Ich hatte einmal einen Sohn … - Myra Myrenburg - E-Book

Ich hatte einmal einen Sohn … E-Book

Myra Myrenburg

5,0

Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Buchstäblich ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese wirklich einzigartige Romanreihe ist generell der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Wie immer im November packte Uta von Scheer ihre Koffer, ungeachtet der schweren Erkrankung des Hausherrn und der damit verbundenen gedämpften Stimmung im Haus Bergfried, ungeachtet auch der Tatsache, daß sie diese Koffer erst vor drei Monaten ausgepackt hatte. »Du willst doch nicht fort?« erkundigte sich Fräulein Paula, die vor zwanzig Jahren als Kinderfrau ins Haus gekommen und geblieben war, weil sie inzwischen zur Familie gehörte. »Aber ja, sicher«, erwiderte Uta unbekümmert, knüllte einen blitzblauen Badeanzug zusammen und stopfte eine Ecke des prallgefüllten Koffers damit aus. »Das ist nicht dein Ernst!« stieß Fräulein Paula entsetzt hervor. Uta klappte den Kofferdeckel zu und richtete sich auf. Seit Jahren schon überragte sie ihre Kinderfrau um Kopfeslänge. »Aber Paula! Um diese Zeit fahre ich immer weg!« Das stimmte. Leider, wie Fräulein Paula im stillen hinzuzufügen pflegte. Zu lange schon war Uta ihrer Obhut entwachsen, als daß Kritik noch gefruchtet hätte. Vier Jahre in einem Schweizer Elite-Internat hatten aus dem fügsamen, liebenswerten kleinen Mädchen eine anspruchsvolle junge Rebellin gemacht, der nichts mehr heilig war. Vor drei Jahren, nach bestandenem Abitur, hatte Uta mit ihrer Clique beschlossen, den Winter in Goa zu verbringen, an der indischen Malabarküste. Daraus war zu Fräulein Paulas Leidwesen eine Gewohnheit geworden. Von der letzten Goa-Reise war Uta nicht wie sonst im Mai, sondern erst im August zurückgekommen. Wie konnte sie dann jetzt schon wieder ihre Koffer packen? Wie konnte sie überhaupt an eine solche Reise denken, da ihr Vater gerade aus der Klinik entlassen worden war, und keineswegs geheilt!

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Mami Classic – 4 –

Ich hatte einmal einen Sohn …

Myra Myrenburg

Wie immer im November packte Uta von Scheer ihre Koffer, ungeachtet der schweren Erkrankung des Hausherrn und der damit verbundenen gedämpften Stimmung im Haus Bergfried, ungeachtet auch der Tatsache, daß sie diese Koffer erst vor drei Monaten ausgepackt hatte.

»Du willst doch nicht fort?« erkundigte sich Fräulein Paula, die vor zwanzig Jahren als Kinderfrau ins Haus gekommen und geblieben war, weil sie inzwischen zur Familie gehörte.

»Aber ja, sicher«, erwiderte Uta unbekümmert, knüllte einen blitzblauen Badeanzug zusammen und stopfte eine Ecke des prallgefüllten Koffers damit aus.

»Das ist nicht dein Ernst!« stieß Fräulein Paula entsetzt hervor.

Uta klappte den Kofferdeckel zu und richtete sich auf. Seit Jahren schon überragte sie ihre Kinderfrau um Kopfeslänge.

»Aber Paula! Um diese Zeit fahre ich immer weg!«

Das stimmte. Leider, wie Fräulein Paula im stillen hinzuzufügen pflegte. Zu lange schon war Uta ihrer Obhut entwachsen, als daß Kritik noch gefruchtet hätte. Vier Jahre in einem Schweizer Elite-Internat hatten aus dem fügsamen, liebenswerten kleinen Mädchen eine anspruchsvolle junge Rebellin gemacht, der nichts mehr heilig war.

