E-Book: 35 - 40 - Judith Parker - E-Book

E-Book: 35 - 40 E-Book

Judith Parker

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 35: Niemand hat mich richtig lieb E-Book 36: Vera wartet auf ihre Eltern E-Book 37: Daniels Herzenswunsch – ein Vati E-Book 38: Enno ist eifersüchtig E-Book 39: Bitte behalte mich lieb! E-Book 40: Die neue Mutter E-Book 1: Niemand hat mich richtig lieb E-Book 2: Vera wartet auf ihre Eltern E-Book 3: Daniels Herzenswunsch – ein Vati E-Book 4: Enno ist eifersüchtig E-Book 5: Bitte behalte mich lieb! E-Book 6: Die neue Mutter

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Inhalt

Niemand hat mich richtig lieb

Vera wartet auf ihre Eltern

Daniels Herzenswunsch – ein Vati

Enno ist eifersüchtig

Bitte behalte mich lieb!

Die neue Mutter

Sophienlust – Jubiläumsbox 7 –

E-Book: 35 - 40

Judith Parker Juliane Wilders Patricia Vandenberg Aliza Korten Bettina Clausen

Niemand hat mich richtig lieb

Hab Geduld, kleine Petra ...

Roman von Judith Parker

Ganz plötzlich hatte das Wetter umgeschlagen, ein stürmischer Wind brauste über das Land. Als die ersten Regentropfen gegen die Windschutzscheibe klatschten, schaltete Ina Reimann den Scheibenwischer ein.

Dieses Wetter passt zu meiner traurigen Stimmung, dachte die junge Frau und blickte ihre kleine Tochter neben sich an, die leise schluchzte. »Wein doch nicht mehr, mein Liebling«, bat sie zärtlich. »Du wirst sehen, dass es dir in Sophienlust gefallen wird.«

»Bring mich bitte nicht in das Kinderheim, Mutti«, flehte das Kind. »Ich will zu Großmama zurück.«

Ina sah in das süße Kindergesicht mit den rot verweinten Augen, dabei wurde ihr noch schwerer ums Herz. »Petra, du musst mein vernünftiges kleines Mädchen sein. Großmama ist sehr krank und muss lange in der Klinik bleiben. Aber wir werden sie oft besuchen. Ich hole dich dann von Sophienlust ab. Nicht wahr, das ist doch fein?«

»Großmama hätte nicht erlaubt, dass ich in ein Kinderheim komme«, widersprach Petra.

Die Worte ihrer Tochter trafen Ina schwer. Sollte sie den Plan, Petra nach Sophienlust zu bringen, nicht doch lieber aufgeben? Sollte sie die Tatsache, dass ihre Schwiegermutter krank geworden war, als Wink des Schicksals ansehen und Petra unter diesen Umständen wieder an sich gewöhnen? Ja, überlegte Ina weiter, sie sollte auf der Stelle umkehren und wieder nach Hause fahren. Vielleicht war ihre Ehe doch noch zu retten. Eine Aussprache mit Eberhard würde viel dazu beitragen, alle Missverständnisse zwischen ihnen zu klären.

Doch nein, das war ein absurder Gedanke. Der Zeitpunkt für diese Aussprache war verpasst. Für sie beide gab es kein Zurück mehr. Dafür hatte schon Ursula Rüttgen gesorgt, die hübsche Journalistin, die es verstanden hatte, Eberhard einzufangen.

Aber trug Ursula Rüttgen wirklich die alleinige Schuld an der Zerrüttung ihrer Ehe, fragte sich Ina ehrlich. Hatte sie nicht auch dazu beigetragen? Als Eberhard nach Petras Geburt von ihr verlangt hatte, ihren Beruf aufzugeben, hätte sie ihm diesen Gefallen erweisen müssen. Dann wäre sicherlich alles ganz anders gekommen.

Aber ihre Reue kam zu spät. Sie hatte Eberhard durch ihren Starrsinn verloren. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit dieser Tatsache abzufinden und zu versuchen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. An Aufträgen würde es ihr nicht fehlen, denn als Grafikerin hatte sie bereits einen guten Namen. Später würde sie eine größere Wohnung mieten und eine zuverlässige Frau einstellen, deren Aufgabe es sein sollte, sich um Petra zu kümmern. Dann brauchte sie sich nicht mehr von ihrem Kind zu trennen.

»Mutti, ich wollte doch so gern in die Ballettschule gehen«, begann Petra wieder zu klagen. »Großmama hat doch gesagt, ich werde einmal eine berühmte Ballerina sein, der die Welt zu Füßen liegt. Warum ist Großmama nur krank geworden und hat mich allein gelassen? Niemand hat mich jetzt richtig lieb«, schluchzte sie.

