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E-Book 12-17 E-Book

Christine von Bergen

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Beschreibung

Diese großartig erzählte, völlig neue und einzigartige Arztromanserie von der beliebten, serienerfahrenen Schriftstellerin Christine von Bergen. Dr. Brunner bewohnt mit seiner geliebten Frau Ulrike und einem Jagdhund namens Lump ein typisches Schwarzwaldhaus, in dem er auch seine Praxis betreibt. Ein Arzt für Leib und Seele. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Arztromanen interessiert: medizinisch hochaktuelle Fälle, menschliche Schicksale, die uns zutiefst bewegen. Keine Leseprobe vorhanden. E-Book 1: Nicole, du tanzt in dein Verderben E-Book 2: Ohne deine Liebe leben? E-Book 3: Ein reinigendes Gewitter E-Book 4: Zeit der Sehnsucht E-Book 5: Die Vergangenheit holte sie ein E-Book 6: Es darf ja nicht sein!

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Seitenzahl: 790

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Nicole, du tanzt in dein Verderben

Ohne deine Liebe leben?

Ein reinigendes Gewitter

Zeit der Sehnsucht

Die Vergangenheit holte sie ein

Es darf ja nicht sein!

Der Landdoktor – Box 3 –E-Book 12-17

Christine von Bergen

Nicole, du tanzt in dein Verderben

Daniel hat Angst, die Liebste zu verlieren

Roman von Christine von Bergen

»Da kommt er«, sagte Ulrike Brunner zu ihrem Mann.

Sie stand in gebeugter Haltung vor dem niedrigen Stubenfenster des alten Schwarzwaldhauses. Lump, der Jagdhund des Arztehepaars, drängte seinen großen Kopf neben ihren blonden Lockenschopf, um auch einen Blick nach draußen zu erhaschen. Als ein schwarzer Sportwagen auf den Patientenparkplatz fuhr, begann er, freudig zu bellen. Das tiefe Brummen des Motors kannte er doch …

»Hat er Frau Konzack mitgebracht?«, fragte der Landarzt, der am Tisch sitzen blieb.

»Das kann ich noch nicht erkennen«, murmelte Ulrike. »Jetzt steigt er aus. Wie gut er wieder aussieht, unser Sohnemann«, fügte sie voller Stolz hinzu.

Der junge Mann mit den langen Locken ging um den Wagen herum zur Beifahrertür. In der lässigen Jeans, zu der er ein einfaches weißes Shirt und Bikerstiefel trug, sah man Thorsten Brunner nicht an, dass er mit seinen dreißig Jahren schon ein international anerkannter Konzertdirigent war.

»Ja, Nicole Konzack ist mitgekommen«, informierte die Landarztfrau nun ihren Mann.

Die junge Frau, die aus dem Auto stieg, war groß und schlank. Viel zu schlank. Mit dem hellblonden Haar und der hellen Haut machte sie einen geradezu zerbrechlichen Eindruck, zu dem das weiße Sommerkleid, das ihre biegsame Figur wie ein Schleier umwehte, noch beitragen mochte.

»Man sieht schon von Weitem, dass sie völlig erschöpft ist«, sagte der Landdoktor mit betroffener Miene, der sich jetzt neben Frau und Hund gesellt hatte.

Ulrike lächelte ihn voller Zuversicht an. »Das bekommst du schon wieder hin.«

*

»Da sind wir!« Thorsten Brunner legte mit freundschaftlicher Geste den Arm um die junge Frau an seiner Seite. »Darf ich vorstellen? Meine Eltern – Nicole Konzack.«

Ulrikes schöne blaue Augen strahlten an diesem Sommertag mit dem Himmel um die Wette.

»Herzlich willkommen in Ruhweiler«, begrüßte die Landarztfrau zuerst Nicole. Dann lagen sich Mutter und Sohn in den Armen.

»Hallo, Vater.« Auch die beiden Männer verharrten in inniger Umarmung ein paar Herzschläge lang. Danach wandte sich der Landdoktor an ihren Gast.

»Frau Konzack, herzlich willkommen in unserem Haus und in Ruhweiler.«

»Danke, aber nennen Sie mich doch Nicole«, bat die junge Frau mit weicher, melodisch klingender Stimme.

»So, jetzt kommt erst einmal herein. Nach der Fahrt habt ihr bestimmt Hunger. Es gibt natürlich Schwarzwälderkirschtorte«, sagte Ulrike zu Nicole mit vielversprechendem Blick.

*

Während Thorsten zwei Stück Torte verschlang, naschte Nicole nur von ihrem Kuchen. Das Arztehepaar wusste, warum.

»Ich habe ein schönes Häuschen für Sie gefunden«, sagte Ulrike in aufmunterndem Ton. »Es liegt in einem Wiesengrund, gar nicht weit von uns entfernt, und Sie können bleiben, so lange Sie wollen.«

Nicoles Lächeln wirkte müde. »Leider habe ich nur drei Wochen Zeit.«

Matthias lachte. »Es hat schon Gäste gegeben, die sind für immer geblieben.«

»Hier ist es auch wunderschön«, erwiderte die junge Frau mit verklärtem Blick über die blühenden Wiesen, die unterhalb der Terrasse zur Steinache sanft abfielen. In der Ferne stellten sich die Schwarzwaldhöhen hintereinander auf. Am Horizont verschwammen ihre Konturen mit dem lichten Blau des Himmels.

»Wo kommen Sie her?«, erkundigte sich Matthias.

»Aus Zürich.«

»Eigentlich stammt Nicole aus Leipzig«, fügte Thorsten hinzu. Er sah seinen Vater bedeutsam an. »Ich habe euch ja erzählt, dass Nicole Primaballerina beim Schweizer Ballett ist.«

Ja, das wusste der Landarzt. Er wusste auch, dass die Primaballerina vor ein paar Tagen einen Zusammenbruch auf der Bühne gehabt hatte. Burnout, hatte der Notarzt diagnostiziert und ihr geraten, ein paar Wochen zu pausieren.

»Da fällt mir gerade ein«, wandte sich Thorsten wieder an Nicole. »Seit einem halben Jahr gibt es im Ort ein gut sortiertes Sportgeschäft, wo du alles bekommst. Fachmännische Beratung inklusive. Falls du überhaupt Sport machen möchtest …«

Mit gequälter Miene lachte die Tänzerin auf. »Ich werde Sport machen müssen, um beweglich zu bleiben.« Dann beugte sie sich zu Ulrike hinüber und vertraute ihr mit versonnenem Lächeln an: »Ich habe aber auch ein paar Bücher im Gepäck. Um endlich einmal zu lesen.«

»Ich bin auch so eine Leseratte«, ging die Arztfrau sofort auf das Thema ein und schon erzählte sie Nicole von den Neuerscheinungen, die sie ihr ausleihen wollte.

*

Das kleine Schwarzwaldhaus mit seinem tief gezogenen Schindeldach lag wie ein Schmuckstein in einer grünen Wiese unterhalb eines Tannenwaldes. Ein in allen Farben blühender Garten gab dem Häuschen einen ganz besonderen Charme.

Von der ersten Minute an fühlte sich Nicole dort zu Hause. Ganz anders als in ihrem Apartment in der Vorstadt von Zürich. An diesem ersten Abend konnte sie von der beschaulichen Stille um sich herum und der guten Luft nicht genug bekommen. Während sie beobachtete, wie die Dämmerung aus dem Tal hinauf über die Tannenhöhen schlich, tauchte die untergehende Sonne die Bergzüge im Osten in ein dunkles Purpur. Hinter den Hügeln, am weiten Horizont, segelten einzelne lang gezogene Wolkenstreifen mit lichtem Gold gesäumt. Keine Hochhäuser, keine Telegrafenmasten, kein Flugzeuglärm, der die Ruhe der Natur gestört hätte.

Fasziniert sah die junge Frau zu, wie die Farben um sie herum verblassten. Der Mond wanderte höher. Das vielstimmige Geläut der Kuhschellen verklang, und die Steinache, die in ein paar Meter Entfernung durch die Wiesen plätscherte, schien leiser zu fließen als noch am Nachmittag.

Nicole lächelte versonnen vor sich hin.

Wie gut tat diese Ruhe, diese Idylle, ihrem ausgebrannten Körper! Für ein paar Augenblicke spürte sie keinerlei Schmerzen mehr, vergaß alle Zukunftssorgen und versank ganz im Hier und Jetzt. Sie schloss die Augen, atmete den Duft von Harz und fruchtbarer Erde tief ein, spürte den lauen Abendwind auf ihrer Haut und glaubte sogar zu spüren, dass er etwas mit sich brachte, was ihr Leben fortan für immer verändern würde.

*

Nicole begann den nächsten Tag mit zwei Tassen starkem Kaffee und einem Vitamindrink. Wie fast ihr gesamtes Leben lang. Heiko Wieland, ihr Agent, versorgte sie mit den flüssigen Nährstoffen, wie auch seine anderen ›Schäfchen‹. So nannte er all die Tänzerinnen, denen er Auftritte vermittelte. Nach dem Frühstück beschloss sie, eine Wanderung zu machen, trotz der Schmerzen im Fuß.

In einer Jeans, die ihr inzwischen auch schon zu weit war, Turnschuhen und mit einem leichten Rucksack auf dem Rücken ging sie los. Da sie sich im Ruhweiler Tal nicht auskannte, schlug sie einfach eine beliebige Richtung ein.

Mal sehen, wohin mich dieser Weg führen wird, sagte sie sich.

Seit mehr als zwanzig Jahren waren ihre Tage bestimmt vom Balletttraining, von der Planung anderer Menschen; sie hatten stets den gleichen Rhythmus. Dass sie jetzt auf sich allein gestellt war, rief ein Gefühl der Unsicherheit in ihr hervor.

