Durch den Schnee - Warlam Schalamow - E-Book

Durch den Schnee E-Book

Warlam Schalamow

4,8

Beschreibung

"Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?" Schalamows Erzählungen gehören zu den herausragendsten Leistungen der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Autor geht darin einer Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunderte in der Tradition des Humanismus erzogen wurden, Auschwitz, Kolyma hervorbringen? Schalamow zieht den Leser der Erzählungen aus Kolyma, deren erster Zyklus in diesem Buch versammelt ist, in die Gegenwart des Lageralltags hinein, ohne Hoffnung auf einen Ausweg: "Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt."

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Warlam Schalamow

Durch den SchneeErzählungen aus Kolyma 1

Werke in EinzelbändenBand 1

Warlam Schalamow

Durch den SchneeErzählungen aus Kolyma 1

Aus dem Russischen von Gabriele LeupoldHerausgegeben und mit einem Nachwortvon Franziska Thun-Hohenstein

Inhalt

Durch den Schnee

Auf Ehrenwort

In der Nacht

Zimmerleute

Die Einzelschicht

Das Paket

Regen

Der Kant

Marschverpflegung

Der Injektor

Apostel Paulus

Beeren

Die Hündin Tamara

Cherry Brandy

Kinderbildchen

Kondensmilch

Brot

Der Schlangenbeschwörer

Der tatarische Mullah und die frische Luft

Der erste Tod

Tante Polja

Die Krawatte

Goldene Tajga

Waska Denissow, der Schweinedieb

Serafim

Der freie Tag

Domino

Ein Herkules

Schocktherapie

Das Krummholz

Rotes Kreuz

Die Juristenverschwörung

Typhusquarantäne

Was ich im Lager gesehen und erkannt habe

Franziska Thun-Hohenstein — Warlam Schalamows radikale Prosa

Warlam Schalamow — biographische Daten

Anmerkungen

Glossar

Durch den Schnee

Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee? Ein Mann geht voran, schwitzend und fluchend, setzt kaum einen Fuß vor den anderen und bleibt dauernd stecken im lockeren Tiefschnee. Der Mann läuft weit vor und markiert seinen Weg mit ungleichen schwarzen Löchern. Er wird müde, legt sich in den Schnee, steckt sich eine Papirossa an, und Machorkarauch schwebt als blaues Wölkchen über dem weißen funkelnden Schnee. Der Mann ist schon weitergegangen, doch das Wölkchen steht noch immer dort, wo er verschnauft hat — die Luft ist beinahe unbewegt. Wege legt man stets an stillen Tagen an, damit die Winde die menschliche Arbeit nicht verwehen. Der Mann sucht sich seine Punkte in der Unendlichkeit des Schnees: einen Fels, einen hohen Baum — der Mann lenkt seinen Körper durch den Schnee, wie ein Steuermann sein Boot über den Fluß lenkt von Landzunge zu Landzunge.

Auf der schmalen und flüchtigen Spur folgen fünf, sechs andere, Schulter an Schulter. Sie treten um die Fußspur herum, nicht hinein. An der zuvor bezeichneten Stelle angekommen, machen sie kehrt und laufen wieder so, daß sie frischen Schnee berühren, eine Stelle, die der Fuß des Mannes noch nicht betreten hat. Der Weg ist gebahnt. Nun können ihn Menschen, Schlittenzüge, Traktoren nehmen. Geht man den Weg des ersten in seinen Fußstapfen, entsteht eine erkennbare, doch kaum begehbare schmale Fährte, ein Fußpfad, kein Weg — Löcher, in denen es sich schwerer läuft als im unberührten Schnee. Der erste hat es am schwersten, und wenn seine Kräfte erschöpft sind, geht ein anderer vom selben Fünfervortrupp voran. Von denen, die der Spur folgen, muß jeder, selbst der Kleinste und Schwächste, auf ein Stückchen unberührten Schnee treten, nicht in die fremden Fußspuren. Auf Traktoren und Pferden kommen nicht die Schriftsteller, sondern die Leser.

‹1956›

Auf Ehrenwort

Sie spielten Karten beim Pferdetreiber Naumow. Die diensthabenden Aufseher schauten niemals in die Baracke der Pferdetreiber, sie fanden zu Recht, ihre Hauptaufgabe bestehe in der Überwachung der nach Artikel 58 Verurteilten. Den Konterrevolutionären aber wurden die Pferde in der Regel nicht anvertraut. Insgeheim allerdings murrte die praktisch denkende Leitung: sie kam um die besten, sorgfältigsten Arbeiter, doch die Vorschrift war in dieser Hinsicht eindeutig und streng. Kurz, bei den Pferdetreibern war man am sichersten, und dort trafen sich die Ganoven jede Nacht zu ihren Kartenduellen.

In der rechten Ecke der Baracke waren auf der unteren Pritsche bunte Steppdecken ausgebreitet. Am Eckpfosten war mit Draht eine brennende »Kolymka« befestigt, ein selbstgemachtes Benzindampflämpchen: Auf den Deckel einer Konservendose wurden drei, vier offene Kupferröhrchen gelötet, das war die ganze Vorrichtung. Damit die Lampe brannte, legte man heiße Kohle auf den Deckel, das Benzin wurde warm, der Dampf stieg durch die Röhrchen auf, und das Benzingas, mit einem Streichholz angesteckt, brannte.

Auf den Decken lag ein schmutziges Daunenkissen, und zu seinen beiden Seiten, die Beine auf Burjatenart untergeschlagen, saßen die Spieler — die klassische Pose der Kartenschlacht im Gefängnis. Auf dem Kissen lag ein nagelneues Kartenspiel. Das waren keine gewöhnlichen Karten, es war ein selbstgemachtes Gefängnisspiel, das die Meister dieses Handwerks in erstaunlicher Schnelligkeit herstellten. Zu dieser Herstellung brauchte man Papier (ein beliebiges Buch), ein Stück Brot (zum Zerkauen und Durchdrücken zur Gewinnung von Stärke — zum Zusammenkleben der Seiten), einen Kopierstift (anstelle von Druckfarbe) und ein Messer (zum Ausschneiden der Farbschablonen und der Karten selbst).

Die heutigen Karten waren gerade aus einem Bändchen Victor Hugo geschnitten, gestern hatte jemand das Buch im Kontor liegenlassen. Das Papier war fest und dick, man brauchte die Seiten nicht zusammenzukleben, wie man es bei dünnem Papier tut. Im Lager wurden bei allen Durchsuchungen strikt die Kopierstifte konfisziert. Auch bei der Kontrolle von eingehenden Paketen wurden sie eingezogen. Das tat man nicht nur zur Unterbindung der möglichen Herstellung von Dokumenten und Stempeln (auch diese Kunst beherrschten viele), sondern auch zur Vernichtung jeglicher Konkurrenz mit dem staatlichen Kartenmonopol. Aus den Kopierstiften wurde Tinte gemacht, und mit der Tinte trug man durch die vorgeschnittene Papierschablone die Muster auf die Karte auf — Damen, Buben, Zehner aller Farben... Die Spielkartenfarben unterschieden sich nicht nach rot und schwarz, und der Spieler braucht diesen Unterschied auch nicht. Beim Pik-Buben zum Beispiel saß der Spieß an zwei entgegengesetzten Ecken der Karte. Verteilung und Form der Muster blieben über Jahrhunderte gleich — die eigenhändige Herstellung von Spielkarten gehört zur »Ritter«erziehung des jungen Ganoven.