»Aber mein Herzchen, wie kannst du nur so etwas sagen?«, antwortete Ina erschüttert. »Ich habe dich doch lieb. Und Vati auch.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Petra bekümmert. »Großmama hat gesagt, ihr könnt mich gar nicht lieb haben, weil ihr euch so oft zankt. Auch würdest du viel mehr Zeit für mich haben, wenn du mich lieb hättest. Eine Mutti kümmert sich um ihr Kind. Ja, das hat Großmama gesagt«, trumpfte Petra auf und schob trotzig ihre Unterlippe vor.

Ina kam sich vor wie ein gescholtenes Kind. Ihre Schwiegermutter hätte mit Petra auf keinen Fall so darüber sprechen dürfen.

»Petra, du brauchst nicht lange in dem Kinderheim zu bleiben«, versprach Ina, um das Kind von seinen aufsässigen Gedanken abzulenken. Doch dann dachte sie daran, dass Petra möglicherweise wegen Platzmangels in Sophienlust gar keine Aufnahme finden werde. Dann würde sie das Kind wieder mit nach Hause nehmen müssen. Vielleicht würde sie für Petra einen Platz in einem Kindergarten bekommen. Aber was würde am Abend sein, wenn sie selbst einmal beruflich eingeladen war? Persönliche Kontakte waren in ihrem Beruf für einen guten Auftrag oft ausschlaggebend. Petra aber war erst fünf Jahre alt. Das Risiko, ein Kind in ihrem Alter unbeaufsichtigt allein in der Wohnung zu lassen, war zu groß.

Diese Überlegung hatte auch den Entschluss, Petra in einem Heim unterzubringen, in ihr reifen lassen. Nach Carola Dahms Worten musste dieses Sophienlust ein wahres Kinderparadies sein.

Ina dachte wieder an den Zufall, der sie nach so vielen Jahren mit Carola Dahm zusammengeführt hatte. Als sie vor einigen Wochen eine Kunstausstellung besucht hatte, war ihr der Name Carola Dahm im Katalog aufgefallen. Ob das dieselbe Carola Dahm ist, mit der ich in dem Kinderheim von Madame Merlinde, im Haus »Bernadette« war, hatte sie sich gefragt und sich dann erkundigt, ob die Malerin anwesend sei.

Carola war da gewesen. Über das unverhoffte Wiedersehen hatten sie sich beide riesig gefreut und sich mit dem Versprechen getrennt, weiterhin in Verbindung zu bleiben. Carola hatte versprochen, als Erste zu schreiben, um Ina nach Sophienlust einzuladen. Aber sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten.

»Mutti, wann sind wir denn da?«, fragte Petra. Sie griff nach ihrem Teddybären, der neben ihr auf dem weichen Ledersitz saß, und nahm ihn in die Arme.

»Bald, mein Liebling. Da vorn sehe ich einen Wegweiser.« Ina trat auf die Bremse und las das Schild. »Noch zehn Kilometer, Petra.«

»Mutti, ich fürchte mich vor den anderen Kindern. Vielleicht sind sie böse und nehmen mir meinen Teddy weg. Ich habe ihn doch so lieb, weil Großmama ihn mir geschenkt hat«, bekannte sie und küsste den Bären auf die Nasenspitze.

»Keiner wird dir deinen Bären wegnehmen. Meine Freundin Carola hat mir erzählt, in Sophienlust gäbe es nur liebe Kinder. Sie sind lieb, weil sie dort glücklich sind. Auch du wirst dort glücklich sein, Petra. Glaub es mir.«

»Wirklich, Mutti?« Misstrauisch blinzelte Petra sie an. »Wenn du mich lieb hättest, würdest du mich nicht in ein Kinderheim bringen«, warf sie ihr vor.

»Petra, bitte rede dir so etwas nicht ein! Viele Muttis bringen ihre Kinder in ein Heim, weil sie Geld verdienen müssen und keine Zeit haben.«

»Aber Vati verdient doch Geld«, stellte Petra leise fest. »Großmama hat gesagt, dass du eine verschwenderische Person bist und nur Geld verdienen willst, um dir lauter Firlefanz zu kaufen. Großmama hat auch gesagt, ein Auto sei genug in einer Ehe.«

Ina presste die Lippen zusammen, damit ihr kein unbedachtes Wort über ihre Schwiegermutter entschlüpfte. Es war ihr unverständlich, warum diese solche Weisheiten in die Welt hinausposaunte. Dabei hatte sie sich doch immer gut mit ihr verstanden. Hatte sich denn die ganze Welt gegen sie verschworen, fragte sie sich verzweifelt. Was hatte sie nur falsch gemacht?