Sie atmete energisch durch.

Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und den Blumen, die am Wegesrand standen. Brunellen, Seidelbast und Frauenschuh –, Nicole erinnerte sich wieder daran, dass ihre Großmutter ihr diese Pflanzen einst gezeigt hatte. Sie lächelte bei der Erinnerung an ihre Kindheit still vor sich hin, an die Zeit, bevor sie Ballettunterricht genommen hatte. Doch gleich darauf schüttelte sie diese Gedanken schnell ab.

Von hier oben hatte man einen traumhaften Blick auf die Häuser von Ruhweiler, auf die kleine weiße Kirche, deren goldener Wetterhahn in der Sonne blinkte.

Sie ging weiter in den Hochwald hinein. Über ihr lispelten die Blätter im Sommerwind. Im Geäst der Tannen, Fichten und Buchen sangen die Vögel um die Wette. Dazwischen erklang immer wieder das Gekrächze eines Eichelhähers, des Wächters des Waldes, der dessen Bewohner auf die einsame Wanderin aufmerksam machen wollte.

Nach einer Biegung entdeckte die junge Frau einen Holztransporter, der quer zum Wanderweg stand. Männer waren damit beschäftigt, Bäume zu fällen und Stämme aufzuladen. Als sie näher kam, löste sich einer aus der Gruppe und kam auf sie zu. Ein Mann mit dunkelbraunen Locken, von denen ihm einige verwegen in die braun gebrannte Stirn fielen. Breitbeinig blieb er vor ihr stehen, mit einem jungenhaften Lächeln in dem gut geschnittenen Gesicht. Er kam ihr vor wie ein Teil dieser wilden rauen Waldwelt.

»Grüß dich«, sagte er ganz selbstverständlich zu ihr.

»Grüß dich«, wiederholte sie seine Worte in erstauntem Ton.

»Hier kannst du nicht weitergehen«, erklärte er mit einem Lächeln, das sie sofort in seinen Bann zog. »Das wird noch ein paar Stunden dauern. Wir holzen gerade.«

Sie hob die Schultern. »Dann kehre ich halt wieder um.«

»Wohin willst du denn?«

»Ganz gleich wohin.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ich kenne die Gegend noch nicht.«

»Du solltest zur Hexenhütte wandern. Dort gibt es einen wunderschönen Ausblick und die besten Käsespätzle.«

Wie unter einem Blitz zuckte sie innerlich zusammen.

Kritisierte er mit diesem Vorschlag etwa ihre Figur?

»Dafür musst du ein Stück zurück und dann dem Schild nach«, erklärte er ihr und fügte mit strahlendem Lächeln hinzu: »Der Weg lohnt sich wirklich.«

»Danke für den Tipp.« Sie hörte selbst, wie viel kühler sie nun klang. Sie wollte schon umkehren, aber der Blick aus den sanftbraunen Männeraugen hielt ihren fest. Es war ein ernster Blick, ein forschender. Er schien bis in ihre Seele vordringen zu wollen.

»Machst Urlaub hier bei uns im Tal?«, fragte der junge Mann in dem grünen Overall, über dem er trotz der Wärme eine orangefarbene Warnweste trug.

»Ja«, antwortete sie.

Sie fühlte sich befangen, ja, sogar ein wenig verunsichert, was sie gar nicht von sich kannte. Hatte sie den Umgang mit Männern etwa völlig verlernt?

»Und? Gefällt’s dir bei uns?«

»Sehr.« Diese Antwort kam ihr aus dem Herzen und klang auch so.

Er nickte, lächelte, nicht mehr ganz so strahlend und verabschiedete sich dann mit den Worten: »Also dann … Ade. Ich wünsch dir was.«

»Ich dir auch.« Sie hob die Rechte, drehte sich um.

Ihr Herz schlug plötzlich schneller. In ihr breitete sich das Gefühl von Bedauern aus, das sie völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Gern hätte sie sich noch etwas länger mit dem Waldarbeiter unterhalten. Er stammte aus einer anderen Welt als der, in der sie heute lebte. Aus der Welt, in die sie einst hineingeboren worden war. Ihr Großvater war Förster gewesen.

Während Nicole so in Gedanken weiterging, betrachtete sie ein paar Vögel, die über ihr ihre Bahn zogen, elegant und schwerelos.

Sich einmal so richtig frei fühlen … Ja, das wünschte sie sich.

*

Daniel Geißle schaute der Urlauberin nach.

Eine Elfe, voller Anmut, aber viel zu dünn. Wunderschöne graue Augen hatte sie, denen der Kranz langer, schwarzer Wimpern noch mehr Tiefe gab. Erholungsbedürftig schaute sie aus. Blass. Er hatte auf ihren Zügen die Anzeichen von Erschöpfung gelesen, die er schon so oft auf Gesichtern gesehen hatte. Auch auf seinem eigenen.

Daniel strich sich die Locken aus der Stirn und schüttelte den Kopf, aus Unverständnis darüber, was diese Fremde in ihm angerichtet hatte. Immer noch stand er mitten auf dem Weg, hörte das Kreischen der Kettensägen in seinem Rücken und die Rufe der Männer ein paar hämmernde Herzschläge lang wie Geräusche von einem anderen Planeten, die ihn nichts angingen. So etwas war ihm noch nie passiert. Noch nie zuvor hatte eine Frau einen solch intensiven Eindruck bei ihm hinterlassen. Sie hatte eine Aura gehabt, die ihn, ohne dass er sich hätte wehren können, in ihren Bann gezogen hatte. Und nicht nur das. Er spürte dem Gefühl nach, das ihn ein paar Atemzüge lang beherrschte, das Gefühl, mit dieser Frau seelenverwandt zu sein. Ja, er glaubte, sie zu kennen, zu wissen, dass sie litt. In dem Leiden, das er bei ihr vermutete, kannte er sich aus. Er war diesem Zustand vor einem halben Jahr erst entkommen.

Noch einmal schüttelte er den Kopf, dieses Mal energischer.

Blödsinn. Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein, weil ihn nachts oft noch die Träume an die vergangenen Jahre plagten.

Die Fremde war längst verschwunden, als Daniel zu den Holzfällern zurückging.

*

Nach der Wanderung, die kürzer ausgefallen war als Nicole sich vorgenommen hatte, fuhr die junge Frau nach Ruhweiler hinunter, um Obst und Tee einzukaufen. Ihre Füße brannten wieder, als würde ein Feuer in ihnen wüten. Der rechte Fuß und seine Zehen noch mehr als der linke. Schmerzen am Bewegungsapparat gehörten zwar zu ihrem Beruf. Sie kannte sie und konnte damit umgehen. Doch an diesem Nachmittag erschienen sie ihr schier unerträglich. Sie konnte kaum mehr gehen.

Vor einer der für diese Gegend so typischen Schwarzwälderstuben blieb sie aufatmend stehen. Sie betrachtete das verlockende Angebot im Schaufenster. Wagenradgroße knusprig gebackene Brote, geräucherte Schinken, handgeschöpfter Käse, Obstbrände, Weine …

Sollte sie? Nein, lieber nicht, sagte sie sich. Sie durfte nicht. Sie sollte sich hier erholen, Kraft tanken, aber nicht an Gewicht zunehmen.

»Vergiss nicht, ein paar Pfund mehr in den drei Wochen und du bist draußen«, hörte sie Heiko Wieland vor ihrer Abfahrt mahnend sagen.

Sie musste weitertanzen. Sie hatte doch nichts anderes gelernt. Seit das Ballett eine Vertretung für sie gefunden hatte, fürchtete sie sich davor, dass die vier Jahre jüngere und sehr ehrgeizige Tänzerin ihr auf Dauer die Position der Primaballerina streitig machen könnte.

In diese schweren Gedanken hinein klingelte ihr Handy.

O nein! Ihre Mutter.

Sie steckte das Funktelefon so schnell zurück in den Rucksack, als hätte sie sich an ihm verbrannt. Mit steifen Schritten ging sie weiter.

Am Ende der Geschäftsstraße hörte sie eine Frauenstimme ihren Namen rufen. Erstaunt drehte sie sich um und sah Ulrike Brunner auf sich zukommen. In dem hellen Landhauskostüm zog die Arztfrau so manchen Männerblick auf sich.

»Wie war die erste Nacht in dem Häuschen meiner Freundin?«, erkundigte sie sich mit ihrem sonnigen Lächeln.

»Sehr angenehm. Aber Sie sollen mich doch duzen«, fügte Nicole in bittendem Ton hinzu.

»Das mach ich gern.« Ulrikes hübsches Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Ich habe gesehen, dass du humpelst.«

»Ach, das ist nichts. Ich bin nur zu lange wandern.« Ihre Worte begleitete sie durch eine wegwerfende Geste.

Die Landarztfrau sah sie forschend an. »Du gehst so, als würdest du sehr starke Schmerzen haben.«

»Schmerzen sind in meinem Beruf an der Tagesordnung«, erwiderte sie leichthin.

