Der Winterkristall - Alvar Wenzel - E-Book

Der Winterkristall E-Book

Alvar Wenzel

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Beschreibung

Eine abenteuerliche Reise in die Höhlenwelt Mittelamerikas führt eine kleine Gruppe von Forschern und Archäologen zu Entdeckungen, die jenseits ihrer kühnsten Erwartungen liegen. Raum und Zeit verschmelzen für sie miteinander, Vergangenheit und Zukunft. Doch ihre größte Entdeckung liegt noch vor ihnen. Und mit ihr entscheidet sich das Schicksal eines ganzen Volkes.

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Seitenzahl: 501

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Copyright © Alvar Wenzel, 2017

All rights reserved

Inhaltsverzeichnis

Aufbruch

Kristallhöhle

Experiment

Zwischenwelt

Kindheit

Unterwerfung

Kreisanfang

Veränderung

Vereint

Verbunden

Winterkristall

Rückkehr

Fortschritt

Nachwort

Literaturverzeichnis

Aufbruch

CARLOS SOTERO, ein drahtiger, braungebrannter Mann mit kräftigem Haarwuchs und einem breitgezogenen, aber schmal rasierten Oberlippenbart, dessen Eleganz seinem vom Wetter gegerbten Gesicht Feinsinn verlieh, war um einen Kopf kleiner als sein Gastseber. Jack Carlisle begrüßte ihn knapp, aber freundlich. Dann forderte er seinen Gast auf, in einem der breiten, dunkelbraunen Ledersessel Platz zu nehmen, die das gemütlich eingerichtete und angenehm unaufgeräumte Wohnzimmer Carlisles dominierten.

Doch Carlos Sotero hielt es nicht lange in seinem Sessel aus. Erstaunt und auch ein wenig amüsiert beobachtete Carlisle, wie sein Besucher aus Mittelamerika mit weit ausholenden Gesten und unter häufigen Positionswechseln im Raum sein Anliegen vorbrachte.

Anfangs drückte Sotero sich noch recht umständlich aus. Bald kristallisierte sich aus Soteros Worten jedoch heraus, dass Carlisle ihn auf einer archäologischen Expedition in die Urwälder Mittelamerikas begleiten sollte.

Dieser Vorschlag wäre Carlisle für sich allein genommen schon seltsam genug erschienen. Denn er war kein Archäologe, auch wenn er das Interesse eines gebildeten Amateurs für diese Wissenschaft aufbrachte. Noch viel mehr irritierte ihn aber die Art und Weise, in der Sotero sein Anliegen vortrug: Das Verhalten des anderen drückte eine freundschaftliche Vertrautheit ihm gegenüber aus, die Carlisle kaum auszuloten und noch weniger zu erwidern vermochte. Schließlich sah er Sotero heute zum ersten Mal.

Daher bewirkte die Vertraulichkeit, die Sotero an den Tag legte, bei Jack Carlisle das Gegenteil: Nun zeigte er besondere Zurückhaltung.

Während er seinen Gast immer skeptischer musterte, fragte Carlisle sich, welchen besonderen Nutzen Sotero sich wohl von seiner Teilnahme an der Mittelamerika-Expedition versprach. Sotero verwandte erstaunlich viel Energie darauf, ihn zu überzeugen. Was steckte in Wirklichkeit dahinter? Soteros Erklärungen überzeugten Jack Carlisle nicht. Schließlich erwiderte er nicht einmal mehr den Blickkontakt zu Sotero, sondern richtete stattdessen die Augen gedankenverloren auf die an der Wand hinter Soteros Rücken bis zur Decke hin aufragenden Bücherregale.

Als Sotero endlich schwieg, versuchte Carlisle, ihn auf eine Erklärung festzunageln, die einleuchtete. Wieso war Soteros Wahl gerade auf ihn gefallen? Wieso kam Sotero den weiten Weg aus Mittelamerika, um hier in Europa nach Mitarbeitern für sein Forschungsprojekt zu suchen, obwohl er ähnlich qualifiziertes Personal auch näher, in seiner unmittelbaren Umgebung hätte finden können? Carlisle hatte sich nie um eine Mitarbeit beworben.

Die Auskünfte, die er auf seine hartnäckigen Fragen von Sotero erhielt, waren jedoch unbefriedigend. Carlisles Misstrauen stieg. Er gab nur noch unverbindlich Antwort auf die Vorschläge Soteros, mit ihm doch wenigstens versuchsweise nach Mittelamerika zu reisen und sich dann vor Ort endgültig zu entscheiden.

Sein abweisendes Verhalten machte wenig Eindruck auf Sotero. Dieser redete unverdrossen auf ihn ein und war von der eigenen Mission nach wie vor überzeugt. In den seltenen Pausen seines Redeschwalls sah man Soteros krauser Stirn deutlich an, wie dahinter mögliche Argumente gesammelt und auf ihre Schlagkraft analysiert wurden.

Jack Carlisles Blick wechselte beständig zwischen Soteros erregtem Antlitz, den Büchern in den Wandregalen hinter dem Sprecher, einigen Aquarellen mit Naturdarstellungen an den Seitenwänden und den zur Straße gerichteten, offenstehenden Fenstern.

Die Situation, in der Jack sich befand, wirkte auf ihn geradezu absurd. Gedanklich nahm er Abstand von dem Gespräch und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Straße unter ihnen. Von draußen drang warme, fast sommerlich wirkende Luft in die Wohnung, und der Verkehr war kaum zu hören. Die vor neun Wochen in Kraft getretene Smogverordnung zeigte bereits Wirkung. Heute war schon der siebzehnte Tag in diesem Jahr, an dem man sogar die Sonne klar am Himmel sehen konnte. Und dabei war es gerade einmal Mai. Kein Schleier aus Dunst und Abgasen verdeckte heute das Tagesgestirn. Mit seinen Strahlen zeichnete es saubere Schatten auf den grauen Kurzhaarteppich in Carlisles Wohnung.

Sotero verlegte sich nun auf eine andere Vorgehensweise: Er hatte längst erkannt, dass er bei Jack mit Komplimenten nicht weiterkam, sondern sachlich argumentieren musste. Auch ehrlich zu bitten konnte nicht schaden: »Señor Carlisle, helfen Sie uns doch einfach bei der Aufklärung dieser archäologischen Geheimnisse. Ich weiß, dass Sie sich dafür interessieren werden, sobald Sie alles sehen. Mir und meiner Schwester würden Sie damit einen großen Gefallen erweisen.« Ein Vertrauen beschwörender Blick begleitete seine Worte.

Dieser Blick bewegte Jack allerdings nur noch mehr zur Vorsicht. Kritisch betrachtete er den anderen, während dieser fortfuhr: »Die Höhlenkammern, die wir gefunden haben, liegen weit unter der Erde, im Tarahumara-Höhlensystem. Man muss zunächst mehrere Tage unterirdisch zurücklegen, um überhaupt zu ihnen zu gelangen. Sie befinden sich in den Tiefen der Erdkruste, weit entfernt von jedem Tageslicht. Seit Jahrhunderten, vielleicht sogar seit Jahrtausenden sind wir die ersten Menschen, die dorthin vorgedrungen sind. Sie werden einer ihrer Entdecker sein. Die Höhlen, von denen ich spreche, sind so schwer zu erreichen, dass es kaum vorstellbar ist, dass einmal andere denkende Wesen sich dort aufgehalten haben, vor allem solche, die nicht über unsere modernen technischen Möglichkeiten verfügten.

Und dennoch ist es so. Dennoch waren schon andere vor uns dort. Denn wir fanden in den Höhlen eine ganze Reihe gut erhaltener und sehr schöner Artefakte von hohem Alter, die uns aufgrund ihrer Einmaligkeit begeistern. Sie werden gewiss auch Ihr Interesse wecken, Señor Carlisle. Dessen bin ich mir unbedingt sicher.«

Soteros Augen glänzten, während er von den Höhlen sprach, und beschwörend fixierte er mit seinem Blick Jacks unbewegtes Gesicht. »Die Artefakte sind Hunderte, vielleicht Tausende von Jahren alt. Und wir haben bisher nur einen Bruchteil dessen erforscht, was in dem weitverzweigten Höhlensystem verborgen sein muss. Mit unserer Entdeckung ist für mich und meine Schwester ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Aber die letzten Geheimnisse der Höhlen können wir nur mit Ihrer Unterstützung lüften, Señor Carlisle. Nur Sie können uns dabei helfen!«

Jack Carlisle zeigte sich weiterhin skeptisch. Wie konnte Sotero derart felsenfest davon überzeugt sein, ausgerechnet er könne ihm auf dieser Expedition von Nutzen sein? Machte Sotero ihm bloß die üblichen leeren Komplimente, denen man ständig begegnet, wenn andere sich von der Kooperation oder dem Wohlwollen oder auch nur der finanziellen Beteiligung des auf diese Weise Geschmeichelten Vorteile erhofften? Andererseits konnte Jack in den Augen seines Gegenübers weder die Hinterhältigkeit des gewohnheitsmäßigen Schmeichlers noch den Fanatismus des Egoisten ausmachen. Wie sonst aber sollte er sich Soteros Überzeugung erklären, dass er für das Höhlen-Projekt unentbehrlich sei? Die Entschiedenheit, mit der Sotero darauf bestand, nur durch Carlisles Mithilfe weitere Fortschritte bei dem Forschungsprojekt erreichen zu können, erschien Jack jedenfalls übertrieben. Er war sich sicher, dass Sotero einen anderen, einen wesentlicheren Grund für sein Ansinnen besaß und diesen ihm gegenüber verschwieg.

