Duncan's Crossing - Alvar Wenzel - E-Book

Duncan's Crossing E-Book

Alvar Wenzel

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Beschreibung

Als Brenda Buchanan spät abends nach Hause zurückkehrt, liegt ein Toter in ihrer Küche. Seine Kehle wurde aufgeschlitzt. Bald findet die Polizei einen Verdächtigen. Spencer Macbain hat kein Alibi. Sein Motiv: Eifersucht. Zunächst sieht alles nach einem klaren Fall aus. Doch woher besaß der Tote einen Schlüssel zu Brendas Haus? Und wieso trug er eine Verkleidung? Gegen den Willen ihrer Vorgesetzten, die den Fall zu den Akten legen wollen, ermitteln Inspektor Macnab und Polizeifotograf Gavin Forbes weiter. Sie stoßen dabei auf ein schreckliches Geheimnis.

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Seitenzahl: 317

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Copyright © Alvar Wenzel, 2018

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Inhaltsverzeichnis

Peter Hutchinson

Jean Doe

Spencer Macbain

Brenda Buchanan

Rhona Cameron

Aileen Forrester

Ian Forrester

Gavin Forbes

Alan Macnab

Nachwort

Literaturverzeichnis

Peter Hutchinson

GAVIN FORBES’ TELEFON klingelte kurz vor Mitternacht. Es weckte ihn aus einem schlafähnlichen Dämmerzustand, in den er während der Spätnachrichten der BBC versunken war, da der Sender seine Hauptschlagzeilen allzu oft wiederholt hatte.

Schwerfällig erhob Gavin sich von der Couch und griff nach dem Telefon, das neben dem immer noch angeschalteten Notebook auf dem Schreibtisch lag.

Als Gavin sich meldete, klang seine Stimme heiser und schlaftrunken.

Der Mann am anderen Ende der Leitung war dagegen hellwach: »Wir brauchen Ihre Dienste«, erklärte er ohne Umschweife.

Gavin erkannte an der Stimme Carson, den Chef der Einsatzleitung des CID Houndslow.

»Es gab einen Mord«, fuhr Carson fort. »Sie müssen die Aufnahmen machen.« Dann gab er die Adresse durch, die Gavin auf der Rückseite einer noch nicht bezahlten Rechnung notierte.

Bei dem Wort ‘Mord’ wurde auch Gavin hellwach. Sein Herz schlug so rasch, als hätte er mehrere Tassen Espresso hintereinander getrunken. Denn erst vor einem halben Jahr hatte Gavin den Posten als Polizeifotograf für die Dienststelle in Houndslow übernommen. Seinen Einsätzen für den CID haftete daher immer noch etwas Neues und Aufregendes an.

Langsam holte Gavin Luft. Dann wiederholte er für Carson die Adresse. Der bestätigte und beendete das Gespräch.

Gavin legte das Telefon erst gar nicht beiseite, sondern bestellte sogleich ein Taxi. Anschließend warf er einen Blick auf den Schreibtisch, an dem er bis zum Beginn der Spätnachrichten an einem Artikel für ein Outdoor-Magazin gearbeitet hatte. Er sicherte Text und Bilder und klappte dann das Notebook zu.

Im Flur zog er sich eine warme Jacke über, schulterte seinen stets griffbereiten Fotorucksack und verließ das kleine Appartement in der Nähe des Stadtzentrums von Houndslow, in dem er seit drei Jahren wohnte.

Er wollte auf der Straße auf das Taxi warten, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Im Freien war es allerdings empfindlich kühl. In Gedanken stellte Gavin fest, dass der Mai in Houndslow auch schon wärmer gewesen war.

Ungeduldig blickte Gavin in Richtung der nahegelegenen Kreuzung. Von dort erwartete er das Taxi. Um die Hände zu wärmen, schob er sie tief in die Taschen seiner Jacke.

Kurz darauf bog ein Taxi von der Kreuzung in die Seitenstraße ein und nahm Kurs auf Gavin, als dieser es heranwinkte. Eine Viertelstunde später setzte es ihn in der Brandon Street ab, die in einer der wohlhabenderen Vorstädte von Houndslow gelegen war. Gavin verglich die Hausnummer mit Carsons Angaben. Dass er hier tatsächlich richtig war, bestätigten ihm auch die zahlreichen Einsatzfahrzeuge der Stadtpolizei, die sich auf der Straße drängten und mit ihren Scheinwerfern die schottische Nacht erhellten.

Nummer 128 war ein zweistöckiges, frei stehendes Einfamilienhaus in einer Reihe ganz ähnlicher Gebäude, die allesamt aus den sechziger Jahren stammten. Die Tür von Nummer 128 stand weit offen. Aus jedem der Fenster drang Licht.

Gavin ging auf den Hauseingang zu. Dabei warf er einen Blick auf das Klingelschild am Gartentor: B. Buchanan war dort in schnörkellosen Lettern auf einem Messingschild eingraviert.

Gavin zog die Augenbrauen in die Höhe. Obwohl er den Namen im Moment nicht einordnen konnte, kam er ihm vage bekannt vor. Als ihm jedoch nicht einfiel, woher er B. Buchanan kannte, schüttelte er den Kopf und ging in das Gebäude hinein.

Gavin orientierte sich an der Lautstärke der Stimmen der Uniformierten im Inneren des Hauses. Diese Orientierungsmethode führte ihn durch den Hausflur und an der Treppe zu den oberen Stockwerken vorüber. Am Ende des Flurs stieß er auf die ersten beiden Uniformierten. Der eine von ihnen grüßte Gavin freundlich, der andere jedoch musterte ihn unwillig. Nicht für jeden gehörte Gavin wirklich zur Truppe.

Es war eine Erfahrung, die Gavin nicht zum ersten Mal machte. Sicherlich lag es auch an der Art und Weise, durch die er zu dem Job gekommen war: Als vor einem Dreivierteljahr der bisherige Fotograf des CID den Dienst quittiert und von seinen Ersparnissen ein Fotostudio eröffnet hatte, beschloss der Stadtrat von Houndslow als Sparmaßnahme, keinen Ersatz für ihn einzustellen, sondern die Position an einen Freiberufler zu vergeben, der aufgrund tatsächlich erbrachter Leistungen abrechnen sollte, bei einem garantierten, wenn auch recht geringen monatlichen Basisbetrag.