Das nagelneue Kartenspiel lag auf dem Kissen, und einer der Spieler schlug seine schmutzige Hand mit den feinen weißen, unabgearbeiteten Fingern darauf. Der Nagel des kleinen Fingers war von übernatürlicher Länge — ein Ganoven-Schick, genauso wie die »Stifte«, Gold-, d.h. Bronzekronen, die auf völlig gesunde Zähne gesetzt werden. Es gab sogar Meister, selbsternannte Zahnprothesenmacher, die mit der Herstellung solcher ständig gefragten Kronen nicht wenig dazuverdienten. Was die Nägel betrifft, so hätte sich ihr farbiges Lackieren zweifellos in der Verbrecherwelt eingebürgert, wenn man im Gefängnis Lack hätte herbeischaffen können. Der gepflegte gelbe Nagel glänzte wie ein Edelstein. Mit der linken Hand fuhr sich der Herr des Nagels durch das verklebte und schmutzige helle Haar. Er hatte einen makellosen »Fassonschnitt«. Die niedrige, vollkommen faltenlose Stirn, die gelben Büschel der Augenbrauen, das aufgeworfene Mündchen — all das verlieh seiner Physiognomie eine für das Äußere eines Diebes wichtige Eigenschaft: Unauffälligkeit. Das Gesicht war so, daß man es sich nicht merken konnte. Man schaute es an und vergaß es, verlor alle Züge, und beim nächsten Mal erkannte man es nicht wieder. Das war Sewotschka, eine berühmte Koryphäe für Terz, Stoß und Bura, die drei klassischen Kartenspiele, ein begeisterter Exeget Tausender Regeln des Kartenspiels, deren strenge Beachtung in einer echten Schlacht zwingend ist. Von Sewotschka hieß es, daß er »vorzüglich Kommers mache« — das heißt, Können und Geschicklichkeit eines Falschspielers zeige. Und er war auch ein Falschspieler, selbstverständlich; ehrliches Ganovenspiel ist ja Spiel auf Betrug: paß auf und überführ deinen Partner, das ist dein Recht, sieh zu, selbst zu betrügen, sieh zu, dich gegen einen zweifelhaften Gewinn zu verwahren.

Es spielten immer zwei, Mann gegen Mann. Keiner der Meister erniedrigte sich durch die Teilnahme an Gruppenspielen wie Siebzehn und Vier. Gegen starke »Kommerzianten« anzutreten fürchteten sie nicht — auch im Schach sucht ein echter Kämpfer stets den stärkeren Gegner.

Sewotschkas Partner war Naumow selbst, der Brigadier der Pferdetreiber. Er war älter als sein Partner (wie alt war übrigens Sewotschka, zwanzig? dreißig? vierzig?), ein schwarzhaariger Bursche mit einem solchen Dulderausdruck in den tiefliegenden Augen, daß ich ihn, hätte ich nicht gewußt, daß Naumow ein Eisenbahndieb aus dem Kubangebiet ist, für einen Wallfahrer gehalten hätte — einen Mönch oder ein Mitglied der Sekte »Gott weiß es«, einer gewissen Sekte, die nun schon einige Jahrzehnte in unseren Lagern anzutreffen ist. Dieser Eindruck verstärkte sich beim Anblick der Schnur mit Zinnkreuzchen, die um Naumows Hals hing — sein Hemdkragen stand offen. Dieses Kreuzchen war keineswegs ein lästerlicher Scherz, eine Grille oder Improvisation. Zu jener Zeit trugen alle Ganoven Aluminiumkreuzchen um den Hals — das war ein Erkennungszeichen des Ordens, wie eine Tätowierung.

In den zwanziger Jahren trugen die Ganoven Ingenieursmützen, noch früher Kapitänsmützen. In den vierziger Jahren trugen sie im Winter kubanki und krempelten die Schäfte der Filzstiefel um, und um den Hals trugen sie ein Kreuz. Das Kreuz war gewöhnlich glatt, doch wenn Künstler da waren, zwang man sie, beliebte Motive darauf einzuritzen: ein Herz, eine Spielkarte, ein Kreuz, eine nackte Frau... Naumows Kreuz war glatt. Es hing auf Naumows dunkler nackter Brust und störte beim Lesen der blauen Tätowierung — einem Vers von Jessenin, dem einzigen von der Verbrecherwelt anerkannten und kanonisierten Dichter:

Wie wenig Weg zurückgelegt;

Und wieviel Fehler schon begangen.

»Was setzt du?«, murmelte Sewotschka mit unendlicher Verachtung zischen den Zähnen: auch das galt als guter Ton bei Spielanfang.

»Die Klamotten hier. Diese Kluft...« Und Naumow klopfte sich auf die Schultern.

»Ich setze fünfhundert«, veranschlagte Sewotschka den Anzug.

Als Antwort ertönte ein wortreiches Geschimpfe, das den Gegner vom erheblich höheren Wert des Stücks überzeugen sollte. Die die Spieler umringenden Zuschauer erwarteten geduldig das Ende dieser traditionellen Ouvertüre. Sewotschka blieb nichts schuldig und schimpfte noch giftiger, um den Preis zu drücken. Schließlich wurde der Anzug mit tausend veranschlagt. Sewotschka seinerseits setzte ein paar getragene Pullover. Nachdem die Pullover veranschlagt und sofort auf die Decke geworfen waren, mischte Sewotschka die Karten.

Garkunow, ein ehemaliger Textilingenieur, und ich sägten für Naumows Baracke Holz. Das war Nachtarbeit — nach unserem Arbeitstag in der Mine mußten wir Holz für vierundzwanzig Stunden sägen und hacken. Gleich nach dem Abendessen verschwanden wir bei den Pferdetreibern — hier war es wärmer als in unserer Baracke. Nach der Arbeit goß uns Naumows Barackendienst kalte »Brühe« in unser Kochgeschirr — den Rest des einzigen, des Stammgerichts, das in der Kantine »ukrainische Mehlklößchen« hieß, und gab uns jedem ein Stück Brot. Wir setzten uns irgendwo in der Ecke auf den Boden und vertilgten das Verdiente schnell. Wir aßen in völliger Dunkelheit — die Barackenfunzeln beleuchteten das Kartenfeld, doch der Löffel, so die treffende Beobachtung erfahrener Gefängnisinsassen, findet immer zum Mund. Jetzt sahen wir dem Spiel von Sewotschka und Naumow zu.

Naumow hatte seine »Kluft« verspielt. Hose und Jackett lagen neben Sewotschka auf der Decke. Jetzt wurde um das Kissen gespielt. Sewotschkas Fingernagel zeichnete in der Luft komplizierte Muster. Die Karten waren mal in seiner Hand verschwunden, mal tauchten sie wieder auf. Naumow saß im Unterhemd — der Satin-Russenkittel war den Hosen gefolgt. Dienstfertige Hände legten ihm eine Wattejacke um die Schultern, doch er warf sie mit einer schroffen Bewegung zu Boden. Plötzlich wurde alles still. Sewotschka kratzte gemächlich mit dem Nagel über das Kissen.

»Ich setze die Decke«, sagte Naumow heiser.

»Zweihundert«, antwortete Sewotschka mit gleichgültiger Stimme.

»Tausend, du Kanaille!«, schrie Naumow.

»Wofür? Das ist nichts wert! Das ist ein Loksch, ein Dreck«, erwiderte Sewotschka. »Nur für dich — ich spiele um dreihundert.«

Die Schlacht ging weiter. Nach den Regeln darf der Kampf nicht beendet werden, solange der Partner noch etwas aufbieten kann.

»Ich setze die Filzstiefel.«

»Ich spiele nicht um Filzstiefel«, sagte Sewotschka fest. »Ich spiele nicht um Staatsklamotten.«

Um ein paar Rubel wurde ein ukrainisches Handtuch mit Hähnen verspielt und ein Zigarettenetui mit ziseliertem Gogol-Profil — alles ging an Sewotschka. Durch Naumows dunkle Wangenhaut trat eine satte Röte hervor.