»Nun, was sagen Sie, Señor Carlisle? Begleiten Sie mich zu unseren Ausgrabungen? «

Jack beugte sich langsam in seinem Sessel nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und streckte mit einer Verwunderung ausdrückenden und zugleich abwehrenden Geste die Handflächen nach vorn. »Natürlich interessieren Ihre Entdeckungen mich. Aber ich bin weder Archäologe von Beruf noch habe ich Erfahrungen als Höhlenforscher. Dies wären aber genau jene Qualifikationen, die Ihnen auf Ihrer Expedition am meisten von Nutzen wären. Daher könnten Sie eine geeignetere Person auch in der Nähe Ihres Projekts, in Mittelamerika oder den Vereinigten Staaten finden. So sehr ich Ihnen vielleicht helfen möchte, so sehr frage ich mich auch, wie ich diesem Wunsch tatsächlich entsprechen könnte. Gewiss gibt es andere Forscher, die besser für diese Art von Unternehmung qualifiziert sind, eine Unternehmung die Sie, nebenbei gesagt, noch immer nicht wirklich genau spezifiziert haben.«

Sotero stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Jack Carlisle bedauerte dies, da er zu jenen gutmütigen Menschen zählte, denen es schwerfällt, ein kategorisches Nein zu äußern, selbst wenn genau dies ihrer Intention entspricht. Er versuchte daher, seine Absage und deren negative Wirkung auf Sotero abzumildern, indem er nach einer kurzen Pause des Schweigens wahrheitsgemäß hinzufügte: »Da ich Ihre Heimat noch nie besucht habe und diese Höhlen an sich gerne einmal sehen würde, hätte ich unter anderen Umständen die Beurteilung meiner Nützlichkeit für die Expedition völlig Ihnen überlassen. Auch kann ich Ihnen offenbar nicht ausreden, wovon Sie mit aller Festigkeit überzeugt sind. Aber wenn Sie sich ein wenig Zeit nehmen und nochmals über alles nachdenken, so werden Sie zu dem gleichen Ergebnis kommen wie ich: Sie haben sich in mir ganz offensichtlich die falsche Person für diese Aufgabe ausgesucht.«

Sotero reagierte auf diese versöhnliche Formulierung mit einem verschmitzten, jungenhaften Lächeln, das ihn Jack erstmals wirklich sympathisch erscheinen ließ. Nach kurzem Nachsinnen antwortete Sotero rätselhaft: »Meine Informationen über Ihre Person sind gewiss nicht fehlerhaft. Ich habe sie sozusagen aus erster Hand. Daher bleibe ich bei meiner Ansicht, Señor Carlisle. — Und da Sie, wie Sie soeben selbst feststellten, gerne einmal die Höhlen sehen würden, von denen ich spreche, sind wir uns, wenn Sie sich ein wenig Zeit nehmen und nochmals über alles nachdenken, nun anscheinend doch einig geworden.« Sotero lächelte offen. »Abgesehen davon: Zweifeln Sie bitte nicht weiter daran, dass Sie uns tatsächlich von großem Nutzen sein werden. Genaueres darf ich Ihnen im Moment leider nicht mitteilen. Aber wenn wir erst einmal unterwegs sind, werde ich Ihnen hoffentlich schon auf dem Flug erste Auskünfte geben können, die Sie allmählich überzeugen werden. Jedenfalls will ich Ihnen versichern, dass Sie Ihre Freude an diesem Abenteuer haben werden und die damit verbundenen Erfahrungen nicht werden missen wollen.«

Dies war gewiss nicht die Antwort, mit der Jack Carlisle gerechnet hatte. Aber sie bestärkte seine Neugier: Was wusste der andere, das ihm selbst unbekannt war? Sotero und seine Schwester waren anerkannte Wissenschaftler — so viel hatte Jack schon vor dieser Unterredung in Erfahrung gebracht. Vielleicht war sein Misstrauen daher unbegründet. Jack gefiel jedenfalls die Gewandtheit, mit der Sotero ihm soeben die Worte im Mund umgedreht und zu seinem Vorteil ausgelegt hatte.

Letztlich aber waren es andere Faktoren, die Jacks Überlegungen zugunsten von Soteros Vorschlag beeinflussten, auch wenn er diese nicht laut aussprach: Sein Leben war in den vergangenen Jahren äußerst eintönig verlaufen. Die Fertigstellung seines letzten Projekts hatte zu viel Detailarbeit in Bibliotheken und anderen geschlossenen Räumen erfordert, fern der Natur, sodass er sich nun nach der Freiheit und den neuen Eindrücken einer gesünderen Welt sehnte, fern von jenen überfüllten und von Abgasen vergifteten Großstädten, die zuletzt sein Zuhause gewesen waren. Jack Carlisle war es daher im Grunde gleichgültig, ob er Sotero und dessen Ausgrabungsteam tatsächlich von Nutzen sein konnte. Wenn der andere ihn um jeden Preis dabeihaben wollte, trotz der inzwischen mehrmals von Jack geäußerten Bedenken, so würde er ihm diesen Gefallen eben tun und seinen eigenen Nutzen daraus ziehen. Schlimmstenfalls würde er, wie von Sotero angeboten, die Rückreise antreten, sobald ihm die Sache sinnlos erschien.

»Gut, ich werde Sie also nach Mittelamerika begleiten, sofern Sie weiterhin darauf bestehen«, erklärte Jack daher. Sein Ton blieb sachlich und enthielt wenig Begeisterung.

Sotero aber nickte überrascht und war zufrieden über den scheinbaren Erfolg seiner Überredungskünste.

»Eines ist mir allerdings immer noch unklar«, setzte Jack dann hinzu, während Sotero ihn erwartungsvoll betrachtete. »Mich würde immer noch interessieren, wie Sie ausgerechnet auf mich gekommen sind. Dafür haben Sie bisher noch keinen einleuchtenden Grund angeführt.«

Sotero grinste abermals jungenhaft. »Einerseits haben Sie in der Vergangenheit schon erfolgreich vergleichbare Probleme gelöst, wie sie sich uns nun stellen werden.«

Jack zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen, denn auch mit diesem Hinweis konnte er wenig anfangen. Aber er wusste schließlich nichts Näheres über die Probleme, denen die Archäologen sich gegenübersahen.» Und was ist der andere Punkt?«

»Es ist eine Eigenschaft, die Sie nicht besitzen, Señor Carlisle«, fuhr Sotero fort. »Diese aber macht Sie für unser Team besonders wertvoll.«

Jack verbarg sein Befremden über diese Erklärung nicht. Mit leicht spöttischem Ton hakte er nach: »Und was könnte das für eine Eigenschaft sein, die ich nicht besitze und die mich durch ihr Nichtvorhandensein so besonders wertvoll für Ihr Team macht? Überdies müsste doch das Nichtvorhandensein besonderer Eigenschaften eigentlich ein Vorzug sein, durch den äußerst viele Menschen sich auszeichnen. Wie kommen Sie da ausgerechnet auf mich? «

»Es ist aber die Eigenschaft, sich von Vorurteilen leiten zu lassen«, erwiderte Sotero ruhig und mit überraschender Offenheit, was Jack sogleich entwaffnete. »Von Vorurteilen gegen fremde Menschen und Kulturen, aber auch von Vorurteilen bei der Untersuchung und Erforschung des Unbekannten.« Soteros Gesichtsausdruck wurde ernst. »An Vorurteilen mangelt es Ihnen glücklicherweise, und auch das weiß ich sozusagen aus erster Hand. Aufgrund des Fehlens insbesondere dieser Eigenschaft werden Sie für unser Team von besonderem Nutzen sein.«

Jack runzelte die Stirn. Woher wollte der andere dies eigentlich so genau wissen? Solche Feststellungen traf man nur über Menschen, mit denen man lange und intensiv persönlich zu tun hatte, aber nicht über Fremde, selbst wenn man noch so viel von anderen über sie gehört hatte.

Sotero erkannte, dass seine Erklärung Carlisle irritierte. Daher ergänzte er rasch: »Menschen, die Sie näher kennen, haben mir das bestätigt. Außerdem sind Sie noch jung und ungebunden genug, um sich den Gefahren der Höhlenforschung auszusetzen.«

›Das jedenfalls dürfte zutreffen‹, dachte Carlisle mit Sarkasmus. ›Ungebunden bin ich sicherlich, und damit in gewisser Hinsicht auch entbehrlich. Was aber nicht heißt, dass ich nicht an meinem Leben hänge. Auch ist es nicht meine Absicht, jedem Hirngespinst kritiklos nachzujagen, in das irgendjemand sich verrannt hat.‹ Doch da sich durch Soteros Worte nichts an den Gründen geändert hatte, aus denen Jack sich zuvor entschieden hatte, auf das Angebot des anderen einzugehen und erst einmal abzuwarten, was sich in Mittelamerika ergeben würde, schob er auch diese Bedenken beiseite. Jack erhob sich aus seinem Sessel und reichte Sotero die Hand. »Nun denn, wenn Sie sich Ihre Idee nicht ausreden lassen wollen, bin ich einverstanden. Lassen wir es also dabei bewenden. Wann soll das Abenteuer beginnen?«

»In fünf Tagen. — Selbstverständlich ist schon alles gebucht.« Wiederum begleitete Sotero seine Worte mit jenem jungenhaften, fast spitzbübischen Grinsen.

NACH WENIGEN TAGEN hatte Jack Carlisle das für die mehrmonatige Expedition Notwendige in einem großen Überseekoffer verstaut, einschließlich ausreichender Lektüre für etwaige Mußestunden, die er ungern ungenutzt verbringen wollte und mit denen er bei allen Unternehmungen seines Lebens hoffnungsvoll rechnete. Erst am Morgen ihrer Abreise sah er Sotero wieder, der in der Zwischenzeit sämtliche Formalitäten erledigt und Jack regelmäßig telefonisch über seine Fortschritte auf dem Laufenden gehalten hatte.