Auch Gavin hatte sich damals beworben. Seine Tätigkeit als freier Mitarbeiter diverser Zeitungen und Zeitschriften hatte ihn bis dahin nur mühsam über Wasser gehalten. Ein regelmäßiges Basiseinkommen, wie es die ausgeschriebene Stelle versprach, war ihm daher höchst willkommen, so niedrig dieses Basiseinkommen auch war. Außerdem gab es die Aussicht, nach sieben Jahren unbefristet in den Polizeidienst übernommen zu werden.

Es hatte Gavin damals jedoch selbst überrascht, als er den Posten tatsächlich erhalten hatte, da er in dem Ruf stand, eher unkonventionell zu arbeiten. Auch war es wenig wahrscheinlich, dass der CID einen Fotografen einstellen würde, der zur gleichen Zeit für die Presse arbeitete. Doch der Druck, Einsparungen durchzuführen, war offenbar derart groß, dass man solche Bedenken zurückstellte und im Bewerbungsgespräch nur darauf hinwies, dass der Kandidat sich zu ausdrücklichem Stillschweigen in polizeidienstlichen Angelegenheiten verpflichten musste, bei Androhung eindrucksvoller Strafen im Falle der Zuwiderhandlung.

Den Ausschlag für Gavins Einstellung gab jedoch der Umstand, dass er sich auf Anhieb gut mit Superintendent Alan Macnab verstanden hatte, dem ranghöchsten Ermittler der Houndslower Dienststelle des CID. Vor allem für Macnab sollte Gavin in Zukunft arbeiten.

Die Außenstelle des Criminal Investigation Department in Houndslow gehörte organisatorisch dem Dumfries and Galloway Constabulary an, das seinen Sitz in Dumfries hatte.

Gavin hatte von Anfang an mit Vorbehalten einiger seiner neuen Kollegen zu kämpfen. Und auch seine Mitstreiter von der Presse neideten ihm seine ihnen bevorzugt erscheinende Position.

Nachdem Gavin sich jedoch in den ersten Monaten mehrfach bewährt hatte, änderte sich die Einstellung der meisten Polizeiangehörigen ihm gegenüber. Nun respektierten ihn auch diejenigen Kollegen, die Gavin zunächst mit einer gewissen Herablassung behandelt hatten. Gavin konnte in dieser Zeit den Nachweis erbringen, dass er seine Tätigkeit für den CID streng von seiner Arbeit für die Presse zu trennen vermochte: Nie war etwas von dem in den Zeitungen erschienen, das Gavin nur aufgrund seiner vertraulichen Tätigkeit für den CID hatte erfahren können. Diese Diskretion wusste man zu schätzen.

Der freundlichere der beiden Uniformierten im Hausflur wies Gavin nun mit der Hand den Weg zur Küche, die am anderen Ende des Flurs lag, hinter den Uniformierten. Dort war auch das Gedränge am größten. Gavin blieb neben der Küchentür stehen und sondierte das Terrain von dort aus.

Sogleich entdeckte er Superintendent Macnab, der inmitten einer Gruppe lautstark diskutierender Polizisten auf der rechten Seite der Küche stand. Als Macnab Gavin erblickte, nickte er diesem freundlich zu.

Gavin war froh über Macnabs Anwesenheit. Sein Verhältnis zu dem Superintendent war inzwischen fast freundschaftlich. Gavin hatte Macnab als integren und unbestechlichen Menschen kennengelernt; dies waren Eigenschaften, die Gavin besonders respektierte. Außerdem war Macnab offen für die Ansichten anderer, auch wenn sie von seinen eigenen Ansichten abwichen. Nicht nur in Macnabs Beruf war eine solche Haltung etwas Besonderes.

Gavin verfolgte mit halbem Ohr die Diskussion der Ermittler und sah sich gleichzeitig aufmerksam um: Links von ihm befand sich die Spüle. Und etwas weiter hinten, neben einem kleinen Esstisch, erkannte er nun auch die Leiche, die zuvor durch das Gedränge verdeckt worden war. Der Tote lag ausgestreckt auf dem Fußboden; sein in Schmerz erstarrtes Gesicht war nach oben gewandt.

Gavin ging zu dem Toten hinüber und besah sich die Leiche genauer. Dabei achtete er sorgfältig darauf, nicht in die Blutlache zu treten, die sich um den Oberkörper des Toten herum gebildet hatte.

Das Opfer war knapp fünfzig Jahre alt. Es war männlich, hatte dunkles, kräftiges Haar und trug einen besonders auffälligen breiten Oberlippenbart. Doch was das Auge vor allem gefangen nahm, war die Kehle des Toten, die über die gesamte Breite des Halses aufgetrennt war und mehrere Zentimeter weit auseinanderklaffte.

Gavin schauderte bei diesem Anblick. Die blutig klaffende Wunde wirkte wie ein zweiter Mund, der ihn auf groteske, hässliche Weise angrinste.

Als Tatwaffe war allem Anschein nach ein breites Fleischmesser verwendet worden, das neben der linken Schulter des Opfers auf dem weiß gekachelten Fußboden inmitten der Blutlache lag.

Gavin schüttelte das beklemmende Gefühl ab, das sich seiner bei diesem Anblick bemächtigte. Dies war bei Weitem nicht die erste Leiche, die er in seinem Leben zu Gesicht bekam. Es war noch nicht einmal die am schlimmsten zugerichtete Leiche, die er bisher gesehen hatte. Dennoch würde ihn das Bild des ihn mit zwei Mündern angrinsenden Toten noch einige Tage verfolgen.

Nach außen hin ließ Gavin sich seine Gefühle allerdings nicht anmerken. Denn das, was er empfand, hätte man ihm als Schwäche ausgelegt.

Noch etwas zerrte an seinen Nerven: Das laute Weinen einer Frau drang aus einem der Nachbarräume zu ihnen herüber. Es wurde nun immer lauter und hysterischer.

Superintendent Macnab trat zu Gavin und begrüßte ihn mit einem kurzen Händedruck. Dann berichtete er knapp, die Leiche sei vor etwa einer Stunde entdeckt worden, und zwar von jener Frau, deren Weinen aus dem Nachbarraum zu hören war.

Gavin verfolgte Macnabs Ausführungen aufmerksam, doch er stellte keine Fragen. Gavin wusste, dass Macnab im Augenblick die Zeit fehlte, den Fall ausführlicher mit ihm zu diskutieren.