»Auf Ehrenwort«, sagte er unterwürfig.

»Das fehlte noch«, sagte Sewotschka lebhaft und streckte die Hand nach hinten: sogleich wurde ihm eine angezündete Marchorka-Papirossa in die Hand gelegt. Sewotschka nahm einen tiefen Zug und bekam einen Hustenanfall. »Was soll ich mit deinem Ehrenwort? Neue Etappen gibt es nicht — wo nimmst du es her? Von den Posten vielleicht?«

Die Einwilligung, »auf Ehrenwort« zu spielen, auf Pump, war dem Gesetz nach eine nichtobligatorische Gefälligkeit, doch Sewotschka wollte Naumow nicht beleidigen und ihm die letzte Chance des Rückgewinns nicht nehmen.

»Einen Hunderter«, sagte er langsam. »Ich gebe dir eine Stunde.«

»Gib eine Karte«, Naumow rückte das Kreuzchen zurecht und setzte sich. Er gewann die Decke, das Kissen, die Hosen zurück — und verlor wieder alles.

»Vielleicht setzten wir ein tschifirchen an«, sagte Sewotschka und legte die gewonnenen Sachen in einen großen Sperrholzkoffer. »Ich warte.«

»Aufbrühen, Jungs«, sagte Naumow.

Es ging um ein staunenswertes nördliches Getränk, um starken Tee, wo für eine kleine Tasse fünfzig und mehr Gramm Tee aufgebrüht werden. Das Getränk ist extrem bitter, man trinkt es in kleinen Schlucken und ißt dazu gesalzenen Fisch. Es vertreibt den Schlaf und steht darum bei den Ganoven und auch den Chauffeuren auf ihren langen Fahrten im Norden hoch im Kurs. Tschifir müßte zerstörerisch auf das Herz wirken, doch ich kannte langjährige tschifir-Trinker, die ihn fast problemlos vertrugen. Sewotschka nahm einen Schluck aus dem ihm gereichten Becher.

Der schwere dunkle Blick Naumows glitt über die Umgebenden. Sein Haar war wirr. Sein Blick erreichte mich und hielt inne.

Ein Gedanke blitzte auf in Naumows Hirn.

»Los, komm her.«

Ich trat vor ins Licht.

»Zieh die Jacke aus.«

Es war schon klar, worum es ging, und alle verfolgten Naumows Versuch mit Interesse.

Unter der Wattejacke trug ich nur die Staatswäsche — die Feldbluse hatten sie vor zwei Jahren ausgegeben, und sie hatte sich längst aufgelöst. Ich zog mich wieder an.

»Komm du«, sagte Naumow und zeigte mit dem Finger auf Garkunow.

Garkunow zog die Wattejacke aus. Sein Gesicht war weiß. Unter dem schmutzigen Unterhemd trug er einen Wollpullover, er war das letzte, was seine Frau ihm gebracht hatte vor dem Abtransport auf den weiten Weg, und ich wußte, wie Garkunow ihn hütete, ihn im Badehaus wusch, am Körper trocknete und nicht einen Moment aus den Händen ließ — die Kameraden hätten das Strickhemd sofort geklaut.

»Los, ausziehen«, sagte Naumow.

Sewotschka hob zustimmend einen Finger — Wollsachen wurden geschätzt. Wenn man das Jäckchen zum Waschen gibt und die Läuse abdampft, kann man es auch selber tragen, das Muster ist schön.

»Nein«, sagte Garkunow heiser. »Nur mitsamt der Haut...«

Sie stürzten sich auf ihn, warfen ihn um.

»Er beißt«, schrie jemand.

Garkunow stand langsam vom Boden auf und wischte sich mit dem Ärmel das Blut vom Gesicht. Und sofort ging Saschka, Naumows Barackendienst, derselbe Saschka, der uns vor einer Stunde das Süppchen fürs Holzsägen eingeschüttet hatte, leicht in die Hocke und zog etwas aus dem Schaft seines Filzstiefels. Dann streckte er die Hand nach Garkunow aus, und Garkunow schluchzte auf und kippte langsam zur Seite.

»Ging’s denn nicht ohne!«, schrie Sewotschka.

Im flackernden Licht des Benzinlämpchens sah man, wie Garkunows Gesicht grau wurde.

Saschka streckte die Arme des Getöteten, zerriß das Unterhemd und zog den Pullover über den Kopf. Der Pullover war rot und das Blut darauf kaum zu sehen. Vorsichtig, um sich die Finger nicht schmutzig zu machen, legte Sewotschka den Pullover in den Holzkoffer. Das Spiel war aus, und ich konnte nach Hause gehen. Zum Holzsägen mußte ich mir jetzt einen anderen Partner suchen.

1956

In der Nacht

Das Abendessen war zu Ende. Glebow leckte in Ruhe seine Schüssel aus, wischte sorgfältig die Brotkrümel vom Tisch in die linke Hand, führte die Hand zum Mund und leckte die Krümel behutsam auf. Er schluckte nicht und spürte, wie der Speichel das winzige Klümpchen Brot in seinem Mund reichlich und gierig umhüllte. Glebow hätte nicht sagen können, ob es schmeckte. Geschmack ist etwas anderes, zu Dürftiges im Vergleich zu diesem leidenschaftlichen, selbstvergessenen Empfinden, das das Essen gewährt. Glebow hatte es mit dem Schlucken nicht eilig: das Brot zerging von allein im Mund, und es zerging schnell.

Bagrezows eingefallene, glänzende Augen schauten unverwandt in Glebows Mund — niemand besaß einen so starken Willen, daß er die Augen von Essen hätte abwenden können, das im Mund eines anderen Menschen verschwand. Glebow schluckte den Speichel, und Bagrezow wandte die Augen zum Horizont — zum großen orangefarbenen Mond, der den Himmel hinaufkroch.

»Los«, sagte Bagrezow.

Sie gingen schweigend den Pfad zum Fels und stiegen auf einen kleinen Vorsprung, der sich um die Bergkuppe zog; obwohl die Sonne erst vor kurzem untergegangen war, waren die Steine, die am Tag die bloßen Fußsohlen in den Gummigaloschen verbrennen, schon kalt. Glebow knöpfte die Jacke zu. Beim Gehen wurde ihm nicht warm.

»Noch weit?«, fragte er flüsternd.

»Ja«, antwortete Bagrezow halblaut.

Sie setzten sich zum Verschnaufen hin. Es gab nichts zu reden und auch nichts zu denken, alles war klar und einfach. Auf einem kleinen Plateau am Ende des Vorsprungs lag ein Haufen von übereinandergeworfenen Steinen und abgerissenem, vertrockneten Moos.

»Ich hätte es auch allein machen können«, Bagrezow verzog das Gesicht zu einem Lächeln, »aber zu zweit ist es lustiger. Und für einen alten Freund...«

Sie waren im letzten Jahr auf demselben Schiff gekommen.

Bagrezow blieb stehen.

»Wir müssen uns hinlegen, sonst sehen sie uns.«

Sie legten sich hin und fingen an die Steine beiseite zu räumen. Große Steine, solche, die man zu zweit nicht hätte heben und fortschaffen können, gab es hier nicht, denn die Leute, die sie am Morgen aufgehäuft hatten, waren nicht stärker als Glebow.

Bagrezow fluchte leise. Er hatte sich den Finger geritzt, das Blut tropfte. Er streute Sand auf die Wunde, riß ein Büschel Watte aus der Jacke und drückte es drauf — das Blut tropfte weiter.

»Schlechte Gerinnung«, sagte Glebow gleichmütig.

»Bist du Arzt?«, fragte Bagrezow und lutschte an seinem Finger.

