit am Stück fort. Den Großteil meiner Ferien habe ich im Internat verbracht, bin geblieben, während alle anderen nach Hause gereist sind. Mir war es lieber so. Rektorin Sinclair macht Ausnahmen für diejenigen, die einen triftigen Grund haben, nicht zu ihren Familien zurückzukehren, und mein Grund war wohl triftig.
Wochenlang mehr oder weniger allein im Internat, auf einem nahezu ausgestorbenen Flügel, weniger strenge Regeln als während der Schulzeit und Grace, deren Familie im Dorf ein paar Hundert Meter weiter lebt. Nur wir beide in dieser Ferienzeitblase, die man magisch nennen könnte. Mitternachtspartys nur zu zweit, stundenlang rumlaufen, reden, in der Sonne liegen, mehr reden, zu den Mahlzeiten mit einer Handvoll Hiergebliebener im Speisesaal essen, das gute Zeug bekommen, extra Dessert und bessere Getränke als das übliche stille Wasser.
In der siebten Klasse haben sie mich während der Sommerferien zum ersten Mal in der Schulküche mithelfen lassen. Acht Wochen lang habe ich dort mit Joseph und Carole gekocht. Anscheinend waren sie so überzeugt von mir und meinen Kochkünsten, dem vielleicht einzig Guten an meiner Kindheit im Fünf-Sterne-Hotel, dass ich meinen Gemeinschaftsdienst seitdem dort ableisten darf, anstatt wie die anderen Stalldienst, Gärtnern oder Nachhilfe zu übernehmen. Ich liebe es, kochen ist Frieden im Kopf, zumindest für ein paar Stunden und ganz besonders, wenn man Mahlzeiten für diese Menge an Personen zubereitet. Im Attwell ist es jedoch nicht das Gleiche, und glaubt mir, ich habe es während der letzten acht Wochen ausprobiert. Vermutlich habe ich mehr Zeit dort unten in der Hotelküche verbracht als im Penthouse unserer Familie. Bin nicht stolz drauf, aber ich habe es oben nicht ausgehalten.
Ich blicke auf, als sich unser Wagen der Kurve nähert, hinter der sich der erste Blick auf die Dunbridge Academy bietet. Meine Fingerspitzen fühlen sich kribbelig an, und als ich die spitzen Dächer, schmalen Türme und dunklen Backsteingebäude des Internats sehe, entspannen sich meine Schultern. Dann erkenne ich das Baugerüst um den Westflügel. Ein bedrückendes Bild, aber wenn man im Sommer gesehen hat, wie die Flammen aus dem Dach in den Nachthimmel geschlagen haben, muss man froh und dankbar sein, dass der Gebäudeteil nicht ganz abgerissen wurde. Wohl Grund zur Freude, keine Ahnung. Die Schule steht noch und ist in der Lage, uns zu empfangen, auch nach dieser Katastrophe. Zugleich packt mich die Erkenntnis, dass das hier mein letztes Jahr ist. Und dass ich keine Ahnung habe, wo ich danach hinsoll. Zurück nach London, ohne meine Leute? An irgendeine Uni, um Business zu studieren? Wenn es nach meinen Eltern ginge, dann genau das, aber der Gedanke lähmt mich. Mein Leben wäre dann vorbei.
»Wir haben gleich ein Gespräch mit der Rektorin.«
»Warum?« Ich reiße den Blick vom Internat los und sehe meinen Vater an.
»Wir haben sie über das Ereignis informiert. Ich schätze, sie möchte sichergehen, dass du zurechtkommst.«
»Das tue ich.«
»Schön, darüber kannst du sie ja gleich selbst informieren.«
»Bist du deshalb mitgekommen? Damit ich im Rektorat nichts Falsches sage?«
»Mach dich nicht lächerlich, Gideon«, sagt er, aber wir wissen beide, dass es so ist.