Als das Weinen der Frau immer durchdringender wurde, neigte Macnab den Kopf in Richtung des Hausflurs und erklärte: »Die Mieterin ist eine Ms Buchanan. Sie wohnt hier seit vier Jahren, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester.«

Wiederum kam Gavin der Name ‘Buchanan’ auf unbestimmte Weise bekannt vor. Wiederum erinnerte er sich jedoch nicht, wieso dies der Fall war. Vermutlich hatte die betreffende Assoziation nichts mit seiner Tätigkeit für den CID zu tun; daher vermochte er die Erinnerung im Moment nicht zu greifen.

Superintendent Macnab fuhr währenddessen mit seinem Bericht fort: »Ms Buchanan hat bei ihrer Heimkehr die Leiche des Mannes in ihrer Küche so vorgefunden, wie du sie jetzt siehst. Daraufhin hat sie, ihren Angaben zufolge, sofort den Notruf gewählt. Als die Streife eintraf, hat die Buchanan mit den Kollegen noch ein paar Worte gewechselt. Wenig später ist sie zusammengebrochen.«

Gavin nickte und deutete mit der linken Hand auf den Toten. »Wisst ihr schon, wer er ist? Konnte die Buchanan ihn identifizieren?«

»Sie hat erklärt, sein Name sei Peter Hutchinson«, berichtete Macnab. »Er sei ein ehemaliger Bekannter von ihr.«

Gavin zog die Augenbrauen empor. »Ein Bekannter? Ihr Weinen klingt nach etwas mehr als bloßer Bekanntschaft.«

»Mag sein«, gestand Macnab zu, wollte jedoch keine voreiligen Schlüsse ziehen. »Oder es ist bloß der Schock über die abscheuliche Entdeckung.«

Gedankenverloren betrachteten die beiden Männer das Gesicht des Toten. Es wirkte wie die Maske eines Dämons, der sich über sie lustig machte.

Gavin empfand Mitleid mit der Frau. Sie horchten auf das nun allmählich wieder leiser werdende Weinen aus dem Nachbarraum. »Und was ist mit Ms Buchanans jüngerer Schwester?«, erkundigte Gavin sich. »Ist sie ebenfalls hier im Haus?«

»Nein.« Macnab schüttelte den Kopf. »Zum Glück nicht. Sie ist noch zu Besuch bei einer Freundin in Carsethorn, wohin sie die Buchanan begleitet hatte. Das Kind sollte dort übernachten.«

»Und die Eltern der beiden?«, forschte Gavin weiter.

»Sind beide tot. Die ältere Schwester sorgt jetzt für die jüngere.«

»Auch nicht einfach«, antwortete Gavin nachdenklich während er sich umsah. »Wo kann ich meine Ausrüstung abstellen?«, erkundigte er sich dann.

Der Superintendent deutete auf einen kleinen Tisch im Flur, direkt neben der Küchentür. »Dort drüben. Mit dem Tisch ist die Spurensicherung bereits fertig.« Er nickte Gavin zu. »Ruf mich einfach, wenn du noch etwas benötigst.« Dann wandte er sich wieder seinen Kollegen auf der anderen Seite der Küche zu.

Gavin ging zu dem kleinen Tisch im Hausflur, den Macnab ihm angewiesen hatte, und stellte seinen Fotorucksack auf den Boden daneben. Mit geübter Hand zog er dann ein Kameragehäuse aus dem Rucksack hervor und montierte ein Weitwinkelobjektiv und einen Ringblitz. Anschließend breitete er zwei weitere Objektive und anderes Zubehör, das er erfahrungsgemäß benötigen würde, auf dem Tisch aus, um es bei Bedarf rasch zur Hand zu haben.

Insgesamt brauchte Gavin nahezu eine Stunde, um seine Aufgabe zu erledigen. Dabei ging er mit großer Sorgfalt vor. Einer der Uniformierten, den Gavin noch nicht kannte, erwies sich als äußerst hilfsbereit und zeigte Gavin alles, was dokumentiert werden musste. Einige der Bilder, die Gavin machte, würden später vom CID auch für die Presse freigegeben werden.

Als Nächstes war der Gerichtsmediziner an der Reihe. Auch er gab Gavin verschiedene Anweisungen darüber, was er fotografisch festgehalten wissen wollte. Die Leute von der Spurensicherung dagegen fertigten ihre Aufnahmen selbst an, da sie dabei ganz bestimmte Details im Auge hatten.

Erst gegen drei Uhr früh war Gavins Arbeit beendet. Erschöpft nahm er seine Kamera wieder auseinander und verstaute die Ausrüstung in seinem Rucksack. Dabei wurde ihm bewusst, dass das Weinen im Nachbarraum mittlerweile völlig verstummt war. Neugierig blickte er zu der immer noch geschlossenen Tür hinüber.

In diesem Augenblick trat Superintendent Macnab erneut zu ihm. Auch er wirkte erschöpft. Doch wie stets, wenn Alan Macnab etwas Ungewöhnliches an einem Tatort entdeckt hatte, benötigte er einen Gegenpart, um mit diesem seine Gedanken systematisch durchzusprechen. Jemanden, der unvoreingenommen war und bereit, die Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

Diesen Gegenpart hatte Macnab in der Person Gavin Forbes’ gefunden. Denn während die meisten von Macnabs Kollegen jeden neuen Fall nur noch als Routine ansahen, war Gavin weit von solch einer Routine entfernt.

Auch der Superintendent hatte sich über die Jahre hinweg eine bemerkenswerte Objektivität bewahrt. Er hatte einen Blick für die kleinsten Unstimmigkeiten entwickelt. Und diese Sorgfalt und Liebe zum Detail fand er auch bei Gavin Forbes: Schon bei ihrer ersten Begegnung im Zuge des Bewerbungsverfahrens war ihm Gavin nicht nur als aufmerksamer Zuhörer aufgefallen, sondern auch als unvoreingenommener Beobachter, als jemand, der ein Auge für die entscheidenden Dinge besaß. Seither diskutierten sie regelmäßig die gerade von Macnab bearbeiteten Fälle, zu denen auch Gavin hinzugezogen worden war; vor allem dann, wenn ein Sachverhalt unklar erschien oder ein besonderer Begleitumstand zumindest einen von ihnen irritierte.

