E-Book: 1763 - 1768 - Myra Myrenburg - E-Book

E-Book: 1763 - 1768 E-Book

Myra Myrenburg

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1763: Zwei, die sich nicht mögen E-Book 1764: Über die Kinder zu deinem Herzen E-Book 1765: Meine berühmte Mami E-Book 1766: Der geliehene Vater E-Book 1767: Unser Papi darf nicht heiraten E-Book 1768: Lebe wohl, kleiner Jannis! E-Book 1: Zwei, die sich nicht mögen E-Book 2: Über die Kinder zu deinem Herzen E-Book 3: Meine berühmte Mami E-Book 4: Der geliehene Vater E-Book 5: Unser Papi darf nicht heiraten E-Book 6: Lebe wohl, kleiner Jannis!

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Seitenzahl: 719

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Zwei, die sich nicht mögen

Über die Kinder zu deinem Herzen

Meine berühmte Mami

Der geliehene Vater

Unser Papi darf nicht heiraten

Lebe wohl, kleiner Jannis!

Mami – Jubiläumsbox 7–

E-Book: 1763 - 1768

Myra Myrenburg Annette Mansdorf Isabell Rohde Susanne Svanberg Eva-Maria Horn Gisela Reutling

Zwei, die sich nicht mögen

Roman von Myra Myrenburg

»Mein Enkel ist ein Genie«, sagte Livia Langenfeld und drapierte ein pflaumengroßes Seidentuch um ihre frisch geliftete Kinnpartie, »er soll nicht nur herumklimpern, sondern den besten Unterricht erhalten, der für Geld zu haben ist.«

  Axel Bloomendal, Direktor der Musikhochschule, Leiter des exquisiten ›Kleinen Orchesters‹ und Gründer des Kulturvereins der Stadt Westertal zwischen Ruhr und Rhein, neigte höflich den Kopf und strich sich mit der schmalen Hand über die graue Schläfe.

  »Ich sehe, wir verstehen uns«, fuhr Livia liebenswürdig fort, »niemand außer Ihnen, lieber Maestro, kommt als Lehrer meines Enkels in Frage.«

  Axel Bloomendal ließ die Hand sinken und starrte angestrengt durch den halb geöffneten Fensterflügel auf die zart sich begrünenden Rosenbeete, denen die Villa ihren Namen verdankte.

  War es zu fassen?

  Wollte ihn diese exzentrische alte Schachtel wahrhaftig als Klavierlehrer eines mäßig begabten, unerzogenen Jungen verpflichten?

  Ein Blick in ihr eisern entschlossenes Gesicht genügte.

  Sie wollte.

  Was Livia Langenfeld wollte, das hatte sie ein Leben lang durchgesetzt.

  Ihrem ehernen Willen, ihrem enormen Vermögen und ihrem unbegrenzten Einfluß widerstand niemand. Unter ihrer Schirmherrschaft standen alle kulturellen Einrichtungen im Umkreis von hundert Kilometern, ohne ihre Unterstützung hätte es kein Theater mehr gegeben und kein Orchester.

  »Nun«, sagte Axel Bloomendal und zwang sich zu einem interessierten Lächeln, »wie alt ist der Kleine inzwischen?«

  »Sieben«, erwiderte Livia, »und wie Sie wissen, ist er mein einziger Enkel. Schon mit fünf Jahren konnte er das Forellenquintett auswendig spielen. Ein kleiner Mozart, sage ich Ihnen! Leider wurde seine musikalische Ausbildung vernachlässigt, weil er in die Schule kam. Er braucht eine feste Hand, die ihn leitet, Maestro, und natürlich muß er motiviert werden.«

  »Sicher, gnädige Frau. Darf ich fragen, wie Sie sich das vorstellen?«

  »Er braucht Ziele wie jeder junge Mensch. Klare, hehre Ziele! Halten Sie ihm vor Augen, was aus ihm werden kann!«

  Axel Bloomendal griff in die Innentasche seines Jacketts, nahm ein ledernes Büchlein und einen silbernen Stift heraus und seufzte leicht.

  »Nun, dann wollen wir zum schwierigsten Punkt kommen, nämlich der Terminfrage. Ich bin ziemlich eingeengt…«

  »Yannik hat nur dienstags und donnerstags nachmittags Zeit«, stellte sie ohne Umschweife fest, »am besten nehmen wir beide Tage, damit er wieder in den Takt kommt. Wo werden Sie ihn unterrichten? Hoffentlich nicht in einem dieser Gemeinschaftsräume der Hochschule!«

  »Ich muß es mir überlegen, gnädige Frau.«

  »Ach was, Verehrtester. Sie lassen ihn zu sich nach Hause kommen und geben ihm jeweils eine Klavierstunde. So haben wir das früher auch gehandhabt. Wir wollen doch keine künstlichen Probleme schaffen! Der Junge wird gebracht und abgeholt und dazu angehalten, täglich zu üben. Alles andere ist Ihre Sache, und ich bin davon überzeugt, Sie werden sie gut machen! Brillant! Heute ist Freitag. Am kommenden Dienstag fangen wir an. Zwei Uhr dreißig. Notieren Sie’s in Ihrem Terminkalender. Und geben Sie mir Ihre Kontonummer.« Livia erhob sich, zum Zeichen, daß sie das Gespräch als beendet betrachtete. »Das Honorar wird monatlich überwiesen.«

  Axel Bloomendal blieb nichts anderes übrig, als sich resigniert zu verneigen, die dargebotene welke Hand mit den vielen Ringen an die Lippen zu führen und sich zu verabschieden. –

  Livia wartete, bis er durch die Halle hinausgegangen war. Dann fegte sie in ihrem knöchellangen Phantasiegewand aus gestreifter Seide hinüber in den kleinen Salon, wo ihre Freundin Ortrud Mahler bereits frische Croissants auf den zierlich gedeckten Teetisch stellte.

  »Du schuldest mir eine Flasche Sekt!« rief Livia und schwenkte das pflaumenblaue Seidentuch.

  »Heißt das, er hat angenommen?«

  »Widerspruchslos. Wie ich erwartet habe. Mir war klar, daß ich diese Wette gewinnen würde.«

  »Mir nicht«, erwiderte Ortrud Mahler düster, »wie korrumpiert muß ein Hochschuldirektor sein, daß er sich als Klavierlehrer anheuern läßt!«

  »Vergiß nicht, daß der Schüler mein Enkel ist«, sagte Livia triumphierend, »ein junges Genie, eine bisher unbekannte Größe, die in den Konzertsälen der Zukunft Furore machen wird. Wieviel Kalorien hat Pierre in diesen Croissants versteckt?«

  »Keine fünfzig. Wenn du Süßstoff nimmst, kannst du zwei davon essen.«

  »Ich hasse Süßstoff! Das Zeug kann nicht gesund sein. Du hattest übrigens recht. Er wollte ein großes Getue wegen der Termine machen.«

  »Wozu du ihn gar nicht erst kommen ließest, stimmt’s?«

  »Natürlich nicht. Ich habe ihm Yanniks freie Nachmittage genannt und ihm überlassen, sich darauf einzustellen.«

  »Und darauf ist er eingegangen?«

  »Ja, sag ich doch.«

  »Der Mann hat einfach kein Rückgrat«, murmelte Ortrud Mahler und schüttelte ihr fahlblondes Haar. Sie war nur wenig jünger als Livia, aber sie hielt sich viel darauf zugute, die Siebzig noch nicht erreicht zu haben. Auch hatte sie einen gänzlich anderen Lebenshintergrund als ihre Freundin, aber das störte die Verbundenheit nicht. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, und keine von ihnen konnte allein sein.

  Jede brauchte die Gesellschaft der anderen, und die Villa Rosengarten bot die bestmögliche Umgebung. Während Livia mit den Pfunden kämpfte und sich gern auffallend kleidete, war Ortrud dünn wie ein Strich und gab sich am liebsten mädchenhaft. Im Gegensatz zu Livia, die schon seit Jahren zu Perücken greifen mußte, hatte Ortrud immer noch sehr schönes volles Haar, das sie so oft wie möglich aufgelöst trug und flattern ließ. Sie hatte zwar eine eigene Wohnung in Düsseldorf, aber die meiste Zeit verbrachte sie in der Villa Rosengarten, wo sie als rechte Hand der Hausherrin fungierte. Außer ihr gab es einen französischen Koch namens Pierre und eine leicht betagte Wirtschafterin namens Tilde, die sich mit wechselnden Hilfskräften herumschlug.

  Der Rosengarten unterstand Livia persönlich, und wenn man ihren Worten glauben wollte, wurden alle die prächtigen Sonderexemplare von ihr und ihrem Sohn Maxim eigenhändig gehegt, gepflegt, gegossen, gedüngt, gejätet und beschnitten.

  Ebenso verhielt es sich mit dem Familiengrab, das ebenfalls als kleiner Rosengarten angelegt war und bereits zwei Namen auf der monumentalen Marmortafel aufwies, nämlich den des Familienoberhauptes Georg Maximilian Langenfeld, und den der früh verstorbenen Schwiegertochter Vanessa Langenfeld, geborene von Kruft.

  Auch hier wirkte Livia regelmäßig mit Hacke, Harke, Schaufel und Baumschere. Wer immer gerade greifbar war, mußte sie begleiten. Obwohl sie stets behauptete, Maxim leiste die eigentliche Arbeit, war es meistens Ortrud, die mitfuhr.

  »Wo liegt eigentlich Bloomendals Privatwohnung?« erkundigte sich Livia und rührte einen Löffel Zucker in ihren Tee. »Irgendwo in der Nähe des Stadtparks, glaube ich. Warum fragst du?«

  »Yannik wird dort seinen Unterricht bekommen, jeweils dienstags und donnerstags um halb drei. Er muß hingebracht und wieder abgeholt werden.«

  »Von wem?«

  »Von Maxim«, entschied Livia ohne einen Moment zu zögern.

