E-Book 22-27 - Viola Maybach - E-Book

E-Book 22-27 E-Book

Viola Maybach

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Beschreibung

Viola Maybach hat sich mit der reizvollen Serie "Der kleine Fürst" in die Herzen der Leserinnen und Leser geschrieben. Alles beginnt mit einem Schicksalsschlag: Das Fürstenpaar Leopold und Elisabeth von Sternberg kommt bei einem Hubschrauberunglück ums Leben. Ihr einziger Sohn, der 15jährige Christian von Sternberg, den jeder seit frühesten Kinderzeiten "Der kleine Fürst" nennt, wird mit Erreichen der Volljährigkeit die fürstlichen Geschicke übernehmen müssen. "Der kleine Fürst" ist vom heutigen Romanmarkt nicht mehr wegzudenken. Keine Leseprobe vorhanden. E-Book 1: Wenn das Herz nicht vergisst… E-Book 2: Die und keine andere! E-Book 3: Gräfin Ilona – schön, aber verarmt! E-Book 4: Das verflixte Erbe E-Book 5: Wetten, er liebt mich… E-Book 6: Die Gräfin, der Tod und das Glück

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Inhalt

Wenn das Herz nicht vergisst…

Die und keine andere!

Gräfin Ilona – schön, aber verarmt!

Das verflixte Erbe

Wetten, er liebt mich…

Die Gräfin, der Tod und das Glück

Der kleine Fürst – Jubiläumsbox 5 –

E-Book 22-27

Viola Maybach

Wenn das Herz nicht vergisst…

Ohne Leona wird Graf Jakob niemals glücklich!

Roman von Viola Maybach

Er konnte nicht anders, er musste den Brief noch einmal lesen, obwohl er wusste, dass er sich danach noch schlechter fühlen würde als ohnehin schon. Aber es war wie ein Zwang. Manchmal fragte er sich, ob es ihm nicht besser gehen würde, wenn er den Brief verbrannte und es auf diese Weise vielleicht schaffte, die Erinnerung an Leona und seine glückliche Zeit mit ihr auszulöschen.

Er las: Lieber Jakob, dies ist ein Abschiedsbrief. Ich sehe Dein ungläubiges Lächeln, aber es ist trotzdem wahr. Ich muss Dich verlassen, und ich bitte Dich, mich nicht zu suchen. Mein Weg wird mich ins Ausland führen, ich kann Deinen Antrag nicht annehmen. Verzeih mir, wenn Du kannst. Leona.

Er hätte ihn gar nicht zu lesen brauchen, denn er kannte jedes Wort auswendig. Wie oft hatte er den Brief schon in der Hand gehabt, ihn wieder und wieder gelesen und versucht, ihn zu verstehen? Aber Leona hatte nichts erklärt, und so gab es nichts zu verstehen.

Leona von Markenstein war sein Leben gewesen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte nichts sie mehr trennen können, ihre gemeinsame Zukunft hatte er so deutlich vor sich gesehen, als wäre sie bereits Wirklichkeit gewesen. Nur den Zeitpunkt ihrer Verlobung hatten sie noch festlegen müssen. ›Graf Jakob von Ehern und Leona von Markenstein geben sich die Ehre…‹

Jakob schleuderte den Brief von sich und trat ans Fenster. Er musste aufhören, sich ständig mit Fragen zu quälen, die er nicht beantworten konnte. Leona war fort, er hatte keine Ahnung, wo sie sich aufhielt. Ihre Familie gab sich ihm gegenüber unwissend, aber er hatte den Verdacht, dass ihre Eltern über Leonas derzeitigen Aufenthaltsort im Bilde waren. Doch obwohl er immer geglaubt hatte, ein gutes Verhältnis zu ihnen zu haben, gaben sie ihm gegenüber nichts preis.

Es klopfte, gleich darauf kam sein Freund Johannes von Dresen herein. Ihm genügte ein Blick auf Jakobs Gesicht und den auf dem Tisch liegenden Brief, um die Situation zu erfassen. Voller Mitgefühl betrachtete er Jakob, diesen gut aussehenden Mann mit dem lebhaften Gesicht, an dem sofort die hellen blauen Augen faszinierten, die einen interessanten Kontrast zu seinen braunen Haaren bildeten. Jakob war ein jungenhafter Typ von großem Charme, der es verstand, Menschen schnell für sich einzunehmen.

»Hör auf, dich zu quälen, Jakob«, sagte Johannes ruhig. »Gib mir den Brief, bitte. Ich bewahre ihn für dich auf, wenn du ihn wirklich nicht wegwerfen willst – aber dann kannst du ihn wenigstens nicht mehr dauernd lesen.«

»Ich lese ihn nicht dauernd«, behauptete Jakob mit müder Stimme.

Johannes verzichtete auf Widerspruch und wechselte abrupt das Thema. »Meine Schwester hat sich überraschend entschlossen, heute Abend in ihren Geburtstag hineinzufeiern«, berichtete er. »Und sie hat mir aufgetragen, dich mitzubringen. Wörtlich sagte sie: ›Wenn es sein muss, fessle Jakob, kneble ihn und lass ihn hierher schleppen, falls er nach Ausreden sucht.‹ Ich hoffe, dir ist klar, dass du damit fällig bist. Du warst seit drei Monaten auf keinem Fest mehr, Jakob.«

Er hatte mit Ausflüchten, mit Widerspruch, zumindest mit einer längeren Diskussion gerechnet, doch Jakob überraschte ihn damit, dass er ganz einfach zusagte. »Natürlich komme ich, wenn Tina feiert, Jo. Aber dann musst du mir helfen, noch ein Geschenk zu finden.«

Johannes war so froh über Jakobs Zusage, dass er ihn mit Geschenkvorschlägen förmlich überschüttete. Einige Minuten später verließen die Freunde Jakobs Wohnung, um gemeinsam etwas Passendes zu suchen.

*

»Da sind doch lauter junge Leute, Sofia«, brummte Baron Friedrich von Kant, als ihm seine Frau am späten Samstagvormittag bei einer Tasse Tee in einem der Salons von Schloss Sternberg von der überraschenden Einladung zu Bettina von Dresens Geburtstag berichtete.

»Wir sind selbst auch noch nicht alt«, erinnerte sie ihn.

»Wie alt wird Tina?«

»Zweiundzwanzig, sie ist ein paar Jahre jünger als ihr Bruder Johannes.«

»Dann bin ich beinahe doppelt so alt wie sie«, stellte er fest.

Die Baronin lachte, als sie sich über den Tisch beugte und ihm liebevoll die Hand tätschelte. »Für mich bist du jung. Tatsache ist, dass Tina uns eingeladen hat, und ich denke, das hat sie getan, weil sie uns gern dabei haben möchte. Sie hat erst morgen Geburtstag, aber weil morgen Sonntag ist, feiert sie schon heute. Sie hatte sich offenbar gerade erst dazu entschieden, als sie angerufen hat.«

»Wenn du meinst, dass wir der Einladung Folge leisten müssen, dann gehen wir natürlich hin«, erklärte der Baron und setzte dann, freilich noch immer mit einem kleinen Seufzer, hinzu: »Und vielleicht ist es auch gar nicht so schlecht, mal wieder andere Leute zu sehen. Was ist mit den Kindern?«

»Haben andere Pläne. Tina meinte, sie wären ebenfalls herzlich willkommen, aber Anna und Chris sind bei den Erbachs eingeladen, und Konny geht selbst auf eine Geburtstagsparty.«

»Und wo kriegen wir so schnell noch ein Geschenk her?«

»Kein Problem«, erklärte Sofia. »Tina hat mir gesagt, was sie sich wünscht, und Herr Hagedorn kümmert sich gerade darum, dass wir es noch bekommen. Und nun habe ich noch eine Überraschung für dich. Rate, wen wir auf diesem Fest treffen werden!«

»Du weißt, dass ich das nicht raten kann, also sag es mir.«

»Jakob von Ehern!«

»Tatsächlich?«, fragte der Baron verwundert. »Jakob hat sich doch seit Monaten nirgends mehr blicken lassen, seit dieser unseligen Geschichte mit Leona.«

»Ich weiß, aber zu diesem Geburtstagsfest kommt er, und ich freue mich sehr darauf, ihn wiederzusehen. Mir hat es damals sehr leid getan, dass die beiden sich getrennt haben.«

»Ja, mir auch, ich habe sie immer als ausgesprochen harmonisches Paar empfunden.«

»Das hat jeder, Fritz!«, sagte Sofia lebhaft. »Und ich muss sagen, ich verstehe Leona nach wie vor nicht.«

»Sie wird ihre Gründe gehabt haben.«

»Ja, wahrscheinlich.«

Eberhard Hagedorn, der seit langem Butler auf Schloss Sternberg war, erschien an der Tür. »Das Geschenk für Frau von Dresen liegt bereit, Frau Baronin – es ist auch bereits verpackt.«

»Vielen Dank, Herr Hagedorn«, sagte Sofia. »Das hat ja wunderbar geklappt.«

Als der Butler gegangen war, konnte Friedrich der Versuchung nicht widerstehen, seine Frau ein wenig aufzuziehen: »Du hast ihn also das Geschenk besorgen lassen, obwohl du gar nicht wusstest, ob ich mitgehen würde zu diesem Fest?«

Dieses Mal stand die Baronin auf, ging zu ihrem Mann und

küsste ihn. »Ohne dich wäre ich nicht gegangen, Fritz. Dann hätten wir ihr eben nur das Geschenk geschickt.«

»Was ist es denn?«

Sie lachte. »Ein Kaminbesteck, stell dir vor. Man sollte doch meinen, dass eine Zweiundzwanzigjährige andere Wünsche hat, aber nein, es sollte ein Kaminbesteck sein.« Sie sah auf die Uhr. »Ich muss Frau Falkner sagen, dass wir heute Abend nur einen kleinen Imbiss zu uns nehmen werden – Tina meinte, es gäbe etwas zu essen. Wir sollen uns nicht elegant kleiden, sondern bequem, hat sie außerdem noch angeordnet. Du siehst also, es wird wahrscheinlich ein sehr angenehmer und vergnüglicher Abend.«

Der Baron sah ihr nach, als sie durch den Salon eilte, um die Köchin Marie-Luise Falkner über die Pläne der Familie für den heutigen Abend zu informieren. Er liebte seine Frau, und ihre Vorfreude auf den heutigen Abend hatte ihn endlich angesteckt.