Bevor Macnab seine Ermittlungsstrategie festlegte, spielte er gedanklich die verschiedenen möglichen Konstellationen eines Falles durch. Gavin verstand es dabei vorzüglich, Argumente auch für eine entgegengesetzte Betrachtungsweise zu finden. Dadurch war Macnab zu einem sorgfältigen Abwägen gezwungen, wodurch sie in der Vergangenheit häufig auf eine neue Spur gestoßen waren, die sonst unentdeckt geblieben wäre.

Dass Gavin Forbes ein derart gutes Auge für Details besaß und Unstimmigkeiten geradezu intuitiv erkannte, führte Macnab auch auf Gavins Talent als Fotograf zurück: Auch ein Fotograf hatte das Gesamtbild auf einen einzigen Blick zu analysieren, um rasch feststellen zu können, ob etwas daran nicht stimmte. Ob etwa eine Ecke des Motivs abgeschnitten war oder ob Teile unabsichtlich verdeckt wurden. Ob sich etwas im Bild befand, das dort nicht hineingehörte oder ob etwas im Bild fehlte, durch das es erst vollständig würde. Für die erfolgreiche Analyse eines Kriminalfalls benötigte man eine ganz ähnliche Beobachtungsgabe.

An der Art und Weise, in der der Superintendent nun die Stirn in Falten legte, während sie im Hausflur zusammenstanden, erkannte Gavin, dass Macnab deshalb das Gespräch mit ihm suchte, weil ihm etwas an diesem Fall nicht ins Bild zu passen schien. Noch war Macnab jedoch nicht weit genug mit seinen Überlegungen, um das Gespräch von sich aus auf diesen Punkt zu bringen.

Gavin wusste aus Erfahrung, dass es keinen Sinn machte, Macnab in einer solchen Situation zu drängen. Daher erkundigte er sich nur neugierig nach weiteren Einzelheiten: »Hat der Gerichtsmediziner bereits den Todeszeitpunkt feststellen können?«

»Peter Hutchinson ist seit mehr als sieben Stunden tot«, gab Macnab bereitwillig Auskunft.

»Und was sagt die Buchanan, wo sie zu diesem Zeitpunkt war?« Gavin deutete mit dem Kinn in Richtung des Nachbarraums, aus dem zuvor das Weinen gedrungen war.

»Ebenfalls in Carsethorn, bei den Eltern der Freundin ihrer Schwester. Dort hätten sie zusammen den gestrigen Tag verbracht. Die Schwester ist, wie gesagt, immer noch dort.«

»Habt ihr das schon überprüft?«, wollte Gavin wissen.

»Ja, telefonisch. Man hat es mir sofort bestätigt.« Alan Macnab tippte sich an die Nasenspitze. »Aber natürlich werden wir auch noch persönlich mit den Zeugen sprechen. Unter anderem, um zu erfahren, warum die Buchanan allein hierher zurückgekehrt ist und ihre Schwester nicht mit sich nach Houndslow genommen hat.«

»Was sagt sie selbst zu diesem Punkt?«

Der Superintendent schüttelte den Kopf. »Sie ist derzeit nicht ansprechbar.«

Gavin schob das Kinn vor. Wieder überlegte er, wieso ihm der Name ‘B. Buchanan’ bekannt vorkam. Nun, da seine Arbeit getan war und er die Leiche und das Blut nicht mehr direkt vor Augen hatte, fiel es ihm schließlich wieder ein: »Ist diese Ms Buchanan etwa fünfundzwanzig Jahre alt, hat langes, dunkles Haar und ist ziemlich attraktiv?«, erkundigte er sich bei dem Superintendent.

Der blickte überrascht auf und nickte. »Kennst du sie etwa?«

»Ich glaube schon. Sie hat mir vor einiger Zeit bei Werbeaufnahmen Modell gestanden.«

»Das würde passen.« Macnab zögerte kurz. »Willst du mit mir hineingehen und mit ihr sprechen? Vielleicht beruhigt es sie ja, ein ihr bekanntes Gesicht zu sehen. Und sie beantwortet dir dann möglicherweise sogar einige Fragen, die sie uns nicht beantworten konnte.«

»Ich weiß nicht, Alan.« Gavin zögerte. »Außer damals, vor ein paar Jahren bei den Werbeaufnahmen, hatte ich so gut wie keinen Kontakt zu ihr. Vermutlich erinnert sie sich nicht einmal mehr an mich.«

Doch dann fiel Gavin ein, wie er damals Brenda Buchanans kleiner Schwester Mary eine Zweitkamera geliehen hatte, damit das Kind sich während der Foto-Session nicht allzu sehr langweilte. Ihre große Schwester war ihm damals dankbar für diese Rücksichtnahme gewesen, und die Arbeit war von diesem Moment an in einer weitaus entspannteren Atmosphäre verlaufen. Die Buchanan war, wenn man sie näher kennenlernte, ein ganz anderer Mensch als der dunkle, geheimnisvoll verführerische Typ, als der sie auf ihren Werbeaufnahmen wirkte. In Wirklichkeit war Brenda ruhig, zurückhaltend und in sich gekehrt.

Vielleicht erinnerte also auch Brenda Buchanan sich noch an diesen Auftrag. Gavin erklärte sich daher bereit, den Superintendent zu begleiten und mit Brenda zu sprechen. Nicht nur, um sie zu dem Fall zu befragen, sondern auch, um ihr seinen Beistand anzubieten. Es war das Mindeste, was er unter diesen Umständen tun konnte.

»Danke, Gavin.« Auch der Superintendent dachte wieder an das laute Weinen, das zuvor aus dem Nachbarraum gedrungen war. »Das würde uns weiterhelfen.«

Als sie jedoch auf die geschlossene Tür des Nachbarraums zugingen, öffnete sich diese und der Gerichtsmediziner trat heraus. Er kam direkt auf Macnab und Gavin zu. »Ich habe ihr soeben ein Beruhigungsmittel verabreicht«, erklärte er mit durchdringender Stimme, die durch das häufige Protokollieren in ein Mikrofon geprägt war. »Die arme Frau ist völlig durch den Wind.«

»Meinen Sie, ich kann zu ihr?«, erkundigte Gavin sich. »Ich kenne sie von früher«, fügte er dann als Erklärung hinzu, da der Gerichtsmediziner ihn neugierig musterte. »Vielleicht beruhigt sie ein bekanntes Gesicht. «

Der Gerichtsmediziner schüttelte jedoch entschieden den Kopf. »Nett von Ihnen, Forbes, aber sie ist gerade eingeschlafen. Und Schlaf ist die beste Medizin, die es in dieser Situation für sie gibt. Ich habe eine Krankenschwester angefordert, die bei ihr im Haus bleiben wird.«

Gavin nickte. »Wie geht es Brenda?«, wollte er wissen.