Der Blick der Älteren intensivierte sich. »Scheu dich nicht, meinen Mann aufzusuchen. Wir haben Thorsten versprochen, dass wir uns um dich kümmern.« Aufmunternd zwinkerte ihr die Arztfrau zu. »Wie wäre es, wenn du morgen Nachmittag zum Kaffee zu mir kommen würdest? Danach schaust du einfach einmal in der Praxis vorbei, die liegt ja gleich nebenan.«

*

»Doktor? Die Bekannte von Thorsten ist hier.« Schwester Gertrud stand in der Sprechzimmertür und sah ihren Chef fragend an. »Soll sie noch warten oder haben Sie jetzt Zeit für sie?«

»Das Gutachten kann warten«, erwiderte Matthias, stand auf und knöpfte den weißen Mantel zu. »Schicken Sie Frau Konzack herein.«

»Sie ist so nett, aber spindeldürr, die Arme«, sagte die altgediente Sprechstundenhilfe mit unterdrückter Stimme. »Wenn Sie mich fragen, verschreiben Sie ihr mal was, das ihren Appetit anregt.«

Matthias lächelte in sich hinein.

Tatsächlich war Schwester Gertrud dreimal so breit wie Nicole und das bei gleicher Körpergröße.

»Also, ich bring sie jetzt rein zu Ihnen«, beschloss seine Sprechstundenhilfe, verschwand, um ein paar Sekunden später Nicole in sein Zimmer zu schieben.

Wieder fiel ihm auf, wie durchsichtig die Tänzerin wirkte.

»Hat der Apfelstreusel meiner Frau geschmeckt?«, erkundigte er sich lächelnd, während Nicoles kalte Hand in seiner lag.

Niedriger Blutdruck, diagnostizierte er sofort.

»Ja, danke«, antwortete die junge Frau höflich.

Er ahnte jedoch, dass sie höchstens ein paar trockene Streusel zu sich genommen hatte.

»Setz dich«, bat er sie und zeigte auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. »Was kann ich für dich tun?«

Nicole biss sich auf die Unterlippe. Dann räusperte sie sich und sagte mit entschuldigendem Lächeln: »Ich habe manchmal Schmerzen in den Füßen. Das ist ganz normal in meinem Beruf. Aber in der vergangenen Nacht waren sie so stark, dass ich kaum schlafen konnte.«

Matthias hob die Brauen. »Wie lange hast du sie schon?«

Die junge Frau lachte leise. »Schon seit Jahren.«

»Seit Jahren? Warst du schon einmal deswegen bei einem Orthopäden?«

»Nein. Als Primaballerina muss man gesund sein. Arztbesuche würden den Ballettleiter nur auf den Gedanken bringen, sich in naher Zukunft nach einem Ersatz umzusehen.«

»Du hast seit Jahren Schmerzen und tanzt weiter?«, fragte Matthias mit ungläubigem Blick.

»Es gibt doch Tabletten.«

»Schmerzen sind ein Signal des Körpers. Man sollte auf sie hören, wenn man gesund bleiben will.«

»Als Primaballerina muss man sie aber überhören, sonst rutscht man schnell wieder auf die Stelle einer ganz normalen Tänzerin im Ballett. Und dann hat man noch Glück. Dieses Geschäft ist hart«, fügte Nicole leise mit gesenktem Kopf hinzu.

Für einen Moment war er sprachlos. Kein Wunder, dass die junge Frau auf der Bühne zusammengebrochen war. Freiwillig hätte sie ihrem Körper keine Erholung gegönnt.

Er räusperte sich.

»Ich bin kein Orthopäde«, begann er dann. »Von der komplizierten Struktur der Füße verstehe ich nicht viel. Aber ich könnte dir einen guten Kollegen in Freiburg empfehlen, bei dem ich einen Termin für dich machen kann.«

Nicole sah ihn bittend an. »Thorsten hat gesagt, Sie verstehen von allem etwas. Weil Sie Landarzt sind und die Patienten mit allen Wehwehchen zu Ihnen kommen.«

Da musste Matthis lachen. »Hoffentlich überschätzt mein Sohn mich nicht.« Er stand auf. »Okay, ich kann mir deine Füße ja mal anschauen. Danach sehen wir weiter.«

Er bat sie, die Schuhe auszuziehen und sich auf der Untersuchungsliege auszustrecken. Einen vagen Verdacht hatte er schon bezüglich der Ursache für Nicoles beschriebene Schmerzen. Um ihn abzuklären, zeichnete er mit dem Finger die Verlaufsstrecke eines Nervs nach, der vom Innenknöchel fußabwärts führte. Seine Patientin stöhnte dabei leise auf.

»Wird der Schmerz durch den Druck noch stärker?«, fragte er.

Sie nickte stumm.

Dann klopfte er den Nerv ab, wobei Nicole die Luft scharf einzog.

»Wie fühlte sich der Schmerz jetzt an?«

»Wie elektrische Stöße.«

»Hattest du die Füße einmal gebrochen?«

»Nur den rechten. Den linken habe ich mir mehrmals verstaucht.«

»Sind die Schmerzen rechts stärker?«

Sie nickte wieder.

»Wahrscheinlich leidest du an einem Tarsal-Tunnel-Syndrom.« Er erklärte ihr die Einzelheiten dieser Erkrankung. »Aber wie gesagt, das ist nur ein Verdacht eines einfachen Landarztes. Die Diagnose muss von einem Fachkollegen bestätigt werden.«

Nicole richtete sich auf. »Wie kann man sie bestätigen?«

»In Zweifelsfällen betäubt man die Nervenbahn vorübergehend. Verschwinden die Schmerzen beim Stehen oder Gehen, ist dies ein wichtiger Mosaikstein für die Diagnose dieser Erkrankung.«

»Können Sie mir ein solches Betäubungsmittel spritzen?« Nicole sah ihm in die Augen.

Er schluckte. »Ungern. Ich pfusche meinen Kollegen von der Orthopädie nicht ins Handwerk.«

»Bitte, Herr Doktor. Ich will nicht zu anderen Ärzten gehen müssen. Sie kenne ich jetzt. Und gefährlich kann eine solche kurze Betäubung doch nicht sein.«

Er musste lächeln. »Nein, gefährlich ist sie nicht, aber …«

»Kein Aber«, sagte da die junge Dame überraschend energisch. Sie beugte sich vor und flüsterte ihm mit einem Lächeln zu, das einen Eisberg zum Schmelzen hätte bringen können: »Ich werde Sie auch nicht bei den Orthopäden verraten. Versprochen.«

Unschlüssig schüttelte er den Kopf. Natürlich wollte er ihr helfen, aber es gab nun einmal Fachärzte, die streng darauf achteten, dass sich ein Hausarzt nicht in ihre Bereiche drängte.

»Sie sind Landdoktor«, fuhr Nicole bittend fort. »Ihre Patienten haben doch so viele unterschiedliche Krankheiten. Thorsten hat mir erzählt, dass Sie sogar schon einmal einem Kälbchen ans Licht der Welt geholfen haben. Hat sich daraufhin der Tierarzt auch beschwert?«

Er musste lachen.

Sein Sohnemann …, gab mit seinem Vater an …

»Ich mache diesen Test nur, wenn du danach die Therapie, die zur Heilung erforderlich ist, genau einhältst«, sagte er streng.

Sie zögerte. »Wie sieht die denn aus?«

»Absolute Ruhestellung der Füße und zusätzliche Injektionen gegen den Schmerz.«

»Ruhigstellung?« Sie sah ihn groß an. »Ich wollte hier Sport machen, damit ich meine Beweglichkeit nicht verliere und mir Kondition antrainiere.«

»Kein Sport.«

»Okay, okay«, gab sie schnell nach.

»Je nach Stärke der Verengung des Nervenkanals ist jedoch eine Operation nötig.«

Sie erblasste. »Ich muss in drei Wochen wieder tanzen.«

»Mädchen«, sagte er in eindringlichem Ton und nahm ihre kalte Hand in seine, »viel wichtiger als der Beruf ist die Gesundheit von Körper und Seele. Dein Burnout und die Schmerzen in den Füßen sollten dir eine Warnung sein. Hör bitte auf sie.«

*

In der zweiten Nacht konnte Nicole durchschlafen. Als sie morgens aufstand, verspürte sie jedoch wieder das ihr schon bekannte Brennen, besonders im rechten Fuß.

Mit einem leisen Seufzer sah sie aus dem Fenster.

Dort draußen sagten ihr die Sonne und ein wolkenloser Himmel Guten Morgen. Und sogleich hob sich ihre Laune.

Ruhigstellung?, sagte sie sich. Gut, ich könnte mich nach draußen setzen und lesen. Doch dann dachte sie daran, dass sie in drei Wochen wieder auf der Bühne stehen musste. Der Notarzt, der sie nach ihrem Zusammenbruch auf der Bühne behandelt hatte, war Sportmediziner gewesen. Immer noch hatte sie seine Worte im Ohr: »Ausdauertraining ist wichtig. Fehlt die Kondition, übersäuert der Muskel, die Koordinationsleistung lässt nach und die Verletzungsanfälligkeit steigt.« Harte Worte, die der Ballettmeister abgetan hatte. Für sie ergaben sie jedoch Sinn. Also? Sie musste hier etwas tun. Schwimmen? Ja, das war doch ein Kompromiss. Beim Schwimmen belastete sie ihre Füße kaum. Und die Autofahrt zu dem kleinen See in der Nähe würde ihrer Therapie doch nicht so abträglich sein können, oder?

*

Die vier Autos am Seeufer zeigten Nicole, dass sie nicht die Einzige war, die zu dieser frühen Stunde baden ging.

Sie schaute über die spiegelnde Wasserfläche. Hier und da konnte sie Köpfe erkennen. Es waren Schwimmer, die sportlich ihre Bahnen zogen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geschwommen war.

Das Wasser war überraschend warm. Sie tauchte unter und aalte sich wie ein Fisch. Herrlich. Dann schwamm sie los. Ihr Ziel war der Holzsteg am gegenüber liegenden Ufer. Hin und zurück, überlegte sie. Das Ganze fünf Mal. Morgen würde sie ihr Pensum steigern.