Ich stoße ein schnaubendes Lachen aus. Was er sich von dem Gespräch mit Rektorin Sinclair verspricht, ist mir ein Rätsel. Ich wüsste nicht, worüber wir uns unterhalten müssten, aber wenn Victor Attwell um ein Gespräch bittet, bekommt er ein Gespräch. Unmittelbar. So einfach läuft das in der Welt des Geldes. Manchmal wünschte ich, er hätte nicht seine Finger im Spiel mit diesen abartigen Summen, die er jedes Jahr für etwas Einfluss im Dunbridge-Förderverein lässt. Wobei er zuletzt eine bittere Niederlage einstecken musste, als Rektorin Sinclair auf Drängen der Schülerschaft die Kleiderordnung reformiert hat. Hat ihm gar nicht gepasst. Das war das erste Mal, dass er angedroht hat, mich von der Schule zu nehmen. Ist ihm dann wohl doch zu blöd gewesen, ich durfte bleiben, er respektiert Rektorin Sinclair seitdem noch weniger, aber das Geld fließt weiter, wohl für den Fall, dass er sie doch noch wegen etwas erpressen muss.
Eine unbeschreibliche Ruhe breitet sich in mir aus, während der Wagen über die Steinbrücke durch das Tor in den gepflasterten Innenhof rollt. In meiner Brust breitet sich ein heißes Brennen aus, das mir für einen Moment das Atmen erschwert und dafür sorgt, dass ich angestrengt blinzeln muss. Weg ist die dumpfe Dunkelheit in mir, die während der letzten Wochen den Schmerz betäubt hat. Ich fühle wieder. Fuck, wie unangenehm.
Mein Vater steigt aus, sobald wir halten. Seine Miene ist völlig unbeeindruckt, während er den Westflügel betrachtet. Für die Schülerinnen und Schüler des Empfangskomitees hat er keine Begrüßung übrig, für die Neuen und ihre Eltern mit ihren tränenreichen Abschiedsumarmungen und den Bergen an Gepäck nur einen geringschätzigen Blick.
Kurz stehe ich da und sauge es ein, das Bild, das sich mir in dieser Konstellation nie wieder bieten wird. Und dann, so als wäre es gottgewollt und ganz genau so vorgesehen, treffen sich unsere Blicke. Sie finden sich zwischen all diesen Menschen, sie begegnen sich, saugen sich aneinander fest, verhaken sich und entfalten ihre magnetische Kraft, die mich fast nach vorn stolpern lässt. In ihre Richtung. Zu Grace, die auf der anderen Seite des Hofs steht, in ihrer Uniform, dunkelblauer Pulli, geflochtener Zopf, lange Beine, schlanke Fesseln, und ihr Gesicht, zum Sterben schön. Vögel zwitschern, Bienen summen, die Sonne geht auf und Blumen sprießen. Ich erwache zurück zum Leben. Ich bin wieder Gideon.
»Gideon, die Koffer«, sagt mein Vater, als ich auf Grace zugehen will, aber ich höre ihn gar nicht richtig. Ich nicke nur, weil mir das Gepäck gerade egaler nicht sein könnte. Alles könnte mir nicht egaler sein in diesem Augenblick, aber dann verändert sich der Ausdruck in ihren Augen, die braun sind, wie ich weiß, selbst wenn ich es auf die Entfernung nicht erkenne, aber Himmel, sind sie braun, und eine steile Falte gräbt sich zwischen ihre Brauen, ihr Mund spannt sich an, ein verletzter, schmerzhafter Zug, genau der, den man manchmal für einen Sekundenbruchteil bemerken konnte, wenn sie Henry mit Emma gesehen hat, aber jetzt ist von Henry mit Emma keine Spur. Jetzt sieht sie mich an, und die Enttäuschung in ihrem Blick sorgt dafür, dass sich alles in mir zusammenzieht.
Was ist geschehen? Warum verachtet sie mich? Warum sieht sie so verdammt verletzt aus?
Hat sie es schon gehört?