Glebow schwieg. Die Zeit, als er Arzt war, schien sehr fern. Und hat es so eine Zeit überhaupt gegeben? Allzuoft erschien ihm diese Welt hinter den Bergen, hinter den Meeren als Traum, als Erfindung. Real waren die Minute, die Stunde, der Tag vom Wecken bis zum Zapfenstreich — weiter dachte er nicht und hatte er nicht die Kraft zu denken. Wie alle anderen auch.

Er kannte die Vergangenheit der Leute nicht, die um ihn waren, und interessierte sich nicht dafür. Im übrigen hätte Glebow, wenn sich Bagrezow morgen als Doktor der Philosophie ausgegeben hätte oder als Luftmarschall, ihm ohne Zögern geglaubt. Ist er selbst je Arzt gewesen? Verlorengegangen war nicht nur der Reflex des Urteilens, sondern auch der Reflex des Beobachtens. Glebow sah, wie Bagrezow das Blut aus dem schmutzigen Finger saugte, doch er sagte nichts. Er registrierte es nur flüchtig, doch den Willen zu einer Antwort konnte er in sich nicht finden und suchte ihn auch nicht. Das Bewußtsein, das ihm noch geblieben und das vielleicht kein menschliches Bewußtsein mehr war, hatte zu wenig Facetten und war jetzt nur auf eins gerichtet — möglichst schnell die Steine wegzuräumen.

»Ist bestimmt tief?«, fragte Glebow, als sie sich zum Verschnaufen hinlegten.

»Wieso tief?«, sagte Bagrezow.

Und Glebow begriff, daß die Frage Unsinn war und die Grube wirklich nicht tief sein konnte.

»Da«, sagte Bagrezow.

Er hatte einen menschlichen Zeh berührt. Ein großer Zeh schaute aus den Steinen hervor — im Mondlicht war er genau zu sehen. Der Zeh sah anders aus als Glebows oder Bagrezows Zehen, nicht, weil er steif und leblos war — da war der Unterschied gering. An diesem toten Zeh waren die Nägel geschnitten, und er war fleischiger und weicher als Glebows Zeh. Sie warfen schnell die Steine beiseite, mit denen der Leichnam bedeckt war.

»Noch ganz jung«, sagte Bagrezow.

Mit Mühe zerrten sie die Leiche zu zweit an den Beinen heraus.

»Ist der schwer«, sagte Glebow keuchend.

»Wenn er nicht so schwer wäre«, sagte Bagrezow, »hätten sie ihn so beerdigt wie uns, dann hätten wir gar nicht herkommen brauchen.«

Sie bogen dem Toten die Arme gerade und zogen ihm das Hemd aus.

»Nagelneue Unterhosen«, sagte Bagrezow zufrieden.

Sie zogen ihm auch die Unterhosen aus. Glebow schob sich das Wäscheknäuel unter die Jacke.

»Zieh sie lieber an«, sagte Bagrezow.

»Nein, ich mag nicht«, murmelte Glebow.

Sie legten den Toten zurück ins Grab und bedeckten ihn mit Steinen.

Das blaue Licht des aufgestiegenen Mondes legte sich auf die Steine und auf den schütteren Tajgawald und zeigte jeden Absatz, jeden Baum in einer besonderen, nicht seiner Tagesgestalt. Alles schien auf seine Art real, aber anders als am Tag. Es war wie ein zweites, das nächtliche Gesicht der Welt.

Die Wäsche des Toten wurde an Glebows Körper warm und schien schon nicht mehr fremd.

»Jetzt eine Zigarette«, sagte Glebow träumerisch.

»Morgen bekommst du deine Zigarette.«

Bagrezow lächelte. Morgen werden sie die Wäsche verkaufen, Brot dafür eintauschen, und vielleicht sogar ein bißchen Tabak...

1954

Zimmerleute

Tag und Nacht herrschte weißer Nebel von solcher Dichte, daß ein Mensch auf zwei Schritt nicht zu sehen war. Weit mußte man übrigens alleine nicht laufen. Die wenigen Richtungen – Kantine, Krankenhaus, Wache – fand man mit unbekannt wo erworbenem Instinkt, ähnlich jenem Richtungssinn, den Tiere in vollem Maße besitzen und der unter den entsprechenden Umständen auch im Menschen erwacht.

Ein Thermometer bekamen die Arbeiter nicht zu sehen, und das war auch nicht nötig, zur Arbeit ausrücken mußten sie bei jeder Temperatur. Außerdem konnten Alteingesessene den Frost auch ohne Thermometer fast exakt bestimmen: wenn Frostnebel herrscht, dann sind es draußen minus vierzig Grad; wenn die Luft beim Atmen mit Geräusch ausfährt, doch das Atmen noch nicht schwer wird, sind es fünfundvierzig; wenn das Atmen ein Geräusch macht und Kurzatmigkeit dazukommt, sind es fünfzig Grad. Bei über fünfzig Grad — gefriert die Spucke in der Luft. Die Spucke gefror in der Luft schon seit zwei Wochen

Jeden Morgen wachte Potaschnikow mit der Hoffnung auf — ob der Frost nachgelassen hat? Aus der Erfahrung des letzten Winters wußte er, daß es, auch bei niedrigsten Temperaturen, für das Empfinden von Wärme auf eine deutliche Veränderung ankommt, einen Kontrast. Auch wenn der Frost nur auf vierzig, auf fünfundvierzig Grad zurückgeht, ist es zwei Tage warm, und für mehr als zwei Tage Pläne zu machen hatte keinen Sinn.

Doch der Frost ging nicht zurück, und Potaschnikow begriff, daß er ihn nicht länger ertragen konnte. Das Frühstück hielt allerhöchstens für eine Stunde Arbeit vor, dann kam die Müdigkeit, und der Frost ging durch Mark und Bein — dieser redensartliche Ausdruck war keineswegs eine Metapher. Man konnte nur sein Werkzeug schwenken und von einem Fuß auf den anderen hüpfen, um bis zum Mittagessen nicht zu erfrieren. Das heiße Mittagessen, die berüchtigte »Brühe« und zwei Löffel Grütze, stärkte die Kräfte nur wenig, doch wärmte immerhin. Und wieder reichte die Kraft für eine Stunde Arbeit, und dann packte Potaschnikow der Wunsch, sich entweder zu wärmen oder sich einfach auf die spitzen gefrorenen Steine zu legen und zu sterben. Der Tag ging dennoch zu Ende, und nach dem Abendessen, nach reichlich Wasser zum Brot, das kein einziger Arbeiter in der Kantine zur Suppe aß, sondern mitnahm in die Baracke, legte sich Potaschnikow sofort schlafen.

Er schlief natürlich auf der oberen Pritsche, unten war ein Eiskeller, und die ihre Plätze unten hatten, standen die halbe Nacht am Ofen und umarmten ihn abwechselnd — der Ofen war ein wenig warm. Das Holz reichte nie: zum Holzsammeln mußte man nach der Arbeit vier Kilometer weit laufen, und alle entzogen sich dieser Verpflichtung auf jede Weise. Oben war es wärmer, obwohl man natürlich in den Sachen schlief, in denen man auch arbeitete — in Mütze, Weste, Steppjacke, Wattehosen. Oben war es wärmer, doch auch dort froren die Haare über Nacht am Kissen fest.