Kurz vor dem Steg musste sie sich jedoch eingestehen, dass sie sich ein zu hohes Ziel gesteckt hatte. Sie kam aus der Puste. Da passierte es. Sie hatte den Schwimmer vorher nicht bemerkt, der im Schmetterlingsstil vor ihr auftauchte. Und er sie auch nicht. Sie wich nach rechts aus, dennoch berührten sich ihre Beine. Der Mann mit dem dunklem Haar und der Schwimmbrille kam aus dem Bewegungsrhythmus, ruderte mit den Armen auf der Stelle und sah sich um. Sie erkannte ihn wieder. Er war der Holzfäller.

»Grüß dich«, sagte er schwer atmend.

Dabei schob er die Brille ins Haar. Sein strahlendes Lächeln zeigte ihr, dass er sich freute, sie zu sehen.

»Hallo.« Auch ihr Atem ging unregelmäßig, obwohl sie viel ruhiger geschwommen war als er.

»Haben die Käsespätzle geschmeckt?«

Sie musste lachen. »Ich war gar nicht in der Hütte.«

»Nicht gefunden?«

»Mir taten die Füße weh«, gestand sie ihm offen.

Er zeigte auf den Steg, der in den See ragte, und sah sie auffordernd an. Sie nickte. Er schwamm die wenigen Meter hinüber, sie folgte ihm. Dort angekommen hielten sie sich am Holz fest, was sie als Erleichterung empfand.

Muskulöse Schultern hatte er, braun gebrannt, gestählt von der Forst­arbeit, nicht durchs Fitnessstudio. Sehr männlich, musste sie sich eingestehen. Dabei beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. War es etwa Scham? Mit wie vielen Ballettkollegen hatte sie schon die Umkleidekabine geteilt? Die besaßen jedoch alle nicht diese ungemein männliche Ausstrahlung wie dieser Waldarbeiter.

»Daniel.« Förmlich reichte er ihr seine nasse Hand, in der ihre verschwand.

»Nicole.« Sie erwiderte seinen Blick, der wieder bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken schien. In Tiefen, an die sie selbst lieber nicht rührte.

Rasch sah sie weg, über die Wasserfläche, zu den Tannen hinüber, die sich die Hügel hinaufzogen.

»Schön ist es hier«, sagte sie.

Das Schweigen zwischen ihnen machte sie nervös. Immer noch lag sein Blick auf ihrem Gesicht.

»Ich schwimme jeden Morgen hier«, erzählte er ihr. »Bis in den Herbst hinein. Auch bei Regen.«

»Du lebst ja richtig gesund. Sport, die Arbeit in der Natur …«

Für den Bruchteil einer Sekunde huschte der Ausdruck von Verwirrung über sein kantig geschnittenes Gesicht, dann lachte er sie wieder an.

»Wo bist du denn zu Hause?«, erkundigte er sich.

»Leipzig.« Sie lächelte und berichtigte sich sogleich: »Also, ich stamme aus Leipzig. Ich bin schon früh von dort weggegangen. Seit vier Jahren lebe ich in Zürich.«

»Dort ist es auch schön, aber leben möchte ich nur hier.«

»Das kann ich verstehen.« Ganz spontan war ihr die Bemerkung von den Lippen gesprungen.

»Wirklich?« Er klang erstaunt.

Sie nickte. »Ja, wirklich. Aber soll ich dir etwas verraten?« Sie lächelte ihn verschmitzt an. »Das ist mir gerade erst jetzt bewusst geworden. Ich wohne im Außenbezirk von Zürich, inmitten von Hochhäusern.« Sie lächelte verlegen. Sie hatte den Eindruck, schon viel zu viel über sich zu erzählen. Trotzdem fuhr sie fort: »Ich meine, ich könnte mir vorstellen, hier zu leben. Obwohl das niemals ginge, zumindest nicht in den nächsten Jahren«, fügte sie murmelnd hinzu. Sie fühlte sich plötzlich kraftlos.

Wieder einer seiner Blicke. Dann räusperte er sich, sah auf seine Sportuhr und erschrak sichtlich.

»Ich muss zur Arbeit«, sagte er in bedauerndem Ton. Doch sein Gesicht hellte sich sofort wieder auf, als wäre ihm eine gute Idee gekommen. »Ich kann dir ein bisschen von der Gegend zeigen, wenn du möchtest. Ich stamme von hier.«

Ihr Herz, das sich gerade etwas erholt hatte, verfiel wieder in einen schnelleren Rhythmus. Dieses Mal nicht durchs Schwimmen.

Sollte sie sich auf diese Einladung einlassen? Durfte sie sich auf sie einlassen? Natürlich bemerkte er ihr Zögern. Er lächelte sie an, ein wenig enttäuscht, wie ihr schien.

»Na ja, vielleicht sieht man sich ja noch mal«, meinte er dann freundlich, aber deutlich distanzierter. Er hob die Hand. »Ade.«

Sie lächelte zurück und wollte schon fast sagen, dass es ihr heute am Spätnachmittag gut passen würde, doch da war er schon untergetaucht.

Wie ein Delfin glitt er durchs Wasser und entfernte sich immer weiter von ihr. Zurück blieb ein Gefühl, das sich in ihrem Innern ausbreitete. Das Gefühl, eine Chance auf schöne Stunden vertan zu haben. Denn eines wusste sie jetzt schon: Morgen würde sie sich eine andere Schwimmmöglichkeit suchen. Sie hatte ihm einen Korb gegeben. Ihr war peinlich, ihm noch einmal zu begegnen. Vielleicht würde er ja jetzt sogar sauer auf sie sein, und ein Wiedersehen würde unangenehm ausfallen.

Schade.

*

Das Gefühl des Bedauerns begleitete Nicole auch noch auf dem Rückweg zu ihrem gemieteten Häuschen. Nach einem Frühstück, das aus Kaffee und ihrem Vitamindrink bestand, überlegte sie, wie sie den Tag, der vor ihr lag, gestalten sollte. Ihre Füße brauchten Ruhe, wie Dr. Brunner gesagt hatte. Also würde sie sie hochlegen und ein Buch zur Hand nehmen.

Sie hatte gerade erst ein paar Seiten gelesen, als ihr Handy klingelte. Dieses Mal öffnete sie die Leitung zu ihrer Mutter.

»Kind, wo bist du denn? Ich habe schon mehrmals versucht, dich zu erreichen«, überfiel ihre Mutter sie in der für sie so typischen übereifrigen Art.

Tja, wo war sie? Auf gar keinen Fall wollte sie ihr verraten, dass sie in einem kleinen Ort namens Ruhweiler im Schwarzwald war.

»Bist du nicht in Zürich? Arbeitest du nicht?«

Nun gut, was blieb ihr anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen?

»Ich pausiere drei Wochen.«

Stille.

Ihre Mutter schwieg, was ihr zeigte, wie betroffen sie sein musste.

»Du pausierst?«

Kurz und knapp erzählte sie, was passiert war.

»Drei Wochen lang?«

Dass diese Zeitspanne viel zu kurz war, wusste sie seit gestern von Dr. Brunner.

»Aber du stehst doch nach drei Wochen wieder auf der Bühne, oder?«

»Natürlich.«

Sie konnte durch die Leitung hören, dass ihre Mutter ausatmete.

»Ich mache hier viel Sport«, erzählte sie weiter. »Der Notarzt, ein Sportmediziner, hat mir Ausdauertraining empfohlen.«

»Hier? Was heißt denn hier? Wo ist das?«

Sie seufzte. »Im Schwarzwald.«

»Und wo da?«

»Ach, Mama, ein kleiner Ort. Ein Bekannter von mir kennt ihn. Jetzt sag mal, wie geht es denn dir eigentlich?«

Ihre Mutter antwortete nicht. Stattdessen hörte sie Stimmen im Hintergrund. Dann meldete sie sich wieder. »Kind, ich muss auflegen. Gerade ist der Heizungsinstallateur gekommen. Ich gehe übrigens auf Kreuzfahrt. Und wir müssen unbedingt noch einmal über deinen Zusammenbruch reden. Tschü-üs.«

Nicole atmete erleichtert aus.

Herzlichen Dank an den Installateur, dachte sie lächelnd und wollte sich wieder in ihr Buch vertiefen. Doch das sollte ihr nicht mehr so recht gelingen. Die Stimme ihrer Mutter klang immer noch in ihr nach.

Gerda-Franziska Konzack, ihre Mutter … Geschieden, alleinerziehend, beruflich gescheitert. Zumindest in ihren eigenen Augen. Nicole seufzte leise. Ihre Mutter hatte alles für sie getan. Mehr als das. Ihren ganzen Verdienst als Kassiererin in einem Discounter in Leipzig hatte sie in ihre Ballettausbildung gesteckt, hatte ihren Weg vom kleinen Mädchen, das mit fünf Jahren zum ersten Mal die Spitzenschuhe angezogen hatte, bis zur Primaballerina begleitet und mitgetragen. Ja, sie musste ihrer Mutter dankbar sein. Und trotzdem steckte da ganz tief in ihr auch ein ganz anderes Gefühl als Dankbarkeit. Nein, dieses Gefühl wollte sie gar nicht erst näher betrachten.

Sie richtete sich auf der Liege auf.

Das Herumhängen brachte sie nur auf Gedanken, die ihrer Seele schadeten. Sie war nicht gewöhnt, in den Tag hineinzuleben. Sie musste etwas tun. Ob es ihrer Heilung schaden würde, wenn sie in dieses Sportgeschäft fuhr, das Thorsten ihr empfohlen hatte? Sie brauchte einen neuen Badeanzug. Und vielleicht würden ja auch ein paar richtige Wanderschuhe mit geformtem Fußbett Wunder tun.