  »Mit anderen Worten«, bemerkte Ortrud säuerlich, »ich habe mich dafür bereitzuhalten.«

  »Sei nicht albern! Wenn ich sage Maxim, dann meine ich Maxim und nicht dich! Mittags zwischen zwei und vier halten wir unseren Schönheitsschlaf, du und ich.«

  »Dein Wort in Gottes Ohr! Wo ist denn der Goldjunge eigentlich? Man hört weder seinen Gameboy quietschen noch den Fernseher dudeln.«

  »Er ist zu einem Kindergeburtstag eingeladen, irgendwo in der Neubausiedlung am Stadtrand. Tilde hat ihn hingebracht.«

  »Und wer holt ihn ab?«

  »Maxim.«

  »Ich glaub’s nicht. Ich gehe jede Wette ein, daß er sich drückt.«

  »Um was wetten wir? Ich warne dich, Ortrud, du hast heute schon eine Flasche Sekt verloren!«

  »Trotzdem. Die Chancen stehen gut, daß ich sie wieder zurückgewinne.«

  »Bitte, bitte, tu, was du nicht lassen kannst! Aber sag nachher nicht, ich hätte dich blind in den Ruin laufen lassen.«

  Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon in den Wirtschaftsräumen. Tilde nahm ab und stellte durch nach oben, wo Livia gerade eine Sitzung mit Madame Odette hatte, der Kartenlegerin.

  »Ach, Maxim«, seufzte sie unwillig in den Hörer, »muß das sein? Kannst du den Termin nicht verschieben und Yannik vorher schnell abholen?«

  »Tut mir leid, Mutter«, kam die vertraute Stimme ihres Sohnes zerknirscht durch den Draht, »aber der Präsident der Handelskammer ist ein harter Knochen. Er verzeiht es mir nie, wenn ich ihn auch nur fünf Minuten im Flughafenrestaurant warten lasse.«

  Livia legte den Hörer auf, schnaubte leicht durch die Nase, entschuldigte sich für einen Moment bei Madame Odette und ging ins Nebenzimmer ans Haustelefon.

  »Ortrud? Nein, nichts Besonderes. Ich lade dich morgen früh zum Sektfrühstück ein. Nur wir beide. Ja, du rätst

richtig. Ja, du hast gewonnen. Wärest du dann so lieb, gegen sechs in die Neubausiedlung zu fahren? Natürlich habe ich die Adresse. Warte, ich sage dir sie am besten gleich durch.«

*

  »Schade, daß du dein Musikstudium an den Nagel gehängt hast«, sagte Axel Bloomendal zu seiner Nichte Claire, die von Zeit zu Zeit sein Büro aufräumte und seine Steuerunterlagen sichtete.

  »Das war doch nur ein schöner Zeitvertreib. Weiter als bis zur Musiklehrerin hätte ich es doch nicht gebracht, und das wäre nicht das gewesen, womit ich mich für den Rest meines Lebens beschäftigen wollte. Mir haben schon die Klavierstunden gereicht, die ich jahrelang geben mußte.«

  »Du hast das gar nicht schlecht gemacht.«

  »Nein, aber ich fand’s gräßlich. Zum Lehren bin ich nicht geboren. Kinder machen mich nervös.«

  »Wem sagst du das«, murmelte Axel Bloomendal und fuhr sich mit beiden Händen über die grauen Schläfen, »aber etwas Geld könntest du doch gebrauchen, oder?«

  Claire stützte sich auf den überdimensionalen Schreibtisch und sah ihren Onkel aus aquamarinblauen Augen mißtrauisch an.

  »Ich bin nicht gerade auf Rosen gebettet, aber für die Semesterferien habe ich schon einen Aushilfsjob im wirtschaftswissenschaftlichen Institut.«

  »Na, was bringt dir das denn schon!«

  »Einschlägige Erfahrung und drei Monatsgehälter. Warum? Weißt du was Besseres?«

  »Auf jeden Fall etwas Lukrativeres. Außerdem könntest du mir damit einen Gefallen tun.«

  »Was ist es?«

  »Klavierunterricht.«

  »Nein!«

  »Wird spitzenmäßig honoriert. Ich würde es selbst machen, aber mir fehlt die Zeit!«

  »Du hast keinen Unterricht mehr gegeben, seitdem du Direktor bist. Nicht einmal Privatstunden an Prüfungskandidaten. Also – warum ist das jetzt auf einmal ein Thema?«

  »Weil ich dazu gezwungen wurde«, knirschte Axel Bloomendal und zerrte an seinem Jackett, »es gibt Leute, denen man keinen Korb geben darf.«

  »Du lieber Gott, ist es etwa eine der reifen Damen der Gesellschaft, die plötzlich den Wunsch verspüren, in die Tasten zu greifen?«

  »Nein, Gott sei Dank nicht, bei denen könnte ich mich ja nicht vertreten lassen.«

  »Also ein Kind.«

  »Ja, ein Junge, und offiziell nimmt er Stunden bei mir.«

  »Na hör mal, er wird doch merken, mit wem er es zu tun hat! Er ist doch wohl nicht beschränkt, oder?«

  »Ach, das läßt sich schon irgendwie verwischen. Ich trete gelegentlich auf und mache Eindruck, alles andere erledigst du, zweimal die Woche, dienstags und donnerstags von halb drei bis halb vier.«

  »Nein!«

  »Komm her ans Fenster, Claire. Er steigt gerade aus dem Wagen. Kannst ihn dir schon mal ansehen.«

  »Ist heute Dienstag?«

  »Genau.«

  »Aber ich will nicht!«

  »Denk an den Verdienst!« stieß Axel Bloomendal zwischen den Zähnen hervor. »Heute bin ich dran, aber du bleibst dabei und machst dich bekannt, denn ab Donnerstag ist es mehr oder weniger dein Job.«

  »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!« zischte

Claire und warf einen widerwilligen Blick aus dem Fenster auf den Luxusschlitten, dem ein geschmeidiger Typ im tabakbraunen matt glänzenden Armani-Anzug entstieg.

  »Ist das der Vater?«

  »Ja, Maxim Langenfeld.«

  »Nie von gehört. Sieht aus wie ein Dressman.«

  »Um Himmels willen, Claire! Der Mann verwaltet ein Millionenerbe!«

  »Na, wenn schon. Ich glaube, ich verziehe mich lieber.«

  »Zu spät«, raunte ihr Onkel, denn es klingelte bereits.

  Minuten später erklangen Stimmen und Schritte im Treppenhaus.

  »Seien Sie mir gegrüßt, Herr Langenfeld«, orgelte Axel Bloomendal, »und du auch, Yannik! Geh schon voraus ins Musikzimmer. Meine Assistentin erwartet dich. Dein Vater und ich halten vorab ein kleines Gespräch in meinem Büro.«

  Claire sank gerade auf den Klavierschemel, den sie in letzter Minute erreicht hatte, als der Junge eintrat.

  Er trug marineblaue Hosen, die bis über die Knie reichten, ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, weiße Socken und die üblichen Sportschuhe aus weißem Leder.

  »Hallo«, sagte er unbefangen, »ich bin Yannik Langenfeld, ich bin sieben und wohne in der Villa Rosengarten. Und du?«

  »Ich bin Claire.«

  »Ja – und?« Er sah sie aus taubenblauen Augen erwartungsvoll an. Offensichtlich rechnete er damit, daß sie sich ebenso detailliert vorstellte.

  »Ich bin vierundzwanzig und wohne in der Engelsgasse zehn.«

  Das schien ihn zufriedenzustellen.

  »Ich gehe ins erste Grundschuljahr in der Lessingschule, und ich habe im April Geburtstag. Und du?«

  »Ich gehe zur Universität, studiere dort Wirtschaftswissenschaften und habe im September Geburtstag.«

  Er holte tief Luft, um lebhaft fortzufahren: »Ich habe keine Mutter mehr, ich wohne bei meiner Großmutter und bin ein Wunderkind. Und du?«

  Claire verschlug es sekundenlang die Sprache. Aber die taubenblauen Augen waren so lange fest auf sie gerichtet, bis sie sich zu einer Antwort bequemte.

  »Ich habe auch keine Mutter mehr, ich wohne allein, und ich bin kein Wunderkind.«

  »Auch kein Sonntagskind?«

  »Nicht, daß ich wüßte.«

  »Ich bin eins. Meine Großmutter sagt, ich bin so begabt wie Mozart. Weißt du, wer das ist?«

  »Ja. Ein großer Musiker.«

  »Kannst du ihn spielen?«

  »Kommt drauf an, was.«

  »Die kleine Nachtmusik?«

  Claire wurde der Antwort enthoben durch ihren Onkel, der mit schwungvoller Geste die Tür öffnete.

  »Na, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht? Gut! Dein Vater ist nur kurz zur Tankstelle gefahren und holt dich in einer Stunde wieder

ab.«

  »Gar nicht. Er ist zum Tennisplatz gefahren und trifft sich mit Pamela. In einer Stunde ruft er hier an und sagt, ich soll mit einem Taxi nach Hause fahren.«

  »Nun, nun«, Axel Bloomendal wedelte hilflos mit seinen schönen, schmalen Pianistenhänden und griff nach der Klavierschule, die auf dem Notenständer lag, »wir werden sehen. Das hat ja noch Zeit. Wie weit bist du denn bis jetzt gekommen? Du hattest ja schon einmal Unterricht…«

  »Hundertmal!«

  »Dann kennst du vielleicht dieses Übungsheft?«

  »Kann sein.«

  »Weißt du noch, wo du stehengeblieben bist?«

  Yannik schüttelte den Kopf.

  »Ich spiele nicht nach Noten. Ich kann alles auswendig.«

  »Na, dann fang mal an.«

  Claire schraubte den Klaviersessel höher und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand.

  Yannik schwang sich auf den Sessel und spielte mit Vehemenz den Flohwalzer.

  »Ist das alles?« fragte Axel Bloomendal stirnrunzelnd.

  Yannik schüttelte sich vor Lachen.

  Er begann mit einem Schumannlied, brach ab, klimperte die ersten Takte einer Etüde, wechselte zu einem Kinderlied und rutschte vom Hocker.

  »Ich hab jetzt keine Lust mehr«, verkündete er knapp.

  »Das gilt hier nicht, mein Junge! Ich sehe schon, daß wir ganz von vorn anfangen müssen«, sagte Axel Bloomendal und wechselte einen eindringlichen Blick mit seiner Nichte, »sowohl mit den Fingerübungen als auch in der Harmonielehre. Du gehst doch schon zur Schule. Habt ihr da auch Musikstunden?«

  »Wir singen«, erklärte Yannik, »aber nur zwischendurch. Wer will, kann nachmittags in die Flötenstunde gehen. Aber das mache ich nicht.«

  »Warum nicht?« fragte

Claire.