Jetzt zog der weiße Metallpfeil ihrer Düsenmaschine zielstrebig über die unverletzlich und erhaben erscheinende Wasserwelt des Atlantiks. Jack starrte gebannt aus dem Fenster. Von den höchsten Atmosphärenschichten aus betrachtet erschien die weite, von Stürmen aufgewühlte Fläche des Ozeans wie eine leicht gekrümmte Platte aus aufgerautem, blaugrünem Marmor. Ihr Anblick war auf eine Weise beeindruckend, die nur Erscheinungen der Natur zu eigen ist. In den Tiefen dieser blauen Masse hatte alles Leben auf der Erde seinen Ursprung genommen. Von hier oben erschien diese Wiege des Lebens noch rein und unberührt. Doch obwohl es der Menschheit immer noch nicht gelungen war, die Tiefen der Ozeane mehr als nur ansatzweise zu erforschen, füllte sie diese seit Jahrzehnten mit den unzähligen Abfallprodukten einer sich unaufhaltsam ausbreitenden Zivilisation. Die Meere wurden um das Mehrfache ihrer Reproduktionskapazität überfischt und viele Arten waren längst ausgerottet. Man zerstörte, was man noch nicht einmal kannte. Aber wen interessierte das schon, solange nur der wirtschaftliche Fortschritt gesichert schien.

Jack war inzwischen zufrieden mit seiner vor fünf Tagen gefassten Entscheidung, Sotero nach Mittelamerika zu begleiten. Es warteten dort neue Eindrücke auf ihn, neue Erlebnisse und neue Menschen. Er würde seiner jüngsten Vergangenheit, dem einengenden, lärmenden Leben in den Metropolen und der geistig beklemmenden Atmosphäre seiner letzten Tätigkeit entkommen. Er würde die Erinnerung daran aus seinen Gedanken verbannen und seine Seele mit all dem Neuen füllen, das ihn nun erwartete. Er würde die Pforten seines Geistes öffnen für frische Ideen und neue Erfahrungen. Und das machte Jack glücklich.

Entspannt lehnte er sich in seinem Sitz zurück. Er fühlte sich endlich wieder dem Idealbild seines Lebens näher. Dieses Idealbild war ihm in den letzten Jahren immer weiter aus den Händen geglitten: Darin sah er das Leben als eine ständige, sowohl körperliche als auch geistige Entdeckungsreise durch die unendlich vielseitigen Facetten der Welt an, als eine Erforschung aller Erscheinungen und Lebewesen, die es in der Welt gab, aber auch eine Entdeckung des eigenen, wirklichen Ichs, befreit von übertriebenen Wunschvorstellungen, von Ich-orientiertem Besitzstreben, übereilten Vorurteilen und den Götzenbildern der modernen Massengesellschaft. Nur wenn man sich vielseitigen Herausforderungen stellte, wuchs die Seele. Erst dadurch ergab sich jenes kreative Wechselspiel zwischen den immer neu zu entdeckenden Aspekten der Welt und den Ausprägungen des eigenen, darin fast unbedeutend werdenden Ichs, das den einzig wahren Fortschritt bewirkte, auf den Jack im Leben Wert legte.

ALS DIE DÜSENMASCHINE der Nachtgrenze entgegenflog, kam auch die Landmasse des amerikanischen Kontinents in Sicht. Dessen einst in ihrer überwältigenden Dichte beeindruckenden Wälder waren inzwischen in weiten Bereichen abgeholzt: zur Gewinnung von Brennmaterial, um Raum für die Massen der Armen zu schaffen, aber auch für die Riesenbesitzungen einiger weniger Großgrundbesitzer mit hervorragenden politischen Beziehungen. Aus den Tiefen der Erde wurden Rohstoffe hervorgeholt, die man den Industrienationen gegen Devisen veräußerte, um den eigenen Schuldenberg zu tilgen. Lebensnotwendigen Ressourcen der Menschheit wurden dadurch klaffende Wunden zugefügt. Die Lunge der Erde wurde weiter geschwächt. Doch auch jetzt noch zeigte die Natur an vielen Stellen Kraft und Schönheit — trotz der zahlreichen Fronten, an denen sie sich im Krieg mit der Menschheit befand.

Der Anblick der solcherart leidenden Natur machte Jack betroffen. Er hoffte inständig, wenigstens im Landesinneren, wo das Ziel ihrer Expedition lag, noch unberührte Urwälder vorzufinden, frei von den in den Küstenregionen wie Pestbeulen eiternden Ballungszentren der Zivilisation. Er hatte vom Ausmaß der Rodungen gelesen — aber erst sie mit eigenen Augen aus dem Flugzeug zu sehen, eröffnete dem Betrachter ihre verheerenden Ausmaße.

Immerhin führte auf diesem Kontinent eine ursprüngliche Natur überhaupt noch den Kampf um ihr Überleben, während sie diesen andernorts längst verloren hatte und sich nur noch den Bedingungen des Siegers unterordnen konnte.

Nachdem ihr Flugzeug in der Hauptstadt gelandet war, folgte eine zweistündige Fahrt mit dem Flughafenshuttle zu einem Verkehrsknotenpunkt in den Außenbezirken der Metropole. Dort endlich entkamen sie dem Smog, der wie ein Leichentuch über dem Stadtkern hing und Jack allzu sehr an seine eigene Heimat erinnerte.

Sotero führte sie in eine bewachte Tiefgarage, in der ein Geländefahrzeug mit breiten Profilreifen und großem Laderaum auf sie wartete. Es sollte sie auf einer etwa zehn Tage dauernden Fahrt zu dem weit im Westen gelegenen Höhlensystem bringen.

Drei Tage später erreichten sie die ersten Ausläufer des Urwalds. Die Straßen, denen sie von da an folgten, waren kaum instand gehalten und daher selten als solche zu bezeichnen. Meist gab es überhaupt keinen erkennbaren Weg. Man musste sich vielmehr selbst eine geeignete Schneise durch die Vegetation bahnen, um weiterzukommen. Ohne ihr Ortungssystem hätten sie bald die Orientierung verloren. Und mit einem normalen Straßenfahrzeug wären sie schon Dutzende Male hilflos stecken geblieben.

Jack erfuhr auf der Fahrt von Sotero Näheres über das Tarahumara-Höhlensystem und dessen Lage. Es befand sich tief im Landesinneren, innerhalb eines ehemaligen Naturschutzgebietes und inmitten der letzten Regenwälder Mittelamerikas. Diese Region war vor Kurzem per Gesetzesbeschluss von Regierung und Parlament zur Abholzung durch internationale Papierkonzerne freigegeben worden, um mit den dadurch kurzfristig eingenommenen Devisen die durch das große Erdbeben des Vorjahres verursachten Schäden zu beheben und die heimatlos Gewordenen zu unterstützen, die immer noch Hunger litten und keine Arbeit fanden.

Wie man diese oder andere Hilfsbedürftige aber auch dann noch unterstützen wollte, wenn die Urwälder abgeholzt waren und der Devisenstrom versiegte, während die Flüchtlinge vermutlich immer noch kein neues Zuhause gefunden hatten, war dagegen unklar. Vielleicht fanden sich in der Zwischenzeit ja andere unersetzliche Ressourcen, die sich genauso leicht zu Geld machen ließen.

Doch der Regierung bot sich keine Alternative. Man konnte die Hilfsbedürftigen schließlich nicht verhungern lassen. Die Hilfsgelder, die in den Monaten unmittelbar nach dem Erdbeben reichlich aus aller Welt geflossen waren, als die Medien in den Industrienationen ausgiebig von dem Unglück berichtet hatten, waren inzwischen fast völlig versiegt. Von der bildgewaltigen Katastrophe des Erdbebens hatte man ausführlich berichtet — das weiterhin andauernde Unglück in seinem Gefolge hatte die Weltöffentlichkeit jedoch bald gelangweilt und war den Medien daher schließlich keine Meldung mehr wert. Stattdessen hatte man sich interessanteren Katastrophen in anderen Teilen der Welt zugewandt. Aber auch dies nur vorübergehend.

Infolgedessen verlor sich die Spendenbereitschaft für die hiesigen Erdbebenopfer im Nichts des Vergessene. Das Mitleid der Welt richtet sich, wie eine Modeerscheinung, immer nur auf das gerade die Medien dominierende Unglück. Alles andere war nicht von Interesse und belästigte nur das Wohlbefinden der nach dem Abendessen gesättigt ihre bevorzugte Nachrichtensendung Schauenden.

Noch war allerdings mit der Abholzung jenes Urwalds nicht begonnen worden, der das Ziel ihrer Reise darstellte. Denn verschiedenen Umweltschutzgruppen war es durch ihre weltweiten Proteste gelungen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die geplante Rodung zu lenken. Die internationalen Papierkonzerne würden daher erst einmal abwarten, bis das Interesse der Weltöffentlichkeit auch an diesem Thema erlahmt war — wie es sich zuvor ja auch schon an dem Thema des Erdbebens und seiner Folgen schließlich erschöpft hatte. Dann konnte man ungestört ans Werk gehen. Bis es soweit war, durfte immerhin Jacks Wunsch in Erfüllung gehen, wenigstens einmal in seinem Leben einen noch von Menschen unberührten Flecken Erde zu betreten.

Die Fahrt mit dem Geländewagen durch die fast undurchdringlich erscheinende Vegetation erwies sich als mühsam. Sotero und Carlisle wechselten einander am Steuer ab, stets hoch konzentriert den Weg vor ihnen nach Schlaglöchern und anderen Hindernissen absuchend. Oft füllten sie die Stunden der Fahrt mit Gesprächen. Allmählich lernten sie einander besser kennen.

Jack bemühte sich indes, wie es seine Gewohnheit war, allzu persönlichen Gesprächsthemen aus dem Weg zu gehen. Stattdessen versuchte er, aus Sotero mehr über die Aufgabe herauszuholen, die bei der Erforschung der Höhle auf ihn wartete. Jedoch mit wenig Erfolg. Immerhin entdeckten sie im Laufe der Zeit eine Reihe von Gemeinsamkeiten.

