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Diese Bergroman-Serie stillt die Sehnsucht des modernen Stadtbewohners nach einer Welt voller Liebe und Gefühle, nach Heimat und natürlichem Leben in einer verzaubernden Gebirgswelt. "Toni, der Hüttenwirt" aus den Bergen verliebt sich in Anna, die Bankerin aus Hamburg. Anna zieht hoch hinauf in seine wunderschöne Hütte – und eine der zärtlichsten Romanzen nimmt ihren Anfang. Hemdsärmeligkeit, sprachliche Virtuosität, großartig geschilderter Gebirgszauber – Friederike von Buchner trifft in ihren bereits über 400 Romanen den Puls ihrer faszinierten Leser. E-Book 289: Ein Hauch von Frühling E-Book 290: Carl kommt nach Waldkogel E-Book 291: Simons zweiter Versuch ... E-Book 292: Erwachende Gefühle E-Book 293: Geht ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung? E-Book 294: Gemeinsam ins Glück! E-Book 1: Ein Hauch von Frühling E-Book 2: Carl kommt nach Waldkogel E-Book 3: Simons zweiter Versuch ... E-Book 4: Erwachende Gefühle E-Book 5: Geht ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung? E-Book 6: Gemeinsam ins Glück!
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Seitenzahl: 769
Veröffentlichungsjahr: 2018
Ein Hauch von Frühling
Carl kommt nach Waldkogel
Simons zweiter Versuch ...
Erwachende Gefühle
Geht ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung?
Gemeinsam ins Glück!
Ronja schlenderte barfüßig über den Hof, die Hände tief in den Taschen ihrer grünen Latzhose vergraben. Dazu trug sie eine gelb-blau-karierte Bluse. Die Ärmel hatte sie bis über die Ellenbogen umgeschlagen. Ein Band hielt ihr langes, rotes, naturgelocktes Haar im Nacken zusammen. Neben der Stalltür schlüpfte sie in ihre rosafarbenen Plastikclogs mit Blümchenmuster. Zuerst blieb sie eine Weile in der Tür stehen, dann trat sie ein.
Franziska kehrte den langen Mittelgang. Sie trug Kopfhörer. Das Kabel führte in die Brusttasche ihrer Latzhose.
Ronja kam es vor, als würde Franziska in Abständen leise etwas vor sich hinsagen oder singen. Sie konnte aber nichts verstehen.
»He, singst du? Was für Musik hörst du?«, rief Ronja.
Franziska gab keine Antwort.
»Blöde Kuh!«, schimpfte Ronja leise. »Wie kann man nur so nachtragend sein?«
Ronja betrat den Stall. Sie setzte sich unweit der Tür auf einen Strohballen und schaute Franziska zu. Dabei schimpfte sie weiter leise vor sich hin.
Plötzlich stand ihr Vater in der Tür. Ronja hatte ihn nicht kommen gehört.
»Schlechte Laune?«, fragte er, als er ihre Schmollmine sah, die er nur allzu gut kannte.
Ronja rollte die Augen. Sie verließ den Stall und setzte sich auf den Brunnenrand. Ihr Vater folgte ihr.
»Papa, meine Laune ist unterirdisch«, stieß sie hervor.
»Unterirdisch?«, Simon schaute seine Tochter verwundert an. »Ist das etwas Gutes? Ich nehme eher an, es ist übel, nach deinem Geschichtsausdruck zu urteilen.«
»Genau! ›Unterirdisch‹ sagt man, wenn es ganz schlecht ist, wirklich grottenschlecht, unterirdisch eben. Und in dem Fall ist es tiefunterirdisch. So tief, dass man auf der anderen Seite der Erde wieder herauskommt, in Australien oder Neuseeland, wegen mir auch Südpol. Verstehst du?«
Simon Meininger unterdrückte ein Schmunzeln. »Mei, das muss wirklich schlimm sein. Was ist geschehen?«
»Es ist wegen Franziska. Sie redet nicht mit mir. Dabei war ich nett und habe sie nicht geärgert. Heiliges Ehrenwort!«, beteuerte sie. Dabei hob sie die Finger zum Schwur und legte sie auf ihr Herz. »Ich habe sie nur etwas gefragt. Aber sie hat mich nicht einmal angeschaut, mir noch nicht einmal einen Seitenblick zugeworfen. Sie tat so, als wäre ich nicht da, als gäbe es mich nicht. Ich bin Luft für sie, weniger als Luft. Es ist, als würde ich für Franziska gar nicht existieren«, sprudelte Ronja hervor.
Simon Meininger setzte sich neben sie auf den Brunnenrand. Er schwieg. Er wusste, dass es das Beste war, Ronja ausreden zu lassen. Dabei machte er sich Gedanken darüber, was schon wieder passiert sein konnte. Seine bald dreizehnjährige Tochter hatte einen verhängnisvollen Hang, sich in das Leben anderer einzumischen. Darin war sie kaum zu bremsen, und in letzter Zeit hatte das zu vielen Schwierigkeiten geführt. Er wusste, dass Ronjas Einmischungen und Manipulationen nicht aus Böswilligkeit geschahen. Aber das war nur ein schwacher Trost. Die Folgen ihres Verhaltens hatten Simon Meininger in vielen Nächten den Schlaf geraubt.
Den Hof, der einst den Bichlers gehörte, hatten die Meiningers nur gepachtet. Franziska und Sebastian, die nach dem tragischen Unfalltod ihrer Eltern von Toni und seiner Frau Anna adoptiert worden waren, hatten den Bichler-Hof geerbt. Da waren sie noch Kinder. Als Simon den Pachtvertrag mit Toni abgeschlossen hatte, war Toni noch der gesetzliche Vertreter der Geschwister. Aber inzwischen waren Franziska und Sebastian volljährig und damit Eigentümer des Hofs. Sebastian sahen die Meiningers selten. Er war Hotelfachmann und absolvierte gerade eine Zusatzausbildung auf der Hotelfachschule. Er war fest entschlossen, die Berghütte zu übernehmen. Bald würde er als Junior-Hüttenwirt auf die Berghütte kommen. Franziskas Herz war für die Landwirtschaft erblüht und für Lukas Meininger, Simons Ältesten, der in München Landwirtschaft studierte. Wahrscheinlich war beides wichtig, aber der Glanz in Franziskas Augen sprach Bände, wenn sie Lukas sah. Sicher hatte die heimliche Liebe zu ihm den Ausschlag gegeben. Lukas und Franziska verstanden sich gut. Neben seinem Studium hatte Lukas begonnen, eine seltene, fast ausgestorbene Schweinerasse zu züchten. Wenn Lukas unter der Woche in München war, hatte Franziska die kleinen Ferkel sorgfältig, geradezu liebevoll, versorgt. Simon Meininger war bekannt, dass Lukas und Franziska oft, bis spät in der Nacht irgendwo auf dem weitläufigen Gelände zusammen saßen und über Landwirtschaft sprachen. Franziska gefiel Lukas, das wusste Simon. Ihm war auch bekannt, dass Lukas sich ihr niemals zärtlich genähert hatte. Lukas war konservativ. Er hatte sich geschworen, zuerst eine berufliche Grundlage zu schaffen, bevor er Franziska seine Liebe gestehen wollte. Schließlich war Franziska die Miteigentümerin des Bichler Hofs, der ihr irgendwann ganz gehören würde. Darauf hatten sich die Geschwister geeinigt.
Franziska hatte sich fast drei Jahre hervorragend auf dem Hof eingefügt. Sie lebte auch dort in ihrem alten Kinderzimmer. Sie war fast ein Familienmitglied. Simon schätzte sie sehr. Sie war fleißig und bodenständig. Schon jetzt, während ihrer Lehrzeit, verkörperte sie die tüchtige Jungbäuerin.
Die Ruhe auf dem Hof nahm ein jähes Ende, als Lukas seine Studienfreundin Helene von Markschlotten mitbrachte. Er gab ihr einen Teil seiner Ferkel ab, als Forschungsobjekt, für ihre Studienzwecke. Außerdem arbeiteten sie als Gruppe an einer Aufgabe, die die Universität den Studenten gestellt hatte.
Helene, die Hella gerufen wurde, war eine Schönheit. Als einziges Kind einer sehr begüterten Familie, die, außer einem großen Gut, ein bekanntes Gestüt betrieb, strahlte Hella fast grenzenloses Selbstbewusstsein aus. Das wurde durch hochwertige, modische Kleidung, auffallendes Make-up und Sportwagen unterstrichen. Franziska hatte gleich erkannt, dass sie sich auf dieser Ebene nicht mit Hella messen konnte. So plagte sie die Eifersucht, die von Ronja noch geschürt wurde. Ronja schwärmte für die elegante und weltgewandte Hella. Hella hatte einen fröhlichen, übermütigen Charakter, wie er oft Menschen zu Eigen ist, deren gutsituiertes Leben ihnen erlaubt, alle Schwierigkeiten einfach hinweg zu wischen. Hella neigte dazu, jedem übermütig um den Hals zu fallen, wenn sie glücklich war. So tat sie es auch bei Lukas. Ronja, die ihn und Hella nicht aus den Augen gelassen hatte, hielt die Küsse auf Fotos fest und spielte sie Franziska zu. Die Folgen waren bedrohlich, wie Simon erfahren hatte. Franziska war entschlossen, den Pachtvertrag zu kündigen und den Hof, gleich nach ihrer Abschlussprüfung, selbst zu bewirtschaften. Simon wusste, dass Franziskas älterer Bruder Sebastian dagegen war. Aber es stellte sich für ihn immer wieder die Frage, wie lange Sebastian sich gegen den Wunsch seiner Schwester stellen würde. Je näher Franziskas Abschlussprüfung rückte und damit das Ende des Lehrverhältnisses, desto mehr Gedanken machte sich Simon Meininger. Dabei spielte es keine Rolle, dass Justus von Hovenwik, Hellas Liebster, den Meiningers erzählt hatte, dass er und Hella nach Hellas Examen heiraten würden. Die beiden hatten die Meiningers an einem Sonntag besucht. Jeder hatte sehen können, welch verliebtes und harmonisches Paar sie waren.