Vor drei Jahren, nach bestandenem Abitur, hatte Uta mit ihrer Clique beschlossen, den Winter in Goa zu verbringen, an der indischen Malabarküste. Daraus war zu Fräulein Paulas Leidwesen eine Gewohnheit geworden. Von der letzten Goa-Reise war Uta nicht wie sonst im Mai, sondern erst im August zurückgekommen. Wie konnte sie dann jetzt schon wieder ihre Koffer packen? Wie konnte sie überhaupt an eine solche Reise denken, da ihr Vater gerade aus der Klinik entlassen worden war, und keineswegs geheilt!

Fräulein Paula verstand es nicht. Sie war zutiefst bestürzt darüber, und ausnahmsweise machte sie keinen Hehl aus ihren Gefühlen. Sie senkte den Kopf, dessen einstmals leuchtende Pracht nur noch in blassem Weißgold schimmerte, faßte nach Utas Hand und raunte in beschwörendem Ton: »Denk an deinen Vater!«

»Aber das tue ich ja«, erwiderte Uta leichthin, »er hat nichts dagegen, daß ich nach Goa fliege! Wir haben schon neulich in der Klinik darüber gesprochen. Da ich zur Krankenpflege überhaupt nicht tauge und mich im Winter hier kein bißchen wohl fühle, hat er mir sogar zugeredet, mich wieder in sonnige Gefilde abzusetzen – Vanessa fliegt ja auch, und die andern sind sogar schon unterwegs.«

»Die andern sind auch nicht erst im August zurückgekommen«, wandte Fräulein Paula mit bebender Stimme ein, »du warst schließlich nur knappe drei Monate zu Hause – und was hast du schon groß getan! Nichts! Du nimmst dir gar nicht erst vor, etwas zu tun, weil es sich für die kurze Zeit nicht lohnt!«

Uta lächelte scheinbar belustigt von oben herab.

»Genau! Es lohnt sich wirklich nicht, irgendein Programm aufzustellen, solange ich die kalte Jahreszeit in Goa verbringe! Gott sei Dank sind Vater und Mutter derselben Meinung.«

Fräulein Paula ließ die sanft gebräunte schmale Hand los, umfaßte Uta mit einem langen Blick und wandte sich ab, stumm, enttäuscht bis in die Tiefen ihres Herzens. Hier gab es nichts mehr zu sagen.

Einen Menschen, der nur an sich selbst dachte, konnte man mit Worten nicht mehr erreichen.

Sie hörte Utas rasche Schritte hinter sich, als sie über das ehrwürdige Parkett der Zimmerflucht hinaus in den Korridor ging.

»Warte, Paula! Sei doch nicht so! Du weißt doch genau, daß ich in dem Moment zurückkomme, wenn es Vater wieder schlechtergeht!«

»Woher soll ich das wissen?«

»Weil ich es dir sage, hier und jetzt! Großes Ehrenwort!« Uta hob die Hand zum Schwur, und Fräulein Paula mußte wider Willen lächeln. Aber ein erlösendes Wort kam nicht über ihre Lippen, eine versöhnliche Geste blieb aus. Abweisend, den Kopf gesenkt, setzte sie ihren Weg in die Küchenräume fort.

Uta sah ihr nach, biß sich auf die Lippen und stürmte in langen Sätzen die breite, geschwungene Treppe hinauf.

Es war fünf Uhr nachmittags.

Wenn sich nicht alles gegen sie verschworen hatte, wenn das Leben im Haus Bergfried seinen gewohnten Verlauf nahm, dann würde ihre Mutter jetzt am Teetisch sitzen, Mozart hören und eine Patience legen. Und so war es auch.

Uta klopfte, trat ein, atmete auf, lauschte flüchtig den bekannten Klängen und wartete, bis ihre Mutter sie mit einer freundlichen Kopfbewegung zum Sitzen einlud.

»Möchtest du Tee?«

»Ja, gern.«

»Dann nimm dir eine Tasse.«

Gisela von Scheer reichte ihrer Tochter die silberne Zuckerdose, das Sahnekännchen und das Schälchen mit den Zitronenscheiben. Dann schob sie mit einem unterdrückten Seufzer des Bedauerns die Patiencekarten zusammen.

Sie war eine zierliche, überaus gepflegte Frau von fünfzig Jahren, die wie alle ätherischen Erscheinungen alterslos und zeitlos zu sein schien.

»Hast du alles gepackt?« fragte sie, während die Mozartmusik ausklang.