»Es ist vor allem der Schock«, gab der Gerichtsmediziner Auskunft, da Macnab zustimmend nickte. »Das Beruhigungsmittel wird ihr helfen, Abstand zu gewinnen. Sie wird die Nacht durchschlafen, und vielleicht auch noch den Vormittag. — Wer kümmert sich eigentlich um ihre kleine Schwester?«

»Das habe ich bereits geklärt«, ergriff Macnab das Wort. »Mary wird bis auf Weiteres bei ihrer Freundin in Carsethorn wohnen.«

»Nun, dann ist ja soweit alles klar, scheint mir«, stellte der Gerichtsmediziner fest. Auch er machte einen erschöpften Eindruck. »Benötigen Sie mich noch, Alan?«

»Nein, vielen Dank, Tom«, entgegnete Macnab höflich. »Ich bin schon gespannt auf Ihren Bericht. Wird wohl nicht viel Neues bei der Autopsie herauskommen?«

»Vermutlich nicht. Der Schnitt durch die Kehle wäre die offensichtliche Todesursache. Aber man weiß das im Voraus ja nie«, stellte der Gerichtsmediziner unverbindlich fest. »Ihnen beiden jedenfalls noch eine gute Nacht — so weit davon noch etwas übrig ist.« Er verabschiedete sich von ihnen, während er langsam seinen Mantel überzog, der über einem der Kleiderhaken im Flur hing.

Plötzlich fiel dem Gerichtsmediziner noch etwas ein. Er wandte sich um und sprach Gavin an: »Übrigens, Forbes, wäre es unpassend von mir zu fragen, ob Sie auch bei einer Familienfeier Aufnahmen machen würden? Gegen entsprechendes Honorar, versteht sich.«

»Selbstverständlich.« Gavin war erfreut. Jede derartige Einnahmequelle kam ihm gelegen, und der Gerichtsmediziner hatte sogleich deutlich gemacht, dass er keinen kostenlosen Gefallen erwartete. »Wissen Sie schon, wann die Feier stattfinden soll?« Gavin griff nach seinem Mobiltelefon, um dessen Terminkalender zurate zu ziehen.

»Noch nicht genau«, lautete jedoch die Antwort. »Ich wollte einfach schon mal generell vorfühlen.«

Gavin ließ die Hand wieder sinken, mit der er nach seinem Mobiltelefon gegriffen hatte, und schob stattdessen die andere Hand in die linke Innentasche seines Jacketts, um dem Gerichtsmediziner eine seiner Visitenkarten zu reichen. »Rufen Sie mich einfach an oder schreiben Sie mir eine E-Mail, sobald Sie mehr wissen. Dann kann ich feststellen, ob ich den Termin noch frei habe. Falls nicht, kann ich Ihnen auch gerne einen meiner Kollegen empfehlen.«

Der Gerichtsmediziner nickte und steckte die Visitenkarte in die Seitentasche seines Mantels. »Danke, Forbes, das werde ich tun.« Dann wandte er sich endgültig um und verließ das Haus.

Gedankenverloren blickten Macnab und Gavin ihm nach.

»Allmählich baust du dir ja einen soliden Kundenstamm auf!« Der Superintendent lachte gutmütig.

Gavin nickte. »Ja, endlich. Bald muss ich mir nicht mehr Gedanken darüber machen, woher die nächste Miete kommen soll. Sondern nur noch darüber, woher die übernächste kommen wird.« Er lachte trocken. Dann wandten seine Gedanken sich erneut dem Mord an Hutchinson zu. »Wisst ihr schon, wie Hutchinson in das Haus gelangt ist? Offenbar war ja niemand zu Hause, und die Tür scheint nicht aufgebrochen worden zu sein.«

Macnab wurde ebenfalls ernst. »Wir haben inzwischen einen Haustürschlüssel in Hutchinsons Hosentasche gefunden. Vermutlich besaß er den noch aus der Zeit, als er mit der Buchanan befreundet war.«

»Und wer war dieser Hutchinson? Brenda Buchanan scheint euch ja nicht viel erzählt zu haben, bevor sie zusammenbrach.«

»Leider wahr«, bestätigte Macnab. »Ich weiß nur so viel: Hutchinson war eine Art Mädchen für alles für unseren allseits wohlgeschätzten Wirtschaftsmagnaten Emmett Dalton.« Macnabs Worten haftete ein unüberhörbar spöttischer Beiklang an. Er betrachtete Gavin genau, gespannt auf dessen Reaktion.

Tatsächlich pfiff dieser leise durch die Zähne: »Für Emmett Dalton also hat er gearbeitet.« Natürlich wusste Gavin mit dem Namen jenes Mannes etwas anzufangen, dem die Stadt Houndslow mindestens zehn Prozent ihrer Gewerbesteuereinnahmen verdankte. Dalton stammte aus dem Süden Englands und war nicht nur der größte Arbeitgeber der Region, sondern pflegte auch die Rolle eines wohlwollenden Kunstmäzens. »Welche Aufgaben hat man eigentlich als Mädchen für alles zu erledigen, wenn man die Ehre hat, bei Emmett Dalton angestellt zu sein?« Gavin rieb sich die Nasenspitze, während er diese Frage stellte.

»Das werden wir ebenfalls zu klären haben.« Macnab machte ein grimmiges Gesicht. Denn es würde nicht einfach sein, den Dingen auf den Grund zu kommen ohne dabei verschiedenen Personen auf die Füße zu treten, die ihren gesamten Einfluss geltend machen würden, um jeden Kontakt zur Polizei zu unterbinden. In Daltons Kreisen war man es gewohnt, unliebsame Details unter den Teppich zu kehren, ohne dass jemand daran Anstoß nahm.

