E-Book: 30 - 35 - Christine von Bergen - E-Book

E-Book: 30 - 35 E-Book

Christine von Bergen

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Beschreibung

Diese großartig erzählte, völlig neue und einzigartige Arztromanserie von der beliebten, serienerfahrenen Schriftstellerin Christine von Bergen. Dr. Brunner bewohnt mit seiner geliebten Frau Ulrike und einem Jagdhund namens Lump ein typisches Schwarzwaldhaus, in dem er auch seine Praxis betreibt. Ein Arzt für Leib und Seele. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Arztromanen interessiert: medizinisch hochaktuelle Fälle, menschliche Schicksale, die uns zutiefst bewegen. E-Book 30: Sie tat es aus Neid und Missgunst E-Book 31: Bescheidene Träume E-Book 32: Verdrängte Gefühle E-Book 33: Du sollst es nie erfahren E-Book 34: Von Neid getrieben E-Book 35: Meine zwei geliebten Frauen E-Book 1: Sie tat es aus Neid und Missgunst E-Book 2: Bescheidene Träume E-Book 3: Verdrängte Gefühle E-Book 4: Du sollst es nie erfahren E-Book 5: Von Neid getrieben E-Book 6: Meine zwei geliebten Frauen

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Seitenzahl: 719

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Sie tat es aus Neid und Missgunst

Bescheidene Träume

Verdrängte Gefühle

Du sollst es nie erfahren

Von Neid getrieben

Meine zwei geliebten Frauen

Der Landdoktor – Jubiläumsbox 6 –E-Book: 30 - 35

Christine von Bergen

Sie tat es aus Neid und Missgunst

Hat sie ein Lebensglück zerstört?

Roman von Christine von Bergen

»Guten Morgen«, begrüßte Bernhard Anger die ältere Frau, die wie ein Fels in der Brandung hinter der Rezeption stand. »Mein Name ist Bernhard Anger.«

»Sie sind ein neuer Patient?« Ihre blauen blitzblanken Äuglein schienen ihn geradezu durchleuchten zu wollen.

»Ja.« Bernhard nickte.

Ein zackiges ›Jawoll‹ wäre wohl eher angebracht gewesen, dachte er belustigt.

»Welche Beschwerden haben Sie?« Sie zückte den Stift, der in der Brusttasche ihres Kittels steckte.

»Mein Finger.« Er zeigte ihr seinen linken Zeigefinger, der dick angeschwollen war.

Da veränderte sich die strenge Miene der Sprechstundenhilfe.

»Das sieht nicht gut aus, junger Mann«, meinte sie nun mit warmherzig klingender Stimme.

Sie kann ja richtig nett sein, dachte Bernhard erleichtert.

»Nehmen Sie noch einen Augenblick im Wartezimmer Platz. Der Doktor kümmert sich gleich um Sie.«

»Soll ich in dieser Zeit schon mal meine Personalien aufschreiben?«, fragte er

Da begann das Gesicht der Helferin zu strahlen.

»Endlich mal jemand, der mitdenkt«, lobte sie ihn und drückte ihm den Anamnesebogen samt Kuli in die Hand.

*

Als der Landarzt auf die Wanduhr sah, standen deren Zeiger auf Zwölf. Zufrieden mit dem Verlauf des Vormittags lehnte er sich zurück.

Ende der Sprechstunde. Nach dem Mittagessen würde er mit Ulrike und Lump spazieren gehen. Im Wald konnte er neue Energie für die Nachmittagssprechstunde schöpfen. So hatte er es seiner Frau versprochen. Versonnen lächelte er vor sich hin und stand auf.

Nur einen Atemzug später vernahm er ein Klopfen an der Tür. Schwester Gertrud steckte ihren grauen Schopf ins Sprechzimmer.

»Da ist noch ein neuer Patient.«

Er lachte sie an und scherzte: »Einen Patienten kann ich gerade noch verkraften, ohne zusammenzubrechen. Schicken Sie ihn herein.«

*

Ein paar Sekunden später vernahm Matthias ein festes einmaliges Klopfen. Auf sein »Herein« öffnete sich die Sprechzimmertür, und ein junger Mann füllte den Türrahmen aus.

Breitbeinig stand er da, wie im Boden verankert. Klares Profil, kraftvolle Züge, breite Schultern und ein offenes herzliches Lächeln. Ein Naturbursche.

Er ging auf ihn zu.

»Brunner. Wo drückt denn der Schuh?«

Der junge Mann besaß einen festen Händedruck.

»Bernhard Anger. Guten Tag, Herr Doktor. Nichts Schlimmes, aber etwas Hinderliches. Ein entzündeter Finger, der mich mächtig bei meiner Arbeit stört«, antwortete der neue Patient mit angenehm klingendem Bass.

»Zeigen Sie mal.« Er setzte die Brille auf. »Das sieht tatsächlich nach Schmerzen aus. Dann wollen wir mal schauen …«

Das Nagelbett des Zeigefingers war stark anschwollen und gerötet. Am rechten Rand schimmerte es gelb unter der gespannten Haut.

»Ein ausgewachsenes Panaritium«, murmelte er. »Mit ein bisschen Glück können wir den Nagel erhalten. Aber der Eiter muss raus.«

Sein Patient nickte.

»Ich werde den Finger örtlich betäuben. Dann spüren Sie nichts.«

Eine eitrige Entzündung des Nagelbettes war nichts Gefährliches, konnte jedoch, wenn sie unbehandelt blieb, schwerwiegende Folgen haben.

Während er sich an die Arbeit machte, begann er, mit dem jungen Mann zu plaudern, wie er es stets machte. Eine Unterhaltung lenkte die meisten Patienten von der Behandlung ab.

»Machen Sie Urlaub hier bei uns im Ruhweiler Tal?«, erkundigte er sich, während er zuerst den Finger desinfizierte.

»Ich arbeite hier«, antwortete der junge Mann. »Ich hatte das Glück, in den Semesterferien einen Job bei der Forstbehörde zu bekommen.«

»Was studieren Sie denn?«

Bernhard Anger zuckte kurz unter dem Einstich der Betäubungsspritze zusammen, bevor er antwortete: »Ich will Gartenbauingenieur werden. Bei der Arbeit hier lerne ich, Bäume zu fällen, was mir später durchaus mal zugute kommen kann.«

»Stammen Sie hier aus der Gegend?«, erkundigte sich Matthias, während er die Wirkung der Spritze abwartete.

»Ich komme vom Bodensee, aber mir ist es ganz gleich, wo ich arbeite. Die Forstbehörde hat mich hierhin geschickt als Krankheitsvertretung. Morgen könnte ich schon wieder irgendwo anders sein.«

»Das ist ja interessant. Und wo wohnen Sie in der Zeit?«

Der junge Mann strahlte ihn an. »In einer der Waldarbeiterhütten, die der Forstbehörde gehören. Das gefällt mir. Ich komme mir vor wie im australischen Outback.«

Beide lachten.

»Sonst habe ich meistens in den Semesterferien Jobs zur Park- oder Gartenpflege. Das hat jedoch dieses Mal nicht geklappt, aber hier bei den Waldarbeitern kann ich vieles lernen, was ich auch später im Beruf gebrauchen kann.«

Gartenpflege?, ging Matthias durch den Sinn. Dabei schnitt er vorsichtig das Nagelbett auf, um dem Eiter einen Ausgang zu schaffen.

»Für unseren Garten könnten meine Frau und ich zurzeit auch eine Hilfe brauchen«, meinte er dann. »Bei uns müssten endlich auch ein paar Sträucher und Bäume geschnitten werden.«

»Das habe ich bereits gesehen.« Der Student lachte. »Ich gehe davon aus, dass Sie hier oben auf dem Hügel auch wohnen. Oder?«

»In dem alten Schwarzwaldhaus neben der Miniklinik.«

»Wenn Sie wollen …« Erwartungsvoll sah sein Patient ihn an. »Ich habe um vier Uhr Dienstschluss. Danach hätte ich Zeit.«

»Abgemacht«, sagte Matthias. »Aber erst in ein paar Tagen, wenn der Finger wieder heil ist. Kommen Sie einfach vorbei und klingeln Sie.« Er legte den Verband an. »So, das hätten wir. Ich verschreibe Ihnen noch ein Antibiotikum. Jeden Tag eine Tablette, bis die Packung zu Ende ist.« Dann stand er auf und reichte dem sympathischen jungen Mann die Hand. »Wir sehen uns.«

»Gern.« Bernhard Anger strahlte ihn mit einer Energie in den grauen Augen an, die er als ansteckend empfand.

*

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Ulrike Brunner ihrem Mann sofort zu, nachdem er ihr von seinem neuen Patienten erzählt hatte. »Die Sträucher müssten wirklich geschnitten werden. Und du kommst doch sowieso nicht dazu.« Sie tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Vielleicht könnte der junge Mann uns auch helfen, endlich den Teich anzulegen, den wir schon seit ein paar Monaten im Kopf haben. Was meinst du?«

»Davon versteht er bestimmt etwas als angehender Gartenbauingenieur«, erwiderte Matthias. »Ich denke, dass er sich in drei Tagen bei uns melden wird.« Dann stutzte er. »Wo ist eigentlich Thea?«

Mit dieser Frage gab er seiner Frau das Stichwort dafür, einen lauten Seufzer von sich zu geben.