»Papa, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Ronja und riss Simon Meininger aus seinen Gedanken.
»Sicher!«
Ronja schimpfte weiter. »Ich bin so sauer. Eigentlich bin ich doppelt sauer.«
»Doppelt sauer bist du, so, so. Ich kenne nur doppeltsaures Natron. Erkläre es mir! Vielleicht kann ich helfen?«
»Das kannst du nicht. Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst, Papa«, sagte Ronja mit altklugem Unterton.
»Ronja, ich verspreche nichts, außer dass ich es versuchen will. Nun rede schon!«
Ronja seufzte. »Also, erstens bin ich ärgerlich, weil Franziska nicht mit mir spricht, aber das habe ich schon gesagt. Zweitens ist alles ein großer Schwindel, von wegen, wenn man sich entschuldigt, sei alles wieder gut. Ich habe mich bei Franziska entschuldigt. Okay, ich habe Mist gebaut. Aber Mist ist nicht nur Mist, sagst du immer, Papa. Er ist auch ein vorzügliches natürliches Düngemittel. Also, ich hatte Mist gebaut und mich bei Franziska entschuldigt. Sie hat gesagt, alles wäre vergeben und vergessen. Schmarrn! Wer es glaubt, wird selig. Ich glaube kein Wort mehr. Und zu dem Mist, den ich gebaut habe: So schlimm war er es nicht, jedenfalls habe ich Justus aufgescheucht, und er ist hergekommen. Jetzt wissen wir, dass Hella und Justus ein Paar sind. Deshalb verstehe ich nicht, dass Franziska immer noch schmollt. Es ist doch jetzt klar wie Kloßbrühe, dass Hella es nicht auf Lukas abgesehen hat. Also müsste Franziska doch froh sein. Also ich wäre es, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Denn dass Franziska in Lukas verliebt ist, das kann jeder sehen. Es ist so, als würde es in großen, fetten Buchstaben auf ihrer Stirn stehen.«
Ronja errötete. Zu spät fiel ihr ein, dass es eigentlich ein Geheimnis bleiben sollte, dass sie Justus mit den, per Handy geschickten, Fotos aufgescheucht hatte. »Du weißt davon?«, fragte Ronja mit einem unschuldigen Augenaufschlag.
Simon Meininger schmunzelte. »Ja, ich habe da so was vernommen. Aber Justus ist nicht nachtragend. Er hat auch eine kleine Schwester. Sie heißt Edeltraud.«
»Ich weiß. Justus hat mir ein Bild von ihr gezeigt. Sie ist nett und sie hat ein Pferd. Ich möchte auch ein eigenes Pferd.«
»Wir werden sehen«, sagte Simon. »Vorher sind noch andere Dinge zu klären.«
Ronja seufzte wieder. Sie löste das Band und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Anschließend drehte sie mit den Fingern einer Hand eine Haarsträhne. Das war ein Angewohnheit, die ihr seit vielen Jahren zu Eigen war, wenn sie verlegen war.
»Papa, ich habe mich wirklich entschuldigt. Franziska ist so nachtragend, das geht auf keine Kuhhaut. Bitte, glaube mir!«, beteuerte sie.
»Warum nimmst du das Schlechteste an?«, fragte Simon. »Ich habe nicht den Eindruck, dass Franziska dir noch grollt. Beim Essen spricht sie doch mit dir.«
Ronja rollte die Augen.
»Papa«, sagte sie mit Nachdruck, »das ist etwas ganz Anderes. Da bist du und Mama dabei. Aber wenn ich mit ihr allein bin, dann ist sie ganz anders. Das kannst du mir glauben. Und jetzt schottet sie sich noch mit Kopfhörer ab.«
»Ich glaube dir, Ronja. Du erfindest zwar gern Geschichten, aber in dem Fall denke ich, dass es der Wahrheit entspricht. Vielleicht hat Franziska einen schlechten Tag?«
»Schmarrn! Hat sie nicht. Sie singt leise vor sich hin, denke ich. Sie arbeitet im Kuhstall und hat dabei Kopfhörer auf. Ich wollte nur wissen, was für Musik sie hört. Aber sie gab keine Antwort.«
Simon lachte. Er legte Ronja den Arm um die Schulter. »Ronja, vielleicht hat sie dich nicht gehört? Wenn du deine Kopfhörer aufhast und Musik hörst, dann muss ich brüllen, damit du mich hörst.«
»Mm, ja! Trotzdem ist es komisch«, beharrte Ronja darauf.
»Dann versuche es noch einmal. Los, zieh Leine! Ich muss rein ins Büro und mich an die Buchhaltung machen.«
Wenig motiviert ging Ronja zur Stalltür. Sie rief wieder nach Franziska und bekam keine Antwort.
»Blöde Kuh!«, schimpfte Ronja erneut leise.
Sie drehte sich auf dem Absatz herum und lief ihrem Vater nach. Sie erwischte ihn kurz vor der Haustür.
»Nix ist! Ich gebe auf.«
»Soll ich mal mit Franziska sprechen?«
»Nein, um Gotteswillen nicht! Wir dürfen sie nicht verärgern. Das hat mir Lukas erklärt, damit sie den Pachtvertrag nicht kündigt.«
Simon Meininger lächelte.
»Mache dir keine Sorgen, so schnell geht das nicht! Franziska kann uns nicht den Pachtvertrag kündigen. Ihr gehört der Bichler Hof nur zur Hälfte. Für alles, was den Hof betrifft, benötigt sie die Zustimmung ihres Bruders. Und Sebastian ist auf unserer Seite.«
Dabei versuchte er sehr überzeugend zu klingen, damit Ronja sich nicht beunruhigte.
»Das sagt Lukas auch. Aber er ist misstrauisch. Blut ist dicker als Wasser, sagt Lukas.«
»Ja, so sagt man. Aber es gibt auch noch eine andere Redewendung. ›Es ist noch nicht aller Tage Abend‹. Deshalb bewahre ich die Ruhe. Ich gebe dir jetzt einen Rat für dein Leben, Ronja. Es bringt nichts, sich um ungelegte Eier zu sorgen. Klar soll man sich Gedanken machen, aber es ist falsch, sich in Pessimismus hineinzusteigern. Wenn etwas passiert, dann, und wirklich erst dann, muss man sich ernsthaft Gedanken machen. Dann kann man kämpfen. Und kämpfen macht stark. Du bist dem Schicksal niemals völlig ausgeliefert, Ronja. Jeder hat sein Leben in der Hand. Und wenn es noch so schlimm wird, es gibt keinen Grund zur Verzweiflung. Dann ist vielleicht der Weg zu einem Ziel versperrt, das man angestrebt hat. Dann nimmt man einen anderen Weg oder sucht sich ein anderes, schöneres Ziel.«
Simon strich Ronja über das Haar. Er wunderte sich, dass sie sich nicht wehrte, da sie solche Liebkosungen seit einiger Zeit als Baby-Kram abtat. Es war für ihn ein Zeichen, wie unsicher sie war.
»Du musst Franziska sagen, dass wir hier nicht fort wollen!«, sagte Ronja leise.
»Wenn es zu einem Gespräch kommt, werde ich ihr es sagen.«
»Du hast mit Franziska noch nicht darüber gesprochen, Papa? Hast du keine Angst?«
Simon Meininger schaute seine Tochter an. »Was heißt Angst? Mir war immer bewusst, dass vielleicht, eines Tages, der Pachtvertrag nicht verlängert werden könnte. Aber bis zum Ende des Vertrages sind es noch einige Jahre.« Simon Meininger seufzte. »Ronja, man soll schlafende Hunde nicht wecken. Daran halte ich mich. Sei nicht in Sorge! Franziska ist im Prüfungsstress. Nach ihrer Abschlussprüfung werden wir ohnehin reden müssen. Bis dahin ist es nicht mehr lang.«
»Aber die Tage ziehen sich wie Gummi. Und Franziska ist so komisch. Das gefällt mir nicht. Wird sie Sebastian überreden können?«
»Du hast Angst?«
»Ja, Papa! Kannst du nicht irgendwie herausfinden, was Franziska denkt? Was sie vor hat? Wenn wir hier fort müssen, dann bin ich Schuld.«
»Ronja, sage so etwas nie wieder, nie!«, tadelte sie ihr Vater. »Ich verspreche dir, dass wir vor dem Ablauf des Pachtvertrags nicht von hier weichen. Die Suppe wird nie so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. Nun beruhige dich.«
Ronja schmiegte sich kurz an ihren Vater. »Kannst du Franziska nicht ein bisserl aushorchen? Das kannst du. Das weiß ich. Franziska kann dich gut leiden.«
Simon schmunzelte. Er griff in seine Hosentasche und zog seinen Geldbeutel hervor. »Du brauchst etwas zur Aufmunterung, Ronja. Hier ist ein Schein. Jetzt schwingst du dich auf dein Mountain Bike und radelst zum Reiter Hof. Du leihst dir ein Pferd und machst dir einen schönen Tag.«
»Wirklich? Du bist toll! Danke! Dann ziehe ich mich schnell um. Sagst du Mama, dass sie mir etwas zu Essen und zu Trinken einpacken soll?«
Dann stürzte Ronja ins Haus und rannte die Treppe hinauf.
Simon Meininger lachte.