»Eigentlich überraschend, dass Dalton sich noch nicht bei euch gemeldet hat«, wunderte Gavin sich. »Der hat doch überall seine Informanten und Zuträger sitzen. Bestimmt hat man ihm bereits von Hutchinsons Tod berichtet.«

»Das hätte ich auch erwartet«, pflichtete Macnab ihm bei. »Allerdings ist es weit nach Mitternacht, und Dalton liegt wahrscheinlich längst im Bett. Spätestens morgen Vormittag erwarte ich jedoch den in solchen Fällen obligatorischen Anruf des Bürgermeisters, in dem er mir ein weiteres Mal erläutern wird, wie man, wenn ein solches soziales Umfeld betroffen ist, nicht nur außergewöhnlich feinfühlig vorgehen müsse, sondern außerdem eine ganz besondere Sorgfalt bei der Aufklärung des Falles an den Tag legen soll.« Verärgert rümpfte der Superintendent die Nase. »So als ob ich bei anderen Mordfällen, die sich in einem weniger einflussreichen sozialen Umfeld ereignen, stets nur oberflächlich ermitteln würde.« Es war insbesondere diese Unterstellung des Bürgermeisters, die Alan Macnab ärgerte.

»Sein diplomatisches Feingefühl hebt der Bürgermeister sich eben für ein ganz bestimmtes soziales Umfeld auf — und natürlich für seine Wählerschaft«, spottete Gavin schmunzelnd, um Macnab zu beschwichtigen. »Von dir weiß er schließlich mit Bestimmtheit, dass du ihm deine Stimme bei der nächsten Wahl nicht geben wirst. Warum sollte er sich bei dir also noch die Mühe machen?«

Macnab musste nun ebenfalls lachen. Er gehörte zu jenen ausgeglichenen Menschen, die ihren Ärger nicht lange mit sich umhertrugen.

In diesem Moment trat ein Uniformierter auf Macnab zu und bat diesen, einen Blick auf einige Beweisstücke in einem der Nachbarräume zu werfen. Der Superintendent schickte den Mann mit einem kurzen: »Ich komme gleich« voran und verabschiedete sich dann von Gavin: »Sehen wir uns Morgen, wenn du die Bilder vorbeibringst?«

Gavin nickte erfreut. Er wusste, was diese Frage zu bedeuten hatte: Sie würden den Fall morgen in Ruhe miteinander durchsprechen. Und diese Diskussionen mit Alan Macnab stellten den interessantesten Teil von Gavins Arbeit für den CID von Houndslow dar.

AM FOLGENDEN MORGEN überwand Gavin kurz nach Sonnenaufgang seine Müdigkeit, verließ das Bett und setzte sich an den Computer, um die Aufnahmen des Tatorts von seiner Digitalkamera auf sein Notebook zu übertragen und dort im Einzelnen durchzugehen. Dann kopierte er das Material für den CID auf eine DVD. Außerdem fertigte Gavin Abzüge jener Aufnahmen an, die ihm besonders aussagekräftig erschienen.

Gegen elf Uhr traf er im Hauptquartier des CID ein und ließ sich vom Empfang bei Superintendent Macnab anmelden. Der Superintendent gab Anweisung, Forbes sofort zu ihm zu schicken.

Macnabs Büro lag im dritten Stockwerk des Westflügels. Es war weitaus weniger geräumig als es Macnabs Position eigentlich angemessen gewesen wäre. Der breite Schreibtisch allein nahm bereits über ein Drittel der Bürofläche ein; ein weiteres Drittel der Besprechungstisch. Auch hierdurch machte sich der allgemeine Sparkurs bemerkbar.

Macnab saß an seinem Schreibtisch, als Gavin eintrat, und bearbeitete die Tastatur seines Rechners. Von einem papierlosen Büro konnte in seinem Fall allerdings keine Rede sein, denn überall, sogar auf dem Besprechungstisch und in einer Ecke auf dem Fußboden, lagen stapelweise Dokumente und Akten. Zum größten Teil handelte es sich dabei um ungelöste Fälle, die jeder andere längst ins Archiv abgeschoben hätte. Macnab jedoch glaubte immer noch an die Möglichkeit einer Aufklärung.

Vor sich auf dem Schreibtisch hatte Macnab verschiedene Papiere ausgebreitet, um sich ein Gesamtbild über die bisherigen Ermittlungsergebnisse im Fall Hutchinson zu verschaffen. Das Wichtigste für ihn am Anfang einer Ermittlung war, Ordnung in die verfügbaren Informationen zu bringen.

Nachdem sie einander begrüßt hatten, übergab Gavin dem Superintendent seine Aufnahmen des Tatorts. Gleichzeitig erkundigte er sich ohne Umschweife: »Hast du das Alibi von Brenda Buchanan bereits überprüfen können?«

Macnab breitete die ausgedruckten Fotos des Tatorts auf seinem Schreibtisch aus und legte die DVD fürs Erste beiseite. Durch ein Nicken forderte er Gavin auf, es sich auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtische bequem zu machen. Dann erst antwortete er auf Gavins Frage: »Heute Morgen war ich in Carsethorn, wo die Freundin der Schwester lebt. — Der Ort liegt übrigens direkt an der Küste, und die Gegend ist äußerst malerisch. Du müsstest einmal bei schönem Wetter einen Ausflug dorthin machen, mit deiner Kamera.«

Gavin nickte und machte sich, dankbar für diesen Hinweis, in Gedanken eine Notiz. Naturfotografie war Gavins besonderes Steckenpferd.

Macnab kehrte zum eigentlichen Thema zurück: »Das Alibi von Ms Buchanan ist wasserdicht«, erklärte er. »Und sie ist deshalb ohne ihre Schwester nach Houndslow zurückgefahren, weil sie heute Nachmittag einen Termin vor Ort hat. Mary Buchanan sollte von Anfang an für einige Tage in Carsethorn bleiben.«

»Und wie geht es Mary? Hast du mit ihr gesprochen?«

Macnab nickte. »Den Umständen entsprechend. Sie macht sich vor allem Sorgen um ihre Schwester. Peter Hutchinsons Tod scheint ihr dagegen wenig zu bedeuten. Sie konnte mir nicht viel Neues über ihn berichten.«

»Das ist bedauerlich.« Gavin zögerte. »Und Brenda Buchanan selbst? Hat heute schon jemand mit ihr gesprochen?«

»Laut Auskunft der Krankenschwester, die bei ihr Wache hält, schläft sie noch. Aber da Brenda, als der Mord geschah, nachweislich in Carsethorn war, kommt sie als Täterin nicht infrage.«

»Doch vielleicht hat sie eine andere Person mit dem Mord beauftragt?«, spekulierte Gavin. Er glaubte zwar selbst nicht an diese Möglichkeit, doch war es Teil ihrer Vorgehensweise, alle denkbaren Varianten eines Falles miteinander durchzuspielen.