Sotero, der weitaus weniger zurückhaltend war als Carlisle, berichtete einiges aus seiner Kindheit, die er mit nostalgischen Gefühlen umgab. Er war auf einer großen Hacienda aufgewachsen, auf der seine Eltern zunächst wie Leibeigene Fronarbeit hatten leisten müssen. Ihr Leben war ärmlich und mühevoll gewesen, und Carlos Sotero hätte wohl niemals eine Ausbildung erhalten, wenn nicht ein Besucher aus der Fremde den Gutsbesitzer davon überzeugt hätte, ihm aufgrund seiner Begabung die Möglichkeit zu verschaffen, eine Schule im Osten des Landes zu besuchen. Glücklicherweise hatte eine Hausangestellte des Gutsbesitzers Carlos und anderen Kindern zuvor schon Unterricht erteilt, sodass er nicht völlig unvorbereitet auf die Schule kam. Durch eine überraschende Wendung des Schicksals war also die Grundlage für sein heutiges Leben geschaffen worden.

Politische Umstürze in den Folgejahren hatten überdies die Lebenssituation der Bevölkerung in seiner Heimat verbessert. Sein Wohltäter aus der Fremde hatte wenige Jahre nach seinem ersten Besuch die Region nochmals bereist und bei dieser Gelegenheit auch die jüngere Schwester des Archäologen kennengelernt. Damals, vor dreiundzwanzig Jahren, hatten die Soteros ihn zuletzt gesehen. Danach hatten sie nie wieder von ihm gehört. Aber Jack spürte deutlich, welche Dankbarkeit Carlos diesem Mann und ebenso seiner einstigen Lehrerin gegenüber empfand.

Rachel Sotero, die jüngere Schwester des Archäologen, arbeitete zusammen mit ihrem Bruder an den Ausgrabungen im Tarahumara-Höhlensystem. Dieser Arbeit galt das ganze Interesse der Geschwister, und die Soteros hatten schon einige wichtige Entdeckungen gemacht. Carlos war über seinen beruflichen Erfolg jedoch keineswegs arrogant geworden, wie es etwa bei manch einem mittelmäßigen Menschen der Fall gewesen wäre.

Soteros natürliche Bescheidenheit machte ihn Jack sympathisch. Sotero wusste, dass bei jedem Erfolg neben Hingabe auch viel Glück im Spiel war. Um das zu erkennen, so erklärte er Jack einmal, um zu erkennen, wie viel Glück ihm eigentlich beschieden worden war, müsse er sich nur umschauen in der Welt; er müsse nur sehen, welch trauriges Schicksal viele Menschen in diesem Landstrich erwartete. Darum könne er seinen eigenen Erfolg nur mit Demut betrachten.

Die große existenzielle Armut, der sie auf ihrer Fahrt regelmäßig begegneten, war in der Tat bedrückend. Welches Glück hatte doch auch Carlisle gehabt, dass er in einem reicheren Land aufgewachsen war. Obwohl selbst nicht wohlhabend und aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen nur selten frei in seinen Lebensentscheidungen, hatte er mit seinen bescheidenen Bedürfnissen doch nie Not leiden müssen und konnte nicht wirklich, jedenfalls nicht bis zur letzten, dunkelsten Facette begreifen, was die existenzielle Armut bedeutete, die er hier vor sich sah. Jack vermutete, dass es trotz der Starthilfe, die Sotero von seiner Lehrerin, dem Fremden und dem Gutsbesitzer erhalten hatte, nicht einfach gewesen war, sich dorthin durchzukämpfen, wo Carlos Sotero heute stand. Jack respektierte dies. Es war selten einfach, seinem eigenen Weg im Leben treu zu bleiben; vor allem dann nicht, wenn man sich damit in Widerspruch zu seiner Umgebung stellte und aus den gewohnten gesellschaftlichen Bahnen ausbrach. Den Soteros war es dennoch gelungen.

ES DAUERTE WEITERE FÜNF TAGE, bis sie den von Jack mit Neugier herbeigesehnten, ursprünglichen und von Menschen fast unberührten Dschungel im Inneren des Landes erreichten. Jetzt wurde ihr Vorankommen allerdings noch mühsamer — obwohl Jack nicht gedacht hätte, dass eine solche Steigerung noch möglich sei. Nicht selten fanden sie sich in einer Sackgasse wieder, meist, weil es durch Unwetter zu Erdrutschen gekommen war. Ihre ursprünglich geplante Route war oft unpassierbar. In diesem Fall mussten sie umkehren und sich einen anderen Weg durch die Wildnis bahnen.

Diese Umwege kosteten viel Zeit. Starke Regenfälle erschwerten ihr Weiterkommen. Und wenn es einmal zu regnen aufhörte, dampfte der Urwald unerträglich feucht in einer dunkelgrauen Hitze.

All diesen Widrigkeiten zum Trotz war ihre Reise eine Erfahrung für Jack, die er um keinen Preis hätte missen wollen. In den Tiefen des Dschungels spürte er den Puls wahren Lebens.

Insgesamt dauerte es nun aber sehr viel länger als ursprünglich geplant, bis sie den kleinen, friedlichen Ort Santa Lucia erreichten, der die letzte Ansiedlung am Rande des Naturparks darstellte, in dessen Inneren das Tarahumara-Höhlensystem gelegen war. In Santa Lucia erholten sie sich einige Tage von den Strapazen der Reise.

An ihrem letzten Ruhetag gingen fast sintflutartige Regenfälle nieder. Am darauffolgenden Morgen jedoch brach endlich wieder die Sonne aus dem erstickenden Baldachin aus Regenwolken hervor. Mit kräftigen Strahlen drang sie zu den in der vorübergehend noch drückender gewordenen Hitze schwer atmenden Abenteurern vor.

Frohen Mutes bewältigten Carlos und Jack den letzten Abschnitt ihrer Reise. Dieser führte sie einen steilen Bergkamm entlang, auf dem der Wagen sich abermals durch dichtes Gestrüpp kämpfen musste. Am Nachmittag des zweiten Tages erreichten sie endlich eine große Lichtung, auf der zwei weitere Geländefahrzeuge der Expedition unter einem provisorisch errichteten Schutzdach abgestellt waren. Wenige Meter daneben tat sich ein Abgrund auf. In der Tiefe, auf halber Höhe der Steilwand, befand sich der Eingang zu jenem unterirdischen Höhlenweg, von dem Carlos berichtet hatte und der zu der eigentlichen Tarahumara-Höhle führte.

Oft richteten sie ihren Blick an diesem Nachmittag hoch zur Sonne, deren lebensspendendes Licht sie nun für viele Wochen entbehren würden. Vorsichtig seilten sie ihre Ausrüstung mit Hilfe von Flaschenzügen in die im Halbdunkel liegende Tiefe hinab, bis ihr Gepäck direkt vor dem Höhleneingang pendelte. Die enorme Tiefe des Abgrunds bewirkte bei Sotero und Carlisle nicht etwa Furcht, sondern im Gegenteil, dass ihnen das Manöver harmlos erschien: Dunkler, vom Regen saftig und fett wirkender Urwald breitete sich am Fuße der Steilwand wie eine weiche Decke aus und vermittelte dem Auge den trügerischen Eindruck, jeden Sturz sanft auffangen zu können. So tief unter ihnen lag dieser Urwaldteppich, dass dem Abgrund jede Räumlichkeit fehlte und der Talboden wie ein surreales Gemälde wirkte, das jemand dort ausgebreitet hatte.

Schließlich ließen sie auch sich selbst mit Hilfe der Seile und Flaschenzüge in die Tiefe hinab. Jack pendelte etwas unbeholfen vor der Öffnung in der Steilwand hin und her. Diese Öffnung maß etwa zehn Meter im Durchmesser. Nach kurzem Zögern folgte er Soteros Beispiel und brachte sich so weit zum Pendeln, dass er sich mittels einiger aus der Höhle herausragender Holzstangen in deren Inneres ziehen konnte. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wandte er sich um und betrachtete nachdenklich den im Halbdunkel brütenden Dschungel unter ihm. Danach warf er einen letzten Blick empor zum blauen Himmel, an dem man die Sonne selbst schon nicht mehr sehen konnte, da sie im Südwesten, hinter dem Bergkamm stand.

Mit Hilfe von Haken und Stangen zogen sie ihre Ausrüstung, die noch an den Seilen vor der Öffnung baumelte, zu sich herein. Nach einer kurzen Ruhepause setzten sie stabile Schutzhelme auf, die denen von Bergarbeitern glichen und mit einer kräftigen Lampe ausgestattet waren. Anschließend nahmen sie die Rucksäcke und Taschen auf und betraten einen schmalen, elektrisch beleuchteten Gang, der zu einem nur wenige Kilometer entfernt liegenden ersten Basislager führte, in dem sie die Nacht verbringen wollten.

Auf ihrem Weg dorthin passierten sie eine Vielzahl von Abzweigungen im Höhlensystem. Die weit verästelten Gänge waren durch Erosion entstanden: Unterirdische Wasserläufe hatten sich ihren Weg durch Gesteinsspalten gebahnt und diese dabei erweitert.

Der Weg zum Basislager war leicht durch die elektrischen Leitungen und Plastikröhren zu identifizieren, die in diese Richtung führten. Die Fortbewegung in den Höhlengängen war jedoch oft beschwerlich. Denn bei jedem Schritt musste man genau darauf achten, wohin man seinen Fuß setzte. Der Boden war mit Geröll übersät und meist feucht und rutschig. Ihr Pfad wurde nur sporadisch von Lichtquellen erhellt, die den Forschern ebenfalls die Richtung wiesen. Um die Beschaffenheit des Bodens zu erkunden, war man vor allem auf das Licht der Helmlampen angewiesen. Wenigstens gewöhnte das Auge sich rasch an das Zwielicht, und es sollte den beiden Forschern in den folgenden Wochen sogar ganz normal erscheinen, sich stets in dieser Art von Dämmerlicht zu bewegen.

Carlos erzählte Jack, dass die elektrische Energie zum Betrieb der an den Höhlenwänden angebrachten Lampen von Solarzellen auf dem Bergkamm stammte und über viele Meilen lange Kabel ins Innere des Höhlensystems geführt wurde. Unter der Erde durften insbesondere keine Fackeln entzündet oder gar Feuer gemacht werden, um den ohnehin spärlichen Sauerstoff nicht unnötig zu vergeuden. Ständig wurde Frischluft von außen durch Turbinen am Höhleneingang über ein Röhrensystem in das Innere der Höhlen gepumpt.