Es dauerte nicht lange, dann brauste Ronja auf dem Rad davon.
Simon Meininger ließ das Gespräch mit seiner Tochter keine Ruhe. Er ging auf die Suche nach Franziska. Sie putzte die Milchkammer.
Er rief, aber Franziska, die immer noch Kopfhörer trug, schien ihn nicht zu hören.
Simon ging zu ihr und tippte ihr auf die Schulter.
Franziska zuckte zusammen. Sie griff in die Latzhose, schaltete das Gerät aus, nahm die Kopfhörer von den Ohren und hängte sie sich um den Hals. »Es tut mir leid, Simon, ich habe dich nicht gehört.«
»Das habe ich bemerkt. Du warst in eine andere Welt eingetaucht. Was für Musik hörst du? Vielleicht geben die Kühe mehr Milch, wenn du sie laut mit Musik berieselst.«
Franziska lachte. »Ich habe davon gehört, dass Forschung gemacht wird, ob Musik einen Einfluss auf die Milchmenge hat. Aber das hier ist keine Musik.«
Simon Meininger schaute Franziska erstaunt an. »Was ist es dann?«
»Texte!«
»Oh, du hörst dir ein Hörspiel oder ein Hörbuch an.«
Franziska lächelte. Sie schaltete das Gerät ein und hielt Simon die Kopfhörer hin.
»Hier, du kannst reinhören«, sagte sie.
Er lauschte. »Dass es so etwas gibt, wusste ich nicht. Die Sprecherin hat sogar einen leicht süddeutschen Tonfall.«
Franziska lachte. »Du hast meine Stimme nicht erkannt?«
»Das bist du?«
»Ja, das bin ich, Simon. Ich habe den Text gesprochen. Es ist der Text einer Lernkartei, die ich mir angelegt habe. Auf jeder Karteikarte steht auf der einen Seite die Frage und auf der Rückseite die Antwort.«
Franziska erklärte, dass sie, Karte für Karte, mit Frage und Antwort auf Band aufgenommen hatte. Dazwischen hatte sie Sprechpausen gemacht, in denen sie die Fragen beantworten konnte. Wenn sie dann die Antwort hörte, wusste sie, ob sie den Lernstoff beherrschte.
»Mei, das ist beeindruckend. Das ist eine sehr gute Idee«, lobte sie Simon. »Das werde ich Lukas erzählen. Das wird ihn sicher interessieren.«
Franziska lachte. »Das kannst du dir sparen. Lukas hat mir den Tipp gegeben. Er lernt nach dieser Methode. Er hat immer seinen Lernstoff dabei, wenn er joggen geht oder auf den Fahrten, von München nach Waldkogel, hört er die Fragen im Auto.«
»Das wusste ich nicht. Lukas erzählt wenig von seinem Studium. Ich muss ihm immer alles aus der Nase ziehen.«
Franziska lächelte. Sie legte den Kopf schief und sah Simon an.
»Ja, so ist er. Lukas würde gern mehr erzählen, aber er traut sich nicht«, bemerkte Franziska, »jedenfalls dir und Eva gegenüber. Mit mir hat er früher über alles geredet. Wir haben oft bis Mitternacht Theorie und Praxis verglichen.«
Simon Meininger starrte Franziska mit großen Augen an.
»Das musst du mir jetzt genauer erklären. Mach hier eine Pause! Wir gehen hinter die Scheune und sprechen miteinander. Dort sind wir ungestört. Geh schon mal vor, ich hol uns etwas zu Trinken!«
Franziska nickte. »Ich war ohnehin fertig. Ich leere nur noch den Putzeimer aus und werfe die Lappen in die Waschmaschine.«
Zehn Minuten später saßen Simon und Franziska hinter der Scheune. Simon hatte zwei Flaschen Wasser mitgebracht und eine Brotzeit für jeden.
»So, jetzt musst du mir erklären, warum Lukas so wortkarg ist, was sein Studium betrifft. Okay, er sagt uns, wenn er eine Prüfung oder Klausur bestanden hat. Eva und ich wissen auch, dass er sein Studium wahrscheinlich früher abschließt. Er scheint ein ehrgeiziger und fleißiger Bursche zu sein.«
»Das ist er bestimmt«, sagte Franziska mit Nachdruck.
»Aber«, bemerkte Simon, »warum ist er so zurückhaltend? Er lernt sicher interessante Sachen. Ich könnte davon profitieren. Okay, ich will Lukas nicht Unrecht tun. Er macht da und dort schon einmal eine Bemerkung oder gibt mir einen Hinweis.«
Franziska seufzte.
»Lukas hat Angst, dich zu verletzen. Er will nicht den Eindruck erwecken, er würde dich für einen dummen Bauern halten. Vielmehr ist er in Sorge, es könnte so verstanden werden.«
»Was ist das für ein Unsinn? Das ist zum Himmel schreiender Unsinn. Wie kommt er auf solche hirnrissigen Gedanken?« Simon Meininger war die Erschütterung anzusehen. »Ich kann es nicht glauben.«
Franziska ließ sich ein wenig Zeit mit der Antwort.
»Es hat etwas mit Veronika Boller zu tun«, rückte sie dann damit raus. »Ich will Veronika nicht in die Pfanne hauen. Aber ich war dabei, als sie Lukas ermahnt hatte, vorsichtig zu sein und nicht mit seinem Wissen zu prahlen. Das muss ihn beeinflusst haben. Was sage ich da? Sie hat auf ihn eingeredet wie auf einen lahmen Gaul. Es hat ihn beeinflusst. Er hat sich eine Menge Gedanken gemacht und sich entschieden, eher still zu sein.«
»Ich werde Veronika ein paar Takte sagen, an die sie sich ein Leben lang erinnert. Darauf kann sie sich verlassen. Jetzt erzählst du mir genau, was vorgefallen ist.«
»Okay«, antwortete Franziska.
Sie erzählte von dem Abend, als sie auf dem Weg in den Trachten– und Andenkenladen Boller war und Lukas dort zufällig begegnete. Er kam gerade aus München und parkte auf dem Marktplatz.
»Ich wollte bei Veronika ein Geburtstagsgeschenk für Sebastian kaufen. Da traf es sich gut, dass Lukas mich begleitete. Er konnte mir helfen, das richtige Geschenk auszusuchen. Simon, du weißt, wie neugierig Veronika sein kann. Sie fragte Lukas nach seinem Studium aus. Er erzählte voller Begeisterung davon und erwähnte dabei die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die höhere Erträge garantierten. Dann legte Veronika los. Sie warnte ihn wirklich eindringlich, zuhause nicht zu viel davon zu erzählen. Sie erzählte von einer Familie Mahlberger, die einmal in Waldkogel ansässig war. Ihr Bub war der Erste aus Waldkogel, der Landwirtschaft studierte. Das ist schon lange her. Jedenfalls empfahl er seinem Vater, dies und jenes künftig so oder so zu machen. Darüber gerieten Vater und Sohn immer heftiger in Streit. Es endete damit, dass der Mahlberger seinen besserwisserischen Sohn vom Hof warf. Bald darauf verkaufte der Alte den Hof und zog fort. Für alle Waldkogeler war das ein Schock. Mahlberger sagte jedem, dass er eine Dummheit gemacht habe, seinen Bub studieren zu lassen. Jetzt wüsste der alles besser und sähe auf ihn herab. Der Alte war in die Arbeit hineingewachsen, wie es damals so war. Der Bub lernte beim Vater, der alles von seinem Vater gelernt hatte. In der Familie hat es richtig gekracht, sagte Veronika Boller. Verstehst du jetzt, Simon?«
Simon schüttelte erschüttert den Kopf.
»Ich kann es nicht glauben. Franziska, du musst es wissen. Bin ich so verbohrt, dass ich keinen Rat annehme?«
»Schmarrn! Du hörst dir doch auch meine Ideen an. Und einige Vorschläge haben wir zusammen umgesetzt.«
»Stimmt! Das müsste Lukas doch wissen! Ich habe den Beruf des Landwirts auch nicht gelernt. Aber ich habe mir alle Kenntnisse erworben, die ich brauchte. Später habe ich extern noch die Prüfung gemacht. Damals gab es von der Regierung ein Programm zur Qualifizierung von Landwirten.«
»Das weiß ich, Simon. Sonst hätte ich bei dir keine Lehre machen können«, sagte Franziska. »Nimm das nicht so tragisch, Simon! Veronika hat Lukas einen Floh ins Ohr gesetzt.«
»Gehirnwäsche nenne ich das, Franziska«, schimpfte Simon empört. »Die Veronika soll sich um ihre eigenen Sachen kümmern!«
Franziska nickte. »Stimmt! Aber du weißt, wie sie ist. Sie redet viel und gibt jedem ungefragt Ratschläge. Sie meint es nicht böse. Sie macht sich keine Gedanken darüber, was sie anrichten könnte.«
»Warte, ich bin gleich wieder da!«, sagte Simon und stand auf.
Die Hände in den Taschen seiner Arbeitshose vergraben, ging er kopfschüttelnd davon. Franziska blieb sitzen und wartete.
Es dauerte nicht lange, dann kam er zurück. Er brachte eine Flasche Obstler mit und zwei Gläser.
»Also, auf den Schreck hin, muss ich meinen Ärger hinunterspülen. Trinkst du einen Obstler mit?«
»Okay, einen Kleinen, ein halbes Glas!«
Simon schenkte ein. Sie prosteten sich stumm zu und tranken.