Uta nickte, rührte mißmutig in ihrer Teetasse und schlug anklagend die Augen auf.

»Paula ist ja sooo beleidigt«, stieß sie halblaut hervor.

Ihre Mutter hob fragend die hübsch gewölbten Brauen.

»Ich finde, sie hat kein Recht, mich zu kritisieren«, fuhr Uta heftig fort, »wenn ich nach Goa fliege, dann ist das meine Sache, nicht wahr? Ich brauche sie schließlich nicht um Erlaubnis zu fragen, nachdem es nun einmal beschlossen ist und ihr einverstanden seid.«

Gisela von Scheer lehnte sich auf ihrem geschnitzten Stuhl zurück und schob fröstelnd die Hände in die Ärmel ihres weichen zartgrauen Angorapullovers.

»Gewiß.«

»Oder?« Utas Blicke hefteten sich auf ihre Mutter und prallten ab an den gesenkten Augen, dem unbewegten Ausdruck. Wie immer. Gisela von Scheer zu einer klaren Stellungnahme zu bewegen, war ein aussichtsloses Unternehmen.

Seit Uta denken konnte, hatte sie sich immer gefragt, was ihre Mutter wirklich bewegte, was sie wirklich wollte, was sie wirklich erwartete.

In diesem Moment öffnete sich die Tapetentür, und Arno von Scheer trat ein. Selbst jetzt noch, in seinem siebzigsten Jahr, in Schlafanzug und Morgenmantel, machte er eine gute Figur.

Alles, was an Uta bemerkenswert war, hatte sie von ihm: den hohen Wuchs, die stolze Haltung, die dunklen Augen mit den rebellischen Funken, die ausdrucksstarken Gesichtszüge, den schönen Haaransatz und das dichte dunkle Haar. Er hatte sich nie viel mit ihr beschäftigt. Als Kind hatte sie ihn kaum gekannt, und auch in den Jahren des Heranwachsens waren sie einander fern gewesen. Trotzdem fühlte sich Uta ihrem Vater stärker verbunden als ihrer Mutter. Denn selbst aus der Ferne hatte er sich ihr verständlich gemacht, war er präsent gewesen mit seinem Willen, seinen Vorstellungen, seinen Forderungen.

Ein klarer Fall, ihr Vater. Ein Macher. Eine Autorität von Natur aus.

»Ich habe euer Frage- und Antwortspiel gehört«, sagte er und zog sich einen Stuhl an den Teetisch, »und mich gefragt, was das soll. Ich habe doch deutlich genug zum Ausdruck gebracht, daß ich weder Zuschauer noch Mitleidende um mich haben möchte. Meinen Niedergang, meinen Verfall, meinen Abstieg ins Grab will ich so allein wie möglich erleben.«

»In Ordnung, Arno«, murmelte Gisela von Scheer besänftigend, »reg dich nicht auf. Paula hat es nur gutgemeint. Sie sieht die Dinge anders.«

»Nicht nur Paula! Du auch, meine Liebe, du auch! Wenn es nach euch ginge, müßte Uta hier auf Zehenspitzen herumschleichen und die aufopferungsvolle Tochter spielen. Im Grunde ihres Herzens würde sie nichts so herbeisehnen wie den Tag, an dem das Theater ein Ende hat!«

»Woher willst du das wissen, Arno?« fragte seine Frau mit sanfter Schärfe.

»Weil ich so empfinden würde an ihrer Stelle! Weil mir diese Vorstellung zuwider ist! Weil Uta mir gleicht. Also, ich bitte nochmals um Respekt für meine Wünsche!«

»Ja, Vater«, murmelte Uta.

»Aber wenn ich es hinter mir habe, kommst du zurück«, fuhr Arno von Scheer grollend fort, »und zwar auf der Stelle! Du wirst deine Mutter nicht allein an meinem offenen Grab stehen lassen, du wirst dich um Haus und Hof und Geschäfte kümmern, du wirst die Hinterlassenschaft regeln, du wirst endlich einmal zeigen müssen, daß mehr in dir steckt als dein läppisches Getändel vermuten läßt. Hast du mich verstanden?«

Uta nickte wortlos.