  »Es ist sooo ein Krach. Alle fiepsen durcheinander. Man muß sich die Ohren zuhalten, wirklich.«

  Claire verbiß sich ein Lachen.

  Axel Bloomendal strich sich über die Manschette und sah verstohlen auf die Uhr.

  »Paß auf, Yannik, ich spiele dir die erste Übung vor, du gibst gut acht und versuchst sie nachzuspielen.«

  Im Arbeitszimmer surrte das Telefon.

  »Gehst du bitte mal?« murmelte Axel, der sich gerade niedergelassen hatte.

  Claire verschwand nach nebenan und griff nach dem altmodischen Hörer, den ihr Onkel bevorzugte.

  Eine Männerstimme, so

geschmeidig wie der Typ im Armanianzug, meldete sich mit »Langenfeld, mein Sohn ist gerade bei Herrn Direktor Bloomendal zum Klavierunterricht…«

  »Soll ich ihn holen?«

  »Nein, nein, nicht nötig. Wenn Sie nur so nett wären, ihm ein Taxi zu bestellen, wenn er fertig ist, ja? Ich bin hier an der Tankstelle aufgehalten worden und kann nicht pünktlich bei Ihnen sein.«

  »Geht in Ordnung.«

  »Danke, vielen Dank, und grüßen Sie Yannik von mir. Ich sehe ihn nachher zu Hause.«

  »Das ist ja nicht zu fassen«, murmelte Claire, legte den Hörer auf und ging ins Musikzimmer zurück.

  »Wetten, das war mein Vater?« krähte Yannik.

  »Ja, du sollst mit dem Taxi heimfahren. Aber das hat noch  Zeit. Noch fünfzehn Minuten.«

  »Was du nicht sagst!« seufzte Axel Bloomendal, schloß die Augen, warf den Kopf in den Nacken und ließ seine Finger auf den Tasten hin und her hüpfen.

  Etwas später, als der Maestro bereits geflüchtet war und

Claire den hoffnungsvollen Schüler die Treppe hinunter zum Taxi führte, blieb Yannik stehen und hängte sich ans Geländer.

  »Hast du das gesehen?« raunte er im Verschwörerton.

  »Was?«

  »Der alte Mann spielt genauso wie ich! Er macht die Augen zu und spielt auswendig!«

  »Darauf werde ich dir beim nächsten Mal ausführlich antworten«, versprach Claire und löste seine Hand vom Geländer, »jetzt mußt du dich beeilen. Das Taxi wartet nicht ewig.«

*

  »Essen wir zusammen?« erkundigte sich Maxim Langenfeld, während er Pamela Wintrop vom Platz führte.

  Sie spielten zwar so gut wie nie Tennis, nahmen an allen Veranstaltungen nur als Zuschauer teil, gehörten aber dennoch zum festen Kern des Klubs.

  »Natürlich nicht«, erwiderte Pamela leichthin und schob sich die Sonnenbrille über die Stirn hinauf ins weiche hellbraune Haar.

  Alles an ihr war pastellfarben, vom Make-up bis zum Lippenstift, von den Sandaletten über den lavendelblauen Pulli bis zu den blaßgrauen Augen.

  Sie war großgewachsen, gut gebaut und elastisch, hatte Stil, wie Maxim nicht müde wurde, bewundernd festzustellen. Sie hatte Format.

  Leider hatte sie auch einen Ehemann, Lionel Wintrop, der zudem sein Freund war.

  Es gab Stimmen, die behaupteten, er hänge sich an die Wintrops, weil er es auf Pamela abgesehen hätte, und das nur aus dem Grund, weil ihm daraus keine Verpflichtung erwachsen würde.

  Eine vehemente Vertreterin dieser Meinung war seine Mutter Livia, und sie hielt damit nicht hinterm Berg.

  Maxim tat alle diesbezüglichen Anspielungen mit amüsiertem Schulterzucken ab.

  Er war Mitte dreißig, seit knapp sieben Jahren Witwer, finanziell unabhängig, schuldete niemandem Rechenschaft über sein Leben.

  »Nein, Max, wir essen nicht zusammen«, wiederholte Pamela heiter und schwenkte den Tennisschläger, dieses unentbehrliche Requisit, das stets im Rücksitz ihres kleinen Flitzers lag, um bei Bedarf vorgezeigt zu werden.

  »Warum nicht?«

  »Weil ich abends mit Lucille esse. Das weißt du doch.«

  »Du könntest eine Gurke zu dir nehmen oder ein Stück Ananas und später mit mir in das neue Steakhaus gehen. Lucille wird es gar nicht bemerken.«

  »O doch, sie wird. Sie ist sensibel, Max, ich darf ihre Gefühle nicht verletzen.«

  »Und was ist mit meinen Gefühlen?« Er stieß sie leicht mit dem Ellenbogen an und drohte spielerisch mit dem Tennisschläger.

  »Du bist erwachsen, obwohl es nicht immer den Anschein hat«, sagte Pamela lächelnd. »Lucille ist ein kleines Kind, und sie ist meine Tochter.«

  »Na ja, sooo klein ist sie schließlich auch nicht mehr!«

  »Vergiß nicht, daß sie ein Jahr jünger ist als Yannik, und im Gegensatz zu ihm ist sie ganztags in der Schule. Von ihr wird viel verlangt. Dafür muß ich ihr einen Ausgleich bieten.«

  Wie immer, wenn Pamela von Lucille sprach, senkte sie die Stimme. Je verhaltener sie klang, um so ernster meinte sie es.

  Maxim, der sie inzwischen besser kannte, als er seine eigene Frau gekannt hatte, hob die Schultern, lächelte in die blaue Frühsommerluft und gab auf.

  »Was habt ihr am Wochenende vor?« fragte er, als sie in ihr pastellgrünes Auto stieg.

  »Lionel ist in London, er will, daß wir ihn besuchen. In der Royal Festival wird ein großes Symphoniekonzert gegeben, und in Covent Gardens läuft ein sehr witziges modernes Stück. Kommst du mit? Ich rufe ihn gleich nachher an wegen der Karten.«

  »Ich sage dir nachher Bescheid«, rief Maxim ihr nach.

  Sie nickte, warf ihm eine Kußhand zu und ließ den Motor an.

  Es war halb vier. Um vier holte sie Lucille von der Internationalen Schule ab. Im Gegensatz zu ihm hielt sie solche und andere Termine mit großer Selbstverständlichkeit ein.

  Sie ist einfach phantastisch, dachte Maxim wieder einmal voll tiefer Bewunderung und schmerzlichem Bedauern, »sie ist die einzige Frau, die einen unbeugsamen Charakter hat und trotzdem das gewisse Etwas. Wie sie es nur immer schafft, uns alle in dieser Balance zu halten! Unglaublich! Ein reines Wunder. Trotzdem – schade, daß sie nicht mit mir essen geht!«

  Auf dem Weg in die Villa Rosengarten fiel ihm ein, daß er sich sofort nach Yanniks Klavierstunde erkundigen mußte, die er vorübergehend vergessen  hatte.

  Er fand seine Mutter im Garten vor, wo sie in orientalischen Pluderhosen durch die letzten Reihen der Rosenstöcke streifte und sich gerade die groben Handschuhe überzog.

  »Du kommst wie gerufen!« schmetterte sie ihm entgegen. »Hilf mir, die Erde aufzulockern und bring mir die Pflanzenschnur mit. Sie liegt auf der Mauer.«

  »Ich sollte mich wohl zuerst umziehen«, gab er zurück, in der Hoffnung, die Zeit zu gewinnen, daß sich seine Mitarbeit erübrigte.

  »Tu das! Aber halt dich nicht länger als zehn Minuten damit auf«, sagte Livia, die seine Gedankengänge unschwer erriet.

  »Warum haben wir eigentlich keinen Gärtner?« fragte sich Maxim murrend, während er in die alten Segelhosen stieg. Die Antwort kannte er, seit er auf der Welt war.

  Sie lautete: Gartenarbeit ist gesund für Leib und Seele, weil es eine schöpferische Tätigkeit ist, die an der frischen Luft ausgeübt wird.

  Livia stülpte gerade einen Strohhut auf die rostfarbenen Locken, als Maxim sich mit der Pflanzschnur näherte.

  »Vorsichtshalber«, murmelte sie und blinzelte zum wolkenlosen Himmel hinauf, »bedecke ich mich. Wer weiß, ob diese Perücken auf die Dauer nicht doch ausbleichen in der Sonne.«

  »Wenn schon«, entgegnete ihr Sohn gleichmütig, »dann rangierst du sie aus und kaufst dir eine neue. In deinem großen Sortiment fällt das doch gar nicht auf.«

  Livia umfing ihn mit einem kritischen Blick.

  »Lästere du nur! In ein paar Jahren wirst du dich im Spiegel ansehen und an mich denken! Ich gehe jede Wette ein, daß du mit fünfzig dein erstes Haarteil verschlissen hast.«

  »Niemals!«

  »Das ist in fünfzehn Jahren, mein Lieber, es ist gut möglich, daß ich es noch erlebe. Um was wetten wir?«

  »Um die ›Schöne von Stambul‹.«

  »Zwei Exemplare!« rief Livia stürmisch.

  Die ›Schöne von Stambul‹ war eine alte türkische Rosenzüchtung, deren sie bisher noch nie habhaft hatte werden können.

  »Du pokerst immer viel zu  hoch«, bemerkte Maxim tadelnd.

  »Das ist mein Temperament«, erklärte seine Mutter nicht ohne Stolz, »ich bin siebzig, aber ich sprühe immer noch, im Gegensatz zu einer gewissen englischen Lady, die nicht Fisch und nicht Fleisch ist. Je länger du mit ihr umgehst, um so langweiliger wirst du, Maxim, mein Sohn.«

  »Du bist einundsiebzig«, verbesserte er, und dabei beließ er es. Er hatte eine Kunstfertigkeit darin entwickelt, Diskussionen über Pamela auszuweichen.

  Zum Abendessen, das am aufwendig gedeckten großen Tisch im Erkerzimmer eingenommen wurde, gab es vier Gänge und dreierlei Getränke: Moselwein, Traubensaft und Mineralwasser.