»Was muss der Bub gelitten haben!«
»Och, so schlimm war es auch nicht. Lukas hat dich sehr gern, Simon. Er wollte nichts machen, was zum Streit führen könnte. Sei ehrlich! Lukas schweigt nicht generell über sein Studium. Er wartet nur, bis du ihn fragst.«
»Das stimmt, Franziska. Und wenn ich frage, dann berichtet er mir und erklärt es ausführlich. Einiges davon habe ich angenommen und umgesetzt. Anderes ließ ich bleiben, weil der Hof für manche Maßnahme nicht groß genug ist. Außerdem will ich keine industrielle Landwirtschaft betreiben. Ich halte es mit der Art und Weise der einfachen Bauersleute. Ich richte mich nach der Jahreszeit, dem Wetter und dem Boden. Du weißt, wie ich das meine, hoffe ich.«
»Natürlich weiß ich das. Ich bin deiner Meinung. Was denkst du, warum ich hier meine Lehre machen wollte? Das hat nichts damit zu tun, dass der Bichler Hof mein Elternhaus ist. Wenn ich mit Toni und Sebastian hier war und dir zuhörte, dann gefiel mir, was du sagtest.« Franziska errötete. »Da waren viele Sätze dabei, die mein Vater hätte sagen können.«
»Das hast du schön gesagt, Franziska. Das ist wohl das schönste Lob, das du mir geben kannst«, freute sich Simon Meininger.
»Mir hat gefallen, dass du Ackerflächen brachliegen lässt, damit sich der Boden von selbst erholt und vieles mehr. Mir gefiel, dass du das Vieh mit Würde behandelst. Ich bemerkte, dass du die Tiere liebst und sie nicht als Gelddruckerei ansiehst. Vielleicht warst du es, der mein Interesse an der Landwirtschaft geweckt hat.«
Simon schmunzelte. Er nahm innerlich einen Anlauf. ›Jetzt oder nie‹, dachte er.
»Und Lukas hat daran keinen Anteil? Hat es dich nicht auch wegen Lukas hierher gezogen? Wir sind unter uns, Franziska. Du kannst offen reden. Ich erzähle es keinem. Außerdem ist in den letzten Wochen sehr viel geschehen. Vor allem, seit Lukas Hella mitgebracht hatte. Du bist ganz schön eifersüchtig auf Hella gewesen. Habe ich recht?«
Franziska strich sich eine Strähne hinter das Ohr. Sie war sehr verlegen. »Okay – ja – ich gebe es zu. Lukas hat auch eine Rolle gespielt. Aber frage mich bitte nicht weiter!«
Simon grinste. »Das muss ich nicht. Wir wissen alle, wie zugetan ihr einander seid.«
Franziska zog die Augenbrauen nach oben.
»Mei, Franziska, schau nicht so! Du hast Lukas doch gern.«
»Dazu will ich nichts sagen. Ich verweigere die Aussage.«
»Nun, das sagt auch etwas. Lukas mag dich.«
Franziskas Herz schlug schneller.
»So?«, bemerkte sie.
»Tu nicht so unschuldig! Alle vermuten es, vorsichtig gesagt.«
Franziska seufzte. »Das kann schon sein. Aber so schweigsam, wie er dir gegenüber ist, was sein Wissen betrifft, so ist er mir gegenüber sehr zurückhaltend. Okay, wir reden über alles, wie zwei gute und liebe Freunde. Wir dachten oft das Gleiche, schmiedeten Pläne, was man aus dem Hof noch alles machen könnte. Aber Lukas ging nie so auf mich zu, wie ein Madl es von einem Burschen erwartet.«
»Das glaube ich gern. Ich verstehe auch, dass die letzten Monate für dich nicht einfach waren. Lukas hat ein paar Komplexe. Das liegt an den Leuten, mit denen er an der Universität zusammen ist. Die meisten haben Eltern mit großen Gütern. Er ist der Bub eines Bauern, der einen Hof gepachtet hat – auf Zeit.«
Franziska hörte den besorgten Unterton heraus. Sie ging nicht darauf ein, sondern sprach über Lukas.
»Es ist enttäuschend für mich, dass er in mir nicht das Madl sieht, sondern die baldige Besitzerin des Bichler Hofs. Ich durchschaue ihn. Er ist ehrgeizig und konservativ. Er will einem Madl etwas bieten. Er will sich nicht nachsagen lassen, dass er mir zugetan sei, weil ich eben die Franziska vom Bichler Hof bin. Das ärgert mich. Das macht mich manchmal richtig wütend. Er ist so ein dummer Hornochse. Es war doch schon immer so, wenn ein Bauer keinen Buben hatte, erbte eben das Madl. Sie brachte dann den Hof mit in die Ehe und ihr Mann heiratete ein. Niemand fand etwas dabei. Sollte der Hof brachliegen?«
»Habt ihr mal theoretisch über die Zukunft des Bichler Hofs gesprochen?«
»Ja, wir sprachen oft darüber, was man alles daraus machen könnte. Einmal meinte Lukas, dass ich dazu den richtigen Burschen finden müsse.«
Franziska machte eine kleine, aber höchst bedeutungsvolle Sprechpause.
»Ich sagte ihm, dass ich schon jemand im Auge hätte, der sich dafür super eignete und den ich sehr mochte«, erzählte sie. »Ich hatte erwartet, dass er mich nach dem Namen fragt. Aber er schwieg.«
»Oh, da warst du enttäuscht, richtig?«
»In gewisser Weise schon, aber ich kenne Lukas. Er ist eben sehr zurückhaltend.«
»Warum hast du ihm keinen Hinweis gegeben? Du hättest sagen können, dass der Bursche gerade im Augenblick neben dir sitzt.«
»Unmöglich!«, widersprach Franziska heftig. »Lukas ist dein Bub, der Sohn meines Lehrherrn. Wenn sich das herumsprechen würde, das sähe nicht gut aus.«
»Himmel, Maria und Josef, was macht es sich die Jugend heute so kompliziert! Es ist nichts dabei, wenn das Madl den Burschen wissen lässt, dass ihr Herz für ihn schlägt. Außerdem hättest du Lukas nichts gesagt, was er mit Sicherheit nicht schon längst wusste. Nach deiner Eifersucht in der letzten Zeit war es mehr als klar.«
»Ja, ich habe mich sehr daneben benommen. Ich war ziemlich garstig, wütend und richtig bösartig. Es tut mir leid, Simon.«
»Vergeben und vergessen!«
Simon schenkte für sich einen Obstler ein und für Franziska ein halbes Gläschen.
»Prost, Madl!«
»Prost, Bauer!«
»Oh, was feiert ihr?«, schrie Ronja, die um die Ecke kam.
»Du bist schon wieder da? Macht dir das Reiten keine Freude?«, fragte Simon erstaunt.
»Doch, aber es war eine Kinderferiengruppe auf dem Reiterhof und alle verfügbaren Pferde waren ausgeliehen. Aber ich habe mir gleich für morgen Früh ein Pferd reservieren lassen.«
»Gute Idee! Vielleicht hat Franziska Lust, dich zu begleiten? Ich könnte sie morgen Früh entbehren.«
Ronja starrte abwechselnd ihren Vater und dann Franziska an.
»Okay, sie kann mitkommen. Aber nur, wenn sie mir sagt, warum sie im Kuhstall nicht mit mir geredet hat.«
Franziska schaute Simon ratlos an.
»Ronja hat dich im Kuhstall gerufen. Sie wollte wissen, was für Musik du hörst. Als du keine Antwort gabst, war sie enttäuscht. Sie denkt, du bist ihr immer noch böse«, erklärte Simon.
»Du kleine eingebildete Kröte!«, lachte Franziska. »Ich bin dir nicht mehr böse. Das habe ich dir gesagt. Ich habe dich einfach nicht gehört.«
Franziska überreichte Ronja ihr Gerät und die Kopfhörer. »Hier, hör selbst rein!«
Ronja lauschte.
»Was ist das?«, fragte sie. »Ich dachte, du hörst Musik.«
»Das sind landwirtschaftliche Prüfungsfragen, Frage und Antwort.«
Ronja lauschte weiter. »Kannst du mir eine Kopie machen?«
»Wozu willst du davon eine Kopie?«, fragte ihr Vater erstaunt.
»Weil ich Landwirtin werden will, natürlich mit eigenem Hof. Ich weiß auch schon, wie ich den bekomme.«
Franziska und Simon sahen sich kurz an und warteten.
»Schaut nicht so!«, beschwerte sich Ronja. »Es ist doch ganz einfach. Ich will so einen Burschen wie Justus. Er sieht gut aus und erbt ein Gut und ein Gestüt. Da ist es gut, etwas vom Fach zu verstehen, das hat auch Hella gesagt. Deshalb will ich die Fragen und Antworten haben. Man kann sich nicht früh genug auf das Leben vorbereiten, nicht wahr?«
Simon und Franziska brachen in lautes Gelächter aus. Sie schauten sich dabei an und lachten, bis sie feuchte Augen bekamen.
»Hört sofort auf zu lachen«, schrie Ronja. »Papa! Hör auf! Du wirst mir eines Tages noch dankbar sein, dass ich in ein großes Gut einheirate. Und ich nehme dich und Mama und natürlich auch Lukas mit, wenn er will. Dann musst du keinen Hof mehr pachten und Angst haben, dass dir der Pachtvertrag gekündigt wird.«
Erst als Ronja es ausgesprochen hat, wurde ihr bewusst, was sie ausgeplaudert hatte. Schnell hielt sie sich die Hand vor den Mund. Sie wurde knallrot im Gesicht.
Franziska schmunzelte. Sie sah, dass Simon Ronja zurechtweisen wollte und winkte ab.
»Lass mich etwas sagen, Simon!«, warf Franziska ein und blinzelte Simon zu.