Unmöglich. Ich meine, wie denn? Das hier mag eine elitäre Schule sein, aber die Connections zu Londons verlorener High Society halten sich in Grenzen. An der Dunbridge bleibt man unter sich. Grace kann nicht wissen, dass ich in London Sex hatte mit irgendeiner poshen Maidenhead-College-Schülerin, aber sollte sie es wissen? Sollte es ein Geheimnis sein? Ich habe schon so viele Geheimnisse vor ihr, das würde sich nicht gut anfühlen. Andererseits kommt es auf eins mehr oder weniger nicht an, und außerdem hat es nichts bedeutet. Es würde sie nur verletzen. Ich will sie nicht verletzen, ich will, dass es ihr gut geht. Natürlich will ich das, schließlich liebe ich sie. Keine neue Erkenntnis, falls ihr euch fragt. Das weiß ich schon lange. Ich weiß es, obwohl ich sie niemals so haben kann, wie ich sie haben will. Weil sie die Ex-Freundin meines besten Freundes ist, und ja, es ist nicht so, als würde Henry irgendeine Art von Anspruch auf sie erheben. Es ist mehr ein moralisches Ding. Fakt ist, er hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Emma ist toll, ich versteh’s ja, aber Grace … Fuck, Grace ist verflucht noch mal alles.
Mein angespannter Kiefer lockert sich, ich öffne den Mund, aber bevor ich auch nur ein Wort sagen oder näher kommen kann, geht ein Ruck durch ihren Körper, und sie dreht sich weg. Ein Blinzeln und die Emotionen sind aus ihrem Gesicht gewischt. Sie strafft die Schultern, lächelt und sagt etwas zu einer offensichtlich neuen Schülerin, dann drängt sich ein Schwarm Leute zwischen uns, und als dieser vorübergezogen ist, fehlt von Grace jede Spur. Ich drehe mich um mich selbst, wie eine Kompassnadel ohne funktionierendes Magnetfeld. Kann mich gerade noch so abhalten, hilflos nach Luft zu schnappen, weil ich nicht verstehe, was das gerade war und wo Grace ist und warum sie mich so ansieht und wie sie so schön sein kann.
»Die Freude ist ganz meinerseits, Ms Sinclair.«
Es heißt Rektorin Sinclair, will ich sagen, aber meinem Vater widerspricht man nicht.
Ich drehe mich um, jetzt wieder ähnlich betäubt wie zuvor. Als wäre mein ganzer Körper eine pelzige Zunge. Scheiße, ich bin so verflucht am Arsch, und nach Grace’ Blick bin ich es noch viel mehr. Was habe ich auch erwartet? Dass sie mich erblickt, in ihrem Gesicht die Sonne aufgeht und sie strahlend auf mich zuläuft, um in meine Arme zu fallen, so wie sie es sonst immer getan hat? Ich habe sie acht Wochen lang ignoriert. Warum habe ich sie acht Wochen lang ignoriert? Warum habe ich es nicht hingekriegt, der Realität ins Auge zu blicken und ihr einfach zu sagen, was passiert ist? Warum musste ich alles verdrängen? Ich stehe richtig neben mir.
»Gideon, schön, dich zu sehen.« Rektorin Sinclair kommt auf mich zu und reicht mir die Hand. »Es ist gut, dich zurückzuhaben. Wie geht es dir?«
Ab da wird alles irgendwie unscharf. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Es waren wohl akzeptable Antworten auf besorgte Fragen, denn mein Vater hat mich nicht unterbrochen und das Wort an sich gerissen. Auch nicht später im Rektorat, wo Mr Acevedo zu uns gestoßen ist, mein Oberstufenkoordinator und Vertrauenslehrer. Ich lasse es über mich ergehen und hoffe, dass es schnell vorbei ist. Dass Rektorin Sinclair die Neuen begrüßen und mein Vater aufbrechen muss, damit ich so tun kann, als wäre alles hier wie immer. Als läge kein grausamer Sommer zwischen mir und der Version von mir, die Anfang Juli von hier weggegangen ist. Als hätte sich nicht alles verändert. Als wäre nicht das Schlimmste geschehen. Als würde man danach einfach so weitermachen können.