  In der Villa Rosengarten galt die Abendmahlzeit als Höhepunkt des Tages und wurde entsprechen zelebriert.

  Livia erglänzte in Bischofslila, Ortrud trug ein weißes Stickereikleid, Tilde frisches hellblaues Leinen und Maxim einen leichten hellen Sommeranzug.

  Yannik hatte sich lediglich ein anderes T-Shirt angezogen.

  »Wie war es in der Klavierstunde?« erkundigte sich seine Großmutter angelegentlich.

  »Langweilig.«

  »Weil du schon alles kannst, nicht wahr? Aber warte nur, der Maestro wird dir noch viel beibringen.«

  »Er ist ein Schwindler«, erklärte Yannik und schob die Vorspeise angewidert von sich, »igitt, das ist ja Fisch!«

  »Es ist Lachs mit Meerrettich«, versetzte Ortrud kühl.

  »Kein Fisch?«

  »Doch, aber kein gewöhnlicher. Wie kannst du behaupten, Herr Bloomendal sei ein Schwindler?«

  »Weil er nicht nach Noten spielt.«

  »Du kannst Kritik an ihm üben, wenn du es so weit gebracht hast wie er«, entschied seine Großmutter, »vorher nicht. Morgen kaufen wir das Übungsheft, das er uns empfohlen hat. Wenn du den Lachs nicht ißt, nimm bitte etwas mehr von der Suppe!«

  »Was gibt’s danach?«

  »Spargel mit Schinken und Sauce Vinaigrette.«

  »Oh, gut. Welchen Nachtisch?«

  »Himbeermousse mit Schlagsahne.«

  »Super«, murmelte Yannik erfreut. Maxim beschloß, die gute Laune auszunutzen.

  »Wir fliegen am Freitagnachmittag nach London«, sagte er und gab seiner Stimme einen verheißungsvollen Klang.

  Yannik ließ sich jedoch nicht täuschen.

  »Nur du und ich?« fragte er mißtrauisch.

  »Du und ich«, versicherte Maxim, um etwas lahm hinzuzufügen, »und Lucille und Pamela.«

  »Neihein!«

  »Aber wir gehen in den Londoner Zoo. Weißt du nicht, wie berühmt der ist?«

  »Mir egal«, knurrte Yannik und zerfaserte eine Spargelstange.

  »Das tut einem ja in der Seele weh, wie du das Gemüse malträtierst!« zischte seine Großmutter.

  »Was hast du denn gegen London?« erkundigte sich Ortrud milde.

  »Nichts. Aber da muß ich immer ein kleiner Gentleman sein, das will ich nicht!«

  Livia hob sichtlich belustigt ihr Glas.

  »Schaden kann es dir nicht.«

  »Und Lucille ist immer so eklig.«

  »Yannik!«

  »Und so gemein!«

  »Das stimmt doch gar nicht!«

  »Wohl stimmt es! Sie ist ein Miststück!«

  »Yannik, das will ich nicht gehört haben!« grollte Livia mit Donnerstimme.

  »Schon gut«, sagte Maxim, ohne seinen Sohn anzusehen, »die Sache ist erledigt. Du bleibst hier. Ich zwinge niemanden, mit mir ins Wochenende zu fahren.«

  Minutenlang herrschte unbehagliche Stille am Tisch.

  »Ich kann’s mir ja noch mal überlegen«, brachte Yannik kleinlaut hervor.

  »Nicht nötig.«

  »Bist du vielleicht beleidigt, Papi?«

  »Nein, nur enttäuscht. Mach dir nichts draus. Ich bin dran gewöhnt.«

  »Hör auf damit, den Märtyrer zu spielen«, fuhr Livia dazwischen, »sprich mit dem Jungen wie ein Vater, nicht wie ein tragischer Held!«

  »Danke für die Unterweisung«, krächzte Maxim, dem ein Petersilienblatt in die Kehle gerutscht war. Er hustete minutenlang, schlug sich die Serviette vors Gesicht, sprang auf und stürzte mit einer gemurmelten Entschuldigung hinaus.

  »Er müßte unbedingt etwas für seine Nerven tun«, ließ sich Ortrud besorgt vernehmen.

  »Baldriantee«, schlug Tilde vor.

  »Ach was«, fauchte Livia, »was ihm fehlt, ist ein stinknormales, geregeltes Leben! Mehr Gartenarbeit, mehr Bewegung an der frischen Luft! Und du«, sie wandte sich an Yannik, »bist auch nicht gerade sehr hilfsbereit! Erst wetzt du dir den Schnabel auf Deubel komm raus an Lucille und sogar an deinem Klavierlehrer, und jetzt hockst du da wie ein Häufchen Unglück! Wenn du partout nicht mitfahren willst nach London, dann steh es auch durch!«

  Yannik seufzte schwer und stützte den Kopf in die Hand. Warum verstand ihn niemand?

  Keinesfalls wollte er das Wochenende in London mit den Wintrops verbringen. Er verabscheute sie alle drei: Pamela, Lionel und Lucille!

  Aber noch weniger wollte er seinen Vater kränken, der zwar nichts und niemanden vermißte, wenn er mit den Wintrops zusammen war und dennoch jedes Mal diesen Wirbel machte. Er tat gerade so, als hinge sein Lebensglück davon ab, daß Yannik und Lucille sich vertrugen wie Brüderchen und Schwesterchen.

  Obwohl das Gegenteil der Fall war und Yannik ihn immer wieder mit der Nase drauf stieß, wollte sein Vater dies einfach nicht wahrhaben.

  »Ja, was ist denn nun? Willst du mitfahren oder hierbleiben?« fragte Ortrud ungeduldig.

  »Wer viel fragt, kriegt viele Antworten«, bemerkte Tilde spitz.

  »Was wollen Sie damit sagen?« erkundigte sich Ortrud scharf.

  Tilde räumte schweigend den Tisch ab.

  »Ich weiß schon, was sie meint«, ließ sich Livia gedankenvoll vernehmen, »sie findet, daß wir Yannik zu viele Entscheidungen allein treffen lassen. Stimmts, Tilde?«

  »So ist es, Frau Langenfeld. Von dem Jungen wird stets das verlangt, was er selbst nie hört, nämlich ein klares Ja oder ein klares Nein.«

  »Von mir hört er dergleichen oft genug«, verwahrte sich Livia. »Übrigens, soll er ruhig lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.«

  »Wie Sie meinen, Frau Langenfeld«, murmelte Tilde mit schmalen Lippen und entfernte sich rückwärts durch die Schwingtür in den Wirtschaftstrakt.

  Yannik, der inzwischen die Glasschüssel mit der Himbeermousse geleert hatte, blinzelte seine Großmutter listig an. Ihm war gerade ein guter Gedanke gekommen.

  »Ich kann ja mitfahren nach London«, sagte er gedehnt, »wenn ich am Donnerstag nicht in die gräßliche Klavierstunde gehen muß.«

  »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« erkundigte sich Ortrud stirnrunzelnd.

  »Nichts«, antwortete Livia anstelle ihres Enkels, »nur daß ihm beides gleichermaßen zuwider ist.«

  An Yannik gewandt fügte sie grimmig hinzu: »Du hast ja wohl nicht ernsthaft geglaubt, ich ließe mich erpressen?«

*

  Lucille hatte blaßgraue Augen und blaßblonde Haare. Sie trug ihre Schuluniform, bestehend aus einem wadenlangen marineblauen Rock und passendem Blazer. In der Hand ein rotes Lackköfferchen, in dem sich, wie Yannik wußte, ihre Schulsachen befanden.

  Noch bevor sie im Flughafen angekommen waren, hatte sie bereits versucht, das Köfferchen loszuwerden. Aber ihre Mutter, die rechts eine Kosmetikbox und links eine einzelne in Folie verpackte Rose trug, hatte keine Hand frei.

  Maxim schwenkte sein Bordgepäck und zückte ihrer aller Tickets.

  »Yannik«, raunte er, »nimm Lucille doch bitte das Köfferchen ab.«

  »Nö. Warum denn?«

  »Du hast doch sonst nichts zu tragen.«

  »Sie auch nicht.«

  »Sei nett«, bat Pamela und lächelte auf ihn hinunter, »sei ein kleiner Gentleman.«

  Yannik starrte seinen Vater hypnotisch an.

  »Ich hab’s gewußt!« flüsterte er aufgebracht.

  »Komm jetzt, wir müssen durch die Sicherheitskontrolle.«

  Wie immer dauerte es eine Ewigkeit, bis Pamela alle Metallgegenstände vorgewiesen und abgelegt hatte, vom Fußkettchen bis zum Platinarmband.

  Lucille knallte ihr Köfferchen aufs Band, und als sie durch die Kontrolle gegangen war, ließ sie es einfach liegen.

  »Yannik«, Pamelas Stimme klang sanft verweisend, »bitte!« Sie wies mit der Rose auf das vertrackte rote Ding,

so, daß jeder annehmen mußte, er habe es vergessen. Wütend hob er es auf und trug es durch den Tunnel in die Maschine.

  Zu seiner Erbitterung gab es nur Zweierreihen. Die Frage, neben wem er sitzen würde, tauchte gar nicht erst auf.

  »Ihr habt ja reichlich Platz, ihr beiden«, bemerkte sein Vater wohlwollend.

  Pamela fügte lächelnd hinzu: »Sei ein kleiner Gentleman, Yannik, und laß Lucille ans Fenster.«

  »Nicht die ganze Zeit. Nur die Hälfte.«

  Niemand antwortete. Hinter ihm tauchten sein Vater und Pamela in ihren Sitzen unter, und Lucille kramte unentwegt mit der Hand in der Tasche ihres Blazers.

  Das hatte sie schon getan, als sie aus der Schule gekommen und in Maxims Wagen gestiegen war. Überhaupt wirkte sie heute noch muffiger und überheblicher als sonst.

  Sie hatte Yannik in der Tat einiges voraus, zum Beispiel, daß sie zwei Sprachen konnte, zwei Wohnsitze hatte und zwei Elternteile besaß, von denen einer, nämlich ihre Mutter, ständig verfügbar war.