Dann gehörte er eben zu den Ältesten bei dieser Geburtstagsfeier – wen störte das?

*

Leona von Markenstein lag auf einer Liege im Freien und genoss die grandiose Aussicht. Seit Wochen war sie hier oben in den italienischen Alpen, die Luft war rein und angenehm, es war direkt eine Wohltat, sie einzuatmen. Das Buch, das sie gerade las, lag aufgeschlagen auf ihrem Bauch, sie hatte es gerade zur Seite gelegt, um ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Jetzt kam die Sonne hinter einer Wolke hervor, und unvermutet wurde ihr warm. Sie schloss die Augen und genoss die Sonnenstrahlen – in den letzten Tagen war es fast immer bedeckt gewesen.

»Hier sind Sie, Frau von Markenstein«, sagte eine Stimme neben ihr, die sie sofort erkannte, auch ohne die Augen zu öffnen.

»Ja, hier bin ich, Herr Dr. Carst.« Sie blinzelte zu ihm hoch. »Sie wissen doch, das ist mein Lieblingsplatz.«

Er setzte sich auf die Liege neben ihr, die frei war. »Wir werden Sie bald entlassen können«, sagte er. »Mit den letzten Aufnahmen waren wir sehr zufrieden, und auch Ihr allgemeiner Gesundheitszustand ist erfreulich.« Er lächelte sie an. Anton Carst war ein scheu wirkender, schmaler Dunkelhaariger, den sie nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch sehr zu schätzen gelernt hatte.

»Es war eine gute Idee, mich in dieses Sanatorium fernab der Zivilisation zurückzuziehen, glaube ich. Eine normale Rehabilitationsklinik hätte mich sicher nicht so schnell wieder auf die Beine gebracht.«

»Möglich«, erwiderte er in seiner zurückhaltenden Art. »Bleiben Sie noch ein bisschen bei uns, aber beschäftigen Sie sich ganz allmählich mit einer Rückkehr in Ihr früheres Leben.«

»Ich weiß nicht, ob das möglich sein wird«, sagte sie leise. »Ich habe… ein paar Brücken hinter mir abgebrochen, weil ich nicht wusste, ob ich wieder gesund werden würde. Ich wollte nicht, dass… jemand aus Mitleid bei mir bleibt.«

Er betrachtete sie nachdenklich und kam nicht zum ersten Mal zu dem Schluss, dass er nie zuvor eine schönere Frau gesehen hatte. Vielleicht wirkte Leona von Markenstein auch deshalb so bezaubernd, weil sie sich dieser Schönheit nicht bewusst zu sein schien. Sie nahm ihre grünen Augen, die seidigen hellblonden Haare, das ebenmäßige Gesicht mit der zarten Haut und den hübsch geschwungenen Mund ebenso wenig zur Kenntnis wie ihre schlanke, geschmeidige Figur.

Sie war noch schmaler gewesen bei ihrer Ankunft hier im Sanatorium, sehr blass, fast durchscheinend hatte ihre Haut ausgesehen. Jetzt jedoch wirkte sie gesund und kräftig genug, sich dem Leben wieder zu stellen.

Aber er wusste, dass ihr eine harte Zeit bevorstand. Hier schlief sie viel, machte Spaziergänge, schwamm ausgiebig und wurde den ganzen Tag von Ärzten und Pflegekräften begleitet. Zu Hause würde all das wegfallen, und erfahrungsgemäß ermüdete allein der Alltag die Patienten kurz nach ihrer Entlassung, auch wenn sie zu Beginn noch gar nicht gefordert wurden. Sie würde Zeit brauchen, viel Zeit. Aber immerhin hatte sie den Vorteil, dass sie über genug Geld verfügte, um sich diese Zeit auch zu nehmen.

Sorgen bereitete ihm ihr Gemütszustand. Dass Leona von Markenstein zutiefst unglücklich war, wusste er seit dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie bekam regelmäßig Besuch von ihren Eltern, aber sonst ließ sich niemand in der Abgeschiedenheit der Berge blicken. Einmal hatte er sie danach gefragt, und sie hatte ihm offen geantwortet: »Das liegt daran, dass sonst niemand etwas von meiner Erkrankung weiß, Herr Doktor – und das soll auch so bleiben.«

Dass es vorher einen Mann in ihrem Leben gegeben hatte, wusste er mittlerweile auch, obwohl sie es ihm nicht selbst erzählt hatte. Aber er war in den bunten Blättern förmlich über ihre Geschichte gestolpert. Die allgemeine Sympathie war eindeutig auf Seiten des Grafen von Ehern, der sich im Übrigen niemals öffentlich zu dieser Angelegenheit geäußert hatte. Leona wurde dennoch zur Last gelegt, dass sie einfach von der Bildfläche verschwunden war und vor allem, dass es bisher niemand geschafft hatte, sie ausfindig zu machen.

»Brücken kann man wieder aufbauen«, sagte Anton jetzt in seiner ruhigen Art. »Sie hatten Ihre Gründe, sich so zu verhalten, wie Sie es getan haben – es war ja wirklich nicht absehbar, dass Sie die gefährliche Operation so gut überstehen würden. Ich könnte mir vorstellen, dass ich mich genauso verhalten hätte wie Sie.«

»Tatsächlich?« Ihre grünen Augen ruhten aufmerksam auf ihm, und nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie er es schaffen sollte, sich diese Frau jemals wieder aus dem Kopf zu schlagen. Natürlich wusste er, dass Ärzte sich gelegentlich in Patientinnen verliebten, doch er hatte sich selbst in dieser Hinsicht für ungefährdet gehalten. Nun war es ihm doch passiert, dabei hatte diese Liebe keine Zukunft. Leona dachte nur an ihren Grafen, das wusste er so sicher, als hätte sie es ihm selbst gestanden.

»Ja«, bekräftigte er. »Ich will damit nicht sagen, dass ich Ihr Verhalten richtig finde, denn man nimmt den Menschen, denen man die Wahrheit verschweigt, ja auch die Möglichkeit, sich selbst damit auseinanderzusetzen und zu einer eigenen Entscheidung zu kommen – stattdessen entscheidet man praktisch für sie. Ich glaube, das ist falsch, aber, wie gesagt, ich selbst hätte es wohl auch getan.«

»Ich werde Sie vermissen, Herr Doktor«, sagte Leona mit schüchternem Lächeln. »Das ganze Sanatorium werde ich vermissen. Es war wie ein Schutzraum für mich, hier musste ich niemandem etwas vorspielen, konnte mich sogar gehen lassen, wenn es mir richtig schlecht ging.«

»Haben Sie das denn vorher getan? Jemandem etwas vorgespielt?«

»Sicher, ich hatte doch dauernd Kopfschmerzen! Wenn ich darüber jedes Mal geklagt hätte…« Sie schüttelte den Kopf. »Meine Freunde hätten sich bedankt, glaube ich. Also habe ich versucht, mir nichts davon anmerken zu lassen.«

»Bis es nicht mehr möglich war«, ergänzte Anton Carst, »und Sie endlich zu einem Arzt gegangen sind.«

»Ja. Und dann hat es noch eine ganze Weile gedauert, bis die Diagnose feststand.«

Er stand auf und sagte bedauernd: »Ich muss gehen, es gibt noch einige andere Patienten, die auf mich warten. Wir sehen uns später, Frau von Markenstein.«

»Vielleicht auf eine Partie Schach?«, fragte sie.

Nun lächelte auch er. »Wenn ich Zeit habe, gern.«

Als sie wieder allein war, griff Leona zu ihrem Buch. Bald würde sie nicht mehr so viel lesen können, und auch das würde ihr fehlen, sie wusste es schon jetzt. Manchmal kam sie sich vor wie ein kleines Kind, dem die ersten Schritte weg von der Mutter bevorstehen.

Sie fürchtete sich ein wenig davor.

*

Anna von Kant, die dreizehnjährige Tochter von Baronin Sofia und Baron Friedrich, stieß ihren Cousin Christian von Sternberg in die Seite. Sie saßen im Fond der Limousine, mit der der Chauffeur sie zum Anwesen der Erbachs brachte. Sabrina von Erbach war Annas Freundin und Christians erste große Liebe, was aber außer Anna niemand wusste.

»Freust du dich?«, fragte sie.

Christian war zwei Jahre älter als seine Cousine, aber es hätten, dem Anschein nach, auch vier sein können. Seit seine Eltern bei einem Hubschrauberunglück ums Leben gekommen waren, wirkte der Junge älter und reifer als seine fünfzehn Jahre. Aber mit Hilfe der Familie seiner Tante Sofia, die eine Schwester seiner verstorbenen Mutter war, hatte er den Verlust verkraftet.

Die Erinnerung an seine geliebten Eltern erhielt er auf eigene Weise aufrecht: Jeden Tag stieg er auf den kleinen Hügel am Rande des Sternberger Schlossparks, wo der Familienfriedhof lag. Christian stattete der Gruft seiner Eltern einen Besuch ab und ›redete‹ in Gedanken mit ihnen über alles, was ihn bewegte, und immer fühlte er sich getröstet, wenn er diesen Ort wieder verließ.

Die Frage seiner Cousine beantwortete er mit einem zustimmenden Nicken.

»Ich freue mich auch«, stellte Anna fest, »aber ich wundere mich, dass Sabrinas Eltern ihr erlaubt haben, mehrere Freundinnen und Freunde einzuladen. Die stellen sich doch sonst immer so an, weil sie Angst haben, Sabrina könnte etwas passieren.«

Das stimmte allerdings, Christian konnte ein Lied davon singen. Wäre Anna nicht mit Sabrina befreundet gewesen, hätte er sie noch viel seltener sehen können als ohnehin schon. Ihre Treffen beschränkten sich manchmal wochenlang auf kurze Begegnungen während der Schulpausen. Insofern freute er sich tatsächlich sehr auf die Möglichkeit, wieder einmal einen ganzen Abend mit Sabrina zusammen sein zu können. Allerdings fürchtete er, dass ihre übervorsichtigen Eltern relativ strenge Aufsicht führen würden, doch er war entschlossen, sich die Vorfreude nicht verderben zu lassen.

Der Chauffeur ging vom Gas, sie hatten ihr Ziel erreicht. Christians Herz machte einen Satz, als er sah, dass Sabrina bereits an der Tür stand. Sie winkte ihnen lächelnd zu, und er vergaß ihre Eltern. Sie konnten schließlich nicht überall sein, und irgendwann würde er es schon schaffen, wenigstens einige Minuten mit Sabrina allein zu verbringen.

*

»Da seid ihr ja endlich!« Bettina von Dresen umarmte zuerst ihren Bruder, dann Jakob. Johannes hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Freund abzuholen, um ganz sicher zu gehen, dass Jakob es sich nicht in letzter Minute noch anders überlegte.

Sie gratulierten ihr herzlich, überreichten ihre Geschenke und wurden bereits von weiteren Gästen in Bettinas Wohnung gedrängt. Eine aparte dunkelhaarige junge Frau, die sie beide noch nie gesehen hatten, kam mit einem Lächeln auf sie zu. Sie wandte sich an Johannes. »Du musst Tinas Bruder Jo sein«, sagte sie. »Ich bin Patricia von Gernsheim.«

»Die berühmte Patricia, von der Tina in letzter Zeit ständig redet?«, fragte Johannes.

Die junge Frau lachte vergnügt. »Freut mich, dass sie das tut, aber berühmt bin ich natürlich nicht.« Ihre großen braunen Augen richteten sich auf Jakob. »Dann bist du Jakob von Ehern?«, fragte sie.

Er fand ihre unkomplizierte Art sehr sympathisch. »Ja, der bin ich«, sagte er. »Freut mich, dich kennenzulernen, Patricia.«

»Mich freut es auch«, erwiderte sie.

»Und wie hast du mich nun gleich erkannt?«, wollte Johannes wissen.

»Das war nun wirklich nicht schwer. Hast du mal in den Spiegel gesehen? Man erkennt auf den ersten Blick, dass ihr Geschwister seid, Tina und du.«

»Meine Schwester gilt ja allgemein als sehr hübsch«, scherzte Johannes. »Das heißt dann wohl, dass ich auch nicht ganz unansehnlich bin.«

»Eitel bist du also auch«, gab Patricia gut gelaunt zurück. »Ihr habt ja noch gar nichts zu trinken. Kommt mit, ich kenne mich hier bestens aus und weiß, wo alles steht.«

Sie folgten ihr bereitwillig. »Tolle Frau, was?«, murmelte Johannes Jakob zu.

Dieser nickte. Patricia von Gernsheim war offenbar nicht nur attraktiv, sondern auch sympathisch. Hoffentlich verlor sie nicht gleich ihr Herz an Johannes – er würde sie unglücklich machen wie all ihre Vorgängerinnen auch. So gern Jakob seinen Freund hatte: Frauen musste man vor Johannes warnen.

Jedenfalls war es wohl eine gute Idee gewesen, endlich mal wieder auf ein Fest zu gehen. Nur an Leona durfte er nicht denken, denn dann überfiel ihn sofort wieder der Wunsch zu fliehen, dorthin, wo es keine Menschen gab und er völlig allein darüber trauern konnte, dass er mit ihr das Glück seines Lebens verloren hatte. Und wo er, so unergiebig es auch war, wieder und wieder über die Frage nachdenken konnte, auf die er wohl nie eine Antwort bekommen würde: Warum, um alles in der Welt, hatte sie ihn verlassen?

*

»Macht es euch gemütlich«, bat Bettina von Dresen, als Sofia und Friedrich von Kant eintrafen. »Es sind schon jede Menge Leute da, ihr werdet einige kennen. Im hinteren Zimmer gibt es Getränke und ein kaltes Büfett, bedient euch bitte selbst. Kümmern kann ich mich leider noch nicht um euch, ihr seht ja, was hier los ist.«

»Ja, allerdings«, lächelte Sofia. »Bis später, Tina.«

Es war gar nicht so einfach, sich durch die mittlerweile dicht gedrängt stehenden Gäste einen Weg zu bahnen. In der Tat sahen sie immer wieder bekannte Gesichter, blieben hier und da stehen, wechselten ein paar Worte und schoben sich dann weiter voran. Urplötzlich tauchte Patricia von Gernsheim vor ihnen vor. »Dass ihr auch da seid!«, rief sie erfreut und umarmte zuerst Sofia, dann Friedrich. »Tina hat mir nichts davon erzählt, dass sie euch eingeladen hat.«

Sie hatten die lebhafte junge Frau längere Zeit nicht gesehen und freuten sich daher über diese Begegnung. »Du musst mal wieder nach Sternberg kommen, Patricia«, sagte Sofia, als Patricia kurz darauf von Bettina gerufen wurde. »Bis später!«

Patricia entschwand, und Sofia und Friedrich hatten endlich das Buffet und die improvisierte Getränkebar erreicht. Hungrig waren sie noch nicht, aber sie ließen sich einen Wein schmecken. Gleich darauf entdeckten sie Jakob von Ehern, der sie im selben Moment sah und sofort auf sie zukam.

Auch diese Begrüßung fiel herzlich aus. Es verbot sich, Jakob nach seinem Befinden zu fragen, denn noch immer waren seine Augen traurig, und von seiner Nase führten zwei Falten hinunter zum Mund, die vor der Trennung von Leona noch nicht da gewesen waren. Aber immerhin hatte er offenbar beschlossen, wieder mehr am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Er erkundigte sich interessiert nach Anna, Christian und Konrad, und hätten sie nicht alle drei so peinlich darauf geachtet, das Thema ›Leona‹ nicht einmal ansatzweise zu streifen, wären sie wohl bedeutend entspannter gewesen.

Nach einer Weile gesellte sich Patricia zu ihnen, und ihr gelang es scheinbar mühelos, Jakob mehrmals zum Lachen zu bringen. Als Musik aufgelegt wurde, nahm sie unbefangen seine Hand und sagte: »Lass uns tanzen, Jakob, bitte!« Er folgte ihr, ohne Widerstand zu leisten.

»Na, so was«, murmelte Friedrich. »Meinst du, da bahnt sich etwas an?«

»Wer weiß«, erwiderte Sofia. Sie glaubte eigentlich nicht, dass Jakob von Ehern Leona so schnell vergessen konnte – andererseits war Patricia eine bezaubernde Frau…

»Lass uns auch tanzen«, bat sie, und Friedrich erhob zu ihrer Freude keinen Einspruch.

*

Johannes wunderte sich über sich selbst. Er war eifersüchtig, und das war ein Gefühl, das er bislang nur als Reaktion auf sein eigenes Verhalten kannte: von seinen Freundinnen, wenn er wieder einmal mit einer anderen Frau geflirtet hatte. Jetzt jedoch hatte ihn dieses unangenehme Gefühl selbst in den Klauen, und er wusste nicht, wie ihm geschah. Zuerst versuchte er noch, sich einzureden, dass es einfach Neid war, der ihm zu schaffen machte, doch endlich sah er der Wahrheit ins Gesicht: Er war ganz eindeutig eifersüchtig auf seinen Freund Jakob, der noch immer mit Patricia von Gernsheim tanzte. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als an Jakobs Stelle zu sein. Verflixt, sie würden sich doch nicht etwa beide in die junge Frau verlieben?

Er hatte sein Herz schon in der ersten Sekunde an sie verloren. Das passierte ihm oft, er war nun einmal ein sehr feuriger Mann, aber etwas war dieses Mal anders, das merkte er selbst. Zudem war er überhaupt nicht auf die Idee gekommen, es könnte Jakob wie ihm ergehen. Und so sehr er sich in den letzten Monaten gewünscht hatte, sein Freund möge endlich aufhören mit seiner selbstzerstörerischen Trauer um Leona und sich in eine andere Frau verlieben, so wenig erfreut war er jetzt darüber, dass sein Wunsch überraschenderweise in Erfüllung zu gehen schien.

Endlich verließen sie die kleine Tanzfläche, erhitzt und lachend, und kamen direkt auf ihn zu. »Das hat Spaß gemacht«, strahlte Patricia. »Du bist ein toller Tänzer, Jakob.«

»Danke, du bist auch nicht schlecht«, gab er zurück. Zum

ersten Mal seit der Trennung von Leona sah Johannes ihn wieder völlig entspannt und offenbar

bester Stimmung.

»Bist du zu müde oder tanzt du jetzt auch mal mit mir, Patricia?«, fragte er.

»Ich zu müde? Darauf kannst du lange warten«, erklärte sie lachend.

Nun also war er ihr Tänzer, aber er merkte selbst, dass er verkrampft war, denn er tanzte nicht nur, er beobachtete sich gleichzeitig selbst – sich und Patricia: Wirkte sie jetzt nicht deutlich weniger vergnügt als vorher mit Jakob? Sah sie nicht aus, als wünschte sie sich bereits das Ende der Musik herbei? So beschäftigt war er damit, Antworten auf diese Fragen zu finden, dass er ihr schließlich kräftig auf die Füße trat.

Sie zuckte kaum mit der Wimper, beschwerte sich auch nicht, sondern sagte nur freundlich: »He, entspann dich!«

Er begegnete dem Blick ihrer dunklen Augen, sah ihren lächelnden Mund und beschloss, ihrem Rat zu folgen. Wenn er sie für sich gewinnen wollte, durfte er sich nicht länger wie ein Tollpatsch anstellen, der er sonst ja auch nicht war. »In Ordnung«, erwiderte er, zog sie entschlossen fester in seine Arme und fand nach kurzer Zeit tatsächlich zu seiner sonstigen Eleganz und Leichtigkeit auf der Tanzfläche zurück.

*

Sabrina von Erbach hielt Christians Hand, als sie ihn in ein unbeleuchtetes Zimmer zog. »Hier findet uns niemand«, flüsterte sie und schlang beide Arme um seinen Hals. »Es tut mir leid, Chris, dass meine Eltern dauernd in der Nähe sind. Sie verderben mir den ganzen Abend.«

Er küsste sie. Es war der erste Kuss seit langem. Oft träumte er davon, sie wie jetzt in den Armen zu halten und zu küssen – aber in Wirklichkeit kam es nur selten dazu. Viel zu selten, wenn es danach ging, was er sich wünschte – und was auch Sabrina sich wünschte, wie sie ihm einmal gestanden hatte. Die wenigen Male, da sie bei Anna auf Sternberg hatte übernachten dürfen, waren für sie beide wie ein Geschenk des Himmels gewesen.

Sabrina erwiderte seinen Kuss, und er ertappte sich bei dem Wunsch, sie festzuhalten und nicht wieder loszulassen. Doch nach wenigen Augenblicken bereits erstarrte sie in seinen Armen. Verwirrt fragte er sich, was er falsch gemacht hatte, als er begriff, was passiert war: Jemand war ins Zimmer gekommen. Er ließ sie sofort los, sie aber nahm seine Hand und riss ihn förmlich mit sich. Gleich darauf kitzelte ihn etwas an der Nase, Stoff umfing ihn.

Im Zimmer flammte Licht auf, die Stimme von Sabrinas Mutter erklang: »Sabrina? Sabrina!«

Er hielt den Atem an. Wenn er noch lange hinter dem Vorhang stehen musste, würde er niesen müssen, das wusste er. Sabrina, neben ihm, stand vollkommen unbeweglich. Wenn ihre Mutter auf die Idee kam, hinter den Vorhang zu sehen, waren sie verloren. Er versuchte, nicht daran zu denken, was dann passieren würde. Auf jeden Fall würde Sabrina nie mehr nach Sternberg kommen, wahrscheinlich wurde sie auf ein privates Internat geschickt, und er würde sie nicht wiedersehen. Diese Vorstellung war so furchtbar, dass sein Herz anfing zu rasen.

Er hörte Annas Stimme. »Frau von Erbach? Frau von Erbach, könnten Sie mal kommen?«

»Anna, hast du Sabrina gesehen?«

»Ja, da hinten irgendwo…«

Anna, seine Cousine und beste Freundin! Auf sie war doch immer Verlass!

Gleich darauf erlosch das Licht wieder, die Tür wurde geschlossen. Aber weder Sabrina noch Christian rührten sich – und das war klug, denn es verging höchstens eine Minute, da kam auch Sabrinas Vater noch einmal und rief nach ihr. Sie hörten ihn sagen: »Du hast dich geirrt, meine Liebe.«

»Aber sie ist wirklich nirgends zu finden, und Christian auch nicht. Wenn die beiden nun gemeinsam… Anna meint zwar,

sie hätte Sabrina gesehen, aber…« Die Stimmen verklangen, als die Tür erneut geschlossen wurde.

»Wir müssen schnellstens zurück«, wisperte Sabrina. »Und zwar getrennt, sonst…«

»Ich gehe zuerst«, sagte er. »Und dann lenke ich deine Eltern ab.«

»Aber sei bloß vorsichtig«, bat sie mit zitternder Stimme. »Wenn sie dich aus diesem Raum kommen sehen…«

»Keine Sorge, mich wird niemand sehen.« Er wusste selbst nicht, wie er das so sicher behaupten konnte. Er musste ja nur Pech haben, dann war es schon passiert.

Aber er hatte Glück. Als er die Tür vorsichtig öffnete, war niemand zu sehen und es gelang ihm, sich unbemerkt wieder unter die Gäste zu mischen. Sobald er Sabrinas Mutter entdeckte, ging er auf sie zu und fragte: »Haben Sie eine Ahnung, wo Sabrina ist, Frau von Erbach? Ich wollte sie noch etwas fragen, wegen der Schule, aber ich kann sie einfach nicht finden.«

Sabrinas Mutter betrachtete ihn, sichtlich erfreut und erleichtert zugleich. »Wir suchen sie selbst, mein Mann und ich, Chris«, sagte sie.

»Ach, da vorn ist sie ja!«, sagte er und rief: »Sabrina, hallo, Sabrina!«

Sie winkte, dann kam sie auf ihn zu. Die Gefahr war gebannt, aber der Schreck saß ihnen noch länger in den Gliedern. Es sollte einige Zeit vergehen, bis sie darüber lachen konnten.

*

»Sehen wir uns wieder?«, fragte Patricia, als Jakob sich verabschiedete. Es waren erst wenige Gäste gegangen, zu ihnen gehörten Sofia und Friedrich von Kant. Jakobs Freund Johannes dagegen wollte auf jeden Fall noch bleiben.

Er zögerte, da er nicht wusste, wie die Frage gemeint war.

Sie lächelte. »Wir können Freunde sein, Jakob«, sagte sie. »Du siehst so aus, als ob du eine Freundin brauchen könntest.«

Ihre Offenheit entwaffnete ihn. »Das ist wohl wahr«, erwiderte er. »Ich war in den letzten Monaten fast immer mit mir allein, und mittlerweile denke ich, dass ich aufhören muss, mich zu vergraben.«

Sie nickte, nun ganz ernsthaft. »Das denke ich auch«, sagte sie. »Und ich versichere dir, dass dir von mir keine Gefahr droht. Ich werde nicht versuchen, mit dir zu flirten.«

»Nein?«, fragte er.

»Ganz bestimmt nicht. Also, ich frage dich noch einmal: Sehen wir uns wieder?«

»Morgen? Zu einem Spaziergang?«

»Gerne.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn zum Abschied auf beide Wangen. Ihm fiel auf, dass mehrere Leute sie verstohlen beobachteten, aber es war ihm seltsamerweise gleichgültig. Sollten sie doch alle denken, was sie wollten!

Er hielt Ausschau nach Bettina. Als er sie gefunden hatte, versuchte sie vergeblich, ihn noch zum Bleiben zu bewegen. »Es war mein erster Ausflug in die Öffentlichkeit seit… seit langem, Tina, ich möchte mich nicht überfordern. Für heute ist es genug. Nochmals meine besten Wünsche zu deinem Geburtstag. Es war lieb von dir, mich einzuladen.«

Sie lächelte verschmitzt. »Patricia gefällt dir, oder? Ich habe euch beobachtet. Alle haben euch beobachtet.«

»Ach, Tina!« Er küsste sie auf beide Wangen und ging. Sobald er allein war, kehrte die vertraute Traurigkeit zurück und umfing ihn wie ein schwerer Mantel. Ob er sie jemals wieder loswerden würde?

*

»Danke, Anna«, sagte Christian, kurz bevor sie wieder auf Sternberg eintrafen.

Sie fragte nicht wofür, denn das wusste sie, er musste es ihr nicht erklären. »Ich würde verrückt, wenn ich solche Eltern hätte«, stellte sie fest. »Die passen die ganze Zeit nur auf, Chris. Du hättest sie mal sehen sollen, als ihr beide plötzlich weg wart. Zum Glück haben sie es nicht sofort gemerkt – aber dann sind sie dermaßen nervös geworden! Ich weiß nicht, wie Sabrina das aushält. Dafür, dass sie solche Eltern hat, ist sie ziemlich normal, finde ich.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Christian. Er beugte sich zu Anna hinüber und gab ihr einen Kuss. »Danke!«, wiederholte er. »Ich bin froh, dass du jetzt sozusagen meine Schwester bist, Anna.«

Er sah ihr an, wie sehr sie sich über diese Worte freute.

Der Chauffeur ließ sie direkt vor dem Haupteingang des Schlosses aussteigen, wo Eberhard Hagedorn sie bereits erwartete. »Die Frau Baronin und der Herr Baron sind auch soeben zurückgekehrt«, sagte er in der gemessenen Sprechweise, die ihm eigen war. »Sie sitzen noch in der Bibliothek.«

Sofia lächelte, als sie ihre Tochter und ihren Neffen sah. »War es ein schöner Abend?«, fragte sie.

Anna und Christian zögerten, dann sagte Anna: »Sabrinas Eltern nerven, Mama. Sie waren die ganze Zeit dabei und wenn sie

Sabrina mal mehr als eine Minute aus dem Blick verloren haben, sind sie gleich hysterisch geworden. Dabei ist sie doch kein Kind mehr, das man die ganze Zeit beaufsichtigen muss!«

Die Baronin war der gleichen Ansicht wie ihre Tochter, hielt es aber trotzdem für ihre Pflicht, die Erbachs zu verteidigen. »Sie haben halt Angst um ihre einzige Tochter.«

»Ich bin auch eure einzige Tochter«, stellte Anna herausfordernd fest. »Habt ihr etwa keine Angst um mich?«

Der Baron stand auf, ging zu Anna und nahm sie in die Arme. »Doch, haben wir, aber wir versuchen, es dich nicht dauernd merken zu lassen. Wahrscheinlich schaffen Sabrinas Eltern das nicht so gut.«

»Sie schaffen es überhaupt nicht!«, stellte Anna fest.

Christian fand, dass sie genug Worte über dieses leidige Thema verloren hatten, und so fragte er: »Wie war es denn bei Tina?«

»Sehr schön, wir haben getanzt und viele nette Gespräche geführt«, erzählte Sofia vergnügt. »Auch über dich haben wir gesprochen, Chris?«

»Wieso das denn?«

»Ach, jemand von außerhalb hatte deinen Spitznamen gehört, ›der kleine Fürst‹ – und wollte wissen, was das auf sich hat.«

»Er hat tatsächlich gemeint, du heißt so, weil du besonders klein geraten bist«, lachte der Baron. »Als wir ihm erklärt haben, dass du erst fünfzehn und noch gar kein Fürst bist, war seine Verwirrung komplett. Aber ich glaube, zum Schluss hatte er verstanden, dass du mit dem Tag deiner Volljährigkeit sicherlich von niemandem mehr ›der kleine Fürst‹ genannt wirst.« Baron Friedrich wurde ernst und setzte nach mehreren Sekunden des Schweigens bedächtig hinzu: »Und später, wenn du selbst einen Sohn hast, Chris, wirst du ›der große Fürst‹ sein und deinen Spitznamen an deinen Sohn weitervererben.«

Christian nickte, sagte aber nichts. Alle vier hatten in diesem Augenblick den gleichen Gedanken: Christians Vater, der verstorbene Fürst Leopold von Sternberg, war über einen Meter neunzig groß gewesen. Sobald Christian hatte laufen können, hatte Leopold ihn überallhin mitgenommen, und es waren die Leute aus dem Ort gewesen, die irgendwann gesagt hatten: »Da kommen sie – der große und der kleine Fürst.«

Jetzt gab es nur noch Christian, den kleinen Fürsten.

Bevor die Stimmung umschlagen konnte, schlug die Baronin vor: »Lasst uns schlafen gehen. Es ist wahrhaftig spät genug. Und ihr werdet es nicht glauben: Auch Konny ist schon wieder zu Hause. Er hat sich offenbar so gelangweilt, dass er es nicht lange auf seiner Party ausgehalten hat.«

Wenig später machte Eberhard Hagedorn noch eine Runde durchs Schloss, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Es hatte einige Monate zuvor eine Serie von Diebstählen gegeben, deshalb war eine Alarmanlage installiert worden, um die sich der Butler kümmerte. Seitdem konnte auch er wieder ruhig schlafen.

*

»In zwei Wochen, Mama«, sagte Leona. »Dann komme ich zurück.«

Alexandra von Markenstein betrachtete ihre Tochter nachdenklich. »Und dann?«, fragte sie.

»Was meinst du?«

»Du weißt, was ich meine, Kind. Wirst du Jakob die Wahrheit sagen?«

»Natürlich werde ich das, das hatte ich immer vor.«

»Er ist so oft bei uns gewesen und hat uns beschworen, ihm zu sagen, warum du gegangen bist. Ich glaube, er weiß, dass wir ihn angelogen haben.«

»Es war richtig so«, beharrte Leona. »Wir müssen nicht erneut darüber diskutieren, Mama.«

»Das habe ich auch nicht vor«, versicherte Alexandra. Leiser setzte sie hinzu: »Ich wünschte, er wüsste schon Bescheid. Er ist so ein feiner Mensch, Leona.«

»Ja, das ist er. Deshalb liebe ich ihn, Mama.«

»Ich hätte nicht so handeln können wie du«, gestand Alexandra und strich liebevoll über die Hand ihrer Tochter. »Das war sehr selbstlos von dir, aber ich finde es trotzdem falsch.«

»Ach, Mama«, erwiderte Leona. Sie heftete den Blick fest auf die Berge – das war ihr Hilfsmittel gegen unerwünschte Tränen. »Es war nicht selbstlos, im Gegenteil, es war im Grunde egoistisch. Ich hätte es nicht ertragen können, bei einem Misslingen der Operation nie zu wissen, ob er aus Liebe bei mir bleibt oder weil er Mitleid mit mir hat.«

»Er liebt dich. Ich glaube, nichts kann daran etwas ändern.«

»Du glaubst es, aber sicher bist du nicht. Ich wäre es auch nicht gewesen, Mama. Und deshalb musste ich mich erst einmal von ihm trennen.«

Alexandra schwieg. Sie war noch immer der Überzeugung, dass Leona falsch gehandelt hatte, doch ihre Tochter sah das nun einmal anders. »Ich muss zurück«, sagte sie. »Nächste Woche kommt Papa noch einmal – und dann werden wir dich gemeinsam abholen.«

»Es war schön, dass du hier warst, Mama«, sagte Leona. »Ich bringe dich zum Wagen.«

Alexandra beobachtete ihre Tochter verstohlen. Niemand hätte bei Leonas Anblick angenommen, dass sie eine schwere Operation und lange Wochen der Rehabilitation hinter sich hatte. Ihre Haut war zart gebräunt, noch immer war sie sehr schlank, aber sie wirkte wieder gesund – und in ihren Augen schimmerte Lebenslust.

Die beiden Frauen verabschiedeten sich mit einer herzlichen Umarmung voneinander, dann kehrte Leona zu ihrem Platz im Liegestuhl zurück. Dort wurde sie bereits erwartet: von Dr. Carst. Sie freute sich, den jungen Arzt zu sehen.

»Ihre Mutter ist also abgefahren?«, fragte er.

»Ja, jetzt gerade. Und Sie? Haben Sie frei?«

Er nickte. »Ich wollte Ihnen eine Partie Schach vorschlagen – oder sind Sie zu müde?«

»Ich bin hellwach«, behauptete Leona.

Dass sie das tatsächlich war, bewies sie ihm, indem sie ihn zweimal hintereinander schachmatt setzte.

*

»Wieso gehst du mit mir spazieren und nicht mit Jo?«, fragte Jakob, als er mit Patricia den verabredeten Spaziergang machte.

»Wieso mit Jo?«, fragte sie ruhig. Ihrem Gesicht war nicht anzusehen, was sie dachte.

»Er hat sich in dich verliebt – und du dich in ihn«, stellte Jakob fest.

Wenn sie erstaunt über seine Worte war, so zeigte sie es nicht. »Hat er dir das gesagt?«, fragte sie.

»Er hat kein Wort darüber verloren, aber ich habe schließlich Augen im Kopf, Patricia.«

»Da bist du offenbar der Einzige.« Jetzt lächelte sie. »Nicht einmal Tina hat etwas gemerkt.«

»Aber es stimmt doch, oder?«

Sie nickte. »Was mich betrifft, stimmt es. Bei ihm bin ich nicht sicher. Und ich denke, ich werde ihm meine Gefühle auch nicht sofort offenbaren. Er ist ein Mann, der es mit Frauen wahrscheinlich immer sehr leicht hatte. Ich möchte erst wissen, ob er es ernst meint.«

Ihre scharfe Beobachtungsgabe erstaunte ihn. Sie hatte seinen Freund Johannes sehr gut charakterisiert. Bisher jedenfalls hatte Jo es noch nie ernst mit einer Frau gemeint. Warum auch? Er liebte den ständigen Wechsel, und er kokettierte oft genug damit. »Heiraten kann ich später immer noch, jetzt will ich vor allem meinen Spaß haben.«

»Wieso sagst du nichts?«, erkundigte sich Patricia.

»Es stimmt, dass Jo es immer leicht hatte mit Frauen«, sagte Jakob.

»Das heißt, ich habe Recht, ein wenig vorsichtig zu sein.«

»Das kann ich nicht beurteilen, Patricia.«

»Aber du denkst, dass er sich in mich verliebt hat?«

Jakob entschloss sich, ehrlich zu sein. »Jo verliebt sich schnell, weißt du? Er ist, wie man so sagt, leicht entflammbar.«

»Ja, das dachte ich mir.« Sie war weit davon entfernt, enttäuscht zu sein. »Aber ich finde, er ist jetzt alt genug, um zur Ruhe zu kommen – bei mir.«

»Bist du immer so zielstrebig?«, wunderte sich Jakob.

Ein weiches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Nicht immer«, gestand sie. »Nur, wenn mir etwas wirklich wichtig ist. Jo muss erst noch erwachsen werden, in Bezug auf Frauen, meine ich, aber ich habe es nicht eilig. Außerdem habe ich nicht nur ihn gefunden, sondern auch dich – einen guten Freund braucht jeder Mensch.«

»Du meinst, wir beide haben uns gesucht und gefunden?«

»Wenn man so will: Ja, das glaube ich.«

»Wie kommt es, dass man in deiner Gegenwart gleich gute Laune bekommt, Patricia?«

»Ich bin ein positiv denkender Mensch«, lachte sie.

Er stimmte nicht ein in ihr Lachen. »Hast du keine Angst, dass das mit dir und Jo nicht klappt? Ich meine, es könnte doch sein, dass er sich zwar jetzt in dich verliebt hat, dass das aber wieder einmal ein Strohfeuer ist.«

»Ich glaube, es ist mehr«, sagte sie ruhig. »Er weiß das noch nicht, aber ich werde schon dafür sorgen, dass er es begreift.«

Eine Weile schwiegen sie, dann fragte er: »Du weißt, in welcher Situation ich bin?«

»Ja, Tina hat es mir erzählt. Wir müssen nicht darüber reden, wenn du nicht willst.«

»Es gibt ja auch nicht viel zu reden«, stellte er fest. »Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Dass ich nicht weiß, warum sie mich verlassen hat. Wenn ich auf diese Frage eine Antwort bekäme, könnte ich vielleicht sogar wieder ruhig schlafen.«

»Ich denke, die Antwort bekommst du über kurz oder lang. Sie wird ja nicht für immer verschwunden sein. Irgendwann taucht sie wieder auf, dann kannst du sie fragen.«

Er bezweifelte das, widersprach ihr aber nicht.

*

»Wieso bist du eigentlich in letzter Zeit so gereizt?«, fragte Bettina von Dresen ihren Bruder Johannes eine gute Woche später. »Wenn dir eine Laus über die Leber gelaufen ist, dann spuck’s aus, damit du wieder normal werden kannst.«

»Ich bin normal«, behauptete er.

»Das kannst du unserer gemeinsamen Großmutter erzählen«, spottete sie. »Trennst du dich gerade mal wieder von einer Freundin, und die macht dir die Hölle heiß?«

»Quatsch!« Er reagierte ganz ungewöhnlich heftig. Normalerweise lachte er, wenn sie solche Bemerkungen machte. »Ich habe überhaupt keine Freundin zurzeit.«

Tina machte übertrieben große Augen. »Keine Freundin?«, rief sie. »Das ist ja seit Jahren nicht mehr vorgekommen, Jo, aber das erklärt natürlich alles. Du hast eindeutig deshalb so schlechte Laune.«

»Hör auf«, bat er. »Mir ist nicht zum Scherzen zumute, Tina.«

Sie tat ihm den Gefallen und fragte mit veränderter Stimme: »Was Ernstes?«

»Ich weiß nicht«, brummte er. »Aber ich mag nicht drüber reden, okay?«

»Wie du willst.«

Nach einer Weile, in der sie über andere Dinge gesprochen hatten, sagte sie: »Patricia ist übrigens ganz begeistert von Jakob. Die beiden treffen sich öfter, aber das weißt du ja sicher schon von Jakob. Ich würde mich riesig freuen, wenn er sein Unglück mit Leona endlich vergessen könnte.«

»Du meinst, das ist was Ernstes mit den beiden?«, fragte Johannes.

Es war ein Unterton in seiner Stimme, der sie aufmerksam werden ließ. »Für mich sieht es so aus«, antwortete sie ruhig.

In Johannes’ Augen trat ein harter Glanz, sein Mund verzog sich zu einem geraden Strich. Sollte das etwa heißen, dass sich ihr Bruder, der Herzensbrecher, zum ersten Mal in seinem Leben ernsthaft verliebt hatte, fragte sich Bettina verwundert.

Dann schob sie diesen Gedanken von sich – er war einfach zu abwegig.

*

»Sie werden mir fehlen«, sagte Anton Carst. An diesem Tag hatte er Leona beim Schachspiel geschlagen. »Es ist schwer, hier Leute zu finden, mit denen ich spielen kann.«

»Sie werden mir auch fehlen, Herr Doktor«, erwiderte sie mit warmer Stimme. »Und wenn Ihnen irgendwann hier oben die Decke auf den Kopf fällt, dann kommen Sie mich besuchen in Deutschland. Ich habe ein sehr schönes altes Schachspiel zu Hause.«

»Das werde ich sicher nicht tun, Frau von Markenstein.«

»Warum nicht?«

»Das wissen Sie, glaube ich.«

Sie richtete sich auf und legte ihm, für zwei Sekunden nur, eine Hand auf den Arm. »Sie werden darüber hinwegkommen«, sagte sie ruhig.

Er nickte, obwohl er nicht davon überzeugt war. Er träumte von ihr, seine Tage waren nur dann gute Tage, wenn sie ihm ein Lächeln schenkte oder er mit ihr Schachspielen konnte und wurde er so sehr von anderen Patientinnen und Patienten in Anspruch genommen, dass für sie nur ein paar Minuten blieben, war er unglücklich wie ein kleines Kind, das sein Lieblingsspielzeug verloren hatte. Ihm graute vor seinem Leben, wenn sie nicht mehr hier war. Dann würde ihn nur noch Leere umfangen…

»Nicht«, bat sie leise. »Sie verrennen sich, Herr Doktor. Mein Herz ist vergeben.«

»Keine Chance für mich?«

»Nein«, antwortete sie. »Keine Chance für Sie.«

Mit einer so klaren Antwort hatte er nicht gerechnet. Da war keine Unsicherheit in ihrer Stimme gewesen, kein noch so winziges Bedauern. Sie liebte den Grafen von Ehern noch immer. Ja, wusste sie denn nicht, dass er sich mittlerweile getröstet hatte?

Beinahe hätte er es ihr erzählt, aber er konnte sich gerade noch zurückhalten. Sie würde es früh genug erfahren, und er konnte nur hoffen, dass diese Nachricht ihrer gerade erst wieder erworbenen Gesundheit keinen empfindlichen Schlag versetzen würde.

Er stand auf. »Ich muss gehen«, sagte er. Er hörte selbst, wie schroff seine Stimme klang, aber er konnte es nicht ändern. Er drehte sich um und rannte fast auf das Sanatoriumsgebäude zu. Hätte er doch bloß nicht mit ihr gesprochen!

Nun konnte er nicht einmal mehr von ihr träumen.

*

»Oh, du!«, sagte Johannes gedehnt, als er Jakob vor der Tür stehen sah.

»Ja, ich«, erwiderte Jakob mit fester Stimme. »Ich will wissen, was los ist, Jo. Du gehst mir aus dem Weg seit einiger Zeit, also nehme ich an, dass ich dir etwas getan habe. Und ich wüsste gern, was es ist.«

Johannes ließ ihn eintreten, während er sich überlegte, was

er nun sagen sollte. Die Wahrheit ganz sicher nicht, er kam

sich ja selbst lächerlich vor. Patricia wusste nicht einmal, dass er verliebt in sie war, und dennoch tat er, als hätte er das Recht, eifersüchtig zu sein. Eifersüchtig auf seinen besten Freund, das machte die Sache noch etwas schlimmer.

»Was trinkst du?«, fragte er, ohne sich umzudrehen, als sie sein großes Wohnzimmer erreicht hatten.

»Nur ein Wasser«, antwortete Jakob. »Was ist los, Jo? Hat es etwas mit Patricia zu tun?«

Diese direkte Frage überraschte Johannes so, dass er alle Vorsätze vergaß und sie ehrlich beantwortete. »Ja!«, sagte er heftig. »Verdammt, ja, es hat etwas mit ihr zu tun.«

»Das dachte ich mir«, erwiderte Jakob ruhig. Er nahm das Wasser, das Johannes ihm reichte und trank etwas davon, bevor er es abstellte.

»Und das ist alles?«, fragte Johannes. »Du dachtest es dir?«

»Was soll denn sonst noch sein? Nicht ich bin dir aus dem Weg gegangen, sondern du mir. Also denke ich, solltest du mir sagen, was los ist.«

»Jetzt weißt du es ja.«

Jakob beugte sich vor. »Jo«, sagte er beschwörend, »wir sind doch keine Kinder mehr! Was ist mit Patricia? Du verliebst dich doch dauernd, wieso bist du dann in diesem speziellen Fall so sauer? Normalerweise hättest du mal kurz mit den Schultern gezuckt und dich der nächsten Frau zugewandt. So hast du es bisher jedenfalls immer gemacht.«

»Ich bin sauer, weil dies eben ein spezieller Fall ist!« Johannes schaffte es nicht, auf Jakobs vernünftigen Ton einzugehen, noch immer klang seine Stimme anklagend, seine Augen blickten vorwurfsvoll.

»Und weiter?«, fragte Jakob.

»Und weiter, und weiter«, ereiferte sich Johannes. »Was willst du denn noch wissen?«

»Du benimmst dich wie ein Kind, das seinen Willen nicht bekommt«, stellte Jakob fest. »Wenn dir so viel an Patricia liegt, dann ruf sie an und sag ihr das.«

»Glaubst du vielleicht, ich nehme meinem besten Freund die Frau weg?«

»Woher weißt du denn, dass du das tätest? Du hast doch gar keine Ahnung, was sie und mich verbindet, denn wir beide haben darüber noch kein einziges Mal gesprochen.«

»Das ist auch gar nicht nötig, ich muss ja bloß in eine Zeitschrift gucken, da lacht mir schon euer Bild entgegen. Überall heißt es: Graf Jakob endlich wieder glücklich. Dabei hättest du eigentlich merken können, dass ich mich auch für Patricia interessiere.«

»Und was wirfst du mir jetzt genau vor? Dass ich sie dir weggenommen habe?«

»Du hättest mich zumindest mal fragen können, ob ich vielleicht auch Interesse an Patricia habe.«

»Mach dich nicht lächerlich, Jo«, bat Jakob und stand auf. »Wenn du wieder halbwegs bei Sinnen bist, lass es mich wissen, dann reden wir miteinander. Aber so lange du dich weiter in seltsame Vorstellungen verrennst, habe ich daran kein Interesse. Danke für das Wasser.«

Mit diesen Worten ging er hinaus und ließ Johannes fassungslos zurück. War denn im Augenblick die ganze Welt verrückt geworden? Er verliebte sich in eine Frau, die seine Gefühle nicht erwiderte – das war ihm zuvor noch nie passiert – und nun behandelte ihn auch noch Jakob wie einen dummen Schuljungen!

Er versank in dumpfes Brüten und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass er vollkommen im Recht war, aber es gelang ihm nicht. Je öfter er sich Jakobs Worte ins Gedächtnis zurückrief, desto klarer wurde ihm, dass sein Freund im Recht war und dass er selbst in dieser Angelegenheit nicht gerade eine gute Figur machte.

»Ich Idiot!«, sagte er schließlich und nahm sich vor, Jakob gleich am nächsten Tag anzurufen. Er wollte kein schlechter Verlierer sein – und wenn sich Patricia in Jakob und nicht in ihn verliebt hatte, so konnte er ihr das wohl kaum zum Vorwurf machen.

Und Jakob auch nicht.

*

»Was ist denn, Papa?«, fragte Leona.

Otto von Markenstein war zu seinem letzten Besuch in ihr Sanatorium gekommen, jetzt machten sie einen Spaziergang durch die wunderschöne Umgebung. Sie hatte sich leicht bei ihm eingehängt, bisher war er eher schweigsam geblieben. Schon bei der Begrüßung hatte sie gespürt, dass ihn etwas beschäftigte, doch worum es sich handelte, wusste sie noch immer nicht, deshalb hatte sie ihn jetzt gefragt.

»Es geht um Jakob«, sagte er mit schwerer Stimme.

Leona verkrampfte sich unwillkürlich. »Was ist mit ihm?«, fragte sie, wobei sie sich zur Ruhe zwang.

»Es scheint, als hätte er eine neue Freundin«, antwortete ihr Vater.

Nach diesen Worten blieb es längere Zeit still zwischen ihnen, bis Leona eine weitere Frage stellte. »Was heißt das: Es scheint?«, fragte sie.

»Er geht mit einer jungen Frau namens Patricia von Gernsheim aus, die Zeitschriften drucken Bilder von den beiden ab, überall heißt es: Endlich ist er wieder glücklich. Es wird sogar von einer bevorstehenden Verlobung gemunkelt.«

»Seit wann?«, fragte Leona.

»An die Öffentlichkeit ist die Geschichte jetzt erst gedrungen – wie lange die beiden sich schon treffen, kann ich dir nicht sagen.«

Leona war weiß wie die Wand geworden, aber ihre Hand lag noch immer auf dem Arm ihres Vaters, und nach wie vor setzte sie einen Schritt vor den anderen. »So schnell«, flüsterte sie.

Otto von Markenstein sah seine Tochter beunruhigt an. »Ich habe lange überlegt, ob ich es überhaupt erwähnen soll, aber es wäre ja auch nicht besser gewesen, wenn du nächste Woche nach Hause gekommen wärst und als erstes diese Neuigkeit erfahren hättest.«

»Ich bin froh, dass du es mir jetzt gesagt hast, Papa«, versicherte Leona, und das war die Wahrheit. »Aber unter diesen Umständen werde ich nicht sofort nach Hause kommen – das schaffe ich einfach nicht.«

»Verstehe«, murmelte er. »Nur: Wo willst du denn hin?«

Sie dachte nach. »Ich könnte Sofia und Fritz anrufen, ob ich eine Weile bei ihnen auf Sternberg bleiben darf. Dort habe ich mich immer wohl gefühlt, und ich denke, den beiden könnte ich auch die Wahrheit sagen. Sie hätten sicherlich Verständnis.«

Nachdem er das Für und Wider erwogen hatte, nickte Otto. »Gute Idee«, sagte er. »Wir können gleich nachher anrufen und das klären.«

»Nein, Papa, das möchte ich lieber allein machen. Ich sage euch dann Bescheid.«

»In Ordnung. Wenn sie einverstanden sind, bringen deine Mutter und ich dich nächste Woche direkt nach Sternberg.«

»Danke, Papa.«

Sein Blick war besorgt. »Du wirst doch nicht gleich wieder krank werden, Kindchen?«, fragte er.

»Nein, ganz bestimmt nicht«, behauptete sie, aber es kostete sie Mühe, den Gang mit ihm fortzusetzen. Am liebsten wäre sie auf der Stelle zu Boden gesunken und in Ohnmacht gefallen – nur um nicht mehr daran denken zu müssen, dass Jakob, ihr geliebter Jakob, sich in eine andere Frau verliebt hatte, kaum drei Monate nach ihrer Trennung.

Sie war froh, als ihr Vater sich schließlich verabschiedete und sie wieder allein war. An diesem Abend lehnte sie zum ersten Mal Dr. Carsts Angebot, mit ihm Schach zu spielen, ab.

Sie hatte genug damit zu tun, nicht den Verstand zu verlieren.

*

Sofia glaubte im ersten Augenblick, sich verhört zu haben. »Leona?«, fragte sie. »Bist du das wirklich?«

»Ja, ich bin es wirklich, Sofia.«

»Kind, niemand hat gewusst, wo du bist, es gab so viele Gerüchte – wir haben uns Sorgen um dich gemacht, aber selbst deine Eltern…«

»Sie wussten, wo ich bin, Sofia, aber sie hatten mir versprochen, es niemandem zu sagen, und dieses Versprechen haben sie gehalten. Ich habe eine Bitte an Fritz und dich.«

»Möchtest du kommen?«

»Wenn das möglich ist?«

»Aber natürlich ist es das. Du weißt, wie wir uns freuen, dich zu sehen.«

»Könntet ihr… es für euch behalten? Ich bin noch nicht in der Verfassung, mich wieder in der Öffentlichkeit zu zeigen.«

»Von uns erfährt niemand etwas«, versicherte die Baronin mit ruhiger Stimme. »Und du weißt ja: Sternberg liegt so abgeschieden, dass es sich recht gut als Versteck eignet.«

»Ich bin euch unendlich dankbar, Sofia.«

»Dafür gibt es keinen Grund, denn wir freuen uns auf dich, Leona.«

Nachdem sie sich von der jungen Frau verabschiedet hatte, blieb Sofia sitzen und ließ sich das soeben geführte Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. Dabei wurde sie von Christian überrascht, der fragte: »Ist etwas passiert, Tante Sofia? Du machst so ein komisches Gesicht.« Sein junger Boxer Togo war bei ihm, der sofort auf Sofia zugelaufen kam und ihr freundlich die Hand leckte.

»Ja, man kann sagen, dass etwas passiert ist«, antwortete Sofia. »Ich werde es euch beim Abendessen erzählen.«

Er war neugierig, das sah sie ihm an, aber er stellte keine weiteren Fragen, sondern gab sich mit ihrer Auskunft zufrieden. Als er gegangen war, erhob sich die Baronin, um ihren Mann zu suchen. Er musste die Neuigkeit natürlich vorher erfahren.

*

»Patricia«, sagte Jakob, »wir müssen aufhören, uns zu treffen – oder wir müssen klar und deutlich sagen, dass wir kein Paar sind. Mir gefallen diese Presseberichte nicht. Zuerst habe ich das nicht ernst genommen, aber mittlerweile hat sich das ja völlig verselbständigt.«

Sie nickte zustimmend. »Du hast Recht, aber ich will wegen der Presse nicht auf dich als Freund verzichten, Jakob.«

Er betrachtete sie nachdenklich. Ja, er konnte seinen Freund Johannes verstehen, dass er sich in Patricia verliebt hatte. Vielleicht, wenn es Leona nicht gäbe… oder gegeben hätte…

Sie deutete seinen Blick richtig. »Sie kommt bestimmt irgendwann wieder, Jakob«, sagte sie ruhig.

»Ich hoffe es«, erwiderte er. »Aber sie wird sich einiges von mir anhören müssen.«

»Sie wird einen triftigen Grund gehabt haben, davon bin ich überzeugt«, meinte Patricia.