»Sie ist mit dem Bus nach Freiburg zu Dorothee gefahren«, erwiderte Ulrike mit besorgter Miene. »Ich glaube, es war doch keine so gute Idee von mir, sie einzuladen. Bereits nach den drei Tagen langweilt sie sich schrecklich.«

»Deine Freundin sagte doch, ihre Tochter wäre eine Leseratte und könnte den ganzen Tag ruhig im Sessel sitzen.«

»Ja, im Sessel sitzen, das tut sie auch.« Ulrike lachte. »Ganz besonders, wenn ich in der Küche bin, im Haus oder Garten zu tun habe. Aber bis jetzt habe ich erst einmal für ein paar Minuten ein Buch in ihren Händen entdeckt. Ansonsten hat sie ihren Kopfhörer auf, hört Musik oder sieht sich irgendwelche Filme auf ihrem Tablet an. Den Kopfhörer bräuchte sie jedoch eigentlich gar nicht, denn sie hat den Ton so laut gestellt, dass ich alles verstehen kann, selbst wenn ich in der oberen Etage bin.«

»Theas arme Ohren …«

»Das hat unsere Tochter auch schon gesagt, aber Thea will weder auf mich noch auf Dorothee hören.«

»Vielleicht äußert sie ja bis zum Wochenende den sehnlichen Wunsch, wieder nach Hause zu wollen«, meinte Matthias zwinkernd.

Die Aussicht, mit der siebzehnjährigen gelangweilten Tochter von Ulrikes bester Freundin und lauter Techno-Musik das Wochenende zu verbringen, entsprach nicht ganz seiner Vorstellung von Entspannung. Inzwischen war er in dem Alter, in dem er Ruhe und Gemütlichkeit schätzte.

»Das kannst du vergessen«, antwortete Ulrike und seufzte noch einmal. »Abgesehen davon, dass sie sich langweilt, fühlt sie sich ja pudelwohl hier. Sie entwickelt einen sehr guten Appetit …«

»Noch mehr als bei ihren Eltern?«, unterbrach Matthias sein Lockenköpfle hörbar entsetzt.

Beide lachten. Denn der Teenager kämpfte schon seit ein paar Jahren vergeblich mit ihrem Babyspeck.

»Ich meine, dass sie in den Tagen hier sogar noch etwas zugenommen hat«, sagte Ulrike mit bedrückter Miene. »Ich weiß ja, dass sie unter ihrem Gewicht leidet. Nachdem sie die Modejournale durchgeblättert hat, ist sie stets schlecht gelaunt.«

»Du Arme.«

»Na ja, ich habe mir die Suppe ja selbst eingebrockt. Ich wollte Theresa eine Freude machen und ihr eine Woche stressfreie Zeit schenken. Als sozusagen ›späte‹ Mutter ist sie mit einem Teenager, der natürlich Probleme mit sich selbst hat, völlig überfordert. Ich kenne das ja noch von unseren beiden. Nur dass die Zeiten sich geändert haben. Ich hatte angenommen, Thea würde es Spaß machen, zu schwimmen oder zu reiten oder mit Lump zu spielen, aber alles, was mit Bewegung zu tun hat, gehört nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.«

»Mach doch ein paar Ausflüge mit ihr in die Gegend. In den Erlebnispark zum Beispiel.«

»Das habe ich ihr alles vorgeschlagen, aber sie findet das total uncool. Klar, allein die schöne Landschaft hier lässt eine Siebzehnjährige, die von Partys und der ersten Liebe träumt, natürlich auch nicht gerade in einen Begeisterungstaumel fallen.« Ulrike lachte. »Morgen Nachmittag werde ich mit ihr nach Baden-Baden fahren. Sie möchte zum Friseur. In irgendeiner Zeitschrift hat sie eine Frisur gesehen, die ihr gefällt. Und sie hat sich eine bestimmte Lippenstiftfarbe in den Kopf gesetzt, die sie unbedingt haben muss.«

»Das klingt doch gut«, sagte ihr Mann erleichtert.

»Du weißt, wie ich an Thea hänge. Und sie hat ja auch ihre guten Seiten. Sie ist unheimlich lustig, lebendig und unbeschwert.«

»Wahrscheinlich fühlst du dich in die Zeiten zurückversetzt, als unsere Dorothee noch in Theas Alter war.«

»Na ja, nicht ganz. Dorothee war ein Sonnenschein, sie hatte nie schlechte Laune. Erinnerst du dich nicht mehr? Und von Makeup wollte sie mit siebzehn noch gar nichts wissen.«

»Stimmt. Damals hatte sie nur Pferde im Kopf«, antwortete der Landarzt mit versonnenem Lächeln.

»Pferde hat sie heute immer noch im Kopf, und das sonnige Gemüt hat sie auch behalten«, sagte seine Frau im gleichen zärtlichen Ton. »Nur dass sie heute dann doch Makeup und Lippenstift benutzt.«

»Was sie gar nicht nötig hätte. Unsere Tochter ist eine Naturschönheit«, meinte Matthias voller Stolz. »Das hat sie von dir geerbt.«

Sein Lockenköpfle lachte ihr weiches, melodisch klingendes Lachen.

»Übrigens …«, wechselte sie dann das Thema, »Dorothee und Jan haben Thea fürs Wochenende zu einem Rundflug eingeladen. Darauf freut sie sich natürlich riesig.«

»Und wir beide haben ein paar ruhige Stunden für uns ganz allein«, meinte der Landdoktor mit vielsagendem Blick.« Auch nach über dreißig Jahren Ehe kannten die beiden keine Langeweile miteinander.

*

Festes Schuhwerk, Badesachen, Lesestoff und einen Picknickkorb hatte sie dabei. Also alles, was sie brauchte, um sich einen schönen Tag zu machen, sagte sich Franziska Meinert, als sie die Schwarzwaldberge schon am Horizont vor sich liegen sah. Und am Abend würde sie in irgendeinem kleinen Gasthof essen gehen. Nur blöd, dass ihr der Rachen so wehtat. Wahrscheinlich bekam sie eine Halsentzündung. Aber egal, sie war schließlich nicht wehleidig. Außerdem würde sie diesen Abend lieber krank allein im Auto verbringen als im Speisezimmer ihrer Eltern.

Franziska atmete die würzige Luft, die ihr durch das offene Verdeck um die Nase wehte, tief in sich ein. Super. Sie fühlte sich frei und unabhängig. Der Bodensee lag inzwischen weit hinter ihr. Je höher sie in den Schwarzwald hinauffuhr, desto ruhiger wurde der Verkehr. Vor ihr breitete sich eine herrliche Landschaft aus. Saftige Wiesen, die wie glänzende grüne Teppiche die Hänge bedeckten. Über ihnen, hoch oben im Sonnenlicht, wirkten die Tannenwipfel wie von Honig übergossen. Friedlich, wie unberührt, lagen im Tal einzelne Höfe mit den für diese Gegend so typischen tief gezogenen Schindeldächern in der Klarheit der Mittagssonne.

Die junge Frau hielt am Straßenrand an und stieg aus.

Ruhweiler, der Ort, wo sie so oft in ihrer Kindheit gewesen war. Zwei Jahre lang hatte ihren Eltern dort ein Ferienhaus gehört. Dann hatten sie dieses leider gegen eine Villa auf Mallorca eingetauscht. Lange hatte sie deswegen getrauert. Obwohl sie erst zwölf gewesen war, hatte sie den Unterschied sehr deutlich empfunden. Hier im Ruhweiler Tal die unberührte Natur, ihre Freundschaft mit der Tochter der Bauersleute, der Kontakt mit den Tieren und ihr eigenes Pferd; auf Mallorca dagegen Golfunterricht, affektierte Teenager in ihrem Alter, die viel älter aussahen als sie und auch so taten, und sehr viel Einsamkeit während der Ferien.

Franziska setzte sich auf die Wiese, fühlte das Gras unter ihren Handflächen, roch den herben Geruch der Löwenzahnpflanzen, deren Blüten das strahlende Gelb der Sommersonne am Himmel eingefangen hatten.

Ja, sie war zurückgekommen, zum ersten Mal seit vierzehn Jahren. Warum gerade jetzt? Sie kannte die Antwort nur zu gut: Weil sie sich nach Frieden, Freiheit und Ruhe sehnte, nach einem Ort, wo sie sie selbst sein konnte. Und da war ihr vor ein paar Stunden das Ruhweiler Tal eingefallen.

Sie seufzte. So ein Mist, dachte sie, als sie die Erinnerungen daran, wie dieser Tag begonnen hatte, überfielen.

Am späten Vormittag erst hatte sie die Veranda betreten, in der Hoffnung, ihre Eltern hätten längst gefrühstückt. Falsch gehofft. Und nicht nur das. Dem Gesichtsausdruck der beiden hatten sie entnommen, dass es nun für sie unangenehm werden würde. Sie hatte es sofort gewusst: Jetzt war es wieder so weit, und ihre Eltern würden das leidige Thema anschneiden.

»Da bist du ja, Püppchen …«, flötete ihre Mutter. »Wir sind heute Morgen auch recht spät. Aber so können wir drei wieder einmal so richtig gemütlich zusammen frühstücken. Komm, setz dich, mein Schatz. Du hast doch bestimmt Hunger.«

Der jedoch war ihr bereits binnen des Bruchteils einer Sekunde vergangen. Ihr Magen hatte sich bereits zu einem Knoten verschlungen.

»Ich nehme nur Kaffee«, sagte sie freundlich zu dem Dienstmädchen, verschränkte die Arme vor dem T-Shirt mit dem Logo einer Umweltweltorganisation, was ihren Eltern ein Dorn im Auge war, und sah diese abwartend an. Ihre Mutter wechselte einen bedeutsamen Blick mit ihrem Ehemann, der so viel hieß wie: »Lass mich lieber machen«, woraufhin sich ihr Vater im Sessel zurücklehnte und einen nicht zu deutenden Blick über den Bodensee schickte. Dabei lagen seine großen Hände zu Fäusten geschlossen auf den Sessellehnen. Diese Geste sagte ihr alles: Ihr Vater war dieses Mal entschlossen, es auf eine harte Diskussion ankommen zu lassen.