*

Nicole fuhr langsam die beschauliche Geschäftsstraße von Ruhweiler entlang. Zu ihrer Rechten lag der Schwarzwaldladen, vor dem sie schon gestanden hatte. Ihr war zumute, als würden die knusprigen Brote und die geräucherten Schinken sie hereinwinken. Bei ihrem Anblick lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ihr knurrte der Magen.

Nein, gleich kaufe ich Obst, Gemüse und Salat, sagte sie sich energisch und gab Gas.

Ein paar Meter weiter entdeckte sie das Schild, das sie suchte. ›Tonis Sportmoden‹, stand über dem Geschäft. Zwei riesige Schaufenster luden den Kunden ein. Dass sie direkt vor dem Eingang eine Parklücke fand, wertete sie als Zeichen, hier genau richtig zu sein.

Wie lange hatte sie sich nichts mehr gekauft? Ihr schwebte ein farbenfroher Badeanzug vor, einen schöneren als ihr altes dunkelblaues Schwimmmodell. Karibische Farben, Muster der Südsee, sommerlich, sprühend, lebensfroh. Ja, genau das wollte sie sich jetzt leisten.

*

So schwungvoll, dass es sie selbst überraschte, öffnete Nicole die Tür und sah sich erst einmal allein in dem Geschäft. Dann wurden Schritte laut. Eine dunkelhaarige, etwas mollige Frau mittleren Alters erschien hinter einem Vorhang. Ihr warmherziges, mütterliches Lächeln nahm sie auf den ersten Blick gefangen. Auch die braunen Augen der Verkäuferin lächelten, als diese auf sie zutrat.

»Grüß Gott, kann ich etwas für Sie tun?«

Nicole nannte ihren Wunsch.

»Ich glaube, ich weiß genau, was Sie suchen. Kommen Sie mal mit mir.«

Die Frau berührte ihren Ellbogen, zog sie zu einem Ständer und zeigte ihr exakt das Modell, dass sie im Geiste vor sich gesehen hatte.

»Das ist er!«, rief Nicole gleichermaßen erfreut wie begeistert aus.

Die ältere Dame lachte. Ihr Lachen klang wie das einer Frau, die mit sich und der Welt im Reinen war. Bewundernswert.

»Jetzt muss er nur noch passen«, meinte sie dann ernst. Ja, fast mit bekümmertem Blick.

»Ich weiß.« Nicole seufzte. »Das ist immer mein Problem.«

»Sie haben eine tolle Figur, aber ein paar Pfündchen mehr könnten Sie schon vertragen«, meinte die Verkäuferin mit herzlicher Offenheit. »Das mögen die Männer«, vertraute sie ihr augenzwinkernd an.

Die Schwarzwälder Männer bestimmt.

Wieder sah sie den Waldarbeiter namens Daniel vor sich. Groß, breit, ein Hüne, der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Männlich. Und mit so viel jungenhaftem Charme.

»Probieren Sie den Badeanzug an. Sollte er zu weit sein, kann ich Ihnen einen hervorragenden Schneidermeister im Ort empfehlen, der ihn enger machen kann.«

Das schöne Stück passte, was Nicole zunächst sprachlos machte. Dann freute sie sich. Sie hätte jubeln können. Endlich einmal hatte sie sich etwas gegönnt, was nicht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit stand.

»Fantastisch«, lautete das Lob der Verkäuferin. »Aber trotzdem …« Sie senkte in verschwörerischer Manier die Stimme und wiederholte: »Ein paar Pfündchen mehr könnten es schon sein.«

Nicole lächelte sie an. »Jetzt brauche ich noch Wanderschuhe, mit einem guten Fußbett.«

»Dafür rufe ich lieber meinen Sohn, der packt hinten gerade neue Ware aus. Er versteht mehr vom Wandern.«

Nun gut, dann sollte Toni mal kommen. Sie befand sich gerade im Kaufrausch, vielleicht würde Toni heute das Geschäft seines Lebens machen.

*

Tonis Mutter verschwand hinter dem Vorhang. Nicole hörte Stimmen, dann feste Schritte und da erschien Toni auch schon – nur dass der Mann nicht Toni, sondern Daniel hieß.

Ihr stockte der Atem, als ›ihr‹ Waldarbeiter, sichtlich genauso überrascht wie sie, stehen blieb und sie ansah.

»Du?«, fragte er mit großen Augen.

Sie lachte. »Ich bin genauso verblüfft wie du. Das ist doch Tonis Laden.«

»Ich habe Toni das Geschäft vor einem halben Jahr abgekauft.«

»Tja …« Innerlich völlig durcheinander sah sie sich um. Dann sammelte sie sich. »Ich dachte, du wärst Forstarbeiter.«

»Ich habe den Leuten nur geholfen. Der Wald gehört uns. Das heißt, meiner Mutter. Mein Vater ist seit Jahren tot.«

Sie räusperte sich und sagte mit fester Stimme, so kam es ihr zumindest vor: »Also, ich brauche Wanderschuhe. Mit einem guten Fußbett oder Einlegesohlen.«

»Hast du Fußbeschwerden?«

»Wie heißt das noch?« Mit nachdenklicher Miene legte sie den Zeigefinger auf die Nasenspitze. »Dr. Brunner sagte, ich hätte ein Tarsal-Tunnel-Syndrom.«

»Kenne ich«, erwiderte Daniel wie aus der Pistole geschossen. »Ein Verwandter von mir hatte das. Er musste operiert werden. Was bedeutet, der Tarsal-Tunnel musste operativ erweitert werden, um den Druck vom Nervus tibialis zu nehmen.«

Sprachlos sah sie ihn an.

»Das ist eine bekannte Krankheit unter Berufstänzern«, sagte er ernst.

Sie schluckte.

»Mein Verwandter ist Ire und arbeitet als Stepptänzer.«

»Ach so.« Mehr konnte sie nicht sagen.

Er sah sie eindringlich an. »Bei einem Tarsal-Tunnel-Syndrom solltest du das Wandern vergessen. Eigentlich solltest du gar nicht hier stehen.« Er schenkte ihr ein jungenhaftes Lächeln. »Was ich jedoch sehr bedauern würde.«

Sie lächelte zurück, und zwei, drei Lidschläge lang verfingen sich ihre Blicke. Sie wollten sich gar nicht mehr loslassen, bis Nicole ganz heiß wurde. Schnell drehte sie Daniel den Rücken zu und täuschte Interesse für die Schuhe vor, die auf dem Regal standen.

»Was machst du denn beruflich?«, hörte sie Daniel hinter sich fragen.

»Ballett.«

»Das ist hart.« Er trat an ihre Seite, lehnte sich ans Regal und sah sie mit feinem Lächeln an. »Ich habe es mir fast schon gedacht.«

Sie zog die Stirn in Falten. »Was gedacht?«

»Dass du Hochleistungssport machst.«

Sie stieß ein kurzes Lachen hervor. »Weil ich so ausgemergelt aussehe?« Ihre Stimme klang hart, das hörte sie selbst.

»Ich kenne die Anzeichen. Ich habe jahrelang Zehnkampf gemacht. Dann wollte ich nicht mehr.«

»Du wolltest nicht mehr?«, fragte sie verblüfft.

»Genau.« Sein Lächeln zauberte wieder den Charme auf seine Züge, der sie innerlich berührte. »Jeder hat sein Leben in der Hand. Man muss es nur erkennen. Ich habe Schluss gemacht mit dem Sport, weil ich wieder ich selbst sein, wieder richtig leben wollte.«

Seine Worte schwirrten ihr durch den Kopf. Sie rieb sich die Stirn, als könnte sie so der Klarheit auf die Beine helfen.

»So einfach geht das?«, fragte sie.

Er lachte. Das Lachen erinnerte sie an das seiner Mutter. Auch Daniel war mit sich und der Welt im Reinen.

»So einfach natürlich nicht«, erwiderte er. »Wenn es dich interessiert … Hast du heute Abend schon etwas vor?«

»Nein.«

»Dann möchte ich dich in die Rottwalder Brauerei einladen. Dort verrate ich dir, wie ich es geschafft habe.«

»Einverstanden.« Sie sah zu ihm auf. Obwohl sie nicht klein war, überragte er sie immer noch um eine Kopfhöhe. »Ich komme gern«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das ihr aus dem Herzen kam.

Noch einmal wollte sie sich den Fehler einer Absage nicht erlauben.

*

Es war einer dieser Sommerabende, die so prall gefüllt sind mit Verheißungen, dass sie zur Liebe einladen. Die Luft war erfüllt vom Duft blühender Wiesen. Der Himmel schimmerte wie Perlmutt, und ein weicher Wind schien eine Ahnung mit sich zu tragen.

Nicole und Daniel trafen sich vor dem Gartenlokal der Rottwalder Brauerei, in dem die für Biergärten so typische heitere Gelassenheit herrschte. Dicht gedrängt saßen die Leute an den Tischen, plauderten, lachten, tranken und ließen sich die deftige Küche schmecken. Kellnerinnen in Dirndln schleppten in großen Krügen das Bier heran; durch die Blätter der Kastanien, die über dem bunten Treiben ihre mächtigen Kronen ausbreiteten, fielen die goldenen Strahlen der untergehenden Sonne.

Die beiden jungen Leute fanden in einer der hintersten Ecken des Gartens noch einen kleinen Tisch. Schön für sich.

Daniel schlug die Karte auf. »Ich lade dich ein«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Er überlegte nicht lange. »Ich esse Schäufele. Das solltest du auch probieren. Es schmeckt hier ganz hervorragend und ist typisch für den Schwarzwald.«

Nicole schluckte.