Dann wandte sie sich an Ronja. »Ronja, du weißt, wie vernarrt ich in die Turopolje-Schweinchen bin. Schweine sind höchst sensible Geschöpfe. Ich brächte es nie übers Herz, ihnen einen Ortswechsel zuzumuten. Sie bekämen einen schweren Schock. Allein schon der Transport und dann noch die neue Umgebung, sie würden alle ernsthaft Schaden nehmen, wenn nicht sogar einige einen Herzschlag bekommen würden. Deshalb bleiben sie schön hier und ihr mit ihnen. Mehr sage ich im Augenblick nicht. Und ich will nicht mehr danach gefragt werden und werde kein weiteres Wort darüber verlieren. Übrigens, du angehende Großbäuerin, gehe mal zum Pferch und fülle Wasser nach!«
Ronja starrte Franziska einen Augenblick an, dann sah sie zu ihrem Vater hin. Wortlos ging sie davon.
»Morgen reite ich mit dir aus, Ronja. Um sechs Uhr, sei pünktlich!«, rief Franziska Ronja nach.
Simon sah Franziska schmunzelnd an. »Sehr rücksichtsvoll von dir, Franziska. Du bist sehr tierlieb.«
»Nicht nur tierlieb, Simon. Komm, wir nehmen noch einen Obstler! Dieses Mal kannst du mein Glas ganz füllen.«
»Gern!«
Simon und Ronja schauten sich an.
»Auf die Schweine und die Zweibeiner, die dazu gehören«, sagte Franziska.
»Und vielleicht auf weitere Zweibeiner, die noch dazukommen «, grinste Simon.
Sie verstanden sich ohne Worte. In den seltsamen Trinksprüchen hatten beide all ihre Hoffnung diskret verpackt, ohne dass es notwendig war, deutlicher zu werden.
Sie tranken. Dann gingen sie wieder an die Arbeit.
*
Doktor Beate Brand saß in ihrem Wohnzimmer. Sie hatte eine kalte Kompresse um ihren Ellenbogen gewickelt. Vor einer halben Stunde hatte sie eine starke Schmerztablette genommen und hoffte, dass die Schmerzen bald ließen.
Es klingelte an der Tür.
»Lieber Gott, lass es bitte keinen Notfall sein!«
Sie zog den Ärmel ihrer Strickjacke über den Arm, damit er die kühlende Kompresse verdeckte und ging langsam zur Tür.
»Beate, mach auf! Ich weiß, dass du da bist«, drang eine Stimme durch die Tür. Es war Doktor Martin Engler, der Hausarzt der Waldkogeler.
Beate atmete tief ein und setzte ein Lächeln auf. Sie ahnte den Grund für seinen unerwarteten Besuch. Sie öffnete.
»Grüß Gott, Martin!«, sagte sie. »Ist was mit Mira?«
Doktor Martins Pointerhündin war schon alt und etwas ruhiger, aber immer noch munter. Mira jagte den Kaninchen nur nicht mehr so ausdauernd hinterher, wie sie es als junge Hündin getan hatte.
»Grüß Gott, Beate! Nein, es ist nichts mit Mira. Sie liegt im Auto und döst vor sich hin. Darf ich reinkommen?«
Mit diesen Worten schob Martin Beate zur Seite und trat ein.
Er sah ihr in die Augen.
»Wie willst du es haben, Beate? Auf die freundschaftliche, ehrliche Tour oder muss ich dich überlisten?«
»Martin, ich weiß nicht, von was du sprichst«, sagte Beate. Sie spielte die Unschuldige und Unwissende.
Doktor Martin Engler grinste. »Von deinem Arm!«
»Was soll mit meinem Arm sein?«, erwiderte sie.
»Heute waren eine Menge Leute in meiner Sprechstunde, die erzählten, dass du dir den Arm verletzt hast. Rechts oder links?«
»Ich habe dich nicht für einen Hausbesuch bestellt, Martin«, erwiderte Beate, mit einem nicht zu überhörenden ärgerlichen Unterton.
So schnell gab Doktor Martin Engler nicht auf.
»Rechts oder links?«, wiederholte er. »Zier dich nicht, Beate!«
»Verschwinde, Martin! Mir geht es gut. Ich bin zwar Tierärztin, aber ich kann mich gut selbst verarzten. Ja, es stimmt, damit du Ruhe gibst. Ich bin auf dem alten gepflasterten Weg ausgerutscht und der Länge nach hingeschlagen. Dabei bin ich mit dem Arm genau auf einen Pflasterstein gefallen. Aber es ist nichts gebrochen. Ich habe mich schon geröntgt.«
Doktor Martin Engler grinste. »Werte Kollegin der Tiermedizin, so schnell werden Sie mich nicht wieder los. Du, ich kenne dich! Du willst die Heldin spielen, wie?«
Beate ließ sich nicht provozieren, die Schmerztablette hatte inzwischen den Schmerz etwas gedämpft. »Martin, ich finde es rührend, dass du nach mir sehen willst, aber es ist nicht nötig. Ich habe auch wenig Zeit. Es ist noch jede Menge Papierkram zu erledigen.«
Martin kannte Beate gut. Er wusste, dass er sie nicht so einfach überreden konnte, ihm den Arm zu zeigen. Aber er würde darauf bestehen müssen, seine Patienten hatten ihm erzählt, dass die Tierärztin, die in Waldkogel liebevoll Viehdoktorin genannt wurde, sehr litt.
Martin stellte seine Arzttasche ab und griff blitzschnell nach Beates Ellenbogen.
Sie schrie auf und wurde vor Schmerz blass.
»Du bist nicht mehr mein Freund«, presste sie heraus. Sie hielt den schmerzenden Arm vor ihren Körper und hielt ihn mit der anderen Hand fest. »Du Unmensch! Verstößt das nicht gegen deinen hippokratischen Eid?«, schimpfte Beate empört.
Martin grinste. »Aha, schon sind wir einen Schritt weiter. Es ist also der rechte Arm. Und es verstößt nicht gegen meinen Eid. Es ist ein Notfall. Gelegentlich – bei besonderes sturen und uneinsichtigen Patienten, bei solchen, die gern den Helden oder die Heldin mimen, – bin ich dazu gezwungen, sie zu entlarven. Das gilt besonders unter Freunden. Stell dir vor, Mira ginge es miserabel, sie würde sichtbar leiden und Nachbarn erzählten dir davon. Was würdest du tun? Dann würdest du ganz schön durchgreifen, Frau Doktor. Darüber mache ich mir keine Illusionen.«
Beate konnte ein Schmunzeln nicht ganz unterdrücken. »Das ist etwas anderes, Martin.«
»Ist es nicht! Aber lassen wir das. Ich sehe, es ist der rechte Arm.«
»Ja, du Unmensch, es ist der rechte Arm.«
»Lass mich bitte nachsehen! Es bringt doch nichts, dass du die Heldin spielst.«
Beate seufzte. »Meinetwegen«, brummte sie. »Vorher werde ich dich doch nicht los.«
»Kluge Erkenntnis, gute Entscheidung!«
Sie gingen in die Küche.
»Wenn du schon hier bist, darf ich dir etwas zu Trinken anbieten? Ich habe eine Schmerztablette genommen und trinke nur Tee«, sagte Beate.
»Dann trinke ich auch Tee. Aber zuerst ziehst du deine Strickjacke aus.«
Beate gab nach.
»Himmel, das sieht nicht gut aus«, stöhnte Martin. »Du hast ein schweres Hämatom. Der Arm ist sehr geschwollen.« Martin betastete vorsichtig, fast zärtlich, die Stelle. »Gebrochen ist er nicht?«
»Nein, du Giftzwerg! Wenn du mir nicht glaubst, in meiner Schreibtischschublade, drüben in der Praxis, liegen die Röntgenaufnahmen.«
»Okay!«
Martin, der sich in Beates Haus, in dem sie wohnte und ihre Tierarztpraxis betrieb, gut auskannte, eilte hinüber. Er fand die Röntgenbilder auf Anhieb und besah sie sich vor der beleuchteten Bildwand.
Dann kam er wieder.
»Du hast recht. Es ist kein Bruch. Aber du hast einen Knochenhautriss, mit einer sehr starken Einblutung unter und über der Knochenhaut. Du hast ganze Arbeit geleistet.«
»Du verkündest mir nichts Neues, du Schlauberger.« Beate schonte ihren rechten Arm und setzte mit der linken Hand Teewasser auf.
Martin nahm sie sanft bei den Schultern und drückte sie behutsam auf einen Küchenstuhl. »Sag mir, wo ich alles finde, und ich mache uns Tee.«
Beate gab sich geschlagen. Martin richtete die Teetassen und Zuckerdose auf einem Tablett. Sobald das Teewasser kochte, brühte er den Tee auf.
Dann gingen sie gemeinsam hinüber ins Wohnzimmer. Als erstes fiel Martins Blick auf den Couchtisch. Auf ihm lagen verschiedene Schmerzmittel, Tabletten und Ampullen. Er schob alles zur Seite, stellte das Tablett ab und schenkte ein. Er fragte, wie viel Zucker Beate nehme. Er gab einen Löffel Zucker in ihre Teetasse und rührte um.
»Hier, bitte schön!«, sagte er.
»Danke! Jetzt fühle ich mich endgültig krank. Du verstehst es, einen Schachmatt zu setzen.«
Martin lachte.
»Beate, du bist krank! Du hast dich übel verletzt. Dir muss ich nicht sagen, dass ein Knochenhautriss mit Bluterguss schlimmer sein kann, als ein glatter Durchbruch. Du musst sehr starke Schmerzen haben.«
Beate trank Tee. »Ich leugne nicht, dass es weh tut.«
»Wie lange geht das jetzt schon so?«
»Frage besser nicht! Okay, seit vorgestern.«
Doktor Martin Engler schüttelte den Kopf. Er war entsetzt. »Du bist mir vielleicht eine Heldin. Du bist unvernünftig bis zum Gehtnichtmehr. Du musst eine Natur haben wie ein ausgewachsener Ochse, dass du dabei noch arbeitest. Wie hast du die Tage überstanden? Es ist mir ein Rätsel, wie du mit dem Arm deinen Praxisbetrieb bewältigen konntest.« Er machte es sich auf dem Sessel gegenüber bequem und sah sie an.