»Hör zu, Liebes«, begann ihre Mutter in liebevollem Ton. »Wir bekommen heute Abend Gäste und wären dir sehr dankbar, wenn du auch dabei sein könntest.« Dabei tätschelte sie ihren Arm, wie zur Beruhigung. »Du bringst immer so viel Frische, so viel Lebendigkeit in eine Runde …«

»Mutter hat Cornelius und seine Eltern eingeladen«, unterbrach ihr Vater da das Gesäusel in seiner knappen und schmucklosen Art und handelte sich damit jedoch sofort einen tadelnden Blick seiner Frau ein.

Cornelius? Ach, du lieber Himmel, hatte sie da nur gedacht und erst einmal geschwiegen.

»Cornelius ist ein sehr netter, junger Mann, mit tadellosen Manieren und einem umwerfenden Humor«, pries ihre Mutter nun ihren Traumschwiegersohn an. »Außerdem ist er ein fähiger Geschäftsmann, weit gereist und hat immer viel zu erzählen. Ich glaube …«, sie legte ein Kunstpause von drei, vier Sekunden ein, bevor sie mit wissendem Lächeln fortfuhr, » … es könnte heute Abend recht unterhaltsam werden.«

Auch dazu hatte sie noch nichts gesagt, nur mit aufsteigender Wut gedacht, warum ihre Eltern nicht endlich damit aufhörten, sie zu drängen. Auf ihr beharrliches Schweigen hin schluckte ihre Mutter sichtbar nervös, ihr Vater räusperte sich bedeutungsvoll und versuchte noch einmal eine zweiten Vorstoß im Guten.

»Ich finde, Cornelius sieht auch blendend aus, wenn ich das als Mann überhaupt beurteilen kann«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Da endlich brach es aus ihr heraus.

»Genau, Papa, das ist so eine Sache. Ich als Frau sehe das nämlich völlig anders. Cornelius erinnert mich an einen Frosch.«

Daraufhin erstarb ihrer Mutter das verbindliche Lächeln auf den Lippen. In spitzem Ton erwiderte sie: »Bei einem Menschen zählen die inneren Qualitäten, mein Kind. Das sage ich dir schon seit langem.«

In Erinnerung an diese Szene musste Franziska jetzt leise lachen. Mit diesen Worten hatte ihre Frau Mama eindeutig auf ihre bisherigen Freunde angespielt, die zwar alle gut ausgesehen hatten, aber von denen niemand den Anforderungen an den zukünftigen Schwiegersohn ihrer Eltern gerecht geworden war. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst sein wollte, auch nicht ihren eigenen. Ihren Traummann hatte sie halt noch nicht gefunden. Na, und? Sie war doch noch jung und hatte Zeit. Warum sollte sie jetzt eine Vernunftehe eingehen? Sie wollte sich verlieben. Sie wollte leben, lieben und lachen. Bis heute Vormittag hatte sie jedoch vermieden, ihre Eltern vor diese vollendete Tatsache zu stellen. Sie wollte einen Streit vermeiden, hatte darauf gehofft, dass sie von sich aus den Sohn ihrer Bekannten aus dem Golfclub wieder vergessen würden. Doch seit ein paar Minuten hatte sie begriffen, dass diese unangenehme Angelegenheit in ein Stadium getreten war, in dem sie unmissverständlich Stellung beziehen musste. Immerhin konnte sie es sich leisten, ihren Eltern in dieser Sache die Stirn zu bieten. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte sie von ihrer Großmutter eine ansehnliche Summe geerbt, die sie finanziell zumindest für die nächste Zeit weitgehend unabhängig machte. Mit diesem Bewusstsein hatte sie dann auch freundlich gesagt: »Ich weiß, dass ihr nur mein Bestes wollt. Ich weiß auch, dass ihr mich glücklich sehen wollt und ich kann verstehen, dass ihr euch nach Enkelkindern sehnt …«

An dieser Stelle hatte ihr Vater sie in harschem Ton unterbrochen.

»Und nach einem Schwiegersohn, der das Unternehmen weiterführen kann.« Dabei schlug er mit seinen Fäusten auf die Sessellehnen.

Diese Geste war für sie schließlich der Auftakt zum Tanz gewesen. Furchtlos hatte sie ihm in die steingrauen Augen gesehen und erwidert: »Dieser Schwiegersohn wird jedoch nicht Cornelius heißen. Es sei denn, ihr könnt noch irgendeine verschollene Schwester von mir aus dem Ärmel zaubern, die bereit wäre, diesen Frosch zu heiraten.«

So kess hatte sie noch nie mit ihm gesprochen.

»Franziska«, hauchte ihre Mutter. »Wir wollen doch nur …«

»Mein Bestes«, fiel sie ihr ins Wort. »Aber Cornelius ist nicht mein ›Bestes‹. Deshalb schlagt ihn euch endlich aus dem Kopf, zumindest als zukünftigen Ehemann für mich. Ich werde mir den Mann, den ich heiraten werde, selbst aussuchen. Und ich möchte, dass ihr das endlich akzeptiert.«

»Du willst also bei der Wahl deines zukünftigen Mannes keine Rücksicht auf unser Unternehmen nehmen, dass du einmal erben wirst.« Die ohnehin schon tiefe Stimme ihres Vaters schwoll zu einem Grollen an, das einem Donnern gleichkam. »Denk bitte daran, dass ich auch zu Zwangsmaßnahmen greifen könnte.«

»Falls du mir mit Enterbung drohen möchtest, bitteschön«, hatte ihre Antwort gelautet. »Ich möchte lieber arm und glücklich sein als reich und mit Cornelius verheiratet.« Mit diesen Worten war sie aufgestanden.

»Ich bitte dich, Schatz, sei wenigstens heute Abend beim Essen dabei.« Ihre Mutter rang so theatralisch die schmalen beringten Hände, dass sie ein Lachen hatte unterdrücken müssen.

»Ich fahre jetzt in die Uni«, hatte sie nur erwidert und war ins Haus gegangen.

Sie war nicht in die Uni gefahren, sondern saß jetzt hier im Gras mit einem Blick auf Ruhweiler und hatte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Vor Mitternacht würde sie nicht in die elterliche Villa am Bodensee zurückkehren. Es war ein herrlicher Sommertag, den sie allein hier in der Natur verbringen wollte. Schon seit langem hatte sie ins Ruhweiler Tal zurückkommen wollen. Und jetzt war sie da.

Franziska lächelte vor sich hin, atmete ein paar Mal tief ein und erfreute sich an den Geräuschen der Natur um sich herum, den Vogelstimmen, dem Summen und Brummen der Bienen, dem fernen Rauschen der Steinache und dem leisen Wind, der ihr wie eine Melodie vorkam. Jetzt hörte sie eine Motorsäge. Das Geräusch kam aus dem Wald, der rechts von dem Wiesenhügel lag. Obwohl es laut war, fügte es sich ganz natürlich ein. Das Fällen eines Baumes gehörte hier einfach dazu. Und plötzlich war ihr zumute, als ob der Wald, den sie so liebte, nach ihr rief. Sie stand auf und schlenderte auf den Tannengrund zu.

*

Mal sehen, wohin mich dieser Weg führen wird, sagte sie sich voller Neugier und Unternehmungsgeist. Die Luft duftete hier nach den Blumen, die am Wegesrand standen. Brunellen, Seidelbast und Frauenschuh, sie kannte sie alle. Die Hitze in ihrem Körper, die sie als leichte Temperatur deutete, ignorierte sie tunlichst und wanderte flotten Schrittes in den Wald hinein. Über ihr lispelten die geschmeidigen Äste im lauen Wind. Vögel sangen um die Wette. Dazwischen erklang immer wieder das Gekrächze eines Eichelhähers, des Wächters des Waldes, der dessen Bewohner auf die einsame Wanderin aufmerksam machen wollte.

Nach einer Biegung entdeckte Franziska einen Lastwagen mit Anhänger, der quer zum Weg stand. Einige Männer waren damit beschäftigt, Stämme aufzuladen. Als sie näher kam, löste sich ein junger Mann mit dunkelblonden Locken, die ihm verwegen in die Stirn hingen, aus der Gruppe und kam auf sie zu. Ein Mann, der in diese Landschaft passte, den man sich beim Holzhacken vorstellen konnte. Ein gut aussehender Mann. Er schien vor Kraft zu strotzen.

»Grüß dich«, sagte er ganz selbstverständlich.

Sie lächelte ihn an. »Grüß dich«, wiederholte sie seine Worte.

»Hier kannst du nicht weitergehen«, erklärte ihr der Waldarbeiter. »Das wird noch ein paar Stunden dauern. Wir holzen gerade.«

Sie zögerte. »Okay. Dann kehre ich halt wieder um.«

»Wo willst du denn hin?«, erkundigte er sich mit anziehendem Lächeln, ohne aufdringlich zu wirken.

Sie hob die Schultern. »Nur ein bisschen spazieren gehen.«

»Wenn du umkehrst und nach etwa zehn Metern rechts einbiegst, kommst du nach etwa zwanzig Minuten zum Hexenhäusle. Dort kannst du einkehren. Der Kirschkuchen schmeckt da super.«

Sie sah zu ihm hoch und lachte ihn an. »Danke für den Tipp. Also dann …« Verwirrt blieb sie stehen. Denn der Blick aus den blauen Männeraugen hielt ihren fest. Sie las in ihm, wie sehr sie ihrem attraktiven Gegenüber gefiel.