Sie hatte bereits die riesigen Teller auf den Nebentischen bemerkt. Das ging ja gar nicht. An solche Portionen war ihr Magen nicht gewohnt.

Sie schlug die Karte zu und lächelte Daniel an.

»Ich nehme einen Beilagensalat und Mineralwasser.«

Wieder sah er sie mit diesem eindringlichen Blick an, in dem sie den Ausdruck von Sorge zu erkennen glaubte. Er enthielt sich jedoch jeden Kommentars und gab der drallen Kellnerin die Bestellung auf.

Nach den ersten Minuten, in denen beide etwas verlegen miteinander umgingen, kam dann doch zwischen ihnen schnell eine Unterhaltung in Gang, die jedoch hauptsächlich Daniel bestritt. Er schwärmte Nicole von der Schönheit seiner Heimat vor.

Die junge Frau ertappte sich beim Zuhören dabei, dass sie weniger auf seine Worte hörte, als sie seine Mimik und Gestik beobachtete. Sein kantiges Kinn verriet Durchsetzungsvermögen und Wildheit. Der fein geschwungene Mund dagegen erzählte davon, dass in diesem robust wirkenden Mann ein weicher Kern steckte. Seine Hände, mit denen er seine Worte lebhaft begleitete, waren groß und kräftig. Sie verrieten Stärke, und in seinen sanftbraunen Augen lag so viel Lebenserfahrung und Weisheit.

»Möchtest du nicht auch ein Bier trinken?«, fragte Daniel, als die Kellnerin die Getränke brachte.

Warum eigentlich nicht?, sagte sie sich. Sie fühlte sich innerlich so aufgedreht wie als Teenager beim ersten Rendezvous.

»Ja, gern«, erwiderte sie.

Die Bedienung entfernte sich. Daniel erzählte weiter von den Ausflugszielen in der Gegend, den Lokalen, die nur wenige Touristen fanden, von verschwiegen liegenden Seen und vielem mehr. Nicole fühlte sich wie berauscht, berauscht von seiner tiefen samtnen Stimme, die sie wie ein Streicheln ihrer Seele empfand. Was passierte da mit ihr? Lag die Faszination, die von Daniel ausging, an den wenigen Schlucken des köstlichen Braunbieres, das sie getrunken hatte?

Als das Essen kam, lief ihr beim würzigen Duft des Schäufeles das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich machte ihr der riesige Teller gar keine Angst mehr. Sie verspürte Hunger. Sie betrachtete die kleine Portion vor sich. Der Salat war lecker, aber eben leicht, wie Salat schmeckte. Ohne den befriedigenden Nachklang im Gaumen. Immer wieder lugte sie zu Daniels Schäufele hinüber.

»Möchtest du mal probieren?«, fragte er.

Sie schluckte.

Ohne ihre Antwort abzuwarten, orderte er bei der Kellnerin einen zweiten Teller, den diese auch umgehend brachte, und schnitt ein großes Stück Fleisch für sie ab.

Sie probierte.

»Lecker.« Sie lachte ihn an. »Wirklich. Meine Großmutter in Leipzig, also, wir wohnten etwas außerhalb der Stadt auf dem Land, hat auch so gut kochen können. Richtig deftig. Aber …« Sie verstummte.

Daniel legte das Besteck auf den Teller und beugte sich nach vorn.

»Essen ist Lebensfreude«, sagte er in eindringlichem Ton. »Das habe ich auch erst vor Kurzem entdeckt. Und diese Lebensfreude sollte man sich nicht nehmen lassen. Auch nicht durch seinen Beruf.« Dann lehnte er sich wieder zurück und speiste mit genüsslicher Miene weiter.

Damit waren sie bei dem Thema, das Nicole immer mehr beschäftigte, seit sie im Schwarzwald war.

»Ich habe nur diesen einen Beruf«, sagte sie zu ihrer eigenen Verblüffung offen und direkt. »Ich tanze. Ich habe nichts anderes gelernt.« Sie biss sich auf die Unterlippe, scheute noch davor zurück, sich Daniel gegenüber, den sie kaum kannte, so zu offenbaren. Doch dann brach es aus ihr hervor.

»Ich tanze seit meinem fünften Lebensjahr. Schnell entdeckte man mein Talent. Da war meine Mutter nicht mehr zu halten. Für sie stand fest, dass ich den Traum leben sollte, den sie geträumt hat. Mama wollte Eiskunstläuferin werden. Das hat nicht geklappt. Als ich älter wurde, kannte sie nur noch ein Ziel: mich auf die Bühne zu bringen. Deshalb durfte ich kein Abitur machen, obwohl ich gut in der Schule war. Ich wollte Jura studieren. Schließlich habe ich so gerade eben die Mittlere Reife geschafft. Ich musste ja ständig trainieren. Mama hat neben ihrem Job noch Putzstellen angenommen, um meine Karriere zu finanzieren. Jetzt bin ich Primaballerina. Eine jedoch, die vor Kurzem auf der Bühne zusammengebrochen und binnen weniger Stunden durch eine andere, noch unverbrauchte und jüngere Tänzerin ersetzt worden ist.«

Sie schluckte. Dann nahm sie den Bierkrug und trank einen tiefen Schluck.

*

Daniel hatte ihr fasziniert zugehört. Ihre grazilen Gesten, ihre melodische Stimme, die zum Schluss immer härter, ja, verbittert, geklungen hatte und diese wunderschönen Augen, die er bisher nur mit einem traurigen, müden Ausdruck kannte, welcher jedoch immer mehr einem starken Glanz Platz gemacht hatte, der Nicoles innere Stärke verriet, zogen ihn in ihren Bann. In diesem fragilen und zugleich sehnigen Körper steckte eine starke Persönlichkeit, die leider seit vielen Jahren diese innere Stärke gegen sich selbst, gegen die eigene seelische und körperliche Gesundheit einsetzte. Wie gut kannte er all das!

»So, jetzt weißt du Bescheid«, hörte er sie in seine Gedanken hinein sagen, die ihm in Bruchteilen einer Sekunde durch den Kopf schossen. Ihr Lächeln dabei, dieses zerbrechliche Lächeln, berührte sein Herz –, wie die ganze Frau vom ersten Blick an sein Herz berührt hatte. Sie war schön. Und heute Abend ganz besonders. Das schwarze Shirt betonte ihre helle makellose Haut und ihr Haar, das das Licht der untergehenden Sonne einfing. Über diese äußere Vollkommenheit hinaus strahlte sie jedoch etwas aus, was ihm viel mehr bedeutete: Ihre innere Schönheit.

Er räusperte sich. Dann zwang er sich zu einem fröhlichen Lächeln.

»Ja, jetzt weiß ich Bescheid«, nahm er ihre Worte auf, um wieder zu sich selbst zu finden.

»Wie hast du es gemacht?« Ihr Blick suchte seinen, hielt ihn fest, wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Er zwang ihn zu einer ausführlichen Antwort auf ihre Frage.

Bevor er dazu kam, sie Nicole zu geben, stand die Kellnerin neben ihrem Tisch. »Noch ein Bier?«, fragte sie Er sah Nicole an. Sie zögerte sichtlich. Dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, und sie nickte entschlossen.

»Dessert?«, erkundigte sich die ältere Frau.

»Haben Sie denn Schwarzwälderkirsch?«, erkundigte er sich.

»Freilich. Wir sind doch im Schwarzwald«, lautete ihre Antwort. Dabei lachte sie über beide Wangen.

»Ich nehme ein Stück.«

»Zwei?« Die Bedienung wandte sich an Nicole.

»Kann ich auch nur ein kleines haben?«, fragte diese zu seiner Verblüffung.

»Das passt schon.« Die Kellnerin entfernte sich.

Freude breitete sich in seinem Herzen aus. Hatte er vielleicht schon ein kleines bisschen bei dieser jungen Frau, die auf ihn so unglücklich wirkte, bewegt? Und während er sie ansah, breitete sich diese Freude in seinem gesamten Innern aus, erfüllte ihn und wärmte ihn. Er war sich sicher, dass dieses Gefühl sich auch in seinem Lächeln niederschlug, mit dem er Nicole ansah.

Ihre Blicke berührten sich, verweilten miteinander. Mehrere Herzschläge lang. Dabei kam eine Vertrautheit zwischen ihnen auf, als ob sie sich schon jahrelang kennen würden. Gern hätte er in diesen Augenblicken Nicoles Hand ergriffen. Doch das wagte er nicht. Die Zeit war dafür noch nicht reif. Wusste er, ob sie ähnlich empfand wie er? Suchte auch sie den Körperkontakt zu ihm als Ausdruck dafür, dass sie sich verstanden, dass vieles sie miteinander verband? Darüber hinaus jedoch begehrte er sie auch als Frau. Begehrte sie ihn als Mann?

*

Nicole hielt den Atem an. Diese Augen. Der Blick traf wieder genau in ihre Seele. Sie und Daniel hatten etwas gemeinsam: Die gleiche Lebenserfahrung. Aber nicht nur das. Niemals zuvor hatte sie sich von einem Mann derart fasziniert gefühlt. Wann hatte sie überhaupt zum letzten Mal einen Mann kennengelernt, der nichts mit dem Ballett zu tun hatte? Sie wünschte sich, Daniel würde nicht so nah vor ihr sitzen. Denn sie war sich ihrer Weiblichkeit auf eine völlig ungewohnte Weise bewusst, was sie durcheinanderbrachte.