Arno wandte sich an seine Frau, die ihm blaß und aufrecht gegenübersaß.

»So, und nun laß sie ziehen, wohin sie will, nach Indien oder Indonesien, von mir aus nach Birma oder Singapur. Es wird für lange Zeit das letzte Mal sein, Gisela, daß unsere Tochter sich diese Freiheit gönnen kann.«

»Alles geschieht, wie du es willst«, erwiderte Gisela von Scheer ruhig und verhalten, »so war es immer, so wird es immer sein.«

Minutenlang herrschte tiefes Schweigen.

Draußen vor den Fenstern senkten sich die abendlichen Novembernebel zu Tal. Unsichtbar in der dunklen Ferne türmten sich die Alpen empor.

Haus Bergfried mit seinen hölzernen Veranden, seinen Simsen und schweren Eichentüren, solide von den Kellergewölben bis hinauf ins Dachgestühl. Haus Bergfried stand seit zweihundert Jahren fest und unerschütterlich inmitten seines Reichtums an Feldern, Wäldern und Bergwiesen, und so würde es sein und bleiben immerdar. Generationen kamen, wuchsen auf und schwanden dahin.

Haus Bergfried überlebte sie alle.

*

Eine Woche später landete Uta von Scheer mit einer Maschine der Swissair in Bombay, wo sie drei Stunden Aufenthalt hatte, bevor sie mit der India Air nach Goa weiterflog.

Bequemer und auch billiger wäre ein Charterflug von Deutschland aus direkt nach Goa gewesen. Wenn Uta die umständliche, teure und zeitraubende Verbindung gewählt hatte, so nur deshalb, weil man für einen Charterflug feste Termine buchen mußte, während bei Linienflügen das Rückreisedatum offenbleiben konnte.

Uta, die in Bombay ihren Jeansanzug mit einem hauchdünnen Flatterkleid in allen Schattierungen zwischen Burgunderrot und mattem Rosa mit goldenen Perlschnüren vertauscht hatte, fühlte sich erheblich besser. Die indische Hitze, die allen Klimaanlagen in der Flughafenhalle trotzte, machte ihr nichts aus. Ganz im Gegenteil. Sobald sie sich unter dem weiten Himmel Asiens befand, ging eine seltsame Veränderung mit ihr vor.

Ihr Herz wurde leicht und weit. Zeit und Raum dehnten sich unendlich. Ungeduld, Rastlosigkeit und Sehnsucht lösten sich auf in der heiteren Gewißheit, daß alle Wege zum Ziel führten.

Das Ziel hieß Raschid.

Es hieß Zärtlichkeit, Hingabe, Verschmelzung. Es hieß Liebe für ein ganzes Leben.

Während der zwölf Stunden Flug von Zürich nach Bombay hatte sich Uta immer wieder gefragt, ob ihrer Mutter nichts aufgefallen war, oder ob sie sich nur gewohnheitsgemäß in ihr unpersönliches Schweigen gehüllt hatte. Außer Fräulein Paula hatte sich niemand auch nur andeutungsweise darüber ausgelassen, daß der letzte Goa-Trip weit über die üblichen drei Monate hinausgegangen war.

Tatsächlich hätte sich Uta am liebsten ganz niedergelassen am Strand von Colva oder auch in der exotischen Hauptstadt Panjim, zusammen mit Raschid, natürlich, ihrem Liebsten.

Nur weil ihr das Geld ausging, war sie nach Deutschland zurückgekehrt, mit keinem anderen Gedanken im Kopf, getrieben von keiner anderen Sorge als der, sie könne durch die Krankheit ihres Vaters festgehalten werden in Bayern, in ihrem Elternhaus, in der kleinen Barockstadt Lichthofen, mit dem alten Kopfsteinpflaster, den steinernen Brunnen, dem Schlößchen, das zur Privatklinik umfunktioniert worden war…

Nein, nein, nein, nur nicht bleiben müssen! Nur nicht angekettet werden, nicht jetzt – nicht in naher Zukunft – am besten überhaupt niemals…

Der Zeitpunkt wäre allerdings denkbar schlecht gewählt gewesen. Uta hatte drei Monate lang nicht gewagt, genauer darüber nachzudenken. Hartnäckig, störrisch, mit geschlossenem Visier hatte sie nur ihre Abreise im Blick behalten. Nichts sonst.