Diese Erkenntnis mochte eine besondere Wärme in das Lächeln der jungen Frau gelegt haben, ließ ihre dunklen Augen strahlen und weckte in ihr wieder alle Lebensgeister.

»Machst du Urlaub hier?«, fragte der Waldarbeiter.

»Ja, so könnte man es nennen«, antwortete sie mit belegter Stimme. Sie fühlte sich befangen, ja, sogar ein wenig unsicher.

»Und? Gefällt es dir hier?«

»Sehr«, antwortete sie mit einer Begeisterung, die sie selbst aus ihrer Stimme heraus hörte.

Ihre Blicke trafen sich. Der Augenblick zog sich in die Länge. Die blauen Männeraugen glitten über ihr Gesicht und schienen sich jede Einzelheit einzuprägen. Sie hörte auf zu atmen. Die Luft flirrte, Sonnenstrahlen tanzten durch die Äste und gaben dieser Situation einen ganz besonderen Zauber. Und dann war es Zu Ende.

»Ich muss weitermachen«, verabschiedete sich der Waldarbeiter und hob die Hand. »Einen schönen Tag noch.«

»Dir auch«, erwiderte sie mit einem Anflug von Bedauern, hob ebenfalls zum Abschied die Rechte, drehte sich um und ging den Weg zurück.

Während sie in Gedanken weiterging, spürte sie deutlich, wie sich ihre Brust weitete, wie sich ihr Herz öffnete. Und sie fühlte sich mit einem Mal innerlich so frei wie die Bergdohlen, die mit elegantem Flügelschlag über den Tannenwipfeln am azurblauen Himmel ihre Kreise zogen. Ganz plötzlich beschlich sie ein ganz eigenartiges Gefühl.

Es war die Vorahnung, dass sie an diesem Tag, hier im Ruhweiler Tal, etwas erleben würde, was ihr Leben fortan in eine andere Richtung lenken würde.

Da spielte ein Lächeln um ihren Mund, und sie dankte ihren Eltern dafür, dass diese für abends Cornelius eingeladen hatten. Ohne diese Einladung wäre sie jetzt nicht hier.

*

Wie verzaubert blieb Bernhard stehen. Er fragte sich, ob er diese kurze Begegnung gerade wirklich erlebt hatte, eine Begegnung, die ihm wie eine Szene aus einem romantischen Heimatfilm vorkam.

Was für Augen, dachte er. Groß und offen blickend und so braun wie die Farbe nasser gesunder Erde. Ein dichter Kranz schwarzer, langer Wimpern rahmte sie ein. Noch nie zuvor hatte er solch wunderschöne Augen gesehen. Tief in ihrem Grund brannte ein Feuer. Und dieses dunkle lange Haar, das ihr Gesicht einrahmte. Glänzendes, aber widerspenstiges Haar, welches dieser zarten Person etwas Wildes verlieh. Sein durch die Fotografie geschultes Auge hatte ihm verraten, dass diese Frau ihre Freiheit und Unabhängigkeit liebte, die Natur und das Abenteuer. Ihr perfekt geschnittenes Gesicht und die noch perfektere Figur, die die enge Jeans und das Shirt preisgaben, hatte er natürlich auch bemerkt. Eines war ihm binnen weniger Augenblicke klar geworden: Er musste sie wiedersehen. Aber wie?

Franziska ging zu ihrem Auto zurück, den Waldarbeiter noch vor ihrem innerem Auge.

Er hatte ihr gefallen. Mehr als das. Auf den ersten Blick. Seine männliche Ausstrahlung, seine ruhige Art, seine klare Gestik, seine schöne tiefe Stimme. Zu dumm, dass sie gesundheitlich ein wenig angeschlagen war, sonst hätte sie wahrscheinlich mehr gesagt, hätte vielleicht sogar einen kleinen Flirt begonnen. Er hatte ihr jedoch deutlich gezeigt, dass er weiterarbeiten musste, was auf ein gesundes Pflichtgefühl hinwies und was ihr gefiel. Schade. Nun gut, da war nichts zu machen. Sie konnte ja schlecht zurückgehen und ihm sagen, dass sie ihn wiedersehen wollte. Wahrscheinlich war er sowieso gebunden. Vielleicht hatte er sogar schon Kinder. Ob er aus Ruhweiler stammte?

Mit diesen Überlegungen fuhr sie weiter. Als sie nach Ruhweiler kam, stellte sie fest, dass sich die Welt hier in den vergangenen Jahren nicht verändert hatte. Die enge Hauptstraße mit ihren kleinen Geschäften, der Konditorei, dem Metzger, der Apotheke und dem Souvenirladen; der Marktplatz, die Kirche, oberhalb von dieser der kleine Friedhof, und dann hatte sie auch schon wieder den idyllischen Ort verlassen. Rechts von ihr lag der Praxishügel. Sie konnte sich noch erinnern, dass sie als Kind ein paar Mal mit ihrer Mutter bei dem Landarzt zur Behandlung gewesen war. Dr. Brunner hatte er geheißen. Und nett war er gewesen.

Sie befand sich jetzt auf einer schmalen Landstraße. Zu beiden Seiten lagen üppig blühende Wiesen. Weiße Margeriten und gelbes Wassergreiskraut wetteiferten hier miteinander, wer wohl die schönste Farbe hatte. Oberhalb der Wiesen lag ein Waldgebiet. Dort gab es einen Weiher, wo sie früher die Enten gefüttert hatte.

Franziska fuhr langsam weiter auf der Straße ihrer Erinnerung, als wäre sie auf der Suche nach etwas ganz Besonderen. Da entdeckte sie ihn. Der kleine See versteckte sich hinter einem Birkenhain. Sie sah ihn durch die silbrig schimmernden Baumstämme hindurch und hielt an. Ja, jetzt fiel es ihr wieder ein. Hier war sie mit der Nachbarstochter oft zum Schwimmen hin geradelt. Sie überlegte. Ihr Wagen war klein und wendig. Vielleicht würde sie es schaffen, direkt bis ans Ufer zu fahren. Dann musste sie ihre Sache nicht tragen. Denn eines stand jetzt für sie fest. Hier wollte sie ein paar Stunden verbringen.

Vorsichtig gab sie Gas und fuhr langsam durch den Birkenhain, immer drauf bedacht, mit dem Auspuff nicht an einer aus dem Boden herausragenden Wurzel hängen zu bleiben. Als sie auf dem Stück Wiese angekommen war, hielt sie an.

Welch ein Bild. Wie ein blauer flacher Teller lag der See vor ihr. Die Sonne malte silberne Streifen auf seine Oberfläche, auf der ein Schwanenpärchen eng aneinander geschmiegt seine Bahn zog. Ein Schilfgürtel säumte das Ufer, und hinter ihm zogen sich die Tannen den Hügel aufwärts.

So weit wie möglich ließ sie ihren Wagen ans Ufer rollen. Dann stieg sie aus, um sich einen geeigneten Platz für ihr Picknick zu suchen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees stand eine Holzhütte. Früher gehörte sie dem Anglerverein aus dem Ruhweiler Tal. Selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass sie fest verschlossen war. Umso besser, so würde sie erst einmal ganz allein hier sein inmitten dieser Idylle.

Zufrieden mit sich selbst, nahm sie ihre Sachen aus dem Auto und ging den schmalen Pfad zum Wasser hinunter, wo es eine kleine Bucht gab, die sie zum Verweilen einzuladen schien. Sie lag der Hütte genau gegenüber. So würde sie alle Besucher im Auge haben.

Sie ließ sich auf der Decke nieder. Und sofort überkam sie die Erleichterung, ein Plätzchen zum Ausruhen gefunden zu haben. Wieder spürte sie ihren Rachen und was noch schlimmer war, ihre eindeutig überhöhte Temperatur. Die Hitze in ihr trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Kurz entschlossen verzog sie sich mit all ihren Sachen ein paar Meter in den Schatten, den das hohe Schilf hier spendete.

Hatte sie sich an diesem Tag mit ihrer Flucht aus der elterlichen Villa zu viel zugemutet? Nachdenklich blickte sie auf den See hinaus. Quatsch, sagte sie sich dann energisch. Ein Mittagsschläfchen und ich fühle mich danach wieder fit.

Rechts und links von ihr wiegte sich das Schilf im lauen Wind. Die Luft fühlte sich sauber und seidig an und mit einem Mal kam eine wohltuende Ruhe über sie. Hier, inmitten der unberührten Natur, fühlte sie sich zu Hause, viel mehr als in den vielen Nobelorten der Welt, die ihre Eltern so gern bereisten. Obwohl sie hungrig war, lockte das Wasser sie so sehr, dass sie sich ohne lange zu überlegen auszog. Dann ging sie in die Hocke und schöpfte mit beiden Händen das kühle Nass, um die Hitze in ihrem Kopf zu löschen. Sie genoss das frische Gefühl auf ihrer heißen Haut, ließ das Wasser über Gesicht und Arme rinnen. Wie kleine Perlen glitzerten die Tropfen. Schließlich watete sie in den See hinein. Schritt für Schritt. Dabei beobachtete sie fasziniert, wie die in Regenbogenfarben schillernden Fische auf dem Grund in alle Richtungen auseinander schwärmten. Die silberfarbenen Wellen umtanzten ihren Körper. Als sie bis zur Taille im Wasser stand, legte sie sich auf den Rücken und ließ sich mit ruhigen Bewegungen treiben. Sie schaute dabei in den sommerblauen weiten Himmel über sich und fühlte sich wie Eva im Paradies.