Mein Herz rast wie nach einem Leichtathletiktraining, während ich über den Schulhof laufe, doch statt eines Vierhundertmeter-Tempolaufs war dazu nur eine einzige Sekunde lang In-Gideons-Gesicht-Blicken nötig. Normalerweise ruft in sein Gesicht zu blicken eine völlig andere Reaktion in mir hervor. Aber normalerweise bin ich auch nicht acht Wochen von ihm getrennt und muss mich fragen, wer er überhaupt ist. Wie ich ihm so egal sein konnte. Wie es sein kann, dass er mir das Gegenteil von egal ist, selbst wenn ich verletzt bin und ihn hasse.
Die ganze Welt ist stehen geblieben, als ich ihn zwischen all den Leuten entdeckt habe. Er stand vor dieser dunklen Limousine, sein Vater war schon ausgestiegen, und dann haben sich unsere Blicke gekreuzt und Gideon … hat sich keinen Zentimeter bewegt.
Die Sache ist die: In den letzten Wochen war ich gelegentlich wütend, weil er nichts von sich hat hören lassen, aber ich habe mir eingeredet, dass es nicht an mir liegt. Ich bemühe mich, Dinge nicht persönlich zu nehmen, aber es fällt mir wirklich verdammt schwer. Besonders dann, wenn Gideon Attwell nach wochenlangem Ghosten so vor mir steht, mich ansieht, aber keine Anstalten macht, auf mich zuzugehen, mich zu begrüßen und verflucht noch mal zu erklären, wohin er verschwunden ist. Offensichtlich zu viel verlangt.
Ich kann also froh sein, dass ich keine Zeit habe, hier herumzustehen und darauf zu warten, dass er sich erbarmt, ein Wort mit mir zu wechseln. Im Begrüßungskomitee hat man alle Hände voll zu tun, wenn die Neuen anreisen und verloren in der Gegend herumstehen. Also bringe ich eine Fünftklässlerin nach der anderen in den Südflügel, verbiete mir jeden Gedanken an Gideon und gebe den Jüngeren währenddessen einen ersten Überblick über das Gelände, der sie höchstwahrscheinlich überfordert, aber sie werden sich daran gewöhnen und bald schon blind zurechtfinden. So gut, dass es ihnen ganz und gar unmöglich vorkommt, dass sie eines Tages für immer von hier verschwinden sollen. Ich schlucke. Das wird so schlimm.
»Eure Schlafsäle befinden sich im Nordflügel. Hier sind auch die Krankenstation und das Schultheater untergebracht«, erkläre ich der Gruppe, die mir gerade folgt. »Die Unterrichtsräume und die Bibliothek sind im Südflügel, direkt gegenüber. Dazwischen liegt der Speisesaal im ehemaligen Kirchenschiff des Klostergebäudes.«
Die Mädchen nicken und schauen an mir vorbei zum Westflügel. »Ist das der Teil, in dem es gebrannt hat?«, fragt eine. »Stimmt es, dass eine Schülerin gestorben ist?«
»Niemand ist gestorben«, erwidere ich knapp.
»Aber fast, oder? Ich habe gehört, ein Mädchen hätte geschlafen und wäre in diesen brennenden Gebäuden …«
»Ist sie aber nicht«, unterbreche ich sie schärfer als nötig, woraufhin die drei mich erschrocken ansehen, aber bei dem Thema bin ich sensibel. Allein bei der Vorstellung läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. »Also kommt jetzt. Ihr und euer Gepäck müsst in den zweiten Stock. Es gibt keinen Fahrstuhl.«
Ein kollektives Stöhnen geht durch die Gruppe, und weil mir mein Ton bereits leidtut, nehme ich einen der Koffer. Er wiegt eine Tonne, und weil diese Elfjährigen ganz offensichtlich über endlose Energievorräte verfügen, hängen sie mich ab, während ich schon nach der ersten Treppenrunde das Schnaufen unterdrücken muss. Dabei bin ich den Sommer über so viel gerannt wie nie zuvor. Aus Angst, ohne das regelmäßige Training im Track and Field Team meine Kondition zu verlieren. Aber seit einer Weile bin ich nicht mehr in der Lage, meine persönlichen Bestzeiten zu übertreffen. Im Gegenteil. Ich werde immer schlechter, und eine Handvoll Stufen vor dem Eingang zum Flügel der Fünftklässlerinnen wird mir etwas schwindelig. Ich mache nicht langsamer, aber ich greife reflexartig nach dem schweren Knauf der Holztür.