Prioritäten setzen, das hatte ihr Vater sie gelehrt. Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden. Sich stets vor Augen halten, was unbedingt Vorrang hat.

Nun, in ihrem speziellen Fall fiel die Entscheidung leicht. Selbst auf die Gefahr hin, herzlos zu erscheinen, stand für Uta ein Faktum im Vordergrund, das niemand kannte und niemand gutgeheißen hätte: ihre Schwangerschaft.

Sie mußte zurück nach Goa, zu Raschid, bevor die Tatsache offenkundig wurde. Nicht, daß Uta auch nur eine Minute gezögert hätte, sich zu Raschid und seinem Kind zu bekennen. Nein, mit Freuden stand sie ein für alles, was sie tat und fühlte.

Aber es hätte die Dinge in Haus Bergfried zusätzlich kompliziert, hätte eine Problematik aufgeworfen, der weder ihr Vater in seiner letzten Lebenszeit, noch ihre unnahbare, in Konventionen erstarrte Mutter gewachsen gewesen wäre.

Uta wußte, daß sie Ende Juli schwanger geworden war, unmittelbar vor ihrem Flug nach Deutschland. Das Kind würde Ende April zur Welt kommen. Jetzt galt es nur, darum zu beten, daß ihr Vater nicht vorher starb. Denn das Versprechen, bei seiner Beerdigung anwesend zu sein, nahm sie sehr ernst. Er hatte stets wenig von ihr gefordert, viel zu wenig, wie er selbst grimmig behauptete. Aber auf dem Wenigen hatte er eisern bestanden, und Uta hatte sich ihm gefügt, fraglos und widerstandlos.

Als sie in der Maschine der India Air saß und ins Blau des Ozeans hinabblickte, krampfte sich ihr Herz plötzlich schmerzhaft zusammen. Eine Angst, die aus den Tiefen ihres Wesens aufstieg, lähmte ihre Gedanken.

Regungslos starrte sie den luftigen weißen Wolkenschleiern nach, die einen gespenstischen Reigen tanzten, sich wiegten, sich dehnten, sich auflösten.

Ob Raschid am Flughafen auf sie wartete? Ob er ihre Briefe bekommen hatte? Ihr Telegramm mit dem Ankunftstermin?

Uta wußte es nicht. Drei Monate war sie fort gewesen.

Was mochten drei Monate für Raschid bedeuten? Zeit – das war ein Begriff, der sich von Kontinent zu Kontinent änderte. In Asien war die Zeit nicht flüchtig wie in Europa. Niemand hätte gewagt, sie hastig zu vertreiben.

Uta schloß die Augen und stellte sich ein auf die andere Welt.

Raschid ging sorgsam um mit den Werten, die ihm gegeben waren, so auch mit der Zeit. Er kostete sie aus wie alles, was ihm Freude machte und Genuß verschaffte, wie eine süße Frucht, ein erfrischendes Getränk, eine üppige Mahlzeit.

Wie die Liebe.

Er kostete sie geruhsam, genoß sie mit allen Sinnen, vertiefte sich in das neue, gewaltige Erleben, zählte weder Tage noch Stunden, ließ sich durchströmen von Glück und erfüllen mit Dankbarkeit. Er hatte sie eingehüllt in sein Empfinden, eingestimmt auf seinen Rhythmus. Acht Monate lang.

Von Januar bis August waren sie unzertrennlich gewesen, Uta und Raschid. Beim Abschied hatte sie geweint. Er hatte gelächelt und ihr versichert, weder Zeit noch Raum könne eine Distanz zwischen ihnen schaffen. Sie seien miteinander verbunden in Ewigkeit.

Der Gedanke an diese Zeit hatte sie aufrecht gehalten drei Monate lang. Erst jetzt, in den letzten Stunden vor der Landung in Dabolim, legte sich ein Schatten auf ihr Gemüt. Dunkle Ahnungen bemächtigten sich ihrer Sinne.

Raschid.