*

Nach dem Schwimmen aß sie eines von den Sandwichs, die sie an einer Tankstelle gekauft hatte, und schlief vor Erschöpfung ein. Zwischendurch wachte sie immer wieder kurz auf, aber da sie kein ängstlicher Mensch war, ließ sie sich vom Schlaf und der Schwäche, die sie nun auch in den Gelenken spürte, erneut davontragen. Als sie aufwachte, senkte sich langsam die Dämmerung über den See. Ein mattes Zwielicht überzog alle Konturen mit einem silbrigen Schimmer, das die Schatten zwischen den Bäumen aussehen ließ wie graue Schleier.

Sie sah auf ihre Uhr und erschrak, darüber, dass es schon so spät war. Sie fühlte sich jedoch jetzt spürbar besser. Die Luft hatte sich abgekühlt und roch nach feuchtem Gras und frisch geschlagenem Holz. Rasch packte sie ihre Sachen zusammen und ging zu ihrem Wagen. Dort aß sie noch ein Sandwich und beschloss dabei, auf dem Nachhauseweg zu trödeln. Dann würde sie wahrscheinlich gerade richtig zu der Zeit eintreffen, wenn sich Cornelius und seine Eltern verabschieden würde. Oder, was noch besser sein würde, sie würden bereits weg sein.

Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, startete den Motor und gab Gas. Viel zu viel, wie sie dann feststellen musste, denn ihre Hinterreifen drehten auf der feuchten Erde durch.

Sie räusperte sich energisch und trat noch einmal aufs Pedal. Dieses Mal weniger stürmisch. Ihr Auto bewegte sich jedoch keinen Zentimeter vorwärts. Seine hinteren Räder mahlten stattdessen im Boden und gruben sich immer mehr hinein.

Ich hätte lieber am Straßenrand parken sollen, sagte sie sich schuldbewusst. Was nun?

Sie versuchte es noch einmal. Und noch einmal.

»So ein Mist«, schimpfte sie vor sich hin. Doch alles Schimpfen half nichts. Sie saß rettungslos fest. Jetzt gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder musste sie im Auto bleiben und im Wald übernachten in der Hoffnung, dass am Morgen irgendwelche Leute vorbeikamen. Angler, Jäger oder so Naturhungrige wie sie, die ihr helfen würden, den Wagen aus dem Schlamm zu befreien. Die zweite Möglichkeit war, ihn abzuschließen, sich zu Fuß auf den Weg zurück nach Ruhweiler zu machen, dort ein Zimmer zu nehmen und auf den nächsten Tag zu warten. Die Vorstellung, die Nacht allein hier am Seeufer zu verbringen, erschien ihr plötzlich nicht so besonders prickelnd. Aber auch die, den teuren Wagen allein hier zurück zu lassen, behagte ihr nicht sonderlich. Was wäre, wenn er am nächsten Tag nicht mehr da sein würde? Dann würde es Ärger im Hause Meinert geben.

Bei geöffneter Wagentür blieb sie auf dem Fahrersitz sitzen und grübelte vor sich hin. Nie wäre sie darauf kommen, dass ihr so etwas einmal passieren könnte. Und dann noch so weit weg von ihrem Zuhause.

Was mache ich jetzt nur?, überlegte sie fieberhaft.

Von Zeit zu Zeit probierte sie immer wieder, den Wagen zu bewegen, aber der Motor jaulte nur empört auf. Danach war es dann wieder ganz still am See. Und Franziskas Ratlosigkeit wurde noch ein bisschen größer.

*

Kein Wölkchen trübte den fast schon unwirklich blauen Himmel. Überhaupt schienen alle Farben leuchtender und intensiver als am Vorabend. Das satte Grün der Wiesen, das Gold der im sanften Wind wogenden Weizenfelder und das Rot des Klatschmohns, der am Wegesrand blühte, blendeten geradezu Bernhards Augen. Die Landschaft veränderte sich ständig, was ihn als Hobbyfotografen faszinierte. Im Augenblick führte die Straße durch einen von der Sonne durchfluteten Birkenwald. Helle Lichtpunkte flirrten auf dem Asphalt.

Er konnte sich nicht satt sehen, obwohl er bereits zwei Stunden durch die Gegend gefahren war und fotografiert hatte. Er suchte nach einem ganz besonderen Motiv. Etwa das Konterfei dieser bildhübschen Frau, die er am Mittag im Wald getroffen hatte?

Ich bin verrückt, sagte er sich. Er hatte sogar, bevor er zu seiner Fotosafari aufgebrochen war, in Ruhweiler einen Kaffee getrunken, in der Hoffnung, ihr auf der Hauptstraße zu begegnen. Pech gehabt. Und um diese Uhrzeit würde sie wahrscheinlich längst in ihrem Hotel oder in irgendeiner Pension sein und zu Abend essen. Zu dumm, dass er noch nicht einmal ihr Auto gesehen hatte. In dem kleinen Tal hätte sich eine Suche nach einem bestimmten Wagentyp bestimmt gelohnt, zu später Stunde, wenn die Urlauber von ihren Wanderungen zurück waren. Nun gut, morgen war ja auch noch ein Tag. Noch ein paar Fotos und dann würde auch er zu seiner Waldarbeiterhütte zurückfahren. Sein Zeigefinger schmerzte.

Jetzt fiel bereits die Dämmerung über das Tal. Im Zwielicht wirkten die bizarr gewachsene Stämme am Wegesrand besonders interessant. Kurz entschlossen hielt er an und fotografierte sie aus mehreren Blickwindeln. Er wollte schon wieder in den Wagen steigen, als er ein Geräusch wahrnahm, das nicht in die Geräusche der Natur gehörte. Ein Motor jaulte auf. So, als würde jemand aufs Gas treten, um von der Stelle zu kommen.

Er hob den Kopf und lauschte. Es kam aus der Richtung, wo der Birkenwald lag, und klang zu ihm hinüber wie ein verzweifelter Schrei.

*

Franziska saß immer noch bei offen stehender Tür in ihrem Auto und starrte ratlos vor sich hin. Da glaubte sie, eine Bewegung im Schilf zu sehen. Sie zuckte zusammen. Und tatsächlich entdeckte sie ein paar Sekunden später den Kopf eines Mannes. Der Fremde bahnte sich durch das hohe Gras den Weg auf sie zu. Jetzt tauchte seine ganze Gestalt auf. Eine beeindruckende große Gestalt. Leider war es schon so dämmrig, dass sie nur die Umrisse des Spaziergängers erkennen konnte. Der Mann blieb stehen und schien genauso verblüfft zu sein wie sie. Um den Hals trug er eine Kamera, was sie ein wenig beruhigte. Er hatte also einen triftigen Grund, um diese Uhrzeit noch durch den Wald zu streunen. Er war auf Motivsuche.

Oder ein Krimineller, der sich hier versteckt hält?, flüsterte ihr eine innere Stimme zu.

Unsinn.

Sie schluckte, stieg aus und winkte dem Fremden zu, der immer noch zu ihr herüber blickte.

»Hallo!«, rief sie ihm zu. »Können Sie mir helfen? Mein Wagen ist im Morast stecken geblieben.«

Der Mann kam näher. Jetzt konnte sie erkennen, wie attraktiv er war. Sogar umwerfend attraktiv. Viel zu gut aussehend für einen Verbrecher, sagte sie sich und entspannte sich. Sie begann zu lächeln, denn jetzt erkannte sie den Fotografen.

*

Im scheidenden Licht des Tages entdeckte Bernhard zuerst das Auto am Seeufer, das keine Räder zu haben schien. Seine Karosserie lag auf der Wiese. Als nächstes sah er die Frau, die aus ihm heraus stieg, und er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Und dann hätte er am liebsten einen Jauchzer ausgestoßen. Er hatte sie gefunden. Langsam ging er auf sie zu. Als er vor ihr stand, leuchteten ihre dunklen Augen ihm wie im Fieber entgegen. Er las Erleichterung in ihnen, und Freude.

»Das ist ja ein Zufall«, sagte sie mit ihrer weich klingenden Stimme. »Und ich habe schon befürchtet, ich müsste die Nacht hier verbringen.«

»Hey.« Er sah sie an und musste lachen, obwohl die Situation alles andere als zum Lachen war.

Auf den ersten Blick hatte er erkannt, dass ihr Auto nicht so einfach aus dem Morast zu befreien sein würde. Aber im Moment zählte für ihn nur eines: Sie standen sich gegenüber, und er verfiel ihrer besonderen weiblichen Ausstrahlung augenblicklich wieder genauso wie am Mittag im Wald. Um sich seine unbändige Freude nicht anmerken zu lassen, sagte er: »Das war aber ziemlich leichtsinnig von dir, bis hier ans Ufer heran zu fahren.«

Gleich darauf schalt er sich wegen seiner Bemerkung, die in seinen Ohren ziemlich schulmeisterisch klang.

»Ich weiß«, gab die schöne Fremde mit kläglichem Lächeln zu. »Ich habe es längst bereut. Das kannst du mir glauben.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Aber nun ist es passiert. Kannst du mir hier wieder heraus helfen?«

»Ich muss mir erst einmal ein Bild von der Lage machen«, antwortete er.

Das stimmte nur halbwegs. Er wollte auch Zeit gewinnen, um sich innerlich zu sammeln. Die Tatsache, dass er der Frau, an die er den ganzen Nachmittag über gedacht hatte, gegenüber stand, bescherte ihm eine innere Unruhe, die er sonst nicht von sich kannte.