Immer noch tanzten ihre Blicke miteinander, einen wiegenden, langsamen Tanz, der sie erregte und gleicherweise entsetzte. Und während sie sich in die Augen sahen, verwandelte sie sich in einen anderen Menschen, begann ein anderes Leben. Ein Leben, das viel aufregender war als ihres, das ihr eine magische Erfahrung schenkte, die sie schwindelig machte.

Sie riss sich los aus diesen Empfindungen, senkte den Kopf und verschränkte die Finger ineinander, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Wo waren sie stehen geblieben?

»Wie hast du es gemacht?«, wiederholte sie.

»Was?« Daniel sah sie an, als wäre er gerade aus einem Traum aufgewacht.

Sie musste lächeln. Ob es ihm gerade ähnlich ergangen war?

»Wie hast du den Absprung vom Hochleistungssport geschafft?«

»Durch ein Schlüsselerlebnis, das ich dir nicht wünsche.«

Sie hob die Brauen.

Der Zauber war gebrochen. Sie begann zu frösteln, obwohl dieser Abend sehr warm war und die Hitze des Tages immer noch unter dem grünen Blätterdach der riesigen Kastanien hing.

»Willst du mir davon erzählen?«, fragte sie leise.

Er nickte. »Ein Sportkollege ist in meinen Armen gestorben. Tödliche Verletzung. Kurz vor seinem Tod hat er zu mir gesagt, dass er nicht gelebt, dass er so viele Träume noch gehabt hätte, so vieles nach seiner Sportkarriere hätte machen wollen.« Er holte tief Luft. »Dieser Abschied hat mich verfolgt, selbst nachts in meinen Träumen. Wer weiß besser als wir, wohin der Ehrgeiz uns führen kann. Der Ehrgeiz will mehr und mehr und kann nie genug bekommen. Da habe ich mich gefragt, welche Träume ich eigentlich habe. Und mit einem Mal, über Nacht, wusste ich, dass ich aufhören musste. Wie immer im Leben ergab sich zeitgleich zu meiner inneren Läuterung auch etwas von außen. Toni gab sein Sportgeschäft auf, in dem meine Mutter immer schon ausgeholfen hat. Tja, und da stand für mich fest, ich will leben. Endlich einmal richtig leben mit allem, was dazugehört.«

Daniel beendete seine Geschichte mit dem Lächeln, das an diesem Abend für sie die Sonne noch einmal aufgehen ließ.

Sie trank einen Schluck Bier. Dann fragte sie mutig: »Und was gehört dazu? Ich meine, um richtig zu leben?«

Er legte die Unterarme auf den Tisch, verschränkte die Finger ineinander und beugte sich vor.

»Was für mich dazugehört?« Sein Blick fesselte ihren.

»Ja, für dich.«

»Eine Frau, die ich liebe und begehre und die mich liebt und begehrt. Kinder, vielleicht zwei oder drei, ein schönes Zuhause, ein Hund oder zwei, ein Beruf natürlich, der die Familie ernähren kann. Ich bin jemand, der Sicherheit braucht. Frieden und Harmonie.«

Sie schluckte. Das klang wie das Paradies auf Erden. Und genau diese Antwort gab sie Daniel auch.

»Ja, wir sind hier, um glücklich zu sein, nicht um dem Erfolg nachzujagen«, erwiderte er ernst mit seinem eindringlichem Blick. »Die Menschen, die glauben, dass Erfolg glücklich macht, werden immer einsam sein, sie jagen nur sich selbst. Glücklich sein und einen anderen glücklich machen, das gibt die innere Zufriedenheit, nach der eigentlich alle suchen.«

*

Das Gespräch der beiden fiel wieder in eine leichtere Gangart, nachdem die Kellnerin den Schwarzwälderkirsch gebracht hatte.

Daniel konnte wieder etwas zur Entstehungsgeschichte dieser weltberühmten Torte erzählen. Sie lachten, ja, sie alberten herum und ließen es sich schmecken. Auch Nicole, was Daniel unkommentiert, aber erfreut feststellte. Beide fühlten sich wohl in der Gegenwart des anderen. Sie waren sich ein Stück nähergekommen, nicht ihre Körper, aber ihre Herzen.

Weit nach Mitternacht, der Biergarten hatte sich bis auf eine lustige Gruppe schon geleert, verabschiedeten sie sich auf dem Parkplatz. Sie reichten sich die Hände, gleichzeitig. Lange ließen sie sie ineinander liegen, als wollten sie sich gegenseitig etwas versprechen.

»Morgen ist Sonntag. Hast du Lust auf einen Ausflug mit mir?«, fragte Daniel schließlich.

»Ja, sehr gern. Wohin soll es denn gehen?«

»Da du deine Füße schonen musst, dachte ich an eine Bootsfahrt. Was hältst du davon, wenn wir uns den Schwarzwald vom Wasser aus ansehen?«

»Einverstanden.«

»Ich hole dich ab. Okay?«

Sie nickte.

»Elf Uhr am Vormittag?«

Wieder konnte sie nur nicken. Ihre Stimme hätte in diesem Augenblick bestimmt verraten, dass ihr vor Freude die Tränen kamen.

Sie traten ein paar Schritte zurück. Aus der Gefahrenzone. Beide mussten all ihre Willenskraft aufbringen, um nicht einfach wieder aufeinander zuzugehen und sich zu berühren. Und auf dem Rückweg flammte in Nicole zum ersten Mal die Sehnsucht nach einem normalen Leben auf. Nach einer Beziehung, nach Zärtlichkeit, Abenden zu Zweit, nach einem Leben mit Mann und Kindern. Und dieser Mann sollte die gleiche Stärke, Lebenslust und Sinnlichkeit ausstrahlen wie Daniel.

Als sie schließlich im Bett lag, die laue würzige Nachluft ihr Gesicht streichelte, ahnte sie, dass sie sich verliebt hatte. Sie wollte es sich nur noch nicht eingestehen. Denn wie sollte sie dieses Gefühl mit ihrem bisherigen Leben vereinbaren?

*

Wie jeden Morgen begann Nicole den Tag mit Kaffee und einem Vitamindrink. Doch schon eine halbe Stunde später verspürte sie Hunger. Das kannte sie nicht. Natürlich nicht, denn in ihrem normalen Leben stand sie zu dieser Zeit schon im Studio und probte. Jetzt jedoch betrachtete sie sich im Spiegel. Sie hatte Farbe bekommen. Ihr Haar war durch die Sonne noch heller geworden. Ja, sie gefiel sich in der beigefarbenen Hose und der weißen Bluse. Sie fühlte sich jetzt sogar schon ein bisschen erholt. Wie konnte das sein? Natürlich schmerzte ihr Körper noch, an der Hüfte, dem Rücken, den Knien, den Füßen, aber in ihrem Innern war ein Licht, das ihre Seele erhellte.

Sie lächelte sich zu.

Merkwürdig. Gleich würde Daniel sie abholen. Bei dem Gedanken an den vergangenen Abend begann ihr Herz sofort, schneller zu schlagen. Vor Aufregung bekam sie feuchte Hände. Hatte dieses Licht in ihr vielleicht einen Namen? Vielleicht Daniel?

Sie packte ihren kleinen Rucksack und setzte sich auf die Bank vors Haus. Mit geschlossenen Lidern hielt sie ihr Gesicht der Sonne entgegen. Sie atmete die klare Luft tief ein, spürte den lauen Wind wie ein zärtliches Streicheln auf ihren Wangen. Und plötzlich stellte sie sich vor, wie es wäre, hier zu leben. Inmitten der beschaulichen Ruhe dieser wunderschönen Gegend, inmitten der Natur mit all ihren betörenden Düften.

Verwirrt über diese Vorstellung, öffnete sie ganz schnell die Augen.

Was sollte sie hier tun? Daniel hatte durch einen glücklichen Zufall das Sportgeschäft übernehmen können. Viele ehemalige Tänzerinnen eröffneten ein Ballettstudio. Nein, niemals, sagte sie sich. Falls sie jemals ihren Beruf aufgeben würde, wollte sie nichts mehr mit dem Ballett zu tun haben – und schon einmal gar nicht dazu beitragen, Mädchen an diesen harten Sport heranzuführen.

Daniels Geländewagen lenkte sie von diesen Gedanken ab, die ihr Unbehagen verursachten, weil sie so neu, so ungewohnt waren. Und obendrein völlig unrealistisch. In drei Wochen würde sie wieder auf der Bühne stehen müssen.

Sie erkannte sein Auto auf den ersten Blick, als es durch die blühenden Wiesen auf das kleine Haus zufuhr. Daniel sprang heraus. In Jeans, hellblauem Sporthemd und mit noch feuchtem Haar. Gut schaute er aus. Mit kraftvollen Schritten kam er auf sie zu. Wieder mit dem durchdringenden Blick aus seinen braunen Augen. Und wieder mit diesem besonderen Lächeln. Sie hielt den Atem an und dachte, dass dieser Mann niemals zu lächeln aufhören dürfte.

»Grüß dich.«

»Grüß dich«, erwiderte sie.

Während sie sich ansahen, durchströmte sie das Gefühl von Verbundenheit und Nähe zu ihm wie eine warme Welle.

»Geht es dir gut?«

»Ja, es geht mir gut«, sagte sie mit einer Stimme, die leise bebte.

Wer hatte in den vergangenen Jahren danach gefragt, ob es ihr gut ging?

»Dann geht es mir auch gut«, meinte er. »Wollen wir fahren?«

»Ja.« Sie spürte einen Kloß im Hals.

Daniel hatte gerade ihr Herz berührt.

*

Nicole stieg in den Jeep, und Daniel ließ das Verdeck zurück, sodass ihnen der warme Fahrtwind um die Nase wehen konnte.

»Ist es dir zu kühl?« Er sah sie von der Seite an.