»Durchaus möglich«, gestand Macnab zu. »Und ich werde auch weiterhin nach einem Motiv auf ihrer Seite suchen. Aber es erscheint mir unwahrscheinlich, dass Ms Buchanan damit zu tun hat. Denn wäre dies der Fall und hätte sie einen Dritten mit dem Mord beauftragt, so hätte sie wohl kaum ihr eigenes Haus als Tatort ausgewählt. Solch ein Vorgehen bringt sie schließlich als eine der Ersten in Verdacht. Außerdem hätte die Buchanan auch noch den restlichen Abend und die folgende Nacht in Carsethorn verbringen können, um mit ihrem Alibi völlig sicherzugehen.«

Gavin dachte kurz nach. »Oder sie ist deshalb vorzeitig zurückgekehrt«, wandte er ein, »weil sie die Leiche in Abwesenheit ihrer Schwester entdecken wollte. Wenn Brenda mit dem Täter in Kontakt stand, hätte sie gewusst, zu welchem Zeitpunkt ihr Alibi hieb- und stichfest sein würde.«

»Das ist sicherlich nicht auszuschließen.« Macnab rieb sich das Kinn. »Doch wieso ist Hutchinson von sich aus in das Haus eingedrungen, mit seinem eigenen Haustürschlüssel? Woher konnte sein Mörder wissen, dass Hutchinson dies tun würde? Und was wollte Hutchinson überhaupt im Haus der Buchanans?«

Das waren tatsächlich wichtige Punkte. »Vielleicht hat Brenda ihn für diese Uhrzeit zu sich nach Hause bestellt, um ihn in eine Falle zu locken?«, schlug Gavin vor. »Als sie ihm nicht öffnete, verschaffte er sich mit seinem eigenen Schlüssel Zugang zum Haus, um auf Brendas Eintreffen zu warten. Im Inneren des Hauses lauerte jedoch bereits der von Brenda beauftragte Mörder auf Hutchinson.«

»Denkbar«, gab Macnab zu. »Und dafür spricht tatsächlich, dass Brenda ihre Schwester nicht mitgenommen hat, sondern allein von Carsethorn abgefahren ist — falls sie wusste, welche Entdeckung sie in ihrem Haus erwarten würde. Diesen Anblick wollte sie Mary nicht zumuten.« Er rieb sich erneut das Kinn. »In diesem Fall hätte Brenda sehr langfristig geplant.« Doch der Superintendent war und blieb skeptisch: »Welches Motiv sollte sie jedoch dafür haben? Und die Ausführung war alles andere als professionell. Jeder Auftragskiller, den Brenda engagiert haben könnte, hätte die Sache deutlich unauffälliger erledigt. Überhaupt hätte er das Ganze so aussehen lassen, dass keine derart offensichtliche Verbindung zu Brenda Buchanan bestanden hätte. Warum den Verdacht unnötig auf sich selbst lenken?«

Gavin blieb hartnäckig. »Vielleicht war der Mörder kein professioneller Killer, sondern ein Freund oder Bekannter, der es einfach nicht besser hinbekommen hat?«, gab er zu bedenken.

»Auch in diesem Fall war es alles andere als klug, den Verdacht so offensichtlich auf sich selbst zu lenken. Natürlich wird man nun auch Brendas Freunde unter die Lupe nehmen, was man unter anderen Umständen vermutlich nicht oder jedenfalls nicht sofort getan hätte.« Macnab schüttelte den Kopf. »Nein, ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Buchanan an dem Mord beteiligt ist. Natürlich werde ich dieser Möglichkeit trotzdem nachgehen. Doch nach der augenblicklichen Sachlage halte ich sie für unschuldig.«

Gavin ging es ebenso, trotz der von ihm selbst soeben geäußerten Argumente.

Einige Minuten lang erwogen sie schweigend die Details des Falles und gingen, jeder für sich, in Gedanken verschiedene Konstellationen durch.

Nach einigen Minuten schrillte das Telefon auf Macnabs Schreibtisch. Beide zuckten sie bei dem Läuten zusammen, so sehr hatten sie sich in ihre Gedanken vertieft.

Der Superintendent nahm den Hörer und meldete sich knapp. Am anderen Ende der Leitung konnte Gavin die aufgeregte Stimme eines Mannes vernehmen. Er glaubte, die Stimme des Gerichtsmediziners zu erkennen, dem er in der vergangenen Nacht eine seiner Visitenkarten übergeben hatte.

Plötzlich rief Macnab überrascht aus: »Was meinen Sie mit: ‘Er ist es nicht’?« Anschließend lauschte er aufmerksam auf die Antwort am anderen Ende der Leitung. Die Stimme auf der Gegenseite überschlug sich geradezu vor Aufregung.

Auf einmal brach es aus Macnab heraus: »Wie konnte die Buchanan sich derart täuschen? Sie musste ihn doch gut genug kennen, um einen solchen Irrtum auszuschließen!«

Und schließlich, nach einer weiteren Pause: »Nun, sie hat ihn ja auch nur kurz gesehen und war die meiste Zeit im Nachbarraum.« Jetzt war Macnab wieder völlig ruhig. Schließlich beendete er das Gespräch, legte auf und zog die Augenbrauen in die Höhe.

Gavin Forbes verging fast vor Neugier.

Der Superintendent machte eine dramatische Pause und blickte Gavin bedeutungsvoll an. »Das sind aufregende Neuigkeiten für deine Zeitung!«, erklärte er dann.

»Was habt ihr herausgefunden?«, erkundigte Gavin sich interessiert. Ihm gingen alle möglichen Vermutungen durch den Kopf.

Macnab lächelte süffisant. »Unser Gerichtsmediziner hat bei der Autopsie festgestellt, dass der Tote einen falschen Schnurrbart trug. Daraufhin hat er sofort den Erkennungsdienst verständigt. Der hat sich danach endlich dazu bereitgefunden, die in der Nacht abgenommen Fingerabdrücke auszuwerten — und dadurch soeben festgestellt, dass es sich bei dem Toten gar nicht um Peter Hutchinson handelt.« An diesem Punkt angelangt, machte Macnab eine weitere dramatische Pause.