War das Zufall oder Schicksal?, fragte er sich, während er um ihr Auto herumging.

Das blieb noch abzuwarten. Je nachdem, was aus dieser Begegnung wird, gab er sich selbst zur Antwort. Laut sagte er: »Das sieht gar nicht gut aus. Gibst du mir den Zündschlüssel? Ich kann es ja noch mal versuchen, obwohl ich kaum glaube, dass es mir gelingt. Manchmal jedoch liegt es an der Art und Weise, wie man Gas gibt.«

»Der Schlüssel steckt.« Mit zerknirschter Miene, die sie nur noch anziehender für ihn machte, sah sie zu ihm hoch.

Er setzte sich hinters Steuer und startete den Motor. Doch der gab jetzt nur noch einen müden Ton von sich, der bald darauf gänzlich erstarb.

»Das war eben noch nicht«, rief die schöne Schwarzhaarige besorgt aus.

Ein Blick auf die Tankanzeige klärte das Problem. Er musste lachen. Auch das noch.

»Du hast kein Benzin mehr. Wahrscheinlich war der Tank sowieso schon fast leer und den Rest hast du durch dein Befreiungsmanöver verbraucht.«

»O nein.« Mit beiden Händen griff sie sich an die Stirn. Dann lachte sie auch. »Sag jetzt bitte nicht, das sei typisch Frau.«

»Ich werde mich hüten.« Er grinste und zwinkerte ihr zu. »Hast du einen Reservekanister an Bord? Einen gefüllten, meine ich.«

»Weder noch, nur einen gut gefüllten Picknickkorb.«

Humor hatte sie, das gefiel ihm.

»Dann sind wir ja fürs Erste versorgt«, scherzte er, wurde dann jedoch wieder ernst und sagte entschlossen: »Da hilft nur noch ein Traktor, der den Wagen aus dem Schlamm befreit.«

»Um diese Uhrzeit?«

»Ich kann meinen Wagen holen«, murmelte er. »Er steht an der Straße. Allerdings glaube ich nicht, dass er die Kraft hat, deinen hier herauszuziehen. Die Räder wirken ja wie eingegraben.

»Und jetzt?«, fragte sie verzagt.

Darauf hatte er, obwohl er eigentlich mit beiden Beinen im Leben stand, auch noch keine befriedigende Antwort.

»Ich habe Durst«, erwiderte er, nur um etwas zu sagen.

»Und ich Hunger«, fügte sie hinzu.

Er bekam den Eindruck, dass sie die Situation nicht allzu sehr aus der Bahn warf. Im Gegenteil. Ihr Lächeln wirkte belustigt, als sie ihm jetzt die Hand reichte: »Franziska.«

»Bernhard.«

»Na, dann wollen wir mal sehen, was ich dir so zum Abendessen bieten kann. Hast du auch Hunger?« Mit blitzenden Augen sah sie ihn an.

»Den habe ich«, bestätigte er ihr, obwohl er auch die nächsten Tage gehungert hätte, nur um diese Frau näher kennen zu lernen. Aber ein Picknick an diesem idyllischen Plätzchen unterm Sternenzelt war noch besser.

*

Da saß Franziska nun kurz vor Mitternacht an dem einsamen See neben einem jungen Mann namens Bernhard im Gras. Hätte sie diese Szene in einem Film gesehen, hätte sie gesagt: »Das ist doch völlig unglaubwürdig. Keine Frau würde mit einem ihr völlig unbekannten Mann in einsamer Natur eine Nacht verbringen.« Und doch war es so. Das Leben war manchmal sehr viel unrealistischer als die Fantasie der Drehbuchautoren. Darüber hinaus fühlte sie sich in dieser ungewöhnlichen Situation sogar auch noch pudelwohl. Sie ließ sich ihr Käsesandwich schmecken, so wie Bernhard das Schinkensandwich, und beide blickten sie über den See hinaus, den der Mond am Himmel zur silbernen Scheibe verzauberte. Die abertausend Sterne tauchten die Nacht in ein geheimnisvolles Licht.

Hin und wieder warf sie Bernhard einen versteckten Blick zu.

Wie sonderbar, dachte sie verwirrt. Wir reden kaum ein Wort miteinander, und trotzdem fühle ich mich wohl in seiner Nähe. Im Gegenteil, mir ist vielmehr zumute, als wäre er mir bereits total vertraut.

Als hätte Bernhard ihre Gedanken empfangen, sagte er in ihr Schweigen hinein: »Ich bin nicht der große Entertainer. Ich hoffe, das Schweigen ist dir nicht unangenehm.«

»Man muss doch nicht immer reden«, antwortete sie leise. »Hier so still zu sitzen und die Natur zu genießen … Das ist wunderschön.«

Mit undefinierbarem Ausdruck in den tiefblauen Augen sah er sie an. Dann sagte er: »Frauen, die so denken wie du, sind selten.« Er blickte sich mit versonnener Miene um. »Was mich angeht, ich glaube, ich würde an Körper und Seele krank werden, wenn ich mich nicht mehr in der Natur aufhalten könnte.«

»Kommst du von hier?«

»Nein. Ich stamme vom Bodensee.«

»Echt? Ich auch. Aus Lindau.«

»Ich vom anderen Ende des Sees. Zurzeit jobbe ich hier.«

Sie schwiegen wieder eine Weile.

Franziska liebte das Abenteuer. Und keiner hätte behaupten können, dass eine solche Situation alltäglich und langweilig gewesen wäre. Nur einer der vielen Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, flog ganz kurz zu ihrem Elternhaus. Sie wusste, dass ihre Eltern auf sie böse sein würden, weil sie an dem wichtigen Essen nicht teilgenommen hatte. Aber darum konnte sie sich auch morgen noch kümmern. Heute Nacht zählte nur das Hier und Jetzt.

»Wie lange bist du denn noch hier in Urlaub?«, fragte Bernhard in die Stille zwischen ihnen hinein.

»Bis morgen früh.«

»Und wie lange warst du hier?«

»Seit heute.«

Auf seiner gebräunten Stirn bildete sich eine Falte. »Nur einen Tag?«

»Ich wollte einen Ausflug machen.«

»Allein?« Er klang skeptisch.

Sie nickte. »Ich war unheimlich wütend und stand ziemlich unter Druck«, erzählte sie ihm nun.

»Wütend?« Sein erstaunter Blick wanderte über ihr Gesicht.

»Auf meine Eltern.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Weil sie mich verkuppeln wollen. Mit einem Sohn aus reichem Haus, dessen Eltern sie aus dem Golfclub kennen.«

Sein Blick hielt ihren fest. Deutlich las sie das Misstrauen in ihm.

»Dann sind deine Eltern also reich?«, fragte er rau.

*

Bernhard hatte sich das schon fast gedacht. Franziskas luxuriöses Cabrio ließ darauf schließen. Er war sich natürlich nicht sicher gewesen. Sie hätte sich das Auto ja auch ausgeliehen haben können, was ihm viel lieber gewesen wäre.

Das fehlt mir gerade noch, dachte er nun völlig ernüchtert. Dass ich mittelloser Student aus mittellosem Elternhaus mich in eine Tochter reicher Eltern verliebe.

»Na ja, sie sind nicht arm«, sagte Franziska.

Ihre Antwort war maßlos untertrieben, aber sie wollte auf keinen Fall, dass Bernhard wusste, wer sie war. Sie hatte schon einige Männer kennen gelernt, die sich mehr in ihre Herkunft als in sie selbst verliebt hatten, wie sie schnell festgestellt hatte.

»Aber ich lasse mich nicht zwingen, einen ungeliebten Mann zu heiraten«, fuhr sie mit Nachdruck in der Stimme hinzu. »Eine Vernunftehe ist für mich völlig ausgeschlossen.«

»Das gefällt mir«, antwortete Bernhard spontan. »Wir leben schließlich nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert.«

»Genau.«

»Ich kann mir jedoch vorstellen, dass diese Situation für dich ziemlich schwierig ist. Einerseits willst du es wahrscheinlich nicht zum Bruch mit deinen Eltern kommen lassen, und andererseits kannst du dich auch nicht ihren Forderungen beugen.«

»So ist es.« Sie seufzte.

Ein paar Augenblicke lang schwiegen die beiden wieder. Vielleicht auch, weil sie weder wussten, wo sie anfangen sollten, noch, wie es weitergehen würde. Sie spürten nur, wie sich die erotische Spannung zwischen ihnen steigerte, wie die Funken zwischen ihnen sprühten, wenn ihre Blicke sich berührten.

Franziska fühlte instinktiv, dass dieser Mann, von dem sie nur den Vornamen kannte, aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie sie selbst. Nie zuvor hatte sie so intensiv die Nähe zu einem anderen Menschen gespürt wie in diesem Moment.

Sie räusperte sich, weil sie glaubte, Bernhards tiefen Blick nicht länger aushalten zu können.

»Hast du Fotos gemacht?« fragte sie und zeigte dabei auf seine Kamera.

»Nach Dienstschluss.«

»Dann bist du also Fotograf?«

»Nur Hobbyfotograf. Ich studiere noch. Gartenbauarchitektur.«

Franziska wagte noch einmal einen Blick in seine blauen Augen. »Das ist ein schöner Beruf«, meinte sie dann lächelnd. »So kannst du immer in der Natur sein.«

»Und was machst du?«, erkundigte sich Bernhard.

»Ich studiere Betriebswirtschaft.«

»Das klingt ja total begeistert.«

Sie stieß die Luft scharf durch die Nase aus. »Meinen Eltern zuliebe. Aber am liebsten würde ich das Studium hinwerfen. Ich werde sowieso nie das … die Firma meines Vaters übernehmen. Ich habe nämlich keine Lust dazu.«

»Was würdest du denn stattdessen lieber machen?« Er sah sie forschend an.