Potaschnikow spürte, wie seine Kräfte mit jedem Tag abnahmen. Er war erst dreißig, und ihm fiel es schon schwer, auf die obere Pritsche zu klettern, fiel es schwer, hinunterzusteigen. Sein Nachbar war gestern gestorben, einfach gestorben, nicht mehr aufgewacht, und niemanden interessierte es, woran er gestorben war, als gäbe es nur eine, die allgemein bekannte Todesursache. Der Barackendienst freute sich, daß der Tod nicht abends eingetreten war, sondern am Morgen — die Tagesverpflegung des Toten blieb für ihn. Das war allen klar, und Potaschnikow nahm seinen Mut zusammen und ging zum Barackendienst: »Brich mir eine Kruste ab«, aber der reagierte mit so wüstem Geschimpfe, wie nur ein Mensch schimpfen kann, der zu den Schwachen gehört hat und nun zu den Starken und weiß, sein Geschimpfe wird nicht bestraft. Nur in Ausnahmesituationen beschimpft der Schwache den Starken, und das ist dann der Mut der Verzweiflung. Potaschnikow schwieg und ging.

Er mußte sich zu etwas entschließen, sich etwas ausdenken in seinem geschwächten Hirn. Oder sterben. Vor dem Tod hatte Potaschnikow keine Angst. Doch es gab einen geheimen leidenschaftlichen Wunsch, einen letzten Eigensinn — den Wunsch, irgendwo in einem Krankenhaus zu sterben, in einem Zimmer, im Bett, unter der Zuwendung anderer Menschen, einer wenn auch dienstlichen Zuwendung, aber nicht im Freien, nicht im Frost, nicht unter den Stiefeln des Begleitpostens und nicht in der Baracke unter Gekeife, Dreck und allgemeiner vollkommener Gleichgültigkeit. Er warf den Menschen ihre Gleichgültigkeit nicht vor. Er hatte längst begriffen, woher diese seelische Stumpfheit, die seelische Kälte kam. Der Frost, derselbe, der die Spucke in der Luft gefrieren ließ, ergriff auch die menschliche Seele. Wenn die Knochen einfrieren konnten, konnte auch das Hirn einfrieren und stumpf werden, konnte auch die Seele einfrieren. Im Frost konnte man an nichts denken. Alles war einfach. Bei Kälte und Hunger wurde das Hirn schlecht versorgt, die Hirnzellen trockneten ein — das war ein offensichtlicher physikalischer Prozeß, und Gott allein weiß, ob dieser Prozeß, medizinisch gesprochen, reversibel war, wie Erfrierungen, oder ob die Zerstörungen endgültig waren. Genauso die Seele — sie war eingefroren, eingeschrumpft und bleibt vielleicht für immer kalt. All diese Gedanken hatte Potaschnikow früher — jetzt war nichts geblieben als der Wunsch, den Frost lebendig durchzustehen, zu überstehen.

Natürlich hätte er früher nach Rettungswegen suchen müssen. An solchen Wegen gab es nicht viele. Man konnte Brigadier oder Aufseher werden, sich überhaupt an die Leitung halten. Oder an die Küche. Doch um die Küche konkurrierten Hunderte, und gegen den Brigadiersposten hatte sich Potaschnikow schon vor einem Jahr entschieden und sich das Wort gegeben, hier keine Gewalt gegen einen fremden menschlichen Willen zuzulassen. Sogar um des eigenen Lebens willen hätte er nicht gewollt, daß ihm die sterbenden Kameraden ihre letzten Verwünschungen entgegenschleuderten. Potaschnikow erwartete den Tod jeden Tag — und der Tag schien gekommen.

Nachdem er seine Schüssel warme Suppe heruntergeschluckt hatte, noch sein Brot kauend, schleppte sich Potaschnikow mühsam an seine Arbeitsstelle. Die Brigade war vor Beginn der Arbeit angetreten, und ein dicker, rotgesichtiger Mensch in Rentierfellmütze, Jakutenstiefeln und in weißem Halbpelz ging die Reihen ab. Er musterte die abgezehrten, schmutzigen, gleichgültigen Gesichter der Arbeiter. Die Leute traten stumm auf der Stelle und warteten auf das Ende der überraschenden Verzögerung. Der Brigadier stand daneben und sprach ehrerbietig zu dem Mann in der Rentierfellmütze:

»Aber ich versichere Ihnen, Alexander Jewgenjewitsch, daß ich keine solchen Leute habe. Gehen Sie zu Sobolew und den bytowiki, das hier ist ja Intelligenz, Alexander Jewgenjewitsch, eine einzige Plage.«

Der Mann in der Rentierfellmütze hörte auf die Menschen zu mustern, und wandte sich dem Brigadier zu.

»Die Brigadiere kennen ihre Leute nicht, sie wollen sie nicht kennen, wollen uns nicht helfen«, sagte er heiser.

»Wie Sie meinen, Alexander Jewgenjewitsch.«

»Ich zeige es dir sofort. Wie ist dein Name?«

»Iwanow, Alexander Jewgenjewitsch.«

»Schau her, Iwanow. He, Leute, hört mal zu.« Der Mann in der Rentierfellmütze postierte sich vor der Brigade. »Die Leitung braucht Zimmerleute, die Behälter für Erdtransporte bauen.«

Alle schwiegen.

»Sehen Sie, Alexander Jewgenjewitsch«, flüsterte der Brigadier.

Plötzlich hörte Potaschnikow seine eigene Stimme:

»Hier. Ich bin Zimmermann.« Und trat einen Schritt vor.

Am rechten Flügel trat ein anderer Mann schweigend einen Schritt vor. Potaschnikow kannte ihn, das war Grigorjew.

»Na«, der Mann mit der Rentierfellmütze drehte sich zum Brigadier, »du bist eine Schlafmütze und ein Dreck. Leute, kommt mit mir.«

Potaschnikow und Grigorjew trotteten hinter dem Mann mit der Rentierfellmütze her. Er blieb stehen.

»Wenn wir weiter so gehen«, sagte er heiser, »sind wir bis zum Mittagessen nicht da. Paßt auf. Ich gehe vor, und ihr kommt in die Tischlerei zum Einsatzleiter Sergejew. Wißt ihr, wo die Tischlerei ist?«

»Ja, ja«, rief Grigorjew »Geben Sie uns bitte etwas zu rauchen.«

»Die alte Leier«, murmelte der Mann mit der Rentierfellmütze zwischen den Zähnen und zog, ohne die Packung aus der Tasche zu nehmen, zwei Papirossy heraus.

Potaschnikow ging vorneweg und dachte angestrengt nach. Heute wird er in der Wärme der Tischlerei sein — ein Beil schärfen und einen Axtstiel herstellen. Und die Säge schärfen. Er braucht sich nicht zu beeilen. Bis zum Mittagessen werden sie ihr Werkzeug bekommen, es eintragen lassen, den Gerätewart suchen. Und heute gegen Abend, wenn klar sein wird, daß er keinen Axtstiel herstellen und die Säge nicht schränken kann, wird man ihn rauswerfen, und morgen wird er in die Brigade zurückkehren. Aber heute wird er es warm haben. Und vielleicht wird er auch morgen und übermorgen Zimmermann sein, falls Grigorjew einer ist. Er wird Grigorjews Gehilfe sein. Der Winter geht schon zu Ende. Den Sommer, den kurzen Sommer wird er irgendwie überleben.

Potaschnikow blieb stehen und wartete auf Grigorjew.

»Kannst du das... zimmern?«, sagte er, keuchend vor plötzlicher Hoffnung.