Jede ihrer Bewegungen wurde von unzähligen Schattenbildern an den Höhlenwänden imitiert, so als hätten sie unzählige Begleiter auf ihrer Reise durch die Unterwelt. Trotz der schweren Ausrüstung, die Sotero und Carlisle sich auf den Rücken geschnallt hatten, waren beide nun in Eile. Carlos trieb der Wunsch, seine Schwester wiederzusehen. Und Jack trieb seine Neugier.

Sotero berichtete Jack, auf welche Weise die Tarahumara-Höhlen entstanden waren: Der Rio Astrélia, ein vor vielen Jahrtausenden noch weitgehend oberirdisch verlaufender Fluss, hatte sich über Äonen hinweg durch weiches Gestein in das Erdinnere hineingegraben, wo er auf natürliche Verwerfungen, Spalten und Höhlen getroffen war, die ihm von da an als Flussbett dienten. Der Fluss entsprang in den Gebirgsketten im Südwesten der Sierra Madre und trat bereits wenige Meilen von seiner Quelle entfernt, also noch im Hochgebirge, als dünnes Rinnsal in den Erdboden ein, um dann unterirdisch Hunderte von Meilen zurückzulegen und schließlich im Tiefland wieder aus dem Gestein hervorzubrechen. Zahlreiche weitere unterirdische Wasserläufe vereinigten sich dabei im Inneren der Erde mit dem Rio Astrélia und ließen ihn, wieder ans Tageslicht tretend, zu einem der mächtigsten Ströme der Region anwachsen.

Sotero konnte ebenfalls berichten, wie man den unterirdischen Flusslauf provisorisch kartografiert hatte und wie es gelungen war, zwischen den einzelnen Flussläufen zu unterscheiden, die sich unter der Erde begegneten. Forscher hatten dazu an jenen Stellen, an denen die ursprünglich getrennten Wasserläufe in die Erde eindrangen, zu vorher abgesprochenen Zeitpunkten harmlose, intensiv färbende Chemikalien von unterschiedlicher Farbtönung in das Wasser eingeführt; einige Zeit später konnte man dann an den Austrittspunkten des Rio Astrélia und seiner Nebenläufe die entsprechenden Verfärbungen und die chemische Zusammensetzung des Wassers analysieren und daraus relativ verlässliche Schlüsse darüber ziehen, in welchem Verhältnis die einzelnen Flussläufe sich unterirdisch vermengt hatten.

Jack erkundigte sich daraufhin, ob man aufgrund dieser Entstehungsgeschichte des Höhlensystems nicht annehmen müsste, dass es großteils unter Wasser stehe. Warum war dies nicht der Fall, warum hatten sie bisher noch keinen der unterirdischen Wasserläufe gekreuzt?

Sotero erklärte, dass viele der alten Höhlen tatsächlich noch unter Wasser ständen. Genauso viele seien aber in geologisch weit zurückliegenden Zeitperioden entstanden, sodass die Wassermassen sich inzwischen schon wieder neue Wege in noch größerer Tiefe hatten schaffen können. Die ursprünglich von ihnen genutzten Höhlen waren daher nun wieder frei von Wasser. Allerdings existierten auch jetzt noch vereinzelt tiefer gelegene Abschnitte, wo die sonst vergleichsweise leicht passierbaren Pfade eng und mit Wasser gefüllt seien und daher nur mit einer Taucherausrüstung durchquert werden konnten. Dies betreffe auch manche der Wegabschnitte, die in den kommenden Tagen vor ihnen lagen. Sie würden daher auf Tauchgerät zurückgreifen müssen, das sich im Basislager befand.

Die Jack damit unerwartet in Aussicht gestellte Gelegenheit zum Höhlentauchen beunruhigte ihn. Denn er empfand Höhlen an sich schon als beengend. Sich in einer dieser Höhlen zudem unter Wasser fortbewegen zu müssen, ließ ihn die Empfindungen eines Klaustrophobikers erahnen. An die Möglichkeit eines Erdbebens, wie es in diesen Regionen häufiger auftrat, wollte er erst gar nicht denken.

Mehrere Stunden lang gingen sie mühsam, aber mit großer Ausdauer jene Pfade entlang, die der Rio Astrélia geformt hatte. Dann erreichten sie das Basislager, das sich als eine zwanzig Meter durchmessende, fast runde Kalksteinhöhle erwies, die durch Leuchtstoffröhren an Decke und Wänden erhellt wurde, sobald Carlos den entsprechenden Schalter betätigte. Zahlreiche Zelte boten entweder eine Schlafgelegenheit oder dienten als Stauraum für feuchtigkeitsempfindliches Material. Andere Vorräte waren in großen Kisten untergebracht. Bei genauerem Hinsehen war deutlich zu erkennen, dass auch dieses Forschungsprojekt unter Geldmangel litt: Viele der Zelte waren abgenutzt, und die Einrichtung wirkte provisorisch.

Dieser Geldmangel überraschte Jack nicht. Denn die hier in den Tiefen der Erde angestrebten Erkenntnisse ließen sich wohl kaum unmittelbar kommerzialisieren — und die Suche nach bloßem Wissen und Verstehen wurde in den profitorientierten Zeiten, in denen sie lebten, nur in Ausnahmefällen gefördert. Bei einer im Ausland hoch verschuldeten Nation war dieser Zustand ohnehin entschuldbar.

Die Schatten der beiden Forscher tanzten derweil wie Scheinbilder einer fremden Welt an den Höhlenwänden entlang, während sie hin und her gingen, um ihr Gepäck zu verstauen und sich für die Nacht vorzubereiten. Carlisle musste unwillkürlich an Platons Höhlengleichnis denken: Während in jenem Gleichnis der Mensch jedoch seine Höhle, innerhalb derer er von Scheinbildern in die Irre geführt wurde, verlassen musste, um wahres Wissen zu erlangen, drangen in ihrem Fall die nach größerem Wissen Suchenden in eine Höhle tief unter der Erde vor, um dort Wahrheit und Erkenntnis zu finden.

Jack war jedoch zu müde, um diesen an sich reizvollen Gedankengang weiterzuspinnen. Er machte sich unkonzentriert daran, ihr Abendessen zuzubereiten. Bereits jetzt vermissten sie den Rhythmus des Tageslichts. Sie hatten ihr Zeitgefühl in den Tiefen des Höhlensystems rasch verloren und waren, noch während es draußen schon lange Nacht geworden war, eifrig weitergewandert. Nun fühlten sie sich erst recht von der körperlichen Anstrengung entkräftet und waren froh, ihr erstes Zwischenziel erreicht zu haben.

Als Sotero die Zelte inspizierte, wurde er auf einmal ganz aufgeregt: Er hatte in einem davon den Rucksack seiner Schwester gefunden. Sie musste also in der Nähe sein! Mehrmals rief er laut ihren Namen. Seine Rufe fanden in den verschiedenen, in die Höhle mündenden Gängen ein tausendfaches Echo.

Wenige Minuten später eilte eine dunkelhaarige, groß gewachsene Frau aus einer der Öffnungen in der gegenüberliegenden Höhlenwand und lief aufgeregt auf Sotero zu, der ihr freudig entgegentrat. In den Händen trug sie ein kompliziert wirkendes Gerät, das sie achtlos beiseite legte, um ihren Bruder herzlich und lange zu umarmen. Carlos lachte erfreut. »Dies ist meine Schwester«, erklärte er Jack dann überflüssigerweise.

Nun wurde auch Jack von Rachel Sotero mit großer Freundlichkeit und durch langes Händeschütteln begrüßt. Er erwiderte ihr Entgegenkommen mit einigen höflichen Worten in leisem Tonfall. Eine gewisse Unsicherheit in Rachel Soteros Verhalten entging ihm nicht. Dies überraschte Jack, da ihm die Archäologin den Eindruck einer selbstbewussten Frau vermittelte, die weder prüfende Blicke noch die Kritik ihres Intellekts zu fürchten hatte.

Rachel Sotero trug ihr dunkles Haar kurz und besaß ein schön geschnittenes, entschlossenes Gesicht. Sie wirkte gesund und sportlich. Trotz der Umstände war sie geschmackvoll gekleidet. Rachel war etwas älter als Jack. Und dennoch benahm sie sich ihm gegenüber in diesem Moment als wäre sie um einiges jünger als er. Ihr Verhalten drückte eine nahezu kindliche Freude darüber aus, ihn zu sehen.

In diesem Verhalten ihm gegenüber erkannte Jack Parallelen zu dem Verhalten ihres Bruders bei seiner ersten Begegnung mit Carlos Sotero in Europa. Auch dessen Benehmen war damals schwer unter die üblichen Verhaltensmuster bei einer ersten Begegnung zwischen einander Fremden einzuordnen gewesen und hatte von Anfang an vielmehr jene Vertrautheit ausgedrückt, die Jack immer noch unverständlich war.

Jack war heute jedoch zu erschöpft, um sich darüber noch weiter den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht war die Familie Sotero ihrer Veranlagung nach Fremden gegenüber besonders aufgeschlossen — ein Charakterzug, den Jack aus seinem Umfeld bloß nicht gewohnt war. Rachel Soteros Ausstrahlung, ihre Fröhlichkeit und unbeschwerte Art wirkten jedenfalls belebend und ließen die beiden Neuankömmlinge vorübergehend ihre Müdigkeit vergessen.

Rachel half ihrem Bruder, seine Ausrüstung zu verstauen. Dabei sah sie ihn immer wieder mit herzlicher Zuneigung an. Gelegentlich nickte sie auch Jack gutgelaunt zu und wandte sich, nachdem alles weggepackt war, ihrem neuen Bekannten zu, um diesem bei einem kurzen Rundgang durch das Basislager mit dem Inhalt der verschiedenen Zelte und Kisten vertraut zu machen. Carlos lehnte sich währenddessen gegen einige der aufgestapelten Holzkisten und streckte entspannt die Beine aus.