Ina dachte an das letzte Telefongespräch mit Eberhard, als sie ihn in seinem Büro angerufen hatte, weil er nicht mehr nach Hause gekommen war. Sie hatte ihn gefragt, ob er etwas dagegen habe, Petra bis zur Klärung ihrer Differenzen in einem Kinderheim unterzubringen. Sofort hatte er seine Zustimmung gegeben. Hatte sie tatsächlich gehofft, er werde sie um eine Aussprache bitten? Ja, sie hatte es gehofft. Dabei wusste sie doch, dass er für sich bereits eine Wohnung gefunden hatte und so bald wie möglich ihre gemeinsame Wohnung verlassen würde.

Wie dumm von ihr, sich solchen Hoffnungen hinzugeben. Er trennte sich doch nur deshalb räumlich von ihr, um sich in seinem neuen Appartement ungestört mit Ursula Rüttgen treffen zu können. Nun würde er auch bald die Scheidung anstreben.

Ina schluckte die Tränen herunter. Schon allein die Vorstellung, dass Ursula Rüttgen ihren Platz in Eberhards Leben einnehmen würde, war unerträglich für sie.

Dass ihre Ehe mit Eberhard, den sie noch immer heiß und innig liebte, so traurig enden würde, hätte sie sich niemals träumen lassen. Als sie sich vor ungefähr sechs Jahren kennengelernt hatten, war es bei jedem von ihnen Liebe auf den ersten Blick gewesen. Schon nach wenigen Wochen hatten sie geheiratet und geglaubt, das glücklichste Paar auf Erden zu sein. Damals war Eberhard noch Reporter gewesen, während sie als Graphikerin bereits viel Erfolg gehabt hatte. Sie hatten Zukunftspläne geschmiedet. Ihr Traum war ein kleines Haus außerhalb der Stadt. Da sie beide fantasiereich waren, hatten sie das Haus mit allen Raffinessen eingerichtet, freilich nur auf dem geduldigen Papier.

Aber dann hatte sich Petra angemeldet. Als Eberhard davon erfahren hatte, war er vor Freude ganz aus dem Häuschen gewesen. Seine Pläne für die Zukunft hatten sich geändert.

»Natürlich gibst du deinen Beruf auf«, hatte er erklärt. »Eine Mutter gehört zu ihrem Kind. Ich bin jetzt glücklicherweise Redakteur geworden und dadurch in der Lage, meine Familie standesgemäß zu ernähren.«

Im Überschwang ihrer großen Freude über das Kind hatte sie ihm alles versprochen, was er wollte. Aber als Petra ein Vierteljahr alt gewesen war, hatte sie heimlich einige Aufträge angenommen. Als Eberhard dahintergekommen war, hatte es zwischen ihnen den ersten hässlichen Streit gegeben, dem weitere folgten. Keiner von ihnen wollte nachgeben. So war allmählich eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen entstanden.

Tagelang war Eberhard am Abend nicht nach Hause gekommen. Die vielen einsamen Stunden, über die ihr auch die Arbeit nicht hatte hinweghelfen können, hatten ihr viel Zeit zum Nachdenken gelassen. Schließlich war sie innerlich bereit gewesen, klein beizugeben. Aber da hatte sie erfahren, dass Eberhard die Abende häufig mit der Journalistin Ursula Rüttgen verbrachte. Ausgerechnet mit dieser raffinierten Person, hatte sie voller Eifersucht gedacht und aus Trotz weitere Aufträge ausgeführt.

Das alles hatte dazu geführt, dass sie kaum mehr Zeit für ihr Kind gehabt hatte. Tagsüber hatte ihre Schwiegermutter Petra betreut. Aber eines Tages hatte die alte Dame rigoros erklärt, so ginge das nicht mehr weiter. Man könne ein Kind, besonders ein so sensibles kleines Mädchen wie Petra, nicht wie ein Stück Holz behandeln. Sie schlage vor, dass die Kleine vorerst einmal ganz zu ihr zöge, bis sie und Eberhard endlich wüssten, was sie wollten. Die lauten Streitereien zwischen ihnen würden dem Kind schaden.

Weder Eberhard noch sie hatten der alten Dame widersprochen. Petra aber war über diese Lösung recht glücklich gewesen. Sie hatte sich jedenfalls in dem gemütlichen Heim ihrer Großmama wohlergefühlt als in der Wohnung ihrer Eltern.

Frau Hildegard Reimann hatte auch Petras Tanztalent entdeckt. »Petra hat ein reizendes, zierliches Figürchen und ist sehr musikalisch«, konstatierte sie eines Tages. »Ich werde das Kind in der Ballettschule anmelden.«

Auch damit waren Eberhard und sie einverstanden gewesen. Die kleine Petra war darüber selig gewesen und hatte sehnsüchtig darauf gewartet, endlich mit dem Unterricht in der Ballettschule beginnen zu können. Doch die Erkrankung ihrer Großmama hatte einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Das war für Petra doppelt schmerzlich gewesen, sodass sie kaum zu beruhigen gewesen war.