»Weißt du«, sagte Grigorjew fröhlich, »ich bin Aspirant am Moskauer Philologischen Institut. Ich denke, jeder Mensch mit Hochschulbildung, um so mehr einer geisteswissenschaftlichen, muß einen Axtstiel behauen und eine Säge schränken können. Erst recht, wenn das an einem brennenden Ofen geschehen soll.«

»Das heißt, du bist auch...«

»Gar nichts heißt das. Für zwei Tage täuschen wir sie, und dann — was interessiert dich, was dann ist.«

»Wir täuschen sie für einen Tag. Morgen schicken sie uns zurück in die Brigade.«

»Nein. An einem Tag schaffen sie es nicht, uns für die Tischlerei zu registrieren. Sie müssen ja Angaben und Listen einreichen. Und uns dann wieder streichen...«

Die Tür war festgefroren und ließ sich auch zu zweit nur mit Mühe öffnen. Mitten in der Tischlerei stand ein rotglühender Eisenofen, und die fünf Tischler arbeiteten an ihren Werkbänken ohne Westen und Mützen. Die Ankömmlinge fielen auf die Knie vor der offenen Ofentür, vor dem Gott des Feuers, einem der ersten Götter der Menschheit. Sie zogen die Handschuhe aus und streckten die Hände in die Wärme, hielten sie direkt ins Feuer. Die viele Male erfrorenen Finger, die ihre Empfindlichkeit verloren hatten, fühlten die Wärme nicht sofort. Nach einer Minute nahmen Grigorjew und Potaschnikow die Mützen ab und knöpften die Steppjacken auf, ohne sich von den Knien zu erheben.

»Was wollt ihr?«, fragte ein Tischler unfreundlich.

»Wir sind Zimmerleute. Wir werden hier arbeiten«, sagte Grigorjew.

»Auf Anweisung von Alexander Jewgenjewitsch«, setzte Potaschnikow eilig hinzu.

»Dann hat der Einsatzleiter euch gemeint, denen wir Äxte ausgeben sollen«, sagte Arnschtrem, ein alter Werkzeugmacher, der in der Ecke Schaufelstiele hobelte.

»Ja ja, uns...«

»Hier«, sagte Arnschtrem und musterte sie mißtrauisch. »Da habt ihr zwei Äxte, Säge und Schränkzange. Die Schränkzange gebt ihr nachher zurück. Hier ist mein Beil, behaut einen Axtstiel.«

Arnschtrem lächelte.

»Die Tagesnorm für Axtstiele ist bei mir dreißig Stück«, sagte er.

Grigorjew nahm von Arnschtrem ein Holzstück entgegen und begann zu hauen. Die Mittagssirene ertönte. Arnschtrem zog sich nicht an und schaute Grigorjews Arbeit schweigend zu.

»Jetzt du«, sagte er zu Potaschnikow.

Potaschnikow stellte das Holzscheit auf den Klotz, nahm von Grigorjew das Beil entgegen und begann zu hauen.

»Das reicht«, sagte Arnschtrem.

Die Tischler waren schon zum Essen gegangen, und in der Werkstatt war niemand außer den dreien.

»Nehmt hier zwei Axtstiele von mir«, Arnschtrem gab Grigorjew die fertigen Stiele, »und setzt Äxte darauf. Schränkt die Säge. Heute und morgen wärmt ihr euch am Ofen. Übermorgen geht ihr dahin, woher ihr gekommen seid. Hier habt ihr ein Stück Brot zum Mittagessen.«

Heute und morgen wärmten sie sich am Ofen, und übermorgen ging der Frost gleich auf dreißig Grad zurück — der Winter ging schon zu Ende.

1954

Die Einzelschicht

Am Abend sagte der Aufseher, Dugajew bekomme am nächsten Tag eine Einzelschicht, und wickelte sein Bandmaß auf. Der Brigadier, der daneben stand und den Aufseher gebeten hatte, ihm »bis übermorgen ein Dutzend Kubikmeter« zu stunden, war plötzlich stumm und schaute zum Abendstern, der über der Bergkuppe aufblinkte. Baranow, Dugajews Partner, der dem Aufseher geholfen hatte, die geleistete Arbeit zu vermessen, nahm die Schaufel und kratzte die längst gesäuberte Grube aus.

Dugajew war dreiundzwanzig, und alles, was er hier sah und hörte, verwunderte ihn mehr, als daß es ihn erschreckte.

Die Brigade sammelte sich zum Appell, gab das Werkzeug ab und kehrte im ungeordneten Häftlingsverband in die Baracke zurück. Der schwere Tag war zu Ende. In der Kantine trank Dugajew im Stehen, gleich aus der Schüssel, seine Portion dünne kalte Graupensuppe. Das Brot wurde morgens für den ganzen Tag verteilt und war längst aufgegessen. Jetzt hätte er gern geraucht. Er sah sich um und überlegte, wen er um eine Kippe bitten konnte. Auf dem Fensterbrett häufelte Baranow aus dem umgedrehten Tabaksbeutel Machorkakrümel auf ein Stückchen Papier. Nachdem er sie sorgfältig gehäufelt hatte, drehte Baranow eine dünne Zigarette und hielt sie Dugajew hin.

»Rauch und laß mir was übrig«, bot er an.

Dugajew wunderte sich, Baranow und er waren nicht befreundet. Übrigens schließt man bei Hunger, Kälte und Schlaflosigkeit niemals Freundschaft, und trotz seiner Jugend spürte Dugajew die ganze Verlogenheit der Redensart von der Freundschaft, die sich in Unglück und Not bewährt. Damit Freundschaft zu Freundschaft wird, muß eine solide Basis dafür gelegt sein, bevor die Verhältnisse, das Leben jene letzte Grenze erreichen, jenseits deren im Menschen nichts Menschliches bleibt, nur noch Mißtrauen, Erbitterung und Lüge. Dugajew erinnerte sich gut an die Redensart aus dem Norden, die drei Häftlingsgebote: glaube nichts, fürchte nichts, bitte um nichts...

Dugajew zog gierig den süßen Machorkarauch ein, und ihm wurde schwindlig.

»Ich werde schwächer«, sagte er.

Baranow antwortete nicht.

Dugajew kehrte in die Baracke zurück, legte sich hin und schoß die Augen. In letzter Zeit schlief er schlecht, der Hunger ließ ihn nicht gut schlafen. Seine Träume waren besonders quälend — Brotlaibe, dampfende fette Suppen... Der Schlummer kam spät, doch eine halbe Stunde vor dem Wecken hatte Dugajew die Augen trotzdem schon geöffnet.

Die Brigade erreichte ihren Einsatzort. Alle verteilten sich auf die Schürfgruben.

»Warte du mal«, sagte der Brigadier zu Dugajew »Du wirst vom Aufseher eingeteilt.«

Dugajew setzte sich auf den Boden. Er war schon so erschöpft, daß ihn jede Veränderung in seinem Schicksal vollkommen gleichgültig ließ.

Die ersten Schubkarren schepperten auf dem Steg, die Schaufeln knirschten auf dem Stein.

»Komm her«, sagte der Aufseher zu Dugajew »Hier ist dein Platz.« Er maß den Rauminhalt der Grube aus und legte ein Merkzeichen hin, ein Stück Quarz. »Bis hier«, sagte er. »Der Stegbauer verlegt dir ein Brett bis zum Hauptsteg. Dort karrst du hin, wie die anderen auch. Hier hast du Schaufel, Hacke, Brechstange, Schubkarre, leg los.«

Dugajew begann fügsam mit der Arbeit.

Um so besser, dachte er. Kein Kamerad wird schimpfen, daß er schlecht arbeitet. Die ehemaligen Ackerbauern müssen weder begreifen noch wissen, daß Dugajew Anfänger ist, daß er gleich von der Schule an die Universität gewechselt und die Universitätsbank gegen diese Grube eingetauscht hat. Jeder für sich allein. Sie müssen nicht, sind nicht verpflichtet zu begreifen, daß er längst schon ausgezehrt und halb verhungert ist und unfähig, zu stehlen: die Fähigkeit zu stehlen ist die wichtigste Tugend des Nordens, in allen Varianten, angefangen vom Brot des Kameraden bis hin zu den Tausenden Rubeln Prämien, die die Leitung einstreicht für nichtvorhandene, nichtexistente Erfolge. Niemanden geht es etwas an, daß Dugajew einen Sechzehnstundentag nicht durchhält.