Nach Beendigung ihres Rundgangs machten sie es sich auf Klappstühlen bequem, die rund um einen Metalltisch verteilt waren. Dort nahmen sie eine einfache Mahlzeit ein. Jacks Blick fiel dabei auf das komplizierte Gerät, das Rachel Sotero bei ihrem Eintreffen in den Händen gehalten und dann achtlos beiseite gelegt hatte. »Bist du auch die Geologin der Expedition?«, erkundigte er sich interessiert.

Mit freundlichen Worten erklärte Rachel Sotero ihm die Funktionsweise des Geräts. Es diente in der Tat der Gesteinsanalyse.

Allmählich überkam Jack und Carlos wieder die vorübergehend verdrängte Müdigkeit. Vom Höhlenboden stiegen Feuchtigkeit und Kälte auf, die ihnen bis in die Knochen drangen. Schaudernd zog Jack seinen Anorak fester um sich, während er sich Rachel zuwandte. »Wie lange bist du eigentlich schon hier unten in den Tarahumara-Höhlen?«

»Diesmal sind es zweiundvierzig Tage«, antwortete sie. »Und übrigens, was deine Frage von zuvor angeht: Ich bin zwar keine ausgebildete Geologin — aber wenn keine Artefakte in der Nähe sind, untersuche ich eben das, was gerade zu greifen ist. Und hier gibt es ganz besonders interessante Gesteinsformationen.« Sie deutete dabei auf eine Höhlenwand im Hintergrund, an der Jacks ungeschultes Auge wenig Auffälliges zu erkennen vermochte (was er sich allerdings nicht anmerken ließ). »Da ich außerdem für die Sicherheit der Expedition verantwortlich bin, kann ich durch entsprechende Untersuchungen mehr über den strukturellen Aufbau des Höhlensystems herausfinden. Die geologische Beschaffenheit der Felsen gibt mir Hinweise auf ihre Stabilität. So kann ich auch erkennen, ob nicht an bestimmten Stellen die Gefahr eines Höhleneinsturzes besteht.«

Rachel erzählte noch mehr von ihrer Arbeit. Jack musterte sie dabei mit wachsendem Respekt. Trotz ihres großen Wissens und ihrer leitenden Stellung hatte auch Rachel Sotero sich eine angenehme und bescheidene Wesensart erhalten. Ihr Selbstbewusstsein, das nicht mit Selbstüberheblichkeit einherging, gefiel Jack. Und da er seine eigene Position nie dadurch gefährdet gesehen hatte, anderen Menschen gegenüber Anerkennung zu zeigen, wenn diese verdient war und sofern dies nicht zu Eingebildetheit bei den Betreffenden führte, machte Jack sich nicht die Mühe, seine Bewunderung für Rachel vor ihr zu verbergen.

AM FOLGENDEN MORGEN weckte sie der zwar musikalische, darum aber nicht unbedingt willkommenere Alarmton von Jacks Armbanduhr. Bibbernd entstiegen sie ihren Schlafsäcken und spürten sofort die kühle Feuchtigkeit der Höhlenluft. Sie rieben sich die Müdigkeit mit kaltem Wasser, das in einer Höhlennische von der Decke tropfte und dort in einem kleinen Fass gesammelt wurde, aus dem Gesicht. Rasch zogen sie sich ihre warme Kleidung über.

Im Verlauf des Frühstücks wandte Rachel sich mit ernstem Gesichtsausdruck an ihren Bruder: »Carlos, ich wollte gestern Abend nicht davon anfangen, um uns allen nicht den ersten gemeinsamen Abend und dir vielleicht die Nachtruhe zu verderben; aber jetzt musst du es doch erfahren: Es gibt wieder Ärger mit Krion. Vor sieben Tagen versuchte er erneut, eigenmächtig in die Tarahumara-Höhle einzudringen, obwohl wir diese bis zu deiner Rückkehr zur Sperrzone erklärt hatten. Dieser unerfreuliche Mensch muss sich immer wieder in unsere Arbeit einmischen.«

Carlos verzog unwillkürlich das Gesicht, als er dies hörte, drehte den Kopf zur Seite und schluckte dann den in ihm aufquellenden Ärger so gut es ging hinunter. Er sagte kein Wort.

»Wer ist dieser Krion?«, erkundigte Jack sich bei Rachel nach einigen Sekunden des Schweigens.

An der Art und Weise, wie Rachel daraufhin tief Luft holte und sich ebenfalls kurz abwandte, bevor sie zur Antwort ansetzte, erkannte Jack, dass die betreffende Person offenbar häufig Anlass zu Diskussionen zwischen den Geschwistern gegeben hatte. »Krion ist ein unbedeutender politischer Funktionär, der überall die Chance wittert, seine unbedeutende Existenz aufzuwerten, indem er sich die Arbeitsleistung und die Entdeckungen anderer zu eigen macht. Er will unsere Funde, die von hoher archäologischer Bedeutung sein könnten, politisch ausnutzen, indem er mit ihnen vor seinen ebenso geistig unflexiblen Vorgesetzten brilliert, so als seien jene Entdeckungen die Früchte seines eigenen Organisationstalents, das in Wirklichkeit aber nur darin besteht, überall dort, wo die Dinge von sich aus reibungslos verlaufen würden, unnötige Verhaltensvorschriften einzuführen und damit das Vorankommen zu erschweren. Für Krion zählt nur die Karriere. Wissen und Verständnis sind für ihn Nebensächlichkeiten und allerhöchstens als Mittel zum Zweck erstrebenswert. Darum begreift er auch kaum etwas wirklich, sondern wiederholt immer nur, was er irgendwo aufgeschnappt hat, gleichgültig, ob es stimmt oder nicht — denn dies kann er selbst gar nicht beurteilen. Was er sagt, muss nur eindrucksvoll in den Ohren seiner Zuhörer nachhallen; wichtig ist nur, dass es imposant und wissend klingt, so als beruhten seine Worte auf tieferer Einsicht, auch wenn dies gar nicht der Fall ist. Er besitzt dabei so wenig Verstand wie Tiefgründigkeit oder gar Weisheit. Jedoch kann er auf eine ansehnliche Zahl politischer Beziehungen zurückgreifen, die er geknüpft hat indem er, anstatt wie andere Menschen einer konstruktiven Arbeit nachzugehen und sich dabei anzustrengen, seine Zeit darauf verwendete, sich an den richtigen Stellen beliebt zu machen und einzuschmeicheln. In seiner Person hat einmal mehr in dieser Welt der Schein über das Sein gesiegt. Und nun müssen wir uns mit ihm herumschlagen.« Rachel wandte abermals den Blick ab und sah grimmig in das Halbdunkel rechts von ihnen, sodass Jack vermutete, es sei insbesondere Rachel, die sich mit Krion herumzuschlagen hatte.

Nach einem kurzen Atemholen fuhr Rachel in ihrer Erklärung fort: »Aber wir sind bedauerlicherweise auf Menschen wie Krion angewiesen. Denn es sind gerade Personen von seinem Schlag, die, vor allem aufgrund ihrer Profillosigkeit und grundlegenden Austauschbarkeit, in der Gesellschaft zu Macht und Einfiuss gelangen und dadurch ihren Mitmenschen Vorschriften erteilen können.«

Der Typ Mensch, den Rachel mit diesen Worten zeichnete, war Jack ausreichend bekannt. Er selbst hatte in der Vergangenheit häufig genug Rückschläge in seiner Arbeit in Kauf nehmen müssen, um seine Unabhängigkeit vor ihnen zu bewahren. Zahlreiche sich daraus ergebende Anfeindungen hatten ihn darüber belehrt, dass der Preis der Unabhängigkeit äußerst hoch sein konnte in einer von derartigen Anführern abhängigen Gemeinschaft. Inzwischen hatte Jack es jedoch aufgegeben, sich noch über die Krions dieser Welt zu ärgern, sofern ihr Wirken ihn nicht persönlich betraf; andernfalls schenkte man ihnen nur weitaus mehr Beachtung als sie ihrer wahren Natur nach verdienten. Viel wichtiger war ihm eine andere Frage: »Was befindet sich denn nun in der Tarahumara-Höhle? Wovon sprecht ihr da? Weshalb habt ihr sie zum Sperrgebiet erklärt und wieso will Krion unbedingt hinein? Auch Carlos wollte mir nichts Genaueres mitteilen.«

Der so Angesprochene ergriff das Wort. Auch er war mittlerweile ruhiger geworden, ruhiger jedenfalls als seine Schwester, und er war froh, seine Gedanken einem anderen Thema zuwenden zu können. »Die Tarahumara-Höhlen bergen unsere eigentliche Entdeckung: In einer von ihnen befinden sich die wichtigsten Artefakte, die wir bei unserer Arbeit je gefunden haben. Sie haben die Form von Steinquadern. Rachel und ich stießen vor etwa einem halben Jahr darauf, als wir eine Unterwasserhöhle erforschten. Wir entdeckten einen breiten Spalt im Fels, in den wir nur mit unserer Taucherausrüstung vordringen konnten. Der Spalt verbreiterte sich nach wenigen Metern nach oben hin, und indem wir ihm folgten, kamen wir schließlich an die Oberfläche eines kleinen unterirdischen Sees. Wir stiegen an dessen Ufer, sahen uns mit Hilfe unserer Helmscheinwerfer um und gelangten über eine große Höhle in eine kleinere, kuppeiförmige Kammer mit einem Durchmesser von etwa fünfzig Metern, an deren Decke und Wänden Tausende von Kristallen funkelten. Sie reflektierten das Licht unserer Lampen in allen Farben des Regenbogens.« Vor Begeisterung funkelten bei diesen Worten auch Carlos’ Augen, gerade so wie es die von ihm beschriebenen Kristallformationen getan haben mussten. »Es war ein überwältigender Anblick.«

»Als ihr aus dem Wasser gestiegen seid, wart ihr also nicht sofort in der Tarahumara-Höhle?«

»Nein«, erwiderte Rachel, »nicht direkt. Wir gelangten über einen schmalen Gang zuerst in die Haupthöhle des neu entdeckten Komplexes, und diese ist wirklich riesig. Die eigentliche Tarahumara-Höhle ist eine ihrer kleineren Nebenhöhlen. Es hat sich jedoch eingebürgert, alle Höhlen, die man durch die Unterwasserpassage erreicht, Tarahumara-Höhlen zu nennen.«

»Doch was ist das Besondere an der eigentlichen Tarahumara-Höhle, wenn sie kleiner ist als die Haupthöhle? Oder gibt es die Kristalle nur dort?«

»Die Kristalle sind dort tatsächlich in besonderer Vielfalt und Menge anzutreffen. Das Besondere aber, das Faszinierende an dieser viele Kilometer unter der Erdoberfläche durch Naturgewalten in den Fels gegrabenen Tarahumara-Höhle ist, dass sie zum Teil nicht natürlichen Ursprungs sein kann.«

»Zu was für einem Teil?« Jack blickte verständnislos.