Beate starrte in ihre Teetasse und schwieg.
Martin wusste, was sie getan hatte, damit sie ihren beruflichen Alltag überstehen konnte. Er griff zu den Ampullen mit dem lokal betäubenden Schmerzmittel und hielt sie in die Höhe.
»Hiermit! Richtig?«, fragte er.
»Richtig«, antwortete Beate. »Was hätte ich tun sollen? Der Praxisbetrieb muss weitergehen. Ich hoffe, morgen kommt eine Vertretung, die mir beisteht.«
»Auf der einen Seite kann ich dich verstehen, das muss ich zugeben. Auf der anderen Seite sage ich dir, du bist völlig narrisch! Das ist absolut hirnrissig, was du da machst. Dein Arm braucht Ruhe! Wenn du die Schmerzen betäubst, dann bekommst du nicht mit, falls die innere Wunde bei einer Bewegung wieder aufbricht und nachblutet. Schmerz ist ein Warnsignal. Es ist unverantwortlich, ihn einfach auszuschalten, damit du arbeiten kannst. Beate, ich bin erschüttert. Ich dachte nicht, dass du solche Dummheiten machst.«
»Du hast gut reden, Martin«, verteidigte sich Beate. »Wenn dein Arm kaputt wäre, könntest du immer noch hinterm Schreibtisch sitzen und Rezepte ausstellen oder Überweisungen zum Kollegen schreiben. Ich kann das nicht. Die Tiere brauchen Hilfe, wenn es ihnen schlecht geht. Ich bin dafür da, ihnen zu helfen, und ich bin es auch den Bauern schuldig. Ich kann mich nicht drücken, Martin, wenn ein Tier vor Schmerzen brüllt und schweißbedeckt im Stroh liegt.«
Martin seufzte. »In dem Punkt verstehe ich dich! Ich würde es auch nicht übers Herz bringen.«
»Das erste vernünftige Wort von dir. Wenn die Vertretung hier ist, trage ich den Arm in der Schlinge und schone ihn. Ich verspreche es dir. Und ich hoffe, dass ich dann nachts auch wieder schlafen kann. Ich nehme nicht gern starke Schmerztabletten. Die vernebeln nur das Gehirn. Deshalb habe ich mir eine lokale Betäubung gespritzt. Es war eine Notlösung. Ich habe es nur getan, wenn ich im Stall zupacken musste. Aber etwas anderes, wenn du schon einen Krankenbesuch machst. Hast du ein Schmerzmittel, das mich schlafen lässt und wonach ich trotzdem morgen einen klaren Kopf habe? Martin, ich schwöre dir, ich habe mich noch nie im Leben so nach Schlaf gesehnt. Irgendwann schlafe ich immer vor Erschöpfung ein, aber die kleinste Bewegung weckt mich auf. Schließlich bewegt man sich auch im Schlaf.«
Martin legte die Stirn in Falten. »Du tust mir leid, Beate. Ich sehe, wie erschöpft und müde du bist.«
»Danke, Martin, deine Anteilnahme tut mir gut. Aber beenden wir das Thema, bitte! Ich habe die letzten Nächte kaum geschlafen und fühle mich wirklich kraftlos. Ich hoffe, es gibt ab morgen eine Lösung, damit ich mich schonen kann. Sprechen wir von etwas Schönem.«
»Was ich noch fragen wollte, wie ist es passiert?«, fragte Martin.
»Es geschah bei einem Hausbesuch auf einem der Aussiedler Höfe. Ach, ich kann es dir auch sagen. Es war bei den Fichtelern. Du kennst den schlechten Weg über das Grundstück bis zu ihrem Haus? Es ist ein Privatweg.«
»Oh ja, ich habe denen schon oft gesagt, sie sollen endlich den Weg aufschütten oder wenigstens die alten Pflastersteine wegräumen und die tiefen Fahrrinnen auffüllen. Von der Mitte her lösen sich immer mehr Pflastersteine.«
»Nichts haben sie gemacht. Der alte Weg löst sich auf, der einmal gepflastert war. Die Fahrrinnen sind sehr tief. Bist du in letzter Zeit mal dort gewesen?«
»Oh ja, ich muss den alten Fichteler Opa zwei Mal die Woche besuchen. Ich bin sogar mit meinem Geländewagen steckengeblieben. Seitdem lasse ich ihn außerhalb stehen und gehe zu Fuß.«
»Genauso mache ich es auch. Allerdings habe ich es leichter. Ich muss nicht zwei Mal pro Woche einen Hausbesuch bei den Fichtelern machen. Die ganze Familie tut mir leid. Sie mussten viele Schicksalsschläge erleiden in den letzten Jahren. Es geht ihnen nicht rosig, Martin. Das ist bekannt. Insofern kann ich verstehen, dass sie weder Geld haben, noch die Zeit, den langen Weg bis zum Gehöft zu sanieren oder selbst Hand anzulegen.«
»Dort bist du also gefallen?«
»Ja, ich bin ausgerutscht. Ich war vorher im Stall und hatte wohl noch etwas an meinem Gummistiefel kleben. Es hatte geregnet. Erinnerst du dich an das Gewitter?«
»Oh ja, ein echter Wolkenbruch, aber er hat nur kurz Abkühlung gebracht.«
»Genauso war es. Es standen tiefe Pfützen auf dem Weg. Ich schlängelte mich durch die Pfützenlandschaft. Der Weg sah aus wie eine Seenplatte mit kleinen Inseln. Ich trug meine Arzttasche in der einen Hand und telefonierte mit der anderen. Die Waigels hatten angerufen. Eine Kuh hatte Schwierigkeiten beim Kalben. Plötzlich spürte ich, dass ich den Halt verlor und taumelte. Ich wollte verhindern, dass meine Hand und die Arzttasche in einer Pfütze landeten. Ich weiß selbst nicht, wie es geschah. Es geht ja immer alles so schnell. Ich fiel hin und knallte mit dem Unterarm auf einen Pflasterstein. Ich dachte, es zerreißt mich. Ich war davon überzeugt, mir einen bösen Trümmerbruch geholt zu haben. Ich lag eine Weile da, weil es mir vor Schmerz einfach unmöglich war, mich zu bewegen. Mein Handy lag im Schlamm, ebenso meine Arzttasche. Dann rappelte ich mich auf und schleppte mich zu meinem Auto. Im Schritttempo fuhr ich zurück in die Praxis.«
»Ich hätte dich mit dem Sanitätswagen geholt, Beate.«
»Das glaube ich dir aufs Wort. Aber ich konnte nicht telefonieren. Inzwischen habe ich ein neues Handy. Außerdem gestehe ich, selbst wenn das Handy noch zu gebrauchen gewesen wäre, hätte ich dich nicht angerufen. Ich wollte nicht mit Blaulicht gefahren werden.«
Doktor Martin Engler schmunzelte, dann wurde er wieder ernst.
»Beate, es kann Wochen dauern, bis du deinen Arm wieder vollständig gebrauchen kannst. Das weißt du hoffentlich. An die Möglichkeit eines dauerhaften Schadens will ich gar nicht erst denken.«
»Martin, sei still! Ich brauche jetzt keine Predigt von dir.«
»Ich wollte dir keine Moralpredigt halten, Beate. Ich bin ernsthaft besorgt. Du solltest den Arm unbedingt schonen. Ein richtig dicker Salbenverband gehört da drauf.«
»Ha, ha, ha, Doktor Engler! Wie soll ich damit einer Kuh beim Kalben helfen?«
Martin schüttelte den Kopf. »Sag bloß, du bist bei den Waigels gewesen und hast das Kalb …«
»Was hätte ich tun sollen? Sollte die Kuh deshalb zu Grunde gehen?«
»Verstehe! Also hast du dir eine örtliche Betäubung verpasst und angepackt.«
»Genau, eine andere Möglichkeit habe ich nicht gesehen. Augen zu und durch, habe ich zu mir gesagt. Es war ein sehr kräftiges Bullenkalb und hat eine sehr schöne Zeichnung. Ein wirkliches Prachtexemplar! Die Waigels wollen es behalten und großziehen. Es wird wieder Mode, den Kühen einen leibhaftigen Bullen zu präsentieren, statt einer künstliche Besamung. Zurück zur Natur, das ist eine sehr gute Entwicklung.«
Doktor Martin Engler nickte. Er trank einen Schluck Tee. »Beate, du treibst Schindluder mit deiner Gesundheit.«
»Da sagst du mir wiederum nichts Neues, Martin, aber was soll ich machen? Ich bin die einzige Großtierärztin weit und breit. Die Kollegen in Kirchwalden drücken sich vor der Aufgabe, weil sie sich nur bei Kleintieren auskennen. Ich habe alle angerufen. Über einen Hinweis habe ich einen Tierarzt gefunden, der morgen herkommen will. Er hat auch keine Erfahrung mit Großtieren, wie Kühen, Pferden und Schweinen. Ich habe ihn mit Engelszungen überredet und ihm versichert, dass ich dabei sein werde und ihm Anweisungen gebe.«
Martin seufzte. »Beate, du siehst schlimm aus. Du hast Ringe unter den Augen.«
»Ich bin so müde. Ich mache kein Geheimnis daraus. Die vergangenen Nächte habe ich mich gequält. Das werde ich heute Nacht nicht tun, auch wenn du es missbilligst. Ich gestehe dir, ich werde mir später eine lokale Betäubung spritzen, damit ich wenigstens schlafen kann. Dann überstehe ich den Tag morgen besser. Wenn ich in der Praxis Hilfe habe, kann ich meinen Arm schonen. Dann werden die Schmerzen nachlassen. Mir ist durchaus bewusst, dass ich mit jeder Bewegung eine Nachblutung riskiere. Ich bin in einer schlimmen Lage, Martin.«
»Beate, ich verstehe dich gut. Soll ich dir die Injektion geben? Obwohl ich normalerweise gegen solche Maßnahmen bin. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Der Schmerz zehrt an dir, und ich will nicht herzlos sein. Wenn ich dir die Spritze gebe, dann kannst du heute Nacht vielleicht einige Stunden guten Schlaf finden.«
Beate überlegte kurz. Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist noch zu früh, um mich hinzulegen. Wenn ich jetzt ins Bett gehe, bin ich kurz nach drei Uhr wieder wach.«
»Dann bleibe ich noch eine Weile, wenn es dir recht ist, Beate.«
»Ja, das ist mir recht. Ich hoffe, Katja wartet nicht auf dich.«
»Katja kommt erst spät. Ich habe ihr einen Zettel hingelegt. Katja besucht eine Freundin in Kirchwalden.«
Beate verzog vor Schmerzen das Gesicht.