»Ein ganz normales Leben führen. Vielleicht mit einem Ehemann, ein oder zwei Kindern und einem Hund in einem ganz normalen Haus irgendwo auf dem Land.«

Bernhard schwieg. Das war auch sein Lebenstraum. Doch er hatte Hemmungen, ihn ihr anzuvertrauen.

»Darf ich dich fotografieren?«, fragte er nach ein paar Sekunden.

»Mich?« Sichtbar verlegen fuhr sie sich mit beiden Händen durch die Locken. »Aber es ist doch dunkel.«

»Mit dieser Kamera kann ich gute Nachtaufnahmen machen.«

Und da sprang er auch schon auf, zückte seine Kamera, und tanzte in den folgenden Minuten um Franziska herum, gab ihr Anweisungen, den Kopf etwas zu neigen, zu drehen oder zu senken.

Sie tat, wie er ihr sagte. Dabei fühlte sie sich wie in Trance, ließ geschehen, dass er seine Hand unter ihr Kinn legte, es anhob, und versuchte, das sonderbare Verlangen, das sie tief im Inneren erfüllte, tunlichst zu ignorieren. Schließlich packte Bernhard seine Kamera wieder ein. Er blieb vor Franziska stehen und sah sie lange an. Dann reichte er ihr die Hand und zog sie hoch.

»Weißt du, dass du wunderschön bist?«, fragte er ernst.

Ihre Blicke verfingen sich wieder, hielten sich fest. Franziska vergaß zu atmen, vergaß für ein paar Augenblicke völlig, wer sie war. Bernhards Nähe machte alles andere unwichtig. Ihm schien es genauso zu ergehen. Sie las es in seinen Augen.

Sie schwiegen, die Blicke ineinander versunken, beide mit einem Lächeln auf den Lippen. Franziska wurde innerlich warm, nein, glühend heiß. Die Luft zwischen ihnen verdichtete sich, und die Spannung steigerte sich bis ins schier Unerträgliche. Franziska wusste, dass sie jetzt etwas tun musste. Sie musste die Situation entspannen, um nicht laut aufzuschreien.

»Ich …«, sagte sie ohne zu überlegen.

Da legte Bernhard ihr den Zeigefinger auf die Lippen.

»Pscht«, flüsterte er. »Sag jetzt nichts.«

Er nahm ihre Hand, küsste zuerst ihren Handrücken, dann drehte er sie um und presste seine Lippen auf die Stelle, unter der ihr Blut pulsierte. Von dort aus wanderten seine Lippen die Innenseite ihres Armes hinauf, bis zu dem Ärmel ihres T-Shirts.

Franziska wich nicht zurück und wehrte sich nicht. Völlig verzaubert wartete sie einfach ab, was Bernhard als nächstes tun würde.

Er ließ sie nicht lange warten, sondern nahm ihr Gesicht wie ein kostbares Juwel in beide Hände. Sein Mund war an ihren Schläfen, glitt über ihre Wangen zu ihren Lippen. Liebevoll, sanft, voller Zärtlichkeit. Sie schloss die Augen. Sie wollte nicht denken, nicht sprechen, sie wollte nicht aufwachen aus diesem wunderschönen erregenden Traum. Nur diese Augenblicke zählten, die sie in den Armen des Mannes verbrachte, von dem sie nur wusste, dass er Bernhard hieß und Student war. Am liebsten hätte sie die Zeit angehalten, für immer diese prickelnde und zugleich vertraute Nähe gespürt, seine Hände, seine Lippen, seine Zärtlichkeit, in dem Wissen, dass so alles gut und richtig war. Und als seine Küsse leidenschaftlicher wurden, erwiderte sie sie. Zwischen ihnen brandete ein Orkan der Leidenschaft auf, wie ihn beide noch nie zuvor in ihrem Leben erlebt hatten.

*

Irgendwann wurden sie beide müde. Sie kletterten auf die Rückbank von Franziskas Auto, schmiegten sich eng aneinander und deckten sich mit der Picknickdecke zu. Dann schlummerten sie ein. So verging die warme Sommernacht, die ihnen diese ungewöhnliche Begegnung beschert hatte. In der Früh gelang es Bernhard, sich leise aus dem Wagen zu stehlen und den Reservekanister aus seinem Auto zu holen. Franziska schlief tief und entspannt. Er war sich sicher, dass er sie noch genauso vorfinden würde, wenn er zurückkam. Und so war es auch. Als er sie weckte, sah sie ihn verblüfft an.

»Du warst fort?«, murmelte sie noch verschlafen.

»Ich habe nur Benzin geholt. Wir sammeln Holz, legen es unter die Vorderräder und machen einen Versuch«, schlug er vor.

Sie stapelten trockene Zweige unter die Reifen, er setzte sich ans Steuer und versuchte hin- und herpendelnd im Vor- und Rückwärtsgang die Räder auf die trockenen Äste zu bringen. Tatsächlich gelang es ihm auch irgendwann. Franziska lief lachend hinter ihrem Wagen her, den er schließlich auf dem festen Untergrund des Straßenrands parkte.

»Wir haben es geschafft.« Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der gerade erfolgreich ein Spielzeug zusammengebaut hatte. Doch gleich darauf legte sich eine dunkle Wolke über sein Inneres. Jetzt hieß es Abschied nehmen. Er musste zur Arbeit.

Sie standen sich gegenüber und sahen sich an, fragend, unsicher.

»Ich glaube, ich muss jetzt fahren«, sagte Franziska schließlich mit belegter Stimme.

Er zuckte innerlich zusammen. Ihm war zumute, als würde er aus einem schönen Traum in die raue Wirklichkeit gestoßen. Er nahm ihre Hände und hielt sie fest. Er spürte die wohlige Wärme, die von diesen Frauenhänden auf ihn überging, und für einen Augenblick musste er die Augen schließen. In diesem Moment war er versucht, ihr zu sagen, dass er sich in sie verliebt hatte. Und zwar auf den ersten Blick, als er sie im Wald gesehen hatte. Doch dann unterdrückte er diesen Drang.

Abrupt ließ er Franziskas Hände los und trat einen Schritt zurück.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Es war schön«, sagte sie mit warm klingender Stimme. »Wie in einem Märchen.« In ihren dunkelbraunen Augen stand ein glückliches Leuchten.

»Ja, es war schön«, erwiderte er. »Ein ganz besonderes Erlebnis.«

Wieder schwiegen sie.

»Ich danke dir, Bernhard. Fürs Zuhören, fürs Verstehen, für deine Hilfe und … für diese Nacht.«

»Sehen wir uns wieder?« Mit angehaltenem Atem sah er sie an.

Da begann sie zu lächeln, ganz entspannt und glücklich. »Ja.«

»Gib mir deine Telefonnummer. Ich rufe dich an. Und deinen Namen …« Er sprach schnell, aus Angst, er könnte noch etwas vergessen. »Ich weiß noch nicht einmal, wie du mit Nachnamen heißt.«

Er spürte ganz deutlich, wie sie zögerte.

»Hast du morgen Abend Zeit?«, fragte sie. »Sagen wir um acht Uhr hier am See? Das fände ich romantisch.«

Jetzt zögerte er.

Romantisch würde das sicherlich werden, daran zweifelte er nicht. Aber es machte ihn skeptisch, dass sie ihm ihren Namen nicht nennen wollte.

Schließlich nickte er. »Ich werde hier sein. Acht Uhr. Genau hier am Ufer.«

»Ich werde auch da sein«, versprach sie ihm.

Dann küssten sie sich noch einmal voller Leidenschaft. Als er Franziskas Auto auf der Landstraße aus den Augen verlor, verlor er auch den Glauben daran, dass er sie jemals wiedersehen würde. Bis ins Innerste aufgewühlt fuhr er direkt zur Arbeit.

*

Franziskas Eltern hatten vergeblich auf das Erscheinen ihrer Tochter gewartet. Als sie um Mitternacht immer noch nicht zurück war, gingen sie zu Bett. Doch vor ihnen lag keine geruhsame Nacht. Um drei Uhr musste der Unternehmer aufstehen, um seiner Frau Herztropfen zu geben.

»Das kommt nur durch den Ärger und die Aufregung«, sagte er zu seiner Frau. »Du kannst dich bei Franziska dafür bedanken.«

Als Marlene Meinert sich morgens besser fühlte, stand sie auf, schlüpfte in den seidenen Morgenmantel und erschien am Frühstückstisch. Sie wollte ihren Mann und ihre Tochter, von der sie annahm, dass sie inzwischen zurückgekommen war, nicht allein lassen. Denn sie wusste aus Erfahrung, dass die beiden heftig aneinander geraten konnten.

Ihre Sorge war jedoch umsonst gewesen. Ihr Mann saß allein am Tisch. Mit brummigem Gesicht las er die Morgenzeitung. Erst eine Viertelstunde später hörte das Ehepaar Franziskas leichten Schritt im Salon. Vorwurfsvoll sahen die Meinerts ihre Tochter an.

»Warum bist du heute Nacht nicht nach Hause gekommen?«, herrschte Günter Meinert die junge Frau an. »Deine Mutter ist vor Sorge fast gestorben.«

Franziska räusperte sich, um ihrer Stimme einen festen Ton zu geben.