»Wir fanden unbekannte Schriftzeichen an bestimmten Felsformationen auf dem Boden der Höhle, die wie Steinquader aussehen, und auch an den Wänden. Außerdem ist die Anordnung der betreffenden Felsformationen völlig symmetrisch.« Die Geschwister blickten Jack erwartungsvoll an.

»Unbekannte Schriftzeichen und symmetrisch angeordnete Felsformationen also«, meinte Jack nachdenklich, ohne eigentlich sehr viel klüger zu sein als zu Beginn ihres Gesprächs.

Die Geschwister aber nickten bloß bedeutungsvoll und wichen von da an jeder weiteren Frage aus.

Kristallhöhle

DER WEG ZU DER größten der Tarahumara-Höhlen, in der sich das Hauptlager der Expedition befand, war anstrengend und nicht selten gefährlich. Rachel schloss sich ihnen an. Zu dritt arbeiteten sie sich durch schmale Felsspalten, tauchten mit Hilfe von modernstem Gerät durch unter Wasser stehende Höhlenpassagen und krochen durch lange, dunkle Gänge, deren Ende nicht abzusehen war und in denen die Luft so abgestanden war, dass sie ohne ihre Sauerstoffgeräte vermutlich erstickt wären.

Die dabei eingesetzten Atemgeräte stellten das Neuste an Technik dar, das sich die Expedition mit ihrem eingeschränkten Budget leisten konnte: Der Großteil der ausgeatmeten Luft wurde auf chemische Weise in einem fast geschlossenen Kreislauf regeneriert, und das Ergebnis dieser Prozedur wurde der Atemluft erneut zugeführt. Dadurch konnte die Anzahl der mitzuführenden Sauerstoffbehälter erheblich reduziert werden.

So mühsam der Weg auch war, bot ihre unterirdische Reise von Zeit zu Zeit doch Entschädigung für die Beschwernisse in Gestalt beeindruckender Höhlenansichten, die einem Vergleich mit touristisch erschlossenen Höhlensystemen in der ganzen Welt ohne Weiteres standhalten konnten. Die Forscher stießen auf wunderschöne unterirdische Wasserfälle; auf riesige, dabei doch äußerst filigran wirkende Stalagmiten und Stalaktiten; auf seltene, im Dunkel lebende und vor ihnen zurückschreckende Amphibien; hin und wieder sogar auf eine verirrte Fledermaus. Größtenteils aber führte ihr Weg nur über vergleichsweise uninteressantes, von Wasser rundgemahlenes Geröll und Gestein, dessen einzige Daseinsberechtigung darin zu bestehen schien, ihnen das Vorankommen noch weiter zu erschweren.

Während der folgenden Tage verlangte der gefährliche Weg ihre ausschließliche Aufmerksamkeit. Daher fanden sie nur an den Abenden Zeit für den einen oder anderen Gedankenaustausch.

Gegen Ende des fünften Tages endlich legten sie den letzten und schwierigsten Wegabschnitt zurück, der, wie die Soteros Jack schon im Basislager berichtet hatten, zum größten Teil unter Wasser lag. Es handelte sich um einen langgezogenen Felsspalt, der sich erst nach zahlreichen Windungen unter Wasser nach oben hin öffnete und anschließend über Wasser noch ein Stück weit in einen schmalen Gang hinein ausdehnte. Erleichtert schob Jack seine Tauchermaske aus dem Gesicht, als er dort endlich wieder aufgetaucht war. Dann zog er sich auf das schmale Ufer hinauf. Es roch in dem Spalt zwar modrig, doch die Luft war weitaus frischer als in den meisten der bereits passierten Höhlenabschnitte. Das für das nahegelegene Hauptlager installierte Ventilations- und Recyclingsystem machte sich offenbar schon hier bemerkbar.

Jack, der hinter den Geschwistern her geschwommen und daher als Letzter aus dem Wasser gestiegen war, hatte es nun eilig. Die Neugier trieb ihn an. Er zwängte seine Taucherausrüstung achtlos in seinen Rucksack und ging danach sogleich auf den Eingang der Tarahumara-Höhle zu, während Carlos und Rachel noch zurückblieben, um mit ihrer eigenen Ausrüstung weitaus sorgfältiger zu verfahren.

Jack folgte einfach dem weiteren Verlauf des Felsspalts. Den Rucksack nur über eine Schulter gehängt, war er längst auf halbem Weg, als Carlos und Rachel die ihren gerade erst verschnürten.

Jack tastete sich durch das Zwielicht und wich dabei sorgfältig allen rutschigen Stellen auf dem kalkhaltigen Boden aus — eine Vorsichtsmaßnahme, die ihn die Erfahrung der letzten Tage schmerzhaft gelehrt hatte. Endlich erreichte er das Ende des Gangs und stellte dort zu seiner Überraschung fest, dass es von einem runden Metallschott in der Form eines drei Meter durchmessenden Zahnrads blockiert wurde. Offenbar ließ es sich über in den Boden eingelassene Streben zur Seite rollen, sobald es entriegelt war. Das Schott hielt die wertvolle Atemluft in der Haupthöhle, um den aufwendigen Recyclingkreislauf im wesentlichen auf diese zu beschränken.

Jack wartete ungeduldig auf die Geschwister. Doch die zogen gerade de erst ihre Rucksäcke über die Schultern. Jack musterte daher das Schott im Licht seiner Helmlampe und suchte nach dem Öffnungsmechanismus. Auf der rechten Wandseite entdeckte er tatsächlich einen in die Felswand eingelassenen Schalter, von dem aus ein Kabel unter dem Schott hindurch in das Höhleninnere führte. Vielleicht wurde damit ein Elektromotor aktiviert, der das Schott beiseite rollte? Jack drehte sich abermals zu Carlos und Rachel um, die inzwischen aufgebrochen waren und in gemütlichem Tempo auf ihn zu kamen. Sie waren jedoch immer noch an die fünfhundert Meter von ihm entfernt.

Rachel erkannte, trotz der dürftigen Beleuchtung, dass Jack durch das geschlossene Schott aufgehalten wurde. Daher vollführte sie mit den Händen eine Pantomime des Anklopfens und Klingeins. Jack hob als Antwort darauf den Daumen und wandte sich um. Zweimal betätigte er kurz den gerade entdeckten Schalter.

Gespannt wartete er. Nach etwa dreißig Sekunden rollte das Schott tatsächlich zur Seite. In blauweißem Kunstlicht, das Jack zunächst blendete, wurde die Silhouette eines untersetzten Mannes mit stellenweise kahlem Haupt und verkniffenen Augen sichtbar. Sein Gesicht wirkte abgehärmt. Er sah den Neuankömmling mit hochgerecktem Kinn auf eine Weise grimmig und überheblich an, die nach Jacks Lebensphilosophie eigentlich rasche Zurechtweisung verdiente. Denn Jack war kein nachsichtiger Mensch, wenn er sich angegriffen fühlte, und dies war gelegentlich leider selbst dann der Fall, wenn solch ein Angriff gar nicht beabsichtigt war.

So musterte Jack nun seinerseits mit demonstrativ herablassendem Interesse sein Gegenüber von oben bis unten. Insbesondere den kahlen Stellen auf dem Kopf des anderen galt seine provozierende Aufmerksamkeit. Diese hatte der andere vergeblich durch das Darüberkämmen langer, eingefetteter Haarsträhnen zu verdecken gesucht.

Jack empfand den Menschen vor ihm instinktiv als unsympathisch. Schließlich, nachdem sein erster, allzu leicht aufwallender Zorn verraucht war, entschloss Jack sich dann aber doch, Zurückhaltung zu üben. Denn der erste Eindruck, den man von einem anderen Menschen gewinnt, trifft zwar häufig zu — aber eben nicht stets. Und deshalb wollte Jack auch diesmal abwarten, ob sich in der Folgezeit nicht andere Tatsachen ergaben, die ihn vielleicht doch für sein Gegenüber einnahmen. Der andere konnte für seine Verdrießlichkeit Gründe haben, die Jack unbekannt waren und nichts mit ihm persönlich zu tun hatten.

Jack schob daher seine impulsiv aggressiven Gefühle beiseite und entschloss sich zu einem formell höflichen Gruß. Doch noch bevor er ihn aussprechen konnte, wurde ihm ein giftiges »Was wollen Sie hier?« entgegengeschleudert.