»Überhaupt nicht.« Sie lehnte den Kopf an die Stütze und schloss die Augen.

Wie rücksichtsvoll er war!

Sie verließen das Ruhweiler Tal in Richtung Norden. Nicht ein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Felder, Wälder und Bauernhäuser schoben sich in gemächlichem Tempo an ihnen vorbei. Am Wegesrand wuchsen Klatschmohn und Fingerhut. Ringelblumen und Löwenzahn zauberten Farbtupfer in die Wiesen. Der laue Wind strich über das schillernde Gras. Vögel zwitscherten hell und vergnügt, als würden sie sich für die beiden jungen Leute freuen.

Dann ging die Fahrt bergauf, durch einen kühlen Tannenwald. Die kurvenreiche Straße führte sie auf eine Hochebene, auf der Daniel anhielt. Sie stiegen aus.

»Im Herbst wird das Plateau durch das Heidekraut zu einem lilafarbenen dichten Teppich«, erzählte er ihr.

Dabei stand er so dicht neben ihr, dass sie seinen Duft riechen konnte. Der Duft von Zedernholz und frischer Luft. Er passte zu ihm, dem Waldarbeiter.

Die Sicht war einzigartig. Unter ihnen lag ein lang gezogenes Tal, ihnen gegenüber erhoben sich die majestätischen Schwarzwaldberge. Und über ihnen erstreckte sich der unendlich weite, wolkenlose Himmel, zum Greifen nah.

»Nach dem Tod meines Sportkollegen bin ich häufig hier gewesen«, sagte Daniel in ihr Schweigen hinein. »Hier ist mir klar geworden, wie klein und nichtig wir Menschen doch angesichts dieses großartigen Werkes der Natur sind. Die Berge, die Wälder, sie überdauerten Jahrhunderte und wirken in die Ewigkeit fort. Diese Einsicht hat mir auch den Mut gegeben, Schluss zu machen mit dem Sport, etwas anderes zu beginnen. Mut ist ganz wichtig, um etwas Neues anzufangen. Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber.«

Nicole sah ihn von der Seite an. Er blickte hinüber zu den ehrwürdigen Tannen.

Obwohl er nur vier Jahre älter als sie war, verfügte er über eine Weisheit, um die sie ihn beneidete. In diesem Augenblick wusste sie, dass die Frau, mit der Daniel einmal gemeinsam durchs Leben ging, niemals in Situationen kommen würde, in denen sie nicht mehr weiter wissen würde. Tief berührt von dieser Erkenntnis sowie gleichermaßen traurig, dass sie diese Frau nicht sein konnte, sagte sie mit belegter Stimme: »Wo liegt denn der See, den du mir zeigen willst?«

»Dort unten.«

Ihr Blick folgte seinem Arm. Tatsächlich entdeckte sie unterhalb des Hochplateaus eine Mulde inmitten der dunklen Wälder, in der so blitzend wie ein Diamant in der Sonne ein kreisrunder Weiher lag, inmitten einer grünen Wiese.

»Er ist ein Geheimtipp. Ihn kennen nur wenige Leute.«

»Und woher weißt du von ihm?«

»Von meiner Kusine Julia. Sie betreibt mit ihrem Mann Leon und ihrer Großmutter zusammen eine Pension oberhalb von Ruhweiler.« Daniel sah sie aufmunternd an. »Wollen wir?«

Sie nickte.

*

Die Fahrt ging wieder bergab. Durch Wälder, in die die Sonnenstrahlen wie goldene Fäden fielen, durch kleine Dörfer, die nur aus wenigen Bauernhäusern bestanden, und dann bog Daniel von der Landstraße ab in einen schmalen Weg, der zu dem See führte. Er parkte vor der Hütte, deren Veranda aufs Wasser hinausragte.

Nicole atmete tief ein. Die Luft roch nach Moos und Harz.

Sie ließ die Stille um sich herum ein paar Augenblicke lang auf sich wirken. Eine Stille, als würde sich die Welt auf sich selbst besinnen. Dabei beobachtete sie die winzigen Ringe, die die Wasserflöhe in die Wasseroberfläche malten, hörte dem leisen Glucksen zu, spürte die Sonne auf ihrer Haut und sah dem Schwalbenpärchen zu, das am weiten Himmel seine Runden drehte. Am Ufer des Weihers dümpelte ein kleines Boot.

Daniel öffnete die hintere Tür des Jeeps und nahm einen Weidenkorb heraus. Verwundert sah sie ihn an.

»Es ist bereits eingedeckt«, sagte er mit verschmitztem Blick, während er vor ihr her zum See ging.

Das Wasser schimmerte hier unten wie grüne Seide. Auf all den kleinen laufenden Wellen blitzte der Widerschein der Sonne mit tausend gaukelnden Lichtern. Welch eine Idylle!

Daniel half ihr ins Boot. Verblüfft stellte sie fest, dass die Sitzbank mit einer rot-weiß karierten Decke bedeckt war. Unter ihr stand eine Flasche Wein. Mit großen Augen sah sie Daniel an.

»Wer hat das denn gemacht?«

»Julia«, lautete seine Antwort. »Sie war heute in der Früh mit ihrem Mann zum Angeln hier.«

Er stellte den Korb auf den Boden des schwankenden Bootes. »Mal sehen, was wir hier so haben«, meinte er dann munter.

Vorsichtig setzte sie sich im Schneidersitz auf eines der beiden Kissen, die zu beiden Seiten der zum Tisch umgewandelten Sitzbank lagen, und konnte nur noch staunen, als Daniel die Schwarzwälder Spezialitäten auspackte.

»Jetzt sag bloß, dass du das alles gemacht hast.«

»Das wäre allerdings gelogen. Meine Mutter hatte die Idee, nachdem ich ihr von unserem Ausflug erzählt habe.«

Er hatte also seiner Mutter von ihr erzählt. Der Gedanke gefiel ihr.

Sie beobachtete ihn, wie er mit sicherer Hand die Flasche Wein entkorkte und zwei Gläser füllte.

»Danke«, sagte sie leise, während sie ihr Glas entgegennahm.

Sie sahen sich zwei Atemlängen lang in die Augen, bevor sie tranken. Es war ein kostbarer Augenblick. Das spürte sie genau. Ein Augenblick, den sie tief in sich aufbewahren wollte, damit er ihr Herz in dunkleren Zeiten erhellte.

*

Nicole spürte sofort die Wirkung des Alkohols. Oder war es nur die Nähe zu dem Mann, der ihr dieses besondere Geschenk machte?

Daniel gab ihr nun sein Glas und griff nach den Rudern. Mit kräftigen gleichmäßigen Bewegungen fuhr er auf die Mitte des Sees hinaus. Das Wasser war von kristallener Klarheit, sodass man jeden Steinblock und jeden versunkenen knorrigen Ast auf dem Grund erkennen konnte. Bald zog er die Ruder ein und ließ das Boot dümpeln.

»Ich hoffe, du hast auch Hunger«, sagte er.

»Ja, habe ich«, erwiderte sie.

Seinen leuchtenden Blick empfand sie wie ein Dankeschön.

Nun machten sich die beiden über den Speck, das knusprige Brot und den Käse her. Dabei plauderten sie ganz zwanglos daher. Daniel erzählte Nicole unter anderem auch von seiner Kusine, die vor Kurzem ihre große Liebe gefunden hatte. Es war seine ganz eigene Art, die Worte zu formen, sie mit Gesten zu begleiten, die Nicole auch heute wieder in ihren Bann zog.

Nach dem Picknick lehnten sie sich zurück und streckten sie die Beine aus, sodass sich ihre Schuhe unter der Sitzbank in der Mitte berührten. Dabei schaukelte der kleine Kahn langsam hin und her. Wasseramseln haschten nach Insekten, und bunt schillernde Libellen flogen im Zickzackkurs über sie hinweg. Die Ruhe an diesem besonderen Ort, die überwältigende Unendlichkeit des Himmels, die Luft, die so berauschend klar war – Nicole wünschte sich, dies immer genießen zu können. Welch ein Tag! Er war für die Ewigkeit gemacht.

Sie schloss die Augen, sog den Atem des Waldes ein und hörte den Vögeln zu. Eine tiefe Zufriedenheit, wie sie sie noch nie gespürt hatte, breitete sich in ihr aus. Umgeben von der Schönheit der Natur ahnte sie zum ersten Mal eine höhere Macht, die dies alles hier auf Erden lenkte.

Ich brauche nur Mut für eine Veränderung, sinnierte sie. Und Vertrauen in diese Macht.

»Schau mal«, sagte Daniel.

Sie öffnete die Lider.

Das Boot dümpelte jetzt am Ufer. Daniel griff nach einem Farnbüschel, um es in Position zu halten. Sein Finger wies ihrem Blick den Weg.

Da sah sie, zwischen dem Farn herausragend, einen kleinen bräunlich verdorrten Stamm, der sich in drei Äste teilte. Am kleinsten dieser Äste hing ein hellgrünes Blatt. Sie beugte sich aus dem Kahn, streckte die Hand aus, ganz vorsichtig und berührte mit den Fingerspitzen das Blättchen, das sich trotz aller Widerstände und ungünstigen Bedingungen durchgesetzt hatte. Beim genaueren Hinsehen entdeckte sie noch eine zarte Knospe.

Sie sah Daniel an. Sie wusste, was er mit diesem Bild sagen wollte: Es kann immer wieder und überall Neues entstehen.

*

Die beiden merkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Erst als Wind aufkam, ruderte Daniel zum Ufer zurück und machte das Boot fest. Nicole packte alle Sachen zusammen. Sie reichte sie ihm an und stieg aus.