Dugajew karrte, hackte und kippte, und wieder: karrte, hackte, kippte.

Nach der Mittagspause kam der Aufseher, warf einen Blick auf das von Dugajew Geschaffte und entfernte sich wortlos... Dugajew hackte und kippte wieder. Bis zur Quarzmarke war es noch sehr weit.

Am Abend erschien der Aufseher erneut und wickelte das Bandmaß ab. Er maß, was Dugajew geschafft hatte.

»Fünfundzwanzig Prozent«, sagte er und sah Dugajew an. »Fünfundzwanzig Prozent. Hörst du?«

»Ich höre«, sagte Dugajew. Er wunderte sich über diese Zahl. Die Arbeit war so schwer, die Schaufel faßte so wenig Stein, es war so schwer zu hacken. Die Zahl – fünfundzwanzig Prozent der Norm – erschien Dugajew sehr hoch. Die Waden schmerzten, vom Druck auf die Schubkarre taten Arme, Schultern und Kopf unerträglich weh. Der Hunger hatte ihn längst verlassen. Dugajew aß, weil er sah, daß die anderen aßen, irgend etwas diktierte ihm: du mußt essen. Aber er mochte nicht essen.

»Na dann«, sagte der Aufseher im Gehen. »Ich wünsche Gesundheit.«

Am Abend wurde Dugajew zum Untersuchungsführer gerufen. Er antwortete auf vier Fragen: Vorname, Nachname, Artikel, Haftdauer. Vier Fragen, die der Häftling dreißig Mal am Tag gestellt bekommt. Dann ging Dugajew schlafen. Am nächsten Tag arbeitete er wieder mit der Brigade, mit Baranow, und in der Nacht darauf führten ihn Soldaten hinter den Pferdestützpunkt und brachten ihn auf einem Waldweg an einen Ort, wo, einen kleinen Hohlweg beinahe verdeckend, ein hoher Zaun mit Stacheldrahtverhau stand und woher in den Nächten fernes Traktorengeknatter herüberklang. Und als Dugajew begriff, worum es ging, bedauerte er, daß er umsonst gearbeitet, sich umsonst gequält hatte an diesem letzten heutigen Tag.

‹1955›

Das Paket

Die Pakete wurden in der Wache ausgegeben. Die Brigadiere prüften die Identität des Empfängers. Das Sperrholz brach und zerbarst auf seine Weise, auf Sperrholzweise. Die hiesigen Bäume brachen anders, schrien mit anderer Stimme. Hinter einer Schranke aus Bänken standen Leute mit sauberen Händen in allzu akkurater Militäruniform und öffneten, kontrollierten, schüttelten, gaben heraus. Die Paketkisten, halbtot nach der monatelangen Reise und gekonnt geworfen, fielen auf den Boden und platzten auf. Zuckerbrocken, Trockenobst, faule Zwiebeln und zerdrückte Machorkapäckchen verteilten sich über den Boden. Niemand las das Verstreute auf. Die Besitzer der Pakete protestierten nicht — ein Paket zu bekommen war das größte aller Wunder.

An der Wache standen Begleitposten mit Gewehren in den Händen — im weißen Frostnebel bewegten sich irgendwelche unbekannten Gestalten.

Ich stand an der Wand und wartete, bis ich an der Reihe war. Diese hellblauen Brocken hier — das war kein Eis! Das war Zucker! Zucker! Zucker! Eine Stunde noch, und ich werde diese Brocken in der Hand halten, und sie werden nicht zergehen. Zergehen werden sie erst im Mund. Ein so großer Brocken wird mir für zwei, für drei Mal reichen.

Und Machorka! Eigene Machorka! Festlandmachorka, »Belka« aus Jaroslawl oder »Krementschug Nr. 2«. Ich werde rauchen, werde mit allen, allen, allen teilen, und vor allem mit denen, deren Kippen ich dieses ganze Jahr aufgeraucht habe. Festlandmachorka! In unserer Ration bekamen wir ja Tabak, der nach Ablauf der Haltbarkeit aus den Armeemagazinen entfernt wurde — ein Abenteuer gigantischen Ausmaßes: ans Lager gingen alle Lebensmittel, deren Haltbarkeit überschritten war. Aber jetzt werde ich echte Machorka rauchen. Wenn meine Frau nicht weiß, daß ich kräftigere Machorka brauche, wird man sie darauf gebracht haben.

»Name?«

Das Paket war geborsten, und aus der Kiste streuten Dörrpflaumen, ledrige einzelne Dörrpflaumen. Aber wo ist der Zucker? Und auch die Dörrpflaumen — zwei, drei Handvoll...

»Sie schicken dir Filzschaftstiefel! Fliegerstiefel! Ha–ha–ha! Mit Kautschuksohle! Ha–ha–ha! Wie der Bergwerkschef! Hier, nimm an!«

Ich war fassungslos. Was soll ich mit Filzschaftstiefeln? In Filzschaftstiefeln geht man hier nur an Feiertagen — und Feiertage gab es ja gar nicht. Wenn es Rentierfellschuhe, Jakutenstiefel oder gewöhnliche Filzstiefel gewesen wären. Aber Filzschaftstiefel — die sind zu elegant... Das gehört sich nicht. Außerdem...

»Hör zu...«, eine Hand berührte meine Schulter.

Ich drehte mich so um, daß ich die Stiefel und die Kiste im Blick hatte, auf deren Boden ein paar schwarze Dörrpflaumen lagen, und auch die Leitung und das Gesicht der Person, die mich an der Schulter gefaßt hielt. Das war Andrej Bojko, unser Grubenaufseher.

Und Bojko flüsterte eilig:

»Verkauf mir die Stiefel. Ich geb dir Geld dafür. Hundert Rubel. Du bringst sie ja nicht mal bis zur Baracke, die da nehmen sie dir ab, entreißen sie dir.« Und Bojko zeigte mit dem Finger in den weißen Nebel. »Und in der Baracke stehlen sie sie dir auch. In der ersten Nacht.«

Du selbst wirst sie mir vorbeischicken, dachte ich.

»Einverstanden, gib mir Geld.«

»Da siehst du, wie ich bin«, Bojko zählte das Geld ab. »Ich betrüg dich nicht wie die anderen. Hundert hab ich gesagt — hundert geb ich dir.« Bojko hatte Angst, zu viel gezahlt zu haben.

Ich faltete die schmutzigen Scheine auf ein Viertel, ein Achtel und steckte sie in die Hosentasche. Die Dörrpflaumen schüttete ich von der Kiste in die Steppjacke — ihre Taschen waren längst herausgerissen für Tabaksbeutel.

Ich kaufe Butter! Ein Kilo Butter! Und esse sie zum Brot, zur Suppe, zur Grütze! Und Zucker! Und eine Tasche werde ich irgendwo auftreiben — einen Beutel mit Schnur. Das unerläßliche Attribut jedes anständigen frajers. Die Ganoven laufen nicht mit Beuteln herum.

Ich kehrte in die Baracke zurück. Alle lagen auf den Pritschen, nur Jefremow saß, die Hände auf dem lauwarmen Ofen, er hielt sein Gesicht in die schwindende Wärme und fürchtete sich aufzurichten, sich vom Ofen loszureißen.

»Wieso heizt du nicht an?«

Der Barackendienst kam.

»Jefremow ist dran! Der Brigadier hat gesagt: soll er es hernehmen, wo er will, aber Holz muß da sein. Ich laß dich sowieso nicht schlafen. Geh, ehe es zu spät ist.«

Jefremow schlüpfte durch die Tür nach draußen.

»Wo ist denn dein Paket?«

»Sie haben sich geirrt...«

Ich rannte zum Laden. Schaparenko, der Verkaufsstellenleiter, hatte noch offen. Der Laden war leer.