Damit war Jacks Nachsicht erschöpft. Er neigte ohnehin nicht zu diplomatischer Zurückhaltung, es sei denn, ihm entstand dadurch ein wesentlicher Vorteil. Jetzt hielt er es für das Beste, die Situation sogleich geradezurücken und erst gar nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, er ließe beliebig mit sich umspringen. Manch einer von Jacks Bekannten war in der Vergangenheit überrascht gewesen, diesen aggressiven Charakterzug in Jacks im Übrigen geduldigem und vor den Oberflächlichkeiten und Inkonsequenzen des Daseins schon etwas resigniertem Wesen zu entdecken. Unter einem oft unbeteiligt wirkendem Äußeren verbarg Jack jedoch eine gehörige Portion an Streitlust für den Fall, dass man ihm ernsthaft in die Quere kam — oder er glaubte, dass dies der Fall sei. Obwohl auch er selbst keinen Sinn für überzogene Höflichkeitsfloskeln besaß und es vorzog, sogleich zum Kern einer Angelegenheit vorzustoßen, brachte Jack für die schroffe Begrüßung des Kahlköpfigen keinerlei Verständnis auf. Es ärgerte Jack ebenfalls, dass die an ihn gerichtete Frage aus logischer Sicht fehl am Platze war. Dieser Umstand belustigte ihn jedoch gleichzeitig, sodass er ein freudloses Lachen nur schwer unterdrücken konnte. Jacks Kehlkopf zuckte gleichwohl verdächtig: Was wollte ein Mensch wohl viele Kilometer unter der Erde am Eingang der Tarahumara-Höhle, nachdem er eine mehrtägige Reise durch die Unterwelt hinter sich gebracht hatte? Natürlich wollte dieser Mensch Einlass finden in die Höhle. Und gewiss kam er auch nicht ohne Einladung hierher. Die Lächerlichkeit der Frage des anderen ließ Jacks Zorn schließlich verrauchen. Er amüsierte sich bloß noch über dessen geistlose Stoffeligkeit. War der Mann vor ihm etwa Krion?

Da Jack die Erfahrung gemacht hatte, dass unfreundliche und auch geistig unbeholfene Menschen sich am leichtesten in Rage bringen ließen, wenn man sich den übertriebenen Anschein gab, sie absolut ernst zu nehmen, wählte er diesen subtileren Weg, um Krion eine Lektion zu erteilen. Er tat daher so, als wäre er soeben mit ausgewählter Höflichkeit begrüßt worden, und mit einem kaum zu übersehenden Funkeln in den Augen erwiderte Jack: »Auch Ihnen einen guten Abend. Mein Name ist Jack Carlisle. Ich werde hier tätig sein. Freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen.« Er streckte dabei zur Begrüßung den Arm waagerecht vor, mit nach unten gerichteter Handfläche, und trat dabei unnötig dicht an den anderen heran.

Krion, denn um diesen handelte es sich tatsächlich, verstand die subtile Freundlichkeit so, wie sie gemeint war. Er verweigerte Jack den Händedruck und drehte sich beleidigt um. Dann verschwand er, vor sich hin brummend, hinter einer weiteren Tür auf der anderen Seite der Schleusenkammer.

Wenige Sekunden später kamen auch Rachel und Carlos durch das Zahnradschott. Sie schlossen es hinter sich. Dann gingen sie mit Jack in die Haupthöhle, in der Zwielicht herrschte.

Undeutlich konnte man mehrere Kunststoffzelte ausmachen, die den Forschern als Wohn- und Stauraum dienten. Die Höhle war riesig. Ihr entferntes Ende war nicht zu erkennen, denn es wurde von den wenigen eingeschalteten Lampen der Zeltstadt nicht erreicht. Instinktiv vermutete Jack dort hinten den Zugang zu der eigentlichen Tarahumara-Höhle. Als er Rachel fragend ansah, wies diese mit dem Kopf tatsächlich in die betreffende Richtung.

Nachdem sie weiter in die Höhle hineingegangen waren, konnte Jack im Hintergrund den Schimmer eines hellen Vorhangs ausmachen, der einen Teil der Höhlenwand abdeckte. Dort also verbarg sich das große Geheimnis.

Jack wollte sich sofort in Richtung Vorhang in Bewegung setzen. Doch Rachel hielt ihn am Arm zurück. »Ich verstehe deine Ungeduld, aber dafür ist morgen auch noch Gelegenheit. Anscheinend haben sich bereits alle schlafengelegt. Wir wollen uns ebenfalls ausruhen. Komm, du wohnst natürlich bei uns.« Schalkhaft musterte sie Jack von oben bis unten. »Du wirst uns hoffentlich nicht zu viel Platz wegnehmen, oder?«

Jack lächelte. »Ich werde mir Mühe geben und mich so klein machen wie möglich.«

»Wer hat dir eigentlich das Schott geöffnet?«, erkundigte Carlos sich. »War es etwa nicht verriegelt? Ich sehe überhaupt niemanden.«

»Es war tatsächlich verriegelt, als ich hinkam. Nachdem ich den Signalknopf betätigt hatte, öffnete ein untersetzter, grimmig dreinblickender Mensch mit erkahlendem Haupte, sagte kaum drei Worte und hob sich anschließend rasch von dannen.« Jack nahm es mit Humor.

Rachel schnaufte. »Deshalb ist niemand mehr zu sehen! Nun kennst du jedenfalls Krion.« Sie sah Jack mitfühlend an. »Netter Empfang, was? «

Jack zuckte mit den Schultern. »Ich hatte mir schon gedacht, dass er es sei. Es gibt eben Menschen, die Höflichkeit als Schwäche ansehen. Das werde ich berücksichtigen, wenn ich in Zukunft mit ihm zu tun habe.«

Schweigend führten die Soteros Jack zu einem dunkelgrünen Kuppelzelt aus Kunststoff. Es lag, vom Eingang her betrachtet, auf der linken Seite der Höhle. Jacks Neugier war allerdings immer noch stärker als sein Drang nach Ruhe. Darum machte er einen weiteren Versuch: »Ihr wollt euch doch jetzt nicht wirklich schlafen legen, ohne mir vorher eure Entdeckungen gezeigt zu haben? Wie soll ich da ein Auge zu machen? Wann werde ich endlich alles sehen?«

Rachel, die sich neben ihm im Halbdunkel über den zwar künstlich aufgerauten, aber dennoch rutschigen Felsboden tastete, ergriff seinen Arm. »Bitte gedulde dich noch, bis wir im Zelt sind. Dann können wir dir erklären, warum wir dich nicht sogleich in die eigentliche Tarahumara-Höhle führen können. Natürlich verstehen wir deine Ungeduld. Wir möchten aber nicht, dass jemand mithört, wenn wir dir noch von ein paar Details berichten.«

Ihre Worte klangen so eindringlich, dass Jacks Neugierde in eine andere Richtung gelenkt wurde und er ihnen nun bereitwillig folgte. Auch hier, in den Tiefen der Erde, gab es also die gleichen Probleme, wie sie in allen zu großen oder zu lange unverändert gebliebenen Organisationen fast unweigerlich entstanden. Rachel und Carlos schienen nicht mehr die Herren ihres eigenen Projekts zu sein, weil sie sich an politisch gesteuerte Institutionen um Genehmigungen und finanzielle Unterstützung hatten wenden müssen. Jack konnte daher froh sein, es hier unten vor allem mit den Geschwistern Sotero zu tun zu haben, und nur am Rande mit Menschen wie Krion. Letzterer hätte ein solches Projekt aus eigener Kraft zwar nie ins Leben rufen können; dennoch machte er sich nun, im Nachhinein, mit Genuss darin breit.

Als sie die halbkugelförmige Kunststoffbehausung der Geschwister erreichten, entriegelte Rachel das elektronische Schloss durch Eingabe eines Nummerncodes. Dann betraten sie das einfach eingerichtete und doch behaglich wirkende Innere, verstauten ihr Gepäck und machten es sich anschließend bei einer kalten Mahlzeit aus Brot, Käse, Gemüse und Obst bequem.

Jetzt erläuterten die Geschwister Jack auch in allen Einzelheiten, warum sie ihn nicht sogleich in die Tarahumara-Höhle führen konnten: Mittlerweile war es zu einer von Konkurrenzdenken motivierten politischen Frage geworden, wer die Höhle zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Zweck betreten durfte und wer nicht. Die wissenschaftliche Erforschung der Artefakte rückte dabei in den Hintergrund. Es schien der Hauptzweck oder jedenfalls die Hauptfolge der unter Krions Einfluss gewachsenen politischen Strukturen geworden zu sein, die Freiheit des Einzelnen unter dem Deckmantel des Mehrheitsentscheids einzuschränken, ein Phänomen das sich, wie Jack fand, in dieser Art nicht nur auf die Menschengruppe in der Tarahumara-Höhle beschränkte. Krion hielt es demnach für unbedingt erforderlich, vor jeder weitergehenden Forschungstätigkeit allgemein zu klären, welches Gremium darüber bestimmen durfte, welche Personen für welchen Zeitraum und mit welcher Aufgabenkompetenz in die Höhle Einlass erhielten. Und dazu musste zunächst darüber verhandelt werden, wie das Gremium zusammenzusetzen war, das diese Entscheidungen treffen durfte. Bei der Aufstellung dieser bürokratischen Hürden hatte Krion natürlich von Anfang an sich selbst als Leiter des betreffenden Gremiums und damit als Herrn über das weitere Schicksal der Tarahumara-Höhle im Sinn. Er beabsichtigte, durch diesen umständlichen Entscheidungsprozess seinem Machtanspruch den Anschein demokratischer mokratischer Legitimation zu verleihen und beharrte auf immer neuen Abstimmungsrunden, die jedoch nur der Verzögerung dienten und den Widerstand derjenigen aufreiben sollten, die seine Pläne längst durchschaut hatten. Zu seinem Pech hatte Krion es allerdings hier unten nicht, wie er es gewohnt war, mit ihm ähnlich veranlagten Politikern zu tun, die selten die Kraft aufbrachten, sich auf Dauer gegen den Wind zu stellen, sondern mit jenem heutzutage seltener werdenden Typ von Forschern, die es gewohnt waren, nur auf Tatsachen zu achten, politische Taktierereien zu ignorieren und die sich daher nicht so leicht von Krions Gehabe beeindrucken ließen.