  Aber da es immer noch besser war, mit Lucilles zu sprechen als mit niemandem, leitete er die Unterhaltung ein mit der Frage: »Warum willst deinen blöden Schulkoffer nicht tragen?«

  »Ich kann nicht.«

  »Doch, du kannst. Du bist nicht krank oder so was.«

  »Siehst du denn nicht, daß ich was anderes zu tun habe?« Lucille blieb abgewandt, kramte in ihrer Tasche und gab sich so geheimnisvoll, daß Yannik es nicht länger aushielt. Er zog sie so fest an ihren hellen Haarsträhnen, bis sie sich widerwillig nach ihm umdrehte, nicht ohne laut aufzuheulen.

  Auf den Sitzen hinter ihnen kam ein zweistimmiges: »Kinder, benehmt euch bitte!«

  »Yannik zieht mich an den Haaren!« schrillte Lucille, »dabei muß ich jetzt Sultan füttern! Sag ihm, er soll mich in Ruhe lassen!«

  Die Stimmen summten beruhigend im Hintergrund, aber Yannik hörte nicht zu. Er starrte Lucille verständnislos an.

  »Sultan? Wer ist das?«

  »Mein Hund.«

  »Du spinnst ja!«

  »Nein!«

  »Du bist ja hohl hier«, er tippte sich verächtlich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.

  Irgendwoher ertönte ein schwaches Piepsen.

  »Wenn ich ihn jetzt nicht füttere, muß er sterben, und daran bist du schuld!« rief Lucille. Schon beugte sich ihre Mutter von hinten über die Sitzlehne.

  »Yannik, bitte! Lucille kann sich jetzt nicht um dich kümmern. Warte, bis sie mit Sultan fertig ist.«

  »Wer zum Teufel ist Sultan?« tönte es über die andere Sitzlehne, und Yannik verdrehte dankbar den Kopf nach seinem Vater.

  »Mein Hund!« jammerte Lucille.

  »Was? Wer?«

  »Sie meint doch nur ihr Tamagotchi«, säuselte Pamela und zog Maxim wieder neben sich auf den Sitz zurück.

  »Eigentlich ist es ein Ei«, erklärte sie geduldig, »es kommt aus Japan. Ein Spielzeug, verstehst du? Ein künstliches Tier, das zu bestimmten Zeiten gefüttert und betreut und schlafen gelegt werden muß. Es verkümmert, wenn man die Zeiten nicht einhält, es schrumpft und geht ein.«

  »Meine Güte!« stieß Maxim verdutzt hervor. »Warum tut man sich so was an?«

  »Es ist pädagogisch sinnvoll. Kinder lernen Verantwortung zu übernehmen. Ich bin sicher, die Tamagotchis setzen sich auch auf dem europäischen Markt bald durch.«

  »Ich habe noch nie davon gehört! Wie bist du daran gekommen?«

  »Lionel hat es aus Japan mitgebracht. Leider hält es nur zwei oder drei Wochen. Dann muß man es neu programmieren.«

  »So ein Quatsch!«

  »Sag das nicht, Max. Lucille kümmert sich rührend um Sultan. Ich hätte nie gedacht, daß sie so fürsorglich sein könnte, so zuverlässig! Sie ist schließlich erst sechs!« Pamela lehnte den Kopf ans Polster.

  »Sicher, sicher«, murmelte Maxim zerknirscht und tätschelte ihre Hand.

  »Gib ihn mir einmal«, bettelte Yannik, »nur ein einziges Mal.«

  »Nein.«

  »Warum nicht?«

  »Du machst ihn kaputt.«

  »Mach ich nicht!«

  »Doch, du bist immer so grob.«

  »Ich tu ihm nichts! Ich schwöre es! Großes Ehrenwort!«

  »Sultan gehört mir allein!«

  »Ich will ihn ja gar nicht haben, ich will ihn nur mal kurz halten!«

  »Nein, du kriegst ihn nicht.«

  »Kinder, seid friedlich«, kam es zweistimmung, »und legt eure Gurte an, wir landen in zehn Minuten!«

  Die Wohnung der Wintrops lag im ersten Stock eines ehrwürdigen großen Hauses aus den Zeiten der Königin Victoria in der Nähe des Regent-Parks.

  Die Räume waren fast drei Meter hoch, die Badewannen standen auf geschwungenen Füßen. Die Fenster öffneten sich nach außen, statt nach innen. Alle Türen hatten Drehknöpfe statt Klinken.

  Um eine Tür zu verschließen, brauchte man nur den Kopf zweimal herumzudrehen.

  Genau das tat Yannik am Abend dieses Tages, als er für ein Stündchen mit Lucille allein in der Wohnung war. Lionel hatte sie alle am Flughafen abgeholt, mit überschwenglicher Freude die Rose in Empfang genommen und Pamela und Maxim auf einen Drink in den Pub nebenan geführt. Lucille hatte Sultan gestreichelt und ihn mitsamt ihrem Lackköfferchen, ihrem Blazer und ihrer Schulkrawatte auf einem Mahagonitisch abgelegt, weil sie dringend ins Bad mußte.

  Genau dort hatte Yannik sie eingeschlossen, um endlich in Ruhe das Geheimnis des Tamagotchi zu lüften.

  Lucille, in der Annahme, daß sie den Kopf nur von innen zu drehen brauchte, um wieder hinaus zu gelangen, erreichte damit das Gegenteil. Sie verriegelte die Tür so gründlich, daß der alte Mechanismus sich nicht mehr bewegen ließ.

  Ohne auf ihr Geschrei zu achten, untersuchte Yannik das merkwürdige Kunststoffgebilde, dessen Töne ihn an seinen

Gameboy erinnerten.

  Es bedurfte zwar einiger Phantasie, um das kleine Wesen im Inneren als Hund zu definieren, aber egal, es bewegte sich und stellte von Zeit zu Zeit lautstarke Anforderungen. Yannik wußte nicht, was zu tun war, wenn es sich meldete, aber darauf kam es nicht an, denn im Moment schien es zufrieden zu sein.

  Um Lucille noch ein bißchen länger zu ärgern, beschloß er, Sultan zu verstecken.

  Er sah sich um, stieg auf einen Stuhl, öffnete ein Türchen in der Wand und hielt ein gerahmtes Foto in der Hand. Er stopfte das Tamagotchi ins Innere des Wandschränkchens zwischen einen Stapel Briefe, legte das Foto obenauf und klappte das Türchen zu.

  Dann sprang er wieder hinunter auf den chinesischen Teppich und rief Lucille zu, sie solle sich nicht so anstellen.

  »Mach auf«, jammerte sie und hämmerte wie wild gegen die Badezimmertür.

  »Ja, ja«, er drehte den Knopf zweimal nach links, ohne Erfolg, dann zweimal nach rechts.

  »Jetzt müßte es gehen«, murmelte er, aber nichts rührte sich im Schloß.

  Lucille schrie Zeter und Mordio. Sie machte ihm Angst. Er drehte und drehte, zerrte und rüttelte, taumelte rückwärts, prallte gegen den Mahagonitisch – und hielt den Türknauf in der Hand.

  Jetzt war Lucille auf sich allein gestellt, denn Yannik hatte nichts mehr, das er einsetzen konnte.

  Als er seinen Vater und die Wintrops endlich kommen hörte, fiel ihm einerseits ein Stein vom Herzen, andererseits sah er den diversen Schuldzuweisungen mit gemischten Gefühlen entgegen.

  Aus dem Bad kamen heisere, erstickte Schluchztöne, die fast nichts Menschliches mehr an sich hatten. Ausnahmsweise empfand Yannik mit Lucille. Er konnte verstehen, daß sie sich noch einmal in ein ohrenbetäubendes Crescendo steigerte, als sie die Stimmen ihrer Eltern hörte.

  Lionel und Pamela, nachdem sie kopflos durch die riesige Diele zum Bad gestürzt waren, starrten einander entgeistert an und ergingen sich in Beruhigungen, die weder auf Yannik noch auf Lucille sehr glaubwürdig wirkten. In der Tat waren sie vollkommen hilflos. Zum ersten Mal erlebte Yannik, daß der unbewegte Lionel die Fassung verlor und Pamelas watteweiche Stimme zu klirren begann.

  Sie verlangte, er solle sofort einen Klempner holen. Er machte sie darauf aufmerksam, daß es sieben Uhr abends und noch dazu Freitag sei, daß sie sich in London befinde und nicht auf dem Land, wo man Gott und die Welt persönlich kenne.

  Sie blätterte mit fliegenden Händen das Telefonbuch durch, er umkreiste zappelnd den Mahagonitisch und behauptete, das sei vergebliche Liebesmüh.

  Lucille hatte neue Kräfte gesammelt und schrillte wie eine Sirene.

  Pamela rannte zum Telefon, wählte eine Nummer, warf den Kopf zurück, fuhr sich mit der gespreizten Hand durchs Haar und schloß gepeinigt die Augen, während sie wartete. Dann sprach sie mit gedrosselter Stimme ein paar Sätze und legte wieder auf.

  »Na?« fragte Lionel.

  »Es war nur der Anrufbeantworter.«

  »Hab ich es nicht gleich gesagt?«

  »Dann mach einen besseren Vorschlag! Du bist nicht besonders konstruktiv, weißt du!«

  Maxim, der zwischendurch verschwunden war, tauchte aus dem Gästezimmer wieder

auf, einen Drahtbügel in der Hand, den er aufgebogen hatte.

  »Was willst du denn damit?« rief Lionel und lachte hohl.

  »Nur mal probieren…«

  »Bloß nicht! Auf diese Weise ruinierst du auch noch den Rest! Das ist ein uraltes Schloß!«

  »Na und? Darauf kommt es doch jetzt nicht mehr an!« Maxim kniete sich auf den chinesischen Teppich und begann mit dem Draht im Schloß herumzustochern.

  Lucille, die offenbar Hoffnung schöpfte, verstummte vorübergehend.

  Auch Pamela hielt unwillkürlich den Atem an, und Lionel beschränkte sich auf verächtliche Lautmalereien. »Tststs – hmmhmmhmm –«

  Yannik spitzte die Ohren. Einen Meter über ihm kam ein schwaches Piepsen aus der Wand.

  Niemand außer ihm schien es zu bemerken.