Gavin war nun aufs Äußerste gespannt, ließ es sich aber nicht anmerken. »Dass er nicht Hutchinson ist, erklärt immerhin, warum Dalton den Bürgermeister noch nicht auf dich gehetzt hat«, bemerkte er trocken.

Macnab lachte hintergründig. »Es erklärt sogar noch viel mehr als das«, stellte er fest. »Emmett Dalton konnte den Bürgermeister schon deshalb nicht auf mich hetzen, wie du es ausdrückst, weil er selbst der Tote in Brenda Buchanan Haus war!«

Gavin verschlug es nun doch die Sprache. Eine solche Entwicklung war ein gefundenes Fressen für die Medien.

Dann besann er sich. »Aber ich kenne doch Dalton! Er ist blond und nicht dunkelhaarig«, hielt er Macnab entgegen.

»Richtig«, antwortete der Superintendent. »Und das macht die Sache erst recht interessant. Dalton trug gestern außer dem falschen Schnurrbart auch noch eine täuschend echt aussehende Perücke.«

Gavin machte große Augen. »Sodass er wie Peter Hutchinson aussah?«

»Ganz recht.« Macnab warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

»Und das habt ihr erst jetzt bemerkt?«, entfuhr es Gavin. Seine Worte klangen unbeabsichtigterweise recht harsch. Daher biss er sich im nächsten Moment auf die Zunge und hätte seine Frage am liebsten zurückgenommen.

Macnab nahm ihm die Bemerkung jedoch nicht übel: »Das Gleiche habe ich auch gedacht, als ich soeben am Telefon davon erfuhr«, gab er zu. »Und es wirkt so, als wären wir allesamt Dilettanten.« Dann rechtfertigte er den Irrtum: »Doch die Perücke war nicht einfach so übergestreift, sondern ganz fachmännisch befestigt, ebenso wie der Schnurrbart.«

»Und natürlich zieht man einen Toten nicht einfach mal zum Spaß an den Haaren«, ergriff Gavin Partei.

Der Superintendent nickte, verzog aber das Gesicht. Denn er wusste, wie sehr dieser Fehler in der Presse aufgebauscht werden würde.

»Doch was wollte Dalton im Hause von Brenda Buchanan?«, stellte Gavin die entscheidende Frage und wechselte damit diplomatisch das Thema. »Sie war doch die frühere Freundin seines Faktotums Hutchinson, nicht aber die seinige!«

»Das ist nun tatsächlich der springende Punkt«, bestätigte Macnab. Erst nach einer kurzen Pause setze er hinzu: »Andererseits passt es ins Bild. Ich habe inzwischen von den Kollegen erfahren, dass Dalton und Hutchinson angeblich häufiger die Rollen miteinander getauscht haben, wenn Dalton unerkannt bleiben wollte. Es handelt sich hierbei zwar weitgehend um Gerüchte, doch wart ihr von der Presse so sehr hinter Dalton her, dass es für mich plausibel klingt.«

Gavin teilte diese Ansicht. »Das gibt einen sensationellen Aufhänger, sobald ihr diese Information freigebt«, stellte er fest und malte sich die begeisterte Reaktion aus, die der Chefredakteur der Houndslow Times zeigen würde, sobald man ihm davon berichtete.

Dann erinnerte Gavin sich an eine der Fragen, die Macnab dem Gerichtsmediziner soeben am Telefon gestellt hatte: »Aber weshalb hat Brenda Buchanan nicht erkannt, dass es nicht Hutchinson war? Wenn er ein früherer Freund von ihr war, oder sogar mehr als das, dann musste sie ihn doch gut genug kennen, um den Unterschied trotz der Verkleidung zu bemerken.«

»Dafür gibt es mehrere mögliche Erklärungen,« relativierte Macnab. »Die einfachste ist die, dass Brenda es in ihrem Schreck über den furchtbaren Anblick, der sich ihr in der Küche bot, einfach nicht bemerkt hat; dass auch sie in diesem Moment auf die Verkleidung hereingefallen ist. Eine andere Erklärung wäre übrigens, dass sie Emmett Dalton schon immer nur unter dem Namen Peter Hutchinson kannte und er stets diese Verkleidung trug, wenn sie zusammen waren. Dann hätte sie uns aus ihrer Sicht der Dinge sogar die Wahrheit gesagt.«

Gavin kniff die Augen zusammen. »Das klingt beides zunächst zwar einleuchtend«, erklärte er dann, »aber die zweite Möglichkeit hat einen Haken: Auf Dauer lässt sich solch eine Verkleidung vor einer Geliebten nicht verbergen.«

»Korrekt«, stellte Macnab fest. »Aber nur, falls sie tatsächlich seine Geliebte war. Doch dieser Punkt ist noch offen. Vielmehr können wir nun fast nach Belieben spekulieren, weil uns die Fakten fehlen. Und dies führt leider zu nichts.« Macnab räusperte sich unzufrieden. »Ich glaube übrigens, die Buchanan hielt Dalton in seiner Verkleidung gestern Abend nur deshalb tatsächlich für Hutchinson, weil sie sich der Leiche nicht weit genug genähert hat, um den Unterschied zu erkennen. Was man ihr im Übrigen nicht verdenken kann, bei dem Zustand, in dem das Opfer sich befand.«

»Unter der Voraussetzung, dass sie von dem gelegentlichen Rollentausch nichts wusste, trifft deine Hypothese vermutlich zu«, schränkte Gavin ein. »Aber wenn Brenda bekannt war, dass Emmett Dalton sich hin und wieder als Peter Hutchinson verkleidete, liegt die Sache anders. Dann hätte sie Grund gehabt, genauer hinzusehen, um festzustellen, wer von beiden es war. Trotz des Zustande der Leiche.« Gavin strich sich über das Kinn. »Hat Brenda Buchanan jedoch etwas zu verbergen, so kommt ihr dieses Durcheinander sicherlich recht. Du solltest sie daher unbedingt ausführlich befragen.«

»Das habe ich ohnehin vor,« erklärte Macnab. »Ich fahre nachher selbst zu ihr in die Brandon Street.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Aber auch die Entdeckung der wahren Identität des Toten überzeugt mich noch mehr davon, dass Brenda Buchanan mit dem Mord nichts zu tun hatte.«

Gavin blickte überrascht auf. »Wieso das?«, wollte er wissen.