»Schau doch, Mutti!«, rief Petra jetzt plötzlich begeistert und riss Ina damit aus ihren schmerzlichen Erinnerungen. »Dort ist ja ein Märchenschloss. Meinst du, dass dort Dornröschen wohnt? Oder Aschenbrödel?«

»Ich glaube, das ist Sophienlust«, erwiderte Ina und fuhr langsam in den Hof. Einige Hühner stoben laut gackernd auseinander, worüber Petra hell auflachte.

Auch Ina lächelte unvermittelt. Auf einmal erschien ihr die Zukunft nicht mehr ganz so trostlos. Petra war ein aufgewecktes und fröhliches Kind. Sie würde ihren Kummer in der Ge­sellschaft anderer Kinder bald vergessen.

Der Regen hatte nachgelassen, aber noch immer jagten dunkle Wolken tief über das Land. Als Ina ausstieg, riss eine Bö ihr fast den Schal fort.

Auch Petra kletterte aus dem Wagen. Ganz fest drückte sie ihren Teddy an sich, als sie sich nach allen Seiten neugierig umblickte. »Mutti, dort ist ein großer Junge!«, rief sie und deutete auf einen Radfahrer, der gerade von seinem Rad abstieg und es an die Hauswand anlehnte.

»Hallo!«, rief Ina. »Ist das hier Sophienlust?«

»Ja, das ist Sophienlust.« Dominik, denn er war es, kam näher und sah die hübsche junge Dame und das kleine Mädchen aufmerksam an.

»Ich möchte zu Frau Dahm«, erklärte Ina dem bildhübschen schwarzhaarigen Jungen mit den dunklen Augen. »Ich bin Ina Reimann und eine Freundin von Carola.«

»Frau Dahm.« Dominik schmunzelte.

»Bei uns gibt es keine Carola Dahm mehr, nur noch eine Carola Rennert«, klärte er die fremde Dame verschmitzt lächelnd auf.

»Ach, dann hat Carola inzwischen geheiratet«, stellte Ina überrascht fest.

»Ja, seit Kurzem. Ich werde Carola Bescheid sagen, dass Besuch für sie da ist. Aber bitte kommen Sie doch ins Haus«, entsann sich Nick als zukünftiger Herr von Sophienlust seiner Pflichten.

»Vielen Dank.« Ina fasste Petra bei der Hand und folgte dem Jungen.

In der Halle bat Dominik sie, doch Platz zu nehmen. Dann ließ er die beiden allein.

Petra blickte sich scheu um. Sie war tief beeindruckt von dem großen schönen Haus.

»Nicht wahr, mein Liebling, es ist schön hier«, versuchte Ina ihre Tochter zu ermuntern.

»Das weiß ich noch nicht, Mutti«, erwiderte Petra ängstlich und klammerte sich an die Hand ihrer Mutter. »Bitte, bitte, fahren wir doch wieder nach Hause«, bettelte sie.

»Das ist unmöglich, Petra. Schau doch …«

Das Erscheinen ihrer Freundin Carola enthob Ina einer weiteren Erklärung, worüber sie sehr froh war.

»Ina, du!«, freute sich Carola, wobei ihr das helle Glück aus den Augen strahlte. »Das ist aber eine liebe Überraschung.« Die Freundinnen umarmten sich, dann stellte Ina Petra vor.

»Also, das ist deine kleine Tochter.« Carola begrüßte das Kind liebevoll. Was für ein reizendes Kind, dachte sie.

»Guten Tag«, antwortete Petra abweisend und fasste wieder nach Inas Hand. »Ich will nicht ins Kinderheim«, fügte sie hinzu, wobei sich große Tränen von ihren Wimpern lösten.

Ina zwinkerte Carola schnell zu, die sofort begriff, dass sie dieses Thema vor ihrem Kind nicht weiter berühren solle.

»Ina, Petra, kommt mit in meine Wohnung«, bat Carola.

»Du wohnst hier im Haus?«, fragte Ina interessiert.

»Ja, Frau von Schoenecker hat für uns eine Wohnung ausbauen lassen. Aber ich habe dir ja schon so viel von Tante Isi erzählt.«

»Ja, Carola, nach deiner Schilderung muss sie eine wunderbare Frau sein.«

»Das ist sie auch. Du hast ja schon ihren Sohn kennengelernt.«

»Ach, dann war der schwarzhaarige Junge der zukünftige Erbe von Sophienlust?«

»Er ist schon … Aber das werde ich dir später alles genau erklären«, unterbrach sich Carola und öffnete eine Tür.

Ina war ganz begeistert von der hübschen Wohnung. Auch Petra blickte sich um und entdeckte in einem Sessel eine schwarze Katze.