  Maxim brummte und knurrte, machte ein paar Lockerungsübungen mit den Schultern, überhörte Lionels geringschätzige Kommentare, kniff das rechte Auge zusammen und bohrte verbissen mit dem Draht im Schloß herum. Plötzlich, als schon niemand mehr damit rechnete, fand er einen Widerstand.

  Es knirschte. Es klickte.

  Die Tür sprang auf.

  Heraus stolperte Lucille, tränenüberströmt, immer noch schluchzend, in die weit ausgebreiteten Arme ihrer Mutter.

  Maxim kam auf die Füße und massierte sich die steifen Knie. Lionel stand verblüffend herum, lachte töricht und murmelte widerstrebend beifällig: »Gute Arbeit, alter Junge! Du solltest Safeknacker werden!«

  Yannik musterte ihn voller Empörung.

  Er wollte gerade den Mund aufmachen und klarstellen, daß der Held des Tages sein Vater und nicht etwa Lucilles Vater war, als ihn das schwache Piepsen aus dem Wandschrank an seine eigene Pflicht erinnerte.

  Wortlos rückte er den Stuhl heran, stieg hinauf, öffnete das Türchen und konnte es nicht verhindern, daß beim Kramen nach dem Tamagotchi ein paar Briefe zu Boden flatterten. Auch das gerahmte Foto war nicht zu halten. Es rutschte an ihm vorbei und landete nicht ganz wohlbehalten auf dem Mahagonitisch.

  Yannik kümmerte sich kaum darum.

  Er sah, wie sich Lucilles verweinte Augen weiteten und genoß die freudige Erleichterung, mit der sie ihren Hund in Empfang nahm. Sie war viel zu beschäftigt mit der Kontrolle seiner sämtlichen Funktionen, als daß sie Fragen nach der ungewöhnlichen Unterbringung gestellt hätte, die selbst Yannik im Nachhinein nicht mehr ganz erklärlich schien.

  Nach allem, was passiert war, wußte er nicht mehr, warum er sich die Mühe gemacht hatte, das Tamagotchi zu verstecken.

  Lucille versank förmlich in ihrer Aufgabe, und Yannik fühlte eine Hand im Nacken.

  »Ich glaube, wir ziehen uns jetzt mal ein bißchen zurück«, hörte er seinen Vater sagen, hastig, mit künstlicher Munterkeit, »wir haben ja unsere Sachen noch gar nicht ausgepackt.«

  Yannik wollte einwenden, daß er auch noch nichts gegessen hatte und ihm dies wichtiger erschien, als die Zahnbürste in ein Glas zu stellen und die Ersatzjeans in einen Schrank zu hängen.

  Aber irgend etwas in der Haltung seines Vaters ließ ihn willenlos gehorchen.

  Im Hinaustrotten sah er Pamela am Tisch stehen und auf das Foto starren, während Lionel hektisch herumwirbelte und die Briefe aufsammelte. Eine starke Spannung lag in der Luft.

  »Wer ist das?« fragte Pamela, noch bevor Yannik und Maxim sich aus der Diele schleichen konnten. Ihre sonst so wohlmodulierte Stimme klang dünn und zirpend.

  Yannik wollte sich nach einem Umschlag bücken, der unter den Stuhl gefallen war, aber sein Vater zog ihn unnachgiebig hinter sich her und raunte: »Komm jetzt endlich!«

  Im Gästezimmer saßen sie sich eine Weile tatenlos gegenüber, Yannik auf dem Bett, Maxim auf einem Polsterschemel.

  Irgend etwas war total schief gegangen. Yannik, der schon das Drama mit der Badezimmertür auf dem Gewissen hatte, fragte sich beklommen, ob ihm der Sprung im Glas des Bilderrahmens jemals verziehen würde.

  »Das war kein guter Tag«, begann er zaghaft.

  Sein Vater saß vorgebeugt, die Arme auf die Knie gelegt, die Hände gefaltet.

  »Nein, nicht so gut«, murmelte er, aber er sah so geistesabwesend aus, daß Yannik sich gar nicht angesprochen fühlte. Etwas später klopfte es, und Pamela fragte mit angestrengter Freundlichkeit, ob sie nicht allmählich hungrig wären.

  Yannik atmete auf.

  Maxim antwortete so unbekümmert wie möglich: »Doch, ja, wir könnten einen Imbiß vertragen!«

  Beim anschließenden Essen in einem piekfeinen Restaurant war Lionel so zerstreut, daß er die Bestellung falsch aufgab und Yannik sich einer gegrillten Forelle gegenübersah. Aber in Anbetracht der niederschmetternden Ereignisse des Tages unterdrückte er mannhaft jede abfällige Äußerung und würgte mit Todesverachtung die Hälfte der Fischportion hinunter.

  Lucille war auffallend still, appetitlos und ausschließlich auf ihr Tamagotchi konzentriert.

  Maxim versuchte krampfthaft witzig zu sein, gab seine Bemühungen jedoch nach einer Weile auf. Pamela sprach so gut wie gar nicht. Erst ganz zum Schluß sagte sie, ohne jemanden anzusehen: »Ich habe unseren Flug umgebucht. Wir reisen am Sonntag zurück.«

  »Mit uns?« fragte Yannik.

  »Ja«, sie nickte ihm zu und strich Lucille liebevoll übers Haar, »wir fliegen in der gleichen Maschine. Dann könnt ihr wieder nebeneinander sitzen.«

*

  Schnaubend vor Ärger zog Axel Bloomendal seine Hausjacke über und sah auf die Uhr.

  Es war einfach lächerlich,  jeden Dienstag und jeden Donnerstag um halb drei für genau zehn Minuten anwesend sein zu müssen.

  »Ich komme mir vor wie ein Vollidiot«, stieß er grollend hervor.

  »Warum triffst du dann solche Abmachungen?« fragte Claire und schloß das Fenster. Unten war gerade die schwere Limousine des Langenfelds vorgefahren, und das Wunderkind näherte sich lustlos dem Eingang.

  »Das war allerdings ein Fehler«, räumte Axel Bloomendal widerwillig ein, »aber er läßt sich korrigieren. Ich werde dieses absolut sinnlose Arrangement rückgängig machen.«

  »Je eher, desto besser!«

  »Du hättest nichts dagegen?«

  »Ich? Wie kommst du denn darauf? Rede dir nur ja nicht ein, daß wir die Schau zweimal die Woche mir zuliebe abziehen«, ereiferte sich Claire.

  »Du verdienst immerhin gut dabei!«

  »Aber es bringt mir nichts, Onkel Axel! Und es stört mein ganzes Wochenprogramm.«

  »Meines auch«, seufzte Axel Bloomendal und setzte sich pro forma ans Klavier, während seine Nichte die Tür öffnete und Livia Langenfelds Enkel begrüßte.

  Wie üblich beschränkte sich der Maestro darauf, die Etüde des Tages mit flinker Hand auf geschlossenen Augen vorzuspielen, seinem Schüler ein paar belanglose Fragen zu stellen und ihm Grüße an seine Großmutter aufzutragen. Dann stand er auf, verabschiedete sich rasch und überließ ihn für den Rest der Stunde seiner Nichte.

  Yannik rutschte unruhig auf dem hohen Schemel hin und her, denn jetzt kam die eigentliche Tortur.

  »Na los«, sagte Claire aufmunternd, »laß mich hören, was du kannst!«

  Er klimperte zum Spaß ein bißchen herum und ließ die Hände sinken.

  Angesichts der klaren aquamarinblauen Augen, die ihn forschend musterten, entschloß sich Yannik, die Flucht nach vorn anzutreten. Claire konnte man nichts vormachen. So, wie sie mit verschränkten Armen vor dem Fenster lehnte, umflossen vom Mittagslicht, das ihr rotgoldenes Haar wie einen Strahlenkranz aufleuchten ließ, sah sie aus wie ein Erzengel, wachsam und streitbar.

  Sie kannten sich jetzt drei Wochen, das heißt, sie hatten einander sechsmal gesehen. Sie wußten beide, woran sie miteinander waren.

  »Ich konnte überhaupt nicht üben«, gestand Yannik.

  »Nanu? Warum denn nicht?«

  »Keine Zeit.«

  »Hält deine Großmutter dich denn überhaupt nicht dazu an?«

  »Sie hat auch keine Zeit.«

  »Meine Güte, ihr scheint ja eine enorm beschäftigte Familie zu sein. Was war denn diesmal los? Mußtest du wieder nach London am Wochenende?«

  »Nein, Großmutter war zu einer Ausstellung in Holland – Rosen und Hängepflanzen.«

  »Aha. Und du?«

  »Ich mußte mit zu einem ganz doofen Schulfest in der Internationalen Schule. Samstags und sonntags! Furchtbar.«

  »Yannik«, Claire beugte sich vor und sah ihm forschend ins Gesicht, »gibt es eigentlich irgend etwas, das du wirklich gern tust?«

  Er schnappte nach Luft.

  »Du machst dir nichts aus dem Klavier«, fuhr sie eindringlich fort, »das ist mir schon klar, und du übst so gut wie nie, das steht auch fest. Aber alles andere, das du statt dessen tust, scheint dir genauso wenig Spaß zu machen. Hast du denn keine Freunde?«

  »Doch, in der Klasse – ein paar. Aber die sehe ich ja nicht am Wochenende. Kann ich dich jetzt auch mal was fragen?«

  »Bitte.«

  »Hast du deine Mutter gekannt?«

  »O ja. Sie ist erst vor zwei Jahren gestorben.«

  »Und dann? Hast du eine neue Mutter bekommen?«

  »Nein.«

  »Hättest du gern eine gehabt?«

  Claire dachte nach und schüttelte langsam den Kopf.

  »Nicht unbedingt.«

  »Siehst du. Ich auch nicht.«

  »Aber ich war ja schon erwachsen, Yannik.«

  »Das ist doch egal.«

  »Ist es nicht. Oder vielleicht doch. Wie auch immer, ich wäre froh, wenn mein Vater wieder eine nette Frau finden würde. Leider macht er nicht die geringsten Anstalten dazu.«

  »Meiner ja, und ich bin überhaupt nicht froh.«

  Claire lehnte sich wieder ans Fenster.