»Hier sind wir.« Ich bete, dass ich mich nicht so angestrengt anhöre, wie ich mich fühle. »Mrs Buchanan, eure Hausmutter, wird euch Zimmer zuweisen und …«
»Ganz genau.« Ich atme auf, als Mrs Buchanan neben mich tritt und das Wort übernimmt. »Ich bin Mrs Buchanan, eure Flügelbetreuerin. Herzlich willkommen an der Dunbridge Academy. Stellt euer Gepäck gerne für einen Augenblick hier ab.« Sie dreht sich zu mir, als die Mädchen ihrer Anweisung folgen. »Ist alles in Ordnung, Grace?«
Ach, Mist.
»Natürlich.« Ich lächle und stelle den Koffer ab.
»Du siehst etwas blass aus. Ist dir nicht gut?«
»Das muss das Licht sein.« Wird sie mir garantiert glauben, wenn meine Stimme dabei so bebt. »Ich mache mich mal auf den Weg zurück hinunter und schaue, ob ich mehr Neuankömmlinge finde.«
Bevor sie etwas erwidern kann, habe ich mich schon umgedreht. Die kühle Dunkelheit im Treppenhaus tut gut, und nach einigen Metern lasse ich mich mit dem Rücken gegen die gewölbte Steinmauer sinken. Meine Brust hebt und senkt sich schnell. Wie oft in letzter Zeit klopft mein Herz so fest gegen meine Rippen, dass mir etwas übel wird. Es ist erbärmlich. Als hätte ich keine Ausdauer mehr. Ich dachte, ich könnte schneller laufen, wenn ich weniger wiege. So wie Emma, schließlich muss das ihr Trick sein. Anders kann ich mir ihre Zeiten nicht erklären, die immer besser sind als meine bei gleichem oder vielleicht sogar weniger Training. Daher musste ich die Unterschiede unseres Körperbaus eingehend analysieren und feststellen, wo meine Problemzonen sind. Gut, sie ist kleiner als ich, auf einer objektiven Ebene ist mir bewusst, dass es Unsinn ist, den Durchmesser ihrer Oberschenkel mit dem meiner zu vergleichen, aber mein wenig objektiver Verstand tut seit einem Jahr nichts anderes als das.
Erst bin ich tatsächlich schneller geworden, ob das nun an meinem Körpergewicht oder dem puren Schmerz liegt, der mich antreibt, sei dahingestellt, aber offenbar ist dieser Effekt gedeckelt, denn seit einer Weile scheint meine Leistung nicht nur ein Plateau erreicht zu haben, sie fällt sogar ab. Und das gefällt mir nicht, aber … Keine Ahnung, es ist alles sehr kompliziert, und irgendwie kann ich nun mit gewissen Methoden nicht aufhören, egal wie bewusst mir ist, dass sie nicht förderlich für meine Gesundheit sind, aber das ist eine Geschichte für einen anderen Zeitpunkt.
Jetzt will ich einfach hier stehen, für einen Moment die Augen schließen und hoffen, dass sich mein angestrengter Puls wieder beruhigt, ohne dass ich mich hier im Treppenhaus auf den Boden setzen muss oder ähnlichen Quatsch. Ich schlucke schwer und presse meine glühenden Handflächen gegen die Steinmauer. Derart heiße Sommer sollten in Schottland unmöglich sein, aber sie sind nicht unmöglich, sondern die logische Konsequenz dessen, was wir unserem Planeten antun, nur um das dann ganz erstaunt Jahrhundertsommer zu nennen und zu hoffen, dass es nächstes Jahr wieder kühler wird. Der einzige Ort, an dem solche Temperaturen erträglich sind, ist jedenfalls dieses Gemäuer. Es ist deutlich besser als mein Dachzimmer in Ebrington, in dem es so warm wird, dass ich in letzter Zeit nicht weiß, wie ich ein Auge zubekommen soll. Vermutlich hat das aber auch noch andere Gründe.