»Es tut mir leid«, sagte sie ruhig. »Ich wollte euch nicht aufregen. Ich wollte nur diesem schrecklichen Cornelius und seinen Eltern aus dem Weg gehen. Und dann streikte mein Wagen.« Sie erzählte, was passiert war, wobei ihre Geschichte einige Abänderungen erfuhr. Sie hatte nicht an einem einsamen See übernachtet, sondern sich in eine Pension in Ruhweiler eingemietet. Und natürlich verschwieg sie auch, dass sie die Nacht mit einem Mann zusammen gewesen war.

»Da hast du aber Pech gehabt«, meinte Marlene mitfühlend.

»Das bist du selbst schuld«, bemerkte ihr Vater kühl. »Keiner hat dir gesagt, dass du nach Ruhweiler fahren solltest. Außerdem finde ich dein Benehmen unseren Gästen gegenüber mehr als unhöflich.«

»Ich habe dir vorher gesagt, dass ich mich von euch nicht verheiraten lasse. Wir leben schließlich nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert«, entgegnete sie ebenso kühl wie ihr Vater.

»Liebst du irgendeinen anderen Mann, wenn du so sehr gegen Cornelius bist?«, forschte Marlene nun vorsichtig nach.

»Ich liebe niemanden. Ich will nur diesen froschäugigen Typen nicht heiraten. Ist das denn so schwer zu verstehen?« Franziska stöhnte gequält auf und sagte dann mit einem Blick auf den Frühstückstisch: »Ich glaube, ich lasse euch jetzt lieber allein. Es würde sonst nur zu noch mehr unangenehmen Debatten kommen.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und machte die Tür nachdrücklich hinter sich zu.

An diesem Tag ließ sich Franziska nicht mehr im Untergeschoss der Villa sehen, jedoch nicht nur, um ihren Eltern auszuweichen, sondern weil sie sich schlecht fühlte. Ihr Rachen schmerzte, und sie war sich sicher, dass sie leichte Temperatur hatte. Um ihren Verdacht nicht bestätigt zu sehen, verzichtete sie aufs Fiebermessen und verbrachte den Tag im Bett, in Gedanken an Bernhard. Sie wollte sich schonen, denn am nächsten Tag musste sie ihn wiedersehen.

*

An diesem Abend fuhr Bernhard nach Dienstschluss zum Praxishügel. Er wollte sich der Landarztfrau vorstellen und hoffte, von ihr den Auftrag zu bekommen, den Garten zu machen.

»Da sind Sie ja«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln, das ihn willkommen hieß. »Was macht ihr Finger?«

»Ich habe noch neun andere, die gesund sind«, erwiderte er, woraufhin sie ein melodisches Lachen erklingen ließ.

Sympathisch war sie, und attraktiv.

»Dann kommen Sie mal mit«, schlug sie ihm vor. »Ich zeige Ihnen, welche Wünsche mein Mann und ich haben. Und Sie werden dann entscheiden, ob sie zu realisieren sind.«

»Das ist ein Wort.«

Sie führte ihn über das große Grundstück, zeigte auf Obstbäume, Blumenrabatten und Hecken.

»Und hier hätte ich gern einen kleinen Teich«, sagte sie und zeigte auf eine Rasenfläche auf der Hinterseite des Schwarzwaldhauses.

Er blieb stehen. »Das ist ein gute Idee. Hier kann man ein schönes lauschiges Plätzchen anpflanzen. Ein Teich mit Seerosen, eine hohe Buchsbaumhecke zur Abschirmung gegen den Rest der Rasenfläche, ein paar üppige Sträucher und eine Bank zum Verweilen.«

Die Landarztfrau strahlte ihn an. »Genauso haben mein Mann und ich es uns vorgestellt.« Sie schenkte ihm ein Lächeln voller Herzlichkeit. »Wir freuen uns, dass Sie uns helfen wollen.«

»Es ist wunderschön hier«, sagte er, während er sich beim Weitergehen neugierig umsah.

»Ja, unsere Familie liebt dieses Fleckchen Erde«, antwortete Ulrike Brunner voller Innbrunst. »Das Haus ist das Elternhaus meines Mannes. Er stammt aus einer Bauernfamilie.«

»Toll hier.« Er konnte sich nicht satt sehen an der Aussicht, die der Praxishügel bot. Am liebsten hätte er gleich damit angefangen, die Erde umzugraben. So sehr freute er sich auf die bevorstehende Aufgabe.

»Hallo!«, hörte er da eine helle Stimme in seinem Rücken und drehte sich um.

»Das ist Thea«, stellte Ulrike Brunner das pummelige Mädchen vor, das auf sie zukam. »Thea macht Urlaub bei uns.«

Bernhard lächelte Thea an. Und dummerweise schenkte er ihr ganz selbstverständlich das jungenhafte, etwas verwegene Lächeln, das sein gut geschnittenes Gesicht noch attraktiver machte und das schon so vielen Frauen weiche Knie beschert hatte. Er konnte nicht ahnen, dass er auf Thea die gleiche Wirkung hatte.

*

Thea wurde ganz heiß. Vor ihr stand der Mann ihrer Träume. Er übertraf in seiner Attraktivität alle männlichen Models aus den Modemagazinen. Sie genierte sich, ihm die Hand zu reichen, welche ganz feucht und glitschig war. Doch sie bemühte sich um den tiefen Blick, mit dem die Schauspielerinnen in den Fernsehsoaps um sich warfen, wenn sie sich einen Typen angeln wollten.

Theas Blick fiel dann ein bisschen zu herausfordernd aus, wie Ulrike Brunner unangenehm berührt auffiel. Sie bemerkte gleich, wie sehr dieser junge Mann Thea gefiel.

O nein, dachte sie entsetzt und nahm sich vor, ab jetzt ein wachsames Auge auf Thea zu haben. Sie wusste ja nur zu gut, wie unberechenbar Teenager sein konnten, besonders, wenn sie sich langweilten.

»Ich hatte dir ja von Herr Anger erzählt. Er wird sich um den Park kümmern«, klärte sie Thea freundlich auf.

»Stimmt.« Die Siebzehnjährige lächelte, und jetzt erkannte die Landarztfrau in ihr wieder das süße kleine Mädchen, das sie von früher kannte, bevor Thea von Launen geplagt wurde.

Wenn sie etwas älter ist, wird sie eine Schönheit sein, dachte sie und strich ihrem Gast liebevoll über das blonde Haar, das inzwischen einen topmodernen, kurzen Haarschnitt bekommen hatte, der Theas himmelblaue Augen noch besser zur Geltung brachte.

»Welche Musik hörst du gern?«, erkundigte sich Thea nun ganz selbstverständlich, so, als würde sie Bernhard Anger bereits bestens kennen.

Der Student zeigte sich von dieser vertraulichen Anredeform nicht überrascht. Auf der Universität war es üblich, Leute aus allen Altersgruppen zu duzen und auch geduzt zu werden.

»Ich höre kaum Musik«, antwortete er freundlich. »Entweder gehe ich zur Uni oder arbeite in meiner freien Zeit oder ich fotografiere. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für Musik.«

»Krass!«, rief Thea begeistert aus. »Fotografieren interessiert mich auch.« Vielleicht kann ich von dir noch was lernen.«

Ulrike Brunner stutzte. Eine leichte Verärgerung über Theas direkte Art stieg in ihr hoch. Hatte sich ihre Tochter in diesem Alter Jungen gegenüber auch so direkt verhalten?

»Mal sehen«, erwiderte Bernhard Anger ausweichend. »Ich bin ja hier, um den Garten zu pflegen, und nicht, um zu fotografieren.«

»Aber du hast bestimmt auch mal frei«, meinte Thea freiweg. »Tante Ulrike und Onkel Matthias sind doch keine Unmenschen. Nicht wahr, Tante Ulrike?«

Die Landarztgattin musste lachen. »Vielleicht möchte sich Herr Anger nach seiner Arbeit in Ruhe seinem Hobby widmen, ohne anderen Leuten wie zum Beispiel einer kleinen gelangweilten jungen Dame aus Zürich noch etwas beibringen zu müssen«, sagte sie diplomatisch.

Thea zog eine gekonnt süße Schnute.

»Ich sehe schon, den Traum vom Fotografieren kann ich mir abschminken.« Dann lachte sie sofort wieder wie ein kleiner Kobold und meinte: »Vielleicht kann ich dann wenigstens mal bei der Gartenarbeit zusehen. Oder?« Mit eindeutig flirtendem Blick schaute sie zu dem Studenten hoch, der plötzlich einen ganz verunsicherten Eindruck machte. Erst jetzt schien ihm klar zu werden, wie sehr er Thea gefiel.

»Das lenkt mich nur ab«, erwiderte er und fügte hinzu: »Ich hoffe, du nimmst das nicht persönlich, aber ich bin hier, um zu arbeiten. Und meine Arbeit nehme ich sehr ernst.«

»Okay, ich geh dann mal wieder«, meinte Thea sichtbar enttäuscht. »Also dann, bye, bye.«

Ulrike atmete aus.

»Sie ist wie alle Teenager«, erklärte sie Bernhard Anger Theas Verhalten. »Man darf sie nicht so ernst nehmen. In diesem Alter waren wir wahrscheinlich auch so.«

»Ich kann mich zwar nur noch vage daran erinnern, denn ich bin ja schon ein älteres Semester, aber meine Nichte Hella ist jetzt fünfzehn und oft auch unausstehlich zickig«, erwiderte er. »Meine Schwester sagt immer: ›Einfach ignorieren. Die kriegt sich wieder ein.‹«

»Genau«, pflichtete sie ihm erleichtert bei.

Der attraktive neue Gärtner schien Thea als genau das zu sehen, was sie im Grunde genommen auch noch war: Ein großes Kind. Und das beruhigte sie ganz außerordentlich.

*