  »Mach ihm das Leben nicht schwer, Yannik«, sagte sie aufmunternd, »laß dir lieber mal was Positives einfallen.«

  »Was denn?«

  »Na, irgend etwas, das du gern tätest.«

  »Was tust du denn gern?«

  »Ich? Wieso ich. Auf mich kommt es hier nicht an!«

  »Ach komm, sag doch mal!«

  »Also – ich koche gern.«

  Yannik, dem diese Tätigkeit nur als Berufsbild vertraut war, vornehmlich als französisches, ging mit leichtem Befremden über diesen Punkt hinweg.

  »Was noch?«

  »Ich musiziere gern, aber nur mit Leuten, denen es auch Freude macht.«

  Yannik schluckte und schlug verlegen eine Taste an.

  »Gibst du gern Unterricht?« fragte er nach einer Pause.

  »Ehrlich gesagt, nein.«

  Yannik traute seinen Ohren nicht.

  »Nein?«

  »Nein.«

  Er war nicht nur sprachlos. Er war entrüstet.

  Claire ließ die Arme sinken und stützte sie auf die Fensterbank.

  »Denkst du wirklich, es wäre mir ein Vergnügen, drei Wochen lang mit dir über der ersten Etüde zu sitzen? Und mich damit abzufinden, daß du bis jetzt keine einzige Note lesen gelernt hast? Und mir jedes Mal anzuhören, daß du keine Zeit hattest, dein Übungsheft auch nur aufzuschlagen?«

  »Aber ich hatte wirklich keine Zeit!«

  »Darum geht es nicht. Du wolltest wissen, ob es mir Spaß macht, und du hast eine ehrliche Antwort bekommen.«

  Yannik senkte den Kopf. Er hatte braunes lockiges Haar wie sein Vater und taubenblaue Augen wie seine verstorbene Mutter.

  »Fährst du gern Fahrrad?« fragte er plötzlich.

  »Und wie! Du etwa auch?«

  »Ja.«

  »Nicht zu glauben! Ich dachte schon, wir hätten überhaupt nichts gemeinsam! Komm, wir spielen noch ein weiteres Lied, das du garantiert auswendig kannst!«

  »Welches?«

  »Alle Vögel sind schon da.«

  »Vierhändig?«

  »Aber ja doch! Rück mal ein Stück, damit ich mich setzen kann.«

  Die letzte Viertelstunde verging sozusagen unbemerkt.

  »Warte, ich muß noch dein Taxi rufen«, sagte Claire, als die Armbanduhr an Yanniks Handgelenk zu piepsen begann.

  »Heute nicht. Mein Vater kommt.«

  »Bist du sicher?«

  »Ja, weil wir nämlich um vier in der Internationalen Schule sein müssen, um Lucilla abzuholen. Dafür«, Yanniks Stimme klang grämlich, »ist er immer pünktlich.«

  Claire warf einen Blick aus dem Fenster und sah die Limousine im Schrittempo heranrollen.

  »Mach’s gut«, sagte sie herzlich, »bis zum Donnerstag. Brauchst die Etüde nicht zu üben. Schreib lieber alle Lieder auf, die du kannst.«

  »Au ja!« rief er im Hinausgehen. Zum ersten Mal klang etwas wie Begeisterung in seiner Stimme.

*

  Lucille kaute einen Schokoriegel und sah verdrossen aus. »Ihr kommt ja soo spät! Mami läßt mich nie so lange warten!«

  »Wir sind in einen Verkehrsstau geraten«, verteidigte sich Maxim, »Yannik, gib Lucille bitte ein Papiertaschentuch.«

  »Ich brauch keins!«

  »Hier«, sagte Yannik, griff hinter sich auf die Hutablage und drängte ihr eine Packung Kleenex auf, »in diesem Auto darf eigentlich überhaupt nichts gegessen werden, kein Eis, kein Kaugummi, keine Schokolade – nichts, das klebt oder tropft oder fettig ist.«

  »Wer sagt das?«

  »Mein Vater.«

  »Mein Daddy läßt mich überall essen, alles, was ich will«, sprudelte Lucille so heftig hervor, daß Yannik unwillkürlich ein Kleenex zückte.

  »Und meine Mami auch«, setzte sie triumphierend hinzu.

  »Habt ihr euch angegurtet da hinten?« fragte Maxim, um das Thema zu wechseln.

  »Ja, Papi.«

  »Gut.«

  Es war halb fünf, und vom Himmel ging ein Gewitterregen nieder, der den Verkehr schon wieder fast zum Stillstand brachte.

  »Mach doch schneller«, rief Lucille ungeduldig, »Mami wartet bestimmt schon stundenlang beim Zahnarzt!«

  »Beim Zahnarzt?« wiederholte Yannik alarmiert.

  »Ja! Und wir kommen auch gleich dran!«

  »Ich nicht«, krächzte Yannik entsetzt, »mir hat das keiner vorher gesagt!«

  »Weil du sonst nicht mitgekommen wärest.«

  »Tu ich ja auch nicht! Ich gehe nicht mit rein. Ich bleibe im Auto.«

  »Yannik!«

  »Ja, Papi?«

  »Mach keinen Streß!«

  »Der Zahnarzt heißt Haase«, piepste Lucille, »und er ist immer so lustig!«

  »Er ist ein Monster«, murmelte Yannik düster.

  Maxim umklammerte das Steuer, starrte auf die emsig sich bewegenden Scheibenwischer und wünschte sich weit, weit fort.

  In letzter Zeit hatte er oft das Bedürfnis, sich völlig zu absentieren und kein einziges bekanntes Gesicht zu sehen. Seine Nerven schleiften am Boden.

  Das lag natürlich großenteils an der Ehekrise der Wintrops, die, wie ihm eine innere Stimme sagte, noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte. Zwar schlugen die Wellen des Unmuts, der Erbitterung, der Anklage auf Seiten Pamelas immer noch haushoch, aber dazwischen gab es immer das Stadium der Beherrschung, der scheinbar ruhigen, distanzierten Betrachtungsweise, das, was Pamela ›die Analyse der Situation‹ nannte, wobei sie ihrer Nebenbuhlerin ein hohes Maß an Intelligenz bescheinigte, ein attraktives Aussehen und ein charmantes Wesen.

  Diese Sicht der Dinge konnte Maxim nicht teilen, er hielt sie für eine Verirrung, eine Verleugnung von Gefühlen, wenn nicht sogar für Heuchelei.

  »Himmel noch mal, Pamela, du brauchst sie nicht ins Herz zu schließen. Kein Mensch erwartet von dir, daß du Muriel Pond zu Füßen liegst.«

  »Ich muß meine Beziehung zu ihr neutralisieren«, war Pamelas unverständliche Antwort auf seine immer ärgerlicheren Vorhaltungen.

  Seit sie das gerahmte Foto auf dem Mahagonitisch in der Diele der Londoner Wohnung in Händen gehalten und drei der handgschriebenen Briefe gelesen hatte, die aus dem Wandschrank geflattert waren, fiel Pamela von einem Extrem ins andere.

  Zuerst hatte sie Lionels Erklärungen rundweg abgeschmettert und nichts wissen, nichts hören wollen. Danach war sie genau umgekehrt verfahren, sie hatte nicht genug hören können, hatte keine Ruhe gegeben, bis sie alles wußte, bis sie Lionel die Generalbeichte abgenommen und Muriel Pond getroffen hatte.

  »Keine sehr aufbauende Begegnung«, wie sie Maxim seufzend eingestand, denn Muriel war nicht nur eine rassige Schönheit mit lackschwarzem Ponyschnitt, sondern auch eine gestandene Geschäftsfrau, die ihr eigenes Unternehmen leitete, Designermoden creierte und heikle Gespräche locker zu führen verstand. Sie war unverheiratet, kinderlos, unabhängig und drei Jahre älter als Pamela.

  Diese Tatsache, wie Maxim zu seiner Verblüffung bemerkte, machte seiner hübschen, pastellfarbenen Freundin am meisten zu schaffen.

  »Aber verstehst du denn nicht, Max! Mein Problem ist ihre Persönlichkeit!«

  Nein, das verstand er nicht.

  Lionel signalisierte zwar seinen Wunsch nach Erhalt von Ehe und Familie, schien jedoch nicht zum Abbruch sämtlicher Beziehungen zu Muriel Pond bereit zu sein. Darin, so argumentierte Maxim, lag Pamelas eigentliches Problem.

  »Wie kannst du das sagen, Max, gerade du! Sind wir denn nicht ebenso oft zusammen wie Lionel und Muriel? Und hat sich daraus jemals ein Problem ergeben?« Eben nicht. Und warum nicht?

  Weil sie ihn auf ihre unnachahmliche, äußerst geschickte Art stets auf Distanz hielt. Auch jetzt noch, obwohl er ihr als einziger Vertrauter natürlich näher war als vorher. Aber letzten Endes, wie er sich unwirsch eingestand, als er den Wagen durch den zähen Verkehr lenkte, lief es doch nur darauf hinaus, daß er Botenfahrten für sie erledigte und für offizielle Anlässe eingespannt wurde, Schulfeste, beispielsweise, und daß er nie, nie, nie mit ihr allein war, schon gar nicht abends oder gar an einem Wochenende. Im Grunde, dachte Maxim, endlich auf den Parkplatz einbiegend, besteht unsere Verbindung hauptsächlich aus Telefongesprächen. Begreiflicherweise legte Pamela großen Wert darauf, ihre Ehekrise nicht vor den Kindern zu erörtern, so daß dieses Thema bei ihren persönlichen Begegnungen ausgespart werden mußte.

  »Ich brauche überhaupt nicht mitzugehen«, stellte Yannik mit hörbarer Erleichterung fest, als Maxim den Motor abstellte und den Sicherheitsgurt löste, »weil ich keinen Zettel bekommen habe.«

  »Was für einen Zettel?«

  »Vom Schulzahnarzt.«

  »Wann war die letzte Untersuchung?«

  »Neulich erst.«

  »Yannik! Wann genau?«

  »Nach den Osterferien.«

  »Du kommst trotzdem mit.«

  »Nur weil Lucille zum Zahnarzt muß, soll ich auch gehen? Das ist nicht gerecht, Papi!«

  Maxim zögerte.