Eins achtundachtzig große, ehemals rothaarige, nun eher rotbraunhaarige Gründe, aber diese Augen haben immer noch die Farbe von flüssigem Honig, das weiß ich, auch ohne sie hier im schattigen Gemäuer von Nahem zu sehen.
Gideon bleibt mitten auf der Treppe stehen, als er mich ebenfalls bemerkt. Und es ist nicht fair. Wo kommt er überhaupt her? Vermutlich aus dem Ostflügel, wo die Oberstufenjungs sich nun zu zweit Zimmer teilen, damit genügend Platz für die Mädchen ist, die bislang den Westflügel bewohnt haben.
Hey, sagt sein Blick.
Hallo, blinzele ich stumm.
In Wahrheit sagen wir gar nichts. Kein Ton, kein Wort. Und dann, es grenzt an Lächerlichkeit, nur meine Meinung, fragt er: »Schöne Ferien gehabt?«
Fast lache ich laut auf.
Schöne Ferien gehabt? Nein, Gideon Attwell. Es waren die schrecklichsten Ferien meines Lebens. Und weißt du auch warum? Weil meine beste Freundin mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus liegt und weil du verdammt noch mal weg warst, ohne ein Wort zu sagen oder dich bei mir zu melden. Nur um zurückzukehren und mir allen Ernstes diese Frage zu stellen. Und du?
Das alles will ich zu ihm sagen, aber es ist den Aufwand nicht wert. Also stoße ich nur den Atem aus und gehe weg. Zumindest habe ich das vor, aber er stellt sich mir in den Weg. Mein Magen reagiert darauf mit einem flauen Gefühl. Er steht eine Stufe unter mir und kann mir direkt ins Gesicht schauen.
»Grace«, sagt er mit diesen nach unten zeigenden Mundwinkeln und einem traurigen Blick, auf den er kein Recht hat. Ich sollte diejenige sein, die traurig ist, aber ich bin nur wütend.
»Was?«, feuere ich zurück.
Meine Kehle zieht sich ein bisschen zu, als er auf meine Stufe tritt. Ich hebe den Kopf und begehe den Fehler, ihm ins Gesicht zu sehen, wo ich so viel erkenne und zugleich absolut gar nichts. Dass er auch keine schönen Ferien hatte, zum Beispiel, was mir egal ist (ist es nicht). Dass er nicht versteht, was hier los ist, was mir kein bisschen leidtut (tut es doch). Dass sich diese acht Wochen zwischen uns geschoben und dafür gesorgt haben, dass wir uns fremd geworden sind und er sich immer noch wie das wärmste Zuhause anfühlt, das man finden könnte (wird er für immer). Und wisst ihr, genau das ist ja das Problem. Ich dachte drei Jahre lang, Henry wäre dieses Zuhause, nur um auf die harte Tour zu lernen, dass man einem anderen Menschen ein Attribut dieser markerschütternden Wichtigkeit besser nicht zuschreibt. Das empfehle ich wirklich niemandem, außer man leidet gern. Oh, wie ich gelitten habe, als Henry die Tür zugemacht und die Schlösser ausgetauscht hat. Und jetzt tut Gideon das Gleiche und besitzt zudem die Frechheit, mich verwirrt anzusehen.
»Was ist los?«, fragt er, was mich unverhältnismäßig wütend macht. Er weiß schließlich, was er getan hat beziehungsweise nicht getan hat. Ich weiß es. Ich saß hier wochenlang und habe auf ihn gewartet. Auf ein Lebenszeichen, irgendetwas. Und ich werde ihm nicht die Genugtuung geben und zeigen, wie sehr er mich verletzt hat.
Ich blinzele unberührt. »Was soll los sein?«
Er kommt einen Schritt näher. Angespannter Kiefer. »Warum bist du so?«
»Wie bin ich denn?«
»Du weichst mir aus.«
»Ach, tue ich das?« Ich stemme die Hände in die Seiten. Mehr Reaktion, als er verdient. »Damit kennst du dich ja aus.«
Tatsächlich hätte ich erwartet, dass er darauf etwas zu sagen hat. Eine Erklärung zum Beispiel, vielleicht sogar eine Entschuldigung, aber stattdessen friert er vor mir ein und schweigt. Mein Magen fühlt sich nicht gut an. Aber mal ehrlich, für so was habe ich keine Zeit.