»Wenn du mir die Spritze verpasst hast, mache ich mir einen dicken Salbenverband. Ella Waldners Kräuterbalsam hilft am besten.«
»Das wundert mich nicht«, schmunzelte Martin. »Es ist die Therapie, die ich empfohlen hätte, neben der Ruhigstellung.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vielleicht könnte Akupunktur die Heilung beschleunigen?«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe eine Freundin in München. Sie ist Humanmedizinerin. Sie hat sich auf Akupunktur spezialisiert. Ich rufe sie an und lade sie fürs nächste Wochenende ein. Dann kann sie mich mit ihren Nadeln pieksen. Oder bist du in Akupunktur fit?«
Martin schaute Beate verlegen an. »Routine habe ich nicht darin. Wenn du eine Spezialistin an der Hand hast, ist das besser.«
»Du bist sehr ehrlich.«
»Es bringt doch nichts, wenn ich dir etwas vormache, und du dann ›Aua‹ schreist, Beate.«
»Das stimmt allerdings.« Beate schmunzelte leicht.
Martin schenkte Tee nach.
In den Praxisräumen läutete das Telefon.
»Nein, ich will keinen Notfall!«, seufzte Beate jammervoll.
Sie wollte aufstehen.
»Bleib sitzen, Beate! Ich gehe für dich ans Telefon. Wenn es ein Notfall ist, dann fahre ich mit dir hin.«
Beate lächelte Martin dankbar an.
Martin ging zum Telefon. Beate hörte, wie Martin mit jemand sprach.
Er kam zurück. »Es war kein Notfall, Beate.«
»Das freut mich. Hoffentlich bleibt es so«, seufzte Beate erleichtert.«
»Wenn nicht, dann rufst du mich an. Das musst du versprechen. Das gilt auch für die nächsten Tage.«
»Ach, da mach dir keine Sorgen, Martin. Mit der Vertretung wird das schon gehen.«
Martin schaute Beate ernst an und zog die Augenbraue nach oben. Er schüttelte den Kopf.
»Nein?«, stöhnte Beate. »Sag nicht, dass der Kollege eben abgesagt hat.«
»Doch, das hat er. Er hat eine Vertretung in München angeboten bekommen, in einer Kleintierpraxis. Das ist sein Gebiet. Er denkt, er hätte dir ohnehin keinen großen Gefallen getan.«
»Dieser Schuft, er kneift. Er ist eine Schande für die tierärztliche Zunft. Mich so hängenzulassen! Erst sagt er zu, dann ruft er an und sagt ab. So ein verdammter Mist«, schimpfte Beate zornig.
»Er sagte, er würde sich umhören und hoffe, dir jemanden empfehlen zu können, der mehr Erfahrung mit Großtieren hat als er.«
»Bla, bla, bla! Das ist nur schönes Gerede. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich herumtelefoniert habe, Martin.« Beate griff nach einer Tablettenschachtel.
»Stopp!«, sagte Martin energisch. »Wie viele von den Dingern hast du heute schon genommen?«
»Ach, frag nicht«, giftete Beate zurück. »Mir tut jede Bewegung weh. Die Tabletten machen nicht schmerzfrei. Sie dämpfen nur etwas. Das ist übrigens eine gute Information für dich, falls du sie einmal einem Patienten verschreibst. Sie dämpfen nur den Schmerz, sage ich dir. Merke es dir! Es wird erträglicher, aber es kommt nicht zur Schmerzfreiheit, nicht einmal für eine halbe Stunde.«
»Ja, Frau Professor, ich merke es mir. Aber ich sage dir auch, dass du leichtsinnig gewesen bist. Du hättest den Arm sofort schonen müssen.«
»Schlauberger! Sag mal, hast du mir nicht zugehört? Der Bauer hätte höchstwahrscheinlich eine Kuh verloren und ein wertvolles prächtiges Bullenkalb dazu.«
»Ja, du musst die Litanei nicht wiederholen, Beate. Wir müssen überlegen. Du bist meine Patientin, auch wenn du nicht willst. Und ich habe eine Idee. Ich schicke dir Katja morgen Früh vorbei. Sie kann dir in der Praxis helfen. Sie kann dich zu Hofbesuchen begleiten, das Auto fahren, dir die Sachen tragen, die Spritzen aufziehen und so weiter. Wenn mehr Hilfe gebraucht wird, bei einem schwierigen Fall, wie beim Bauern Waigel, dann rufst du an. Dann komme ich. Du wirst mich einweisen müssen. Aber gemeinsam werden wir es schaffen. So und jetzt betäube ich deinen Arm. Dann wirst du hoffentlich ein paar Stunden schlafen, wenn kein dringender Notfall dazwischenkommt. Aber so wie ich die Waldkogeler kenne, weiß inzwischen jeder, vom Kleinkind bis zum Greis, dass du dir den Arm verletzt hast. Du wirst nur angerufen werden, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Und bevor du dich allein auf den Weg machst, rufst du mich an! Damit du das auch wirklich machst, habe ich deine Autoschlüssel eingesteckt, die auf deinem Schreibtisch lagen. Ich hoffe, du hast keinen Zweitschlüssel.«
Beate lächelte. »Ich habe einen Zweitschlüssel. Deshalb ist deine Vorsichtsmaßnahme zwecklos, Martin.«
Doktor Martin Engler griff in seine Hosentasche und legte Beates Autoschlüssel auf den Tisch. Er seufzte und rollte mit den Augen.
»Martin, ich verspreche dir, dass ich dich anrufe, falls ich zu einem Hofbesuch muss.«
»Das hoffe ich, Beate.«
»Habe ich je ein Versprechen nicht gehalten?«, fragte Beate zurück.
»Nein, ich weiß aber, dass du ein starkes Madl bist, stark, zäh, unbeugsam und stur.«
Beate schmunzelte. »So muss man als Tierärztin auf dem Land auch sein. Sonst hat man keine Chance, weder beim Vieh und noch weniger bei den Bauern.«
»Ja, die Sturheit bekomme ich auch gelegentlich zu spüren«, grinste Martin. »Wenn ich jemand sage, dass er sich schonen sollte.«
Martin lachte und Beate stimmte ein.
»Meinst du am Ende mich? Kein Bauer kann sich ins Bett legen, das Vieh muss versorgt werden. Dabei können sie Hilfe von Marie anfordern, seit wir sie als Dorfhelferin haben. Aber ich kann das nicht, Martin.«
»Beate, das weiß ich doch. Nun beruhige dich. Ich ziehe jetzt das Lokalanästhetikum auf und geb dir die Spritze. Dann geht es dir besser. Und morgen musst du weiter versuchen, eine Hilfe zu bekommen. Wende dich an die Fakultät! Vielleicht will ein Student oder eine Studentin im höheren Semester Erfahrungen in einer Landpraxis sammeln?«
»Das ist ein sehr guter Gedanken, Martin. Mehr als scheitern, kann der Versuch nicht.«
»Kennst du keinen Tierarzt im Ruhestand?«, fragte Martin weiter.
Beate sah ihn an. Sie zögerte mit der Antwort. Sie dachte an Carl, äußerte sich dazu aber nicht. Stattdessen sagte sie: »Mal sehe, ich werde mich umhören.«
Martin gab Beate eine Spritze. Es dauerte keine Minute, dann war der Arm schmerzfrei.
»Ach, tut das gut! Danke! Wenn ein anderer spritzt, ist es besser. Ich muss mich dabei ganz schön verbiegen. Ich schaffe es auch nicht, die Injektion so punktgenau zu setzen, wie du. Ich bin davon überzeugt, dass ich bis zum Morgen schmerzfrei sein werde. Vielen Dank, Martin, du bist ein Freund.«
»Gern geschehen!«, lächelte Martin sie an.
Er legte Beate noch einen dicken Verband mit Ellas Kräuterbalsam an.
Beate brachte ihn zur Tür. »Danke und sage Katja schöne Grüße!«
»Das werde ich. Gute Besserung! Ich habe Hausbesuche auf meiner Liste für morgen Früh. Ich komme auch bei dir vorbei.«
Beate lächelte Martin dankbar an.
»Dann bis morgen«, sagte er.
»Bis morgen! Und nochmals Danke!«
Martin stieg in sein Auto und fuhr davon.
Beate schloss die Haustür.