  »Keinesfalls bleibst du allein im Auto auf dem Parkplatz. Also, komm.«

  »Aber nur ins Wartezimmer!«

  »Okay.«

  »Schwörst du es?«

  Maxim war ausgestiegen. Der Regen prasselte auf ihn nieder. Schaudernd hob er die Schwurhand. Seine Stimmung, als er die Praxisräume betrat, war auf dem Nullpunkt.

  Pamela, die offenbar ein gewisses Gespür entwickelte, legte ihm sanft die Hand auf den Arm und lächelte ihn liebreich an.

  »Was ist?«

  »Scheußliches Wetter«, murmelte er, als wäre damit alles gesagt.

  »Wollen wir zusammen essen?«

  Seine Miene hellte sich auf.

  »Großartig! Wie wäre es mit dem neuen Steakhaus? Ganz so neu ist es zwar inzwischen nicht mehr…«

  »Ich dachte eher an einen gemütlichen Schmaus bei mir zu Hause.«

  »Du willst doch nicht kochen?« entfuhr es Maxim beim Gedanken an die Ungenießbarkeiten, die Pamela mit entschuldigendem Lächeln auf den Tisch zu stellen pflegte.

  »Keine Angst«, sie zwinkerte ihm fröhlich zu, »ich lasse etwas vom Chinesen kommen.«

  »Also nichts mit dem Steakhaus und der netten kleinen Bar im Parkhotel?«

  »Lieber, du weißt, daß ich Lucille nicht allein lasse.«

  »Was ist eigentlich aus der Babysitterin geworden, die dir im Tennisclub empfohlen wurde?«

  »Ach, sie war ganz ordentlich«, lächelte Pamela, »nur daß Lucille sie nicht ausstehen konnte.«

  »Na dann«, sagte Maxim und riß sich zusammen, »machen wir das Beste draus! Du bestellst Schweinefleisch süßsauer und Frühlingsrollen, ich bringe den Wein mit und ein paar Kuschelrock-CDs zum Aufwärmen.«

  »Oh lá lá! Das klingt ja frivol!«

  »So bin ich nun einmal«, erwiderte Maxim, schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln, versenkte die Hände in den Taschen und schlenderte lässig im leeren Wartezimmer auf und ab.

  Yannik unterdrückte den Impuls, seinem Vater ein Bein zu stellen, und vertiefte sich in ein abgegriffenes Comic-Heft. Aus dem Sprechzimmer kam ein empörter Aufschrei von Lucille. Dann die erstaunte Stimme des Zahnarztes.

  »Das kann aber gar nicht weh tun!«

  Yannik nickte wissend vor sich hin.

  »Du solltest wirklich«, begann Pamela, »wo wir nun schon einmal hier – nur zur Kontrolle.«

  Nein. Yannik erstarrte in eiserner Abwehr. Er war nicht nur kein kleiner Gentleman, er war auch kein kleiner Held.

*

  Auf dem runden Tisch brannten drei rosenrote Kerzen in blauen Keramik-Leuchtern, passend zum blauweißen Wedgewood-Geschirr und der bordeuroten Leinendecke.

  Die Eßnische in der geräumigen Penthouse-Wohnung der Wintrops im Rhein-Ruhr-Gebiet lag neben der offenen Küche im Landhausstil, wie sich überhaupt die Wohnung durch Offenheit auszeichnete. Es gab kaum Türen, nur bogenförmige Durchgänge, dekorative Raumteiler und natürlich den allgegenwärtigen Blick auf die Dachterrasse.

  Die Einrichtung war von der gleichen schlichten Eleganz, die Maxim an Pamela so bewunderte. Sie brachte es fertig, selbst das ordinäre chinesische Fast-Food wie ein festliches Menue zu servieren, und das Ende eines düsteren, verregneten Tages so angenehm zu gestalten, daß man seinen ganzen Frust vergaß.

  Sie trug einen weichen caramelfarbenen Hosenanzug und ein breites cremeweißes Band, das ihr Haar zurückhielt und die schöne Form ihres Gesichts in zarten Pfirsichtönen für sich allein wirken ließ.

  In Maxims Augen war sie die betörendste Frau, die man sich vorstellen kann. Wenn sie nicht gerade ihre eheliche Situation analysierte, war sie auch eine bezaubernde Gesellschafterin.

  Aber selbst jetzt, da ihr Gleichgewicht ins Wanken geraten war, verbreitete sie eine angenehme Atmosphäre, eine wohltemperierte Wärme, die er in vollen Zügen genoß. Die Wintrops waren ein Teil seines Lebens. Er hatte sich so an sie gewöhnt, daß er alle seine Freizeitunternehmungen mit ihnen abstimmte. Insofern wirkte die Krise lähmend und störend auch auf ihn, zumal er nie damit gerechnet hatte. Lionel in seiner distanzierten, reservierten Art hatte ihm immer ferner gestanden als Pamela. Jetzt, da man Farbe bekennen und sich für eine Seite entscheiden mußte, stand er ganz entschieden hinter ihr. Wenn sie doch nur das leidige Verfahren abkürzen und sich nicht so hineinsteigern würde! Wozu sollte das gut sein? Wem konnte das nützen? Seiner Ansicht nach komplizierte sie die Dinge ganz bewußt und trieb sie mit Gewalt auf die Spitze.

  »Gib mir Zeit«, bat sie, nachdem er stirnrunzelnd mit seinem Weinglas auf die Terrasse ausgewichen war, während sie mit Lionel telefonierte, »und gieß mir noch einen Schluck Wein ein. Er ist köstlich!«

  Maxim tat, wie ihm geheißen und setzte sich wieder an den Tisch.

  Lucille plätscherte immer noch im Bad herum.

  »Nimm dir die Zeit, die du brauchst, aber quäl dich nicht so dabei«, raunte er, »klarer als die Sache ist, kann sie nicht werden.«

  »Ich weiß. Aber ich muß mich doch erst in dieser neuen Situation zurechtfinden!«

  »Sicher«, er streckte die Hand nach ihr aus, weil sie ihm so unendlich leid tat.

  Als Lucille in ihrem pastellblauen Bademäntelchen hinter dem offenen Regal auftauchte, zuckten sie beide zusammen.

  »Hat mein Daddy angerufen?«

  »Ja, Herzchen. Er schickt dir viele Grüße und einen Gute-nachtkuß.«

  »Kommt er nächstes Wochenende?«

  »Nein, er fährt nach Schottland und sucht uns ein schönes Landhaus für die Ferien.«

  »Mit Ponies?«

  »Bestimmt, und mit einem glasklaren, kalten Bach in der Nähe, damit er angeln kann.«

  »Bleiben wir die ganzen Ferien da?«

  »Die meiste Zeit, denke ich, und jetzt sagst du Maxim gute Nacht und wir gehen schlafen.«

  »Ich gehe schlafen«, verbesserte Lucille ungehalten, »du nicht. Du bleibst wieder mit Maxim die ganze Nacht auf!«

  »Aber Lucille«, Pamela ließ ein perlendes Lachen hören, »du weißt ganz genau, daß ich das nie tue!«

  »In letzter Zeit hat sie was gegen mich«, bemerkte Maxim, als Pamela nach einer kleinen Ewigkeit aus dem Kinderzimmer kam, »man könnte meinen, ich wäre der Übeltäter und Lionel das arme Opfer.«

  »Sie ist verwirrt, Max, sie versteht die Welt nicht mehr. Wahrscheinlich wirft sie tatsächlich die Dinge durcheinander. Auch klammert sie sich mehr denn je an mich und richtet sich gegen jeden, der meine Aufmerksamkeit von ihr abzieht. Je nachdem, wie sich das alles entwickelt, werden wir eine Therapie machen müssen.«

  »Du oder Lucille?«

  »Am besten wir alle gemeinsam, sie und ich und Lionel.«

  Maxim starrte sie ungläubig an.

  »Das ist nicht dein Ernst!«

  »Warum nicht? Was ist daran so komisch? Hast du noch nie von Familientherapie gehört?«

  »Doch, ja, gehört schon. Aber ob das auch funktioniert, wenn Muriel unsichtbar im Hintergrund herumspukt – also, ich weiß nicht – verzeih mir, Pamela, das war jetzt sehr taktlos –«

  »Grausam«, murmelte sie und zog ihre Hand zurück, »grausam war es.«

  Maxim räusperte sich, rückte sein Glas auf der roten Tischdecke hin und her und bat mit gedämpfter Stimme formell um Entschuldigung.

  Sie lächelte schon wieder, wenn auch angestrengt.

  »Du hast es im Moment nicht leicht mit mir, gibst dir solche Mühe – denke nicht, daß ich es nicht zu schätzen wüßte!«

  »Dafür sind Freunde da«, sagte er und goß sich noch einmal Wein ein, »und daß ich dein Freund bin, dein bester und treuester, steht hoffentlich außer Zweifel. Aber gerade deshalb muß mir ein offenes Wort erlaubt sein!«

  »Natürlich. Nur zu. Sag’s mir.«

  Er sah in ihr unentwegt lächelndes Gesicht, in die verhangenen blaßgrauen Augen, und er brachte es nicht über sich. Sie mußte selbst herausfinden, daß sie einer Utopie nachjagte, daß sie sich nicht auf Dauer blind und taub stellen konnte; daß es keine Therapie gab, die Muriel aus Lionels Leben katapultieren konnte.

  Plötzlich sagte sie etwas Merkwürdiges.

  »Du bist sehr lieb, Max, aber du warst nicht lange genug verheiratet, um mich zu verstehen. Je länger eine Ehe besteht, um so weniger ist man bereit, sie aufzulösen. Da sind so viele kleine Dinge – Einzelteile, die sich zusammengefügt haben zu einem Muster, und du stellst fest, das ist das Muster deines Lebens. Es läßt sich nicht auftrennen wie ein Flickenteppich.«

  Pamela fuhr mit dem Zeigefinger über die Tischdecke und hinterließ eine kleine Kerbe im Gewebe.

  »Und wie kommt es dann, daß ich so viele geschiedene Leute kenne?« fragte Maxim, dem diese Theorie völlig neu war.

  Sie hob ratlos die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Vielleicht sind sie einfach zu oberflächlich.«

  »Alle?«

  »Ja!«

  »Auch Lionel?«

  »Er ist nicht geschieden.«

  »Aber es gibt wenig Anzeichen dafür, daß er die Dinge so sieht wie du.«

  »Woher willst du das wissen?«