»Wie auch immer«, murmele ich nach einem Augenblick und schiebe mich an ihm vorbei. Um ihn stehen zu lassen und zu gehen, aber bevor ich dazu komme, spüre ich eine Berührung an meinem Arm. Meine Augen füllen sich sofort mit Tränen, was lächerlich ist, aber ich habe ihn acht Wochen lang nicht anfassen können, ich bin quasi auf Entzug, und meine Nerven liegen blank. Endlich, denke ich und dann Wie kann er es wagen? So lange zu verschwinden, zurückzukommen, die Finger um mein Handgelenk zu legen und dafür zu sorgen, dass ich fast zusammenbreche und ihm alles verzeihen will? Was ich nicht werde, aber am liebsten würde ich. Es war so schlimm ohne ihn. Da war gar nichts mehr. Nur ich, ein Teil eines Ganzen, allein nicht voll funktionsfähig. Quasi nutzlos. Eine Tragödie.
Mein Blick geht von seinen Fingern zu seinem Gesicht, und bevor ich verstehe, was das zu bedeuten hat, zieht er die Hand zurück. Was besser ist, aber auch das Gegenteil dessen, was ich will. Habe ich nicht aus der Vergangenheit gelernt?
Es fällt mir schwer, zu atmen, während ich die Treppe runterlaufe. Weg von Gideon und meinen widersprüchlichen Gefühlen. Das Licht ist gleißend hell, als ich die schwere Holztür unten am Nordflügel aufdrücke und zurück nach draußen in den Hof trete, wo der Trubel weitergeht, was mich daran erinnert, dass die Zeit nicht wirklich stehen geblieben ist. Es hat sich nur so angefühlt. Es fühlt sich immer so an mit Gideon.
Der Innenhof hat sich ein wenig geleert, einige Fahrzeuge sind verschwunden, das meiste Gepäck ebenfalls, aber noch immer wuselt es vor Schülerinnen und Schülern. Verloren aussehende Neuankömmlinge kann ich auf den ersten Blick keine entdecken, dafür sehe ich Mr Ringling, der auf mich zueilt.
»Grace, hervorragend, dass ich dich erwische.« Er nimmt mich zur Seite und senkt den Kopf. »Wie geht es dir, waren die Ferien schön?« Mit dem Rücken seines Zeigefingers schiebt er seine randlose Brille auf der Nase hoch und fährt gleich fort, ohne meine Antwort abzuwarten, worüber ich nicht unerfreut bin. »Im Kollegium haben wir darüber gesprochen, dass die Abschlussball-AG dieses Jahr dringend eine Leitung festlegen sollte, über die jegliche Kommunikation mit dem Lehrkörper läuft.« Er seufzt tief und beschwört mich mit einem Blick, der wohl vielsagend sein soll. Was genau er mir sagen möchte, ahne ich leider tatsächlich. »So ein Drama wie letztes Jahr mit den Zwölfern darf nicht wieder passieren, da hat rein gar nichts funktioniert, weil sich niemand zuständig gefühlt hat, nicht?«
Ich nicke, obwohl ich keine Ahnung habe. Ich war daran schließlich nicht beteiligt.
»Könntest du dir vorstellen, das zu übernehmen?«
Manchmal verstehe ich nicht, warum es mich so ärgerlich macht, wenn Menschen mich um Hilfe bitten. Hat vermutlich was mit meinem inneren Kind zu tun, das sich immer selbst helfen musste, die selbstständige große Schwester, die ich nun einmal bin. Tatsächlich möchte ich trotzig mit dem Fuß aufstampfen und fragen Warum ich?, aber das tue ich nicht, natürlich tue ich das nicht. Ich bin Grace. Ich helfe immer. Liebend gern und wo ich nur kann. Ich bin so vernünftig und verantwortungsvoll, die reinste Ehre, diese Frage.
»Ich?« Ich lächle, aber mein Gesicht tut weh dabei. »Den Abschlussball? Ich weiß nicht, Sir, ich …«