»Schaparenko, gib mir Brot und Butter.«

»Du ruinierst mich.«

»Hier, nimm, was du brauchst.«

»Siehst du, wieviel Geld ich habe?«, sagte Schaparenko. »Was kann so ein Docht wie du schon zahlen? Nimm Brot und Butter und mach dich davon.«

Um Zucker zu bitten hatte ich vergessen. Ein Kilo Butter. Ein Kilo Brot. Ich gehe zu Semjon Schejnin. Schejnin war der ehemalige Referent von Kirow, der damals noch nicht erschossen war. Früher hatten wir zusammen gearbeitet, in derselben Brigade, doch das Schicksal hatte uns getrennt.

Schejnin war in der Baracke.

»Komm, wir essen. Butter und Brot.«

Schejnins hungrige Augen funkelten.

»Ich hole Kochendwasser...«

»Wir brauchen kein Kochendwasser!«

»Warte, gleich...« Und war verschwunden.

Sofort zog mir jemand etwas Schweres über den Kopf, und als ich hochfuhr, zu mir kam, war die Tasche weg. Alle waren auf ihren Plätzen geblieben und schauten mich schadenfroh an. Das war Unterhaltung der besten Sorte. In solchen Fällen freute man sich doppelt: erstens geht es jemandem schlecht, und zweitens trifft es nicht dich. Das ist kein Neid, nein...

Ich weinte nicht. Ich hatte knapp überlebt. Dreißig Jahre sind vergangen, und ich erinnere mich genau an die halbdunkle Baracke, die frohen Gesichter meiner Kameraden, das feuchte Holzscheit auf dem Boden und Schejnins blasse Wangen.

Ich lief noch einmal zur Verkaufsstelle. Ich fragte nicht mehr nach Butter und verlangte keinen Zucker. Ich bat um Brot, kehrte in die Baracke zurück, taute etwas Schnee und setzte die Dörrpflaumen auf.

Die Baracke schlief schon: stöhnte, röchelte und hustete. Zu dritt kochten wir am Ofen jeder seins: Sinzow brühte die vom Mittagessen zurückbehaltene Brotrinde auf, um sie klebrig und heiß zu essen und dann gierig das nach Regen und Brot duftende heiße Schneewasser zu trinken. Gubarjew, der Glückspilz und Schlaumeier, hatte in seinem Kochgeschirr gefrorene Kohlblätter zerstampft. Der Kohl duftete wie der beste ukrainische Borschtsch! Und ich kochte die Dörrpflaumen aus dem Paket. Wir alle konnten nicht anders, als in das fremde Geschirr zu schauen.

Durch einen Fußtritt sprang die Barackentür auf. Aus einer Wolke von Frostdampf traten zwei Militärs. Der eine, etwas jünger, war Lagerchef Kowalenko, der andere, etwas älter, Bergwerkschef Rjabow. Rjabow trug Fliegerstiefel — meine Stiefel! Nur mühsam begriff ich, daß das nicht stimmte, daß es Rjabows eigene Stiefel waren.

Kowalenko stürzte sich auf den Ofen und schwenkte die mitgebrachte Hacke.

»Schon wieder Kochgeschirr! Jetzt zeig ich euch euer Kochgeschirr! Ich zeig euch, wie man Dreck macht!«

Kowalenko leerte die Gefäße mit Suppe, Brotrinde, Kohlblättern und Dörrpflaumen aus und durchstieß den Boden jedes Geschirrs mit der Hacke.

Rjabow wärmte sich die Hände am Ofenrohr.

»Wenn es Kochgeschirr gibt, heißt das, es gibt etwas zu kochen«, sagte der Bergwerkschef tiefsinnig. »Das ist, ihr wißt, ein Zeichen von Wohlstand.«

»Schau dir nur an, was sie kochen«, sagte Kowalenko und trampelte auf dem Geschirr herum.

Die Chefs gingen, und wir suchten unser verbeultes Geschirr zusammen und sammelten jeder seins auf: ich die Pflaumen, Sinzow das aufgeweichte, formlose Brot und Gubarjew die Reste der Kohlblätter. Wir aßen sofort alles auf, das war das sicherste.

Ich hatte ein paar Pflaumen verschlungen und schlief ein. Ich hatte längst gelernt, einzuschlafen, ehe die Füße warm werden, anfangs konnte ich das nicht, doch die Erfahrung, die Erfahrung... Der Schlaf war wie eine Bewußtlosigkeit.

Das Leben kam zurück wie ein Traum — wieder öffnete sich die Tür: weiße Dampfschwaden, die sich über den Boden wälzten und über die ferne Wand der Baracke liefen, Leute in weißen Halbpelzen, die nach neu und ungetragen rochen, und etwas auf den Boden Krachendes, sich nicht Rührendes, aber Lebendiges und Grunzendes.

Der Barackendienst, wie er sich in verdutzter, aber ehrerbietiger Pose vor den weißen Pelzmänteln der Brigadiere verneigt.

»Gehört der zu euch?« Und der Aufseher zeigte auf ein Häufchen schmutziger Lumpen am Boden.

»Das ist Jefremow«, sagte der Barackendienst.

»Er wird sich unterstehen, fremdes Holz zu stehlen.«

Viele Wochen lag Jefremow neben mir auf der Pritsche, bis sie ihn wegbrachten, und er starb in der Invalidensiedlung. Sie hatten sein »Innenleben« zerschlagen — an Meistern darin fehlte es nicht im Bergwerk. Er beklagte sich nicht, er lag da und stöhnte leise.

1960

Regen

Wir bohrten auf neuem Gelände den dritten Tag. Jeder hatte eine eigene Schürfgrube, und in drei Tagen war jeder einen halben Meter tief gekommen, mehr nicht. Den Dauerfrostboden hatte noch niemand erreicht, obwohl Brechstangen wie Hacken auf der Stelle instand gesetzt wurden — ein seltener Fall; die Schmiede hatten keinen Grund, es aufzuschieben — wir waren die einzige arbeitende Brigade. An allem war der Regen schuld. Es regnete den dritten Tag ohne Unterbrechung. Auf dem steinigen Grund läßt sich nicht erkennen — regnet es seit einer Stunde oder einem Monat. Kalter feiner Regen. Unsere Nachbarbrigaden waren längst von der Arbeit entlassen und nach Hause geführt worden, doch das waren Ganoven-Brigaden — selbst für Neid fehlte uns die Kraft.

Der Vorarbeiter, in einem durchweichten riesigen Segeltuchmantel mit eckiger, pyramidenförmiger Kapuze, tauchte selten auf. Die Leitung setzte große Hoffnungen in den Regen, in die Knute des kalten Wassers, die auf unsere Rücken niederging. Wir waren längst naß, ich kann nicht sagen, bis aufs Hemd, denn wir besaßen kein Hemd. Das schlichte geheime Kalkül der Leitung war, daß uns Regen und Kälte zum Arbeiten zwingen würden. Doch der Haß auf die Arbeit war noch stärker, und der Vorarbeiter versenkte seinen gekerbten Holzmaßstab jeden Abend unter Verwünschungen in das Loch. Die Begleitposten bewachten uns unter einem Schutzdach hervor, dem »Pilz« — einem bekannten Detail der Lagerarchitektur.

Wir durften nicht aus den Schürfgruben steigen — man hätte uns sonst erschossen. Zwischen den Gruben hin und her laufen durfte nur unser Brigadier. Wir durften uns nichts zurufen — man hätte uns sonst erschossen. Und wir standen stumm, bis zum Gürtel in der Erde, in den steinernen Gruben, eine lange Reihe von Schurfen entlang eines ausgetrockneten Bachbetts.