»Und was ist mit Jo?«, fragte er. Sein Freund war bei ihm gewesen und hatte sich entschuldigt für sein Verhalten und für das, was er gesagt hatte. Seitdem sahen sie einander wieder regelmäßig, aber die frühere Unbefangenheit wollte sich zwischen ihnen nicht einstellen, und es war Jakob völlig klar, dass das auch erst der Fall sein würde, wenn Johannes nicht länger glaubte, dass Patricia und er ein Paar waren. Er hätte es ihm gern gesagt, doch Patricia hatte noch warten wollen. »Er muss noch ein bisschen zappeln, Jakob«, hatte sie gesagt.

Patricias Gesicht war unergründlich. »Er geht jetzt mit einer Blondine aus«, sagte sie.

»Das wusste ich ja gar nicht!« Jakob betrachtete sie besorgt. »Und das macht dir gar nichts aus?«

»Es gefällt mir nicht«, gestand sie, »aber ein Mann, der sich sofort der nächsten Frau zuwendet, wenn er die, die er will, nicht bekommt, ist nicht der Richtige für mich, Jakob.«

»Lass uns mit diesem Verwirrspiel Schluss machen«, bat er noch einmal.

Sie nickte. »Wenn uns der nächste Reporter nach unserer Verlobung fragt, sagen wir, dass wir Freunde sind, nicht mehr.«

Er war erleichtert, denn die zunehmende Aufmerksamkeit der Medien behagte ihm nicht. Er brauchte ein Leben in ruhigen Bahnen und keine aufgeregte Öffentlichkeit, die Anteil an allem nahm, was er tat. »Gut«, sagte er. »Dann ist dieser Spuk ja sicher bald vorbei. Und vielleicht kommt dann auch Jo zur Vernunft.«

Ihr Lächeln war, schien ihm, ein wenig traurig. »Hoffentlich«, sagte sie leise.

*

Johannes wurde im Laufe des Abends immer stiller. Die Frau, der er in der Bar gegenüber saß, sah wirklich umwerfend aus, aber er langweilte sich seit dem Augenblick, da er sie abgeholt hatte. Sie plapperte unentwegt, aber sie hatte noch keinen Satz gesagt, der ihn interessierte. So sehr gelangweilt war er, dass er sich nicht einmal vorstellen konnte, die Nacht mit ihr zu verbringen. Das war ihm bisher noch nie passiert. Im Bett zählten schließlich andere Dinge – das hatte er zumindest bisher immer gedacht. Nun war er mit einem Mal nicht mehr sicher, ob das auch stimmte.

»Was ist los?«, fragte sie.

Ihr Name war Silke, den Nachnamen hatte er vergessen.

»Nichts. Was soll los sein?«

»Ich dachte nur, weil du gar nichts mehr sagst. Wollen wir tanzen?«

Warum nicht, dachte Johannes. Dann hört sie wenigstens auf zu reden.

Das tat sie aber nicht, sie redete weiter, doch es gelang ihm, in Gedanken wegzudriften und sich vorzustellen, es wäre Patricia, die er in den Armen hielt. Patricia, die ihn faszinierte wie keine Frau zuvor – die sich aber leider für seinen Freund Jakob entschieden hatte. Das schmerzte.

Er passte nicht auf und trat Silke auf die Füße. Sie schrie auf und stieß ihn von sich. »Aua! Kannst du nicht aufpassen – du brichst mir ja die Zehen!«

Er stand wie erstarrt. Auch Patricia hatte er auf die Zehen getreten, aber wie anders hatte sie darauf reagiert! Ein wenig spöttisch, aber sehr souverän und ohne aus der Rolle zu fallen.

»Soll ich dich noch nach Hause fahren oder wollen wir uns gleich hier verabschieden?«, fragte er. Er konnte Silke keine Minute länger ertragen – und sie ihn wohl auch nicht. Dieser ganze missglückte Abend war seine Schuld, er hätte wissen müssen, dass sie nicht zueinander passten. Wahrscheinlich war sie eine nette Frau, wenn sie mit dem richtigen Mann zusammen war.

»Danke, ich bleibe noch«, erwiderte sie kühl, und das wunderte ihn nicht. Er nickte ihr noch einmal zu, bezahlte die Getränke und verließ die Bar.

Er würde Jakob fragen, ob er Patricia wirklich liebte oder ob er nur versuchte, mit ihrer Hilfe Leona zu vergessen. Denn wenn das der Fall war…

Dieser Gedanke verlieh ihm Flügel. Wer sagte denn, dass er keine Chance hatte? Er hatte es ja noch nicht einmal versucht!

*

Leona wanderte langsam durch den wundervoll blühenden Sternberger Schlosspark. Ihre Eltern waren bereits wieder abgereist, sie selbst war von den Schlossbewohnern mit großer Herzlichkeit aufgenommen worden. Noch kannte niemand ihr Geheimnis, aber sie hatte beschlossen, es zumindest Sofia und Fritz an diesem Abend zu erzählen.

Sie sah Christian mit seinem Hund von dem kleinen Hügel herunterkommen, der, wie sie wusste, den Familienfriedhof beherbergte. Er hatte sicherlich seinen Eltern einen Besuch abgestattet. Wie erwachsen dieser Verlust ihn gemacht hatte! Sie konnte in ihm kaum den Fünfzehnjährigen erkennen, der er war.

Togo kam in langen Sprüngen auf sie zu, auch Christian hatte sie jetzt entdeckt und winkte. Sie winkte ebenfalls. Gleich darauf hatten sie einander erreicht. »Du warst bei deinen Eltern«, stellte sie fest.

Er nickte. »Ich besuche sie jeden Tag«, sagte er. »Wenn ich bei ihnen bin, erzähle ich ihnen alles, was wichtig für mich ist. Danach geht es mir besser.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Geht ihr noch ein Stück mit mir, Togo und du?«

»Wo willst du denn hin?«

»Ich habe kein Ziel, ich bewundere nur euren Park und lasse mich treiben.«

»Wir kommen gern mit. Togo will sowieso noch nicht zurück. Können wir noch ein Stück in den Wald gehen? Er will, dass ich ihm Stöckchen werfe, das geht im Wald besser als hier im Park.«

Leona war einverstanden, und kurz darauf waren sie bereits in ein angeregtes Gespräch vertieft. Sie wunderte sich, wie gut sie sich mit ihm unterhalten konnte, und weil sie sich so wohl fühlte in seiner Gesellschaft, rutschte ihr einmal unbedacht ›im Sanatorium‹ heraus. Gleich darauf hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Ihre Hoffnung, er hätte es vielleicht überhört, erfüllte sich nicht, denn er fragte: »Du warst in einem Sanatorium? Dann warst du krank?«

»Ja«, antwortete sie in abschließendem Ton, um ihn von weiteren Fragen abzuhalten.

»Du willst nicht darüber reden«, stellte Christian fest. »Hast du es Tante Sofia und Onkel Fritz erzählt?«

»Noch nicht, aber das werde ich tun. Könntest du das für dich behalten, Chris?«

»Ich würde es Anna gern sagen – mit Anna rede ich über alles. Na ja, über fast alles. Sie ist klug, sie kriegt es wahrscheinlich sowieso heraus.«

»Gut, dann sag es ihr.«

Sie hatte befürchtet, er werde ihr nun doch noch weitere Fragen stellen, doch das tat er nicht. Einfühlsam wechselte er das Thema, und sie konnte nicht umhin, sich einmal mehr über diesen Fünfzehnjährigen zu wundern. Er bewies mehr Fingerspitzengefühl als mancher Erwachsene.

Erst als sie sich bereits wieder dem Schloss näherten, sagte er: »Ich glaube, es ist gut, wenn du mit Tante Sofia und Onkel Fritz über das redest, was passiert ist, Leona.«

»Warum denkst du das?«

Ein scheues Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Man darf mit dem, was einen bedrückt, nicht zu lange allein bleiben«, sagte er leise.

Diese Worte klangen noch lange in ihr nach.

*

Dr. Anton Carst litt. Es war noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Er vermisste Leona in jeder Sekunde, und er fragte sich, ob sich dieser Zustand jemals wieder bessern würde. Er konnte nur hoffen, dass niemand sonst etwas davon bemerkte.

Doch er hatte seine schauspielerischen Fähigkeiten wohl überschätzt, denn Professor Karl Sönnges, der Direktor des Sanatoriums, ließ ihn noch am Tag von Leonas Abreise zu sich rufen. »Machen Sie Urlaub, Herr Carst«, sagte er, als Anton vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Wie bitte?«, fragte Anton verblüfft. »Wir sind voll belegt, Herr Professor, ich habe jede Menge Patienten, und…«

Der Professor unterbrach ihn. »Das weiß ich alles, Herr Carst. Aber in Ihrem derzeitigen Zustand sind Sie keine Hilfe, sondern eher eine Gefahr für die Patienten. Und da ich große Stücke auf Sie halte und hoffe, dass Sie noch recht lange hier bleiben, muss ich Sie zu Ihrem Glück zwingen. Sie brauchen Urlaub, denn Sie sind mit Ihren Gedanken woanders. Ich hatte heute mehrfach die Gelegenheit, mich davon zu überzeugen.«

Fieberhaft dachte Anton nach, welche Fehler er sich geleistet haben könnte, doch ihm fielen keine ein.

Professor Sönnges beobachtete ihn mit verstohlenem Lächeln. »Es waren keine großen Fehler, nur kleine Gedankenlosigkeiten, die Sie sich sonst nicht leisten«, erklärte er. »Was ist los mit Ihnen? Sie haben sich doch nicht etwa ernsthaft in Frau von Markenstein verliebt?«