Sie legte sich gleich hin. Sie war sehr müde. Da sie nach Martins Injektion schmerzfrei war, auch wenn der Arm sich jetzt teilweise taub anfühlte, schlief sie sofort ein.
Doktor Martin Engler war gerade mal hundert Meter weit gefahren, als ihm Toni begegnete. Die Autos hielten nebeneinander auf der Straße. Beide kurbelten die Fenster herunter.
»Grüß Gott, Toni! Was machst du so spät hier unten im Dorf?«
»Alois hat mich gebeten, nach seinem Haus zu sehen. Ich hatte meine Eltern besucht und habe anschließend sein Haus kontrolliert. Alois liest mir jeden Polizeibericht vor, bei dem es um Einbrüche geht.«
Sie lächelten.
»Und was bringt dich um diese Uhrzeit auf die Straße, Martin?«, fragte Toni. »Kommst du von einem Hausbesuch? Hatte mal wieder jemand eine Kolik, nach zu fettem Essen?«
»Nein, ich komme von Beate. Sie hat sich böse am Arm verletzt.«
»Davon habe ich gehört. Wie geht es ihr?«
Martin seufzte. »Ein Knochenhautriss ist schmerzhaft. Sie sucht verzweifelt einen Vertreter für die Praxis. Aber die meisten Tierärzte lehnen ab, selbst wenn sie Zeit hätten. Sie haben es lieber mit Kleintieren zu tun. So quält sich Beate herum. Katja wird ihr morgen zur Hand gehen.«
»Das arme Madl. Aber …«, Toni rieb sich das Kinn. »Ich glaube, Anna könnte eine Vertretung auftreiben.«
»Anna? Wirklich? Dann soll sie das tun.«
»Ich werde gleich mit ihr reden, wenn ich oben auf der Berghütte bin.«
»Gut, dann halte ich dich nicht länger auf. Gib mir Bescheid, wenn Anna erfolgreich war!«
»Das werde ich«, versprach Toni.
Die Freunde verabschiedeten sich und fuhren in ihrer Richtung davon.
Auf dem Weg zur Berghütte dachte Toni an Dr. Carl Ziegler. Er praktizierte nicht, hatte sich zurückgezogen, um veterinärmedizinische Fachbücher und Kindertierbücher zu schreiben. Er war Beates Ex-Verlobter. Nach der Trennung hatte Beate ihn jahrelang gemieden. Doch jetzt hatten sie sich ausgesprochen. Es war gut, dass sie wenigstens wieder miteinander sprachen. Aber ob Beate Carls Hilfe in der Praxis annehmen würde, war zu bezweifeln. Sicher hatte sie schon daran gedacht, dass Carl ihr zu Hilfe eilen könnte. Außerdem hatte Carl viel Erfahrung mit Großtieren. Doch Toni kannte Beate gut. Selbst nach ihrem Besuch bei Annas Großeltern und ihrer Aussprache mit Carl, würde sie sich scheuen, ihren Exfreund um Hilfe zu bitte. Dessen war sich Toni sicher. Er machte sich keine Illusionen. Es würde vielleicht weniger schwierig werden, Carl nach Waldkogel zu locken. Aber es würde sehr schwierig werden, Beate davon zu überzeugen, seine Hilfe anzunehmen.
Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, dachte Toni. Annas Großeltern waren Nachbarn und Freunde von Carl. Anna sollte mit ihnen sprechen und erkunden, wie es um Carls Hilfsbereitschaft stand.
Vielleicht wäre es sogar ein Weg, dass die beiden endlich wieder unbefangener miteinander umgingen. Toni schmunzelte. Vielleicht kämen sie sogar wieder zusammen. Dass Beate Carl noch immer liebte, war kein Geheimnis.
*
Nach dem heftigen Streit mit ihrer Tochter Tanja war Erika sehr niedergeschlagen. Es gelang ihr nicht, die Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen. Immer wieder sah sie Tanjas entsetzten Blick. Benahm sie sich wirklich so unmöglich? Sie konnte doch nichts dafür, dass sie sich in Ole verliebt hatte. ›Die Liebe geht ihren eigenen Weg, wenn sie einsame Herzen zusammenbringt. Ich bin nicht auf der Suche gewesen‹, sagte sich Erika immer wieder. ›Es ist einfach passiert. Ich bin unschuldig. Mich trifft keine Schuld. Ich bin Ole nicht nachgelaufen. Er war da. Es war wie ein Wunder. Das Wunder der Liebe. Ich habe Herzklopfen bekommen. Ich habe niemals erwartet, dass so etwas geschehen könnte.‹
Erika saß auf der Terrasse. Sie lauschte in sich hinein. Tanjas Moralpredigt hatte sie tief getroffen. Aber auf der einen Seite war da auch ein trotziges Gefühl und sie war wütend auf ihre Tochter. Wie konnte sich Tanja anmaßen, ihrer Mutter das Recht auf Liebe abzuerkennen? Tanja verklärte ihren verstorbenen Vater. Erika hatte immer gedacht, dass es solche Gefühle nur bei jüngeren Kindern gibt und sie deshalb jeden Mann bekämpfen, der im Dunstkreis der Mutter auftaucht. Im Bekanntenkreis hatte sie das im Laufe der Jahre öfter erlebt. Wenn sich ein Elternteil nach der Scheidung einem anderen Partner zuwandte, bekämpften die Kinder ihn mit allen Mitteln. Wurden sie dann älter und verstanden mehr vom Leben, legte sich diese Einstellung schnell. Das geschah meistens, wenn sich die Kinder zum ersten Mal selbst verliebt hatten. ›Die Erfahrung der Liebe ist ein unverzichtbares Element im Leben eines jedes Menschen‹, dachte Erika.
Nun, Tanja hatte auch eine erste Liebe und verschiedene Liebeleien erlebt, genau wie ihr Zwillingsbruder Gerold. Doch jetzt waren beide erwachsen und über zwanzig. Sie gingen ihre eigenen Wege. Sie waren dabei, ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Sie waren darin erfolgreich.
›Darf ich mir keine neue Wirklichkeit bauen‹, fragte sich Erika. Sie hatte zwar nicht mehr von einer Liebe geträumt. Die Liebe war ihr ins Herz gefallen wie ein Geschenk des Himmels. Ole war es ähnlich ergangen. Auch er hatte nicht damit gerechnet, sich wieder zu verlieben. Er hatte nie nach einer Frau Ausschau gehalten, die den Platz seiner Jette einnehmen könnte.
Aber die Liebe hatte sie zusammengeführt!
Erikas Herz war schwer. Mühsam rang sie sich zu der Überzeugung durch, dass sie Tanja nicht ihren Willen lassen sollte. ›Das Madl ist erwachsen. Sie muss lernen, dass ich ein Recht auf Liebe habe und auf Zweisamkeit.‹
Dabei war sie sich sicher, dass es eine Weile dauern würde, bis sich Tanja damit abfinden würde. Aber das würde sich sicherlich ändern, wenn Tanja Ole kennen lernen würde und Wendy. Leider war es zu dem geplanten Abendessen nicht gekommen. Nun, da gab es immer noch Oles Angebot, mit ihr ein langes Wochenende in Paris zu verbringen und bei diesem Aufenthalt Tanja kennenzulernen.
Ole hatte auch davon gesprochen, Gerold in New Orleans zu besuchen. Obwohl Erika nicht über die Angst gesprochen hatte, die sie bedrückte, wie ihre Kinder ihre Liebe aufnehmen könnten, wusste Ole doch Bescheid, er spürte ihre Sorgen.
Es klingelte an der Tür.
Erika schaute auf die Uhr. Ihr Herz schlug immer schneller, wenn die Türklingel ertönte, seit sie und Ole ein Paar waren. Dann erinnerte sie sich, dass Ole für zwei Tage in die Schweiz gefahren war, auf eine Konferenz aller europäischen Niederlassungen.
›Wer kann es sein?‹, rätselte Erika.
Sie ging zur Tür.
Draußen stand ein Bote mit einem großen Blumenstrauß.
»Frau Müller, Frau Erika Müller?«, fragte der Bote. Er trug einen grünen Arbeitsoverall, mit dem Firmenzug der nahegelegenen Blumenhandlung.
»Ja, sind die Blumen für mich?«
Der junge Mann lächelte. »Wenn Sie Frau Erika Müller sind?«
»Die bin ich.«
»Bitte schön! Jetzt müssen Sie hier nur noch die Empfangsbestätigung quittieren.«
Erika unterschrieb.
»Warten Sie bitte!«, sagte sie.
Erika lief in die Küche und legte den Blumenstrauß ab. Sie entnahm ihrem Geldbeutel Trinkgeld und eilte zur Tür.
»Das ist für Sie und einen schönen Tag!«
Der junge Bote bedankte sich und ging.
Erika schloss schnell die Tür und eilte in die Küche.
»Der gute liebe Ole! Und genau meine Lieblingsblumen. Er muss es sich gemerkt haben. Oh Ole, du bist wirklich aufmerksam.«
Erika war es ganz warm ums Herz. Sie holte eine Blumenvase und füllte sie mit Wasser. Vorsichtig wickelte sie den Blumenstrauß aus und stellte ihn in die Vase. Auf ihrem Gesicht lag der Glanz der Liebe.
»Ah, da ist eine Karte. Mal sehen, was Ole schreibt, besser, was er dem Blumendienst aufgetragen hat, zu schreiben. Wahrscheinlich nur liebe Grüße. Aber das genügt auch. Ich weiß, was er damit sagen will: ich denke an dich und ich vermisse dich. Ich liebe dich, Erika.«
Erika öffnete den Umschlag. Mit einem Blick erkannte sie Tanjas Handschrift. Erika sank auf einen Küchenstuhl. Sie las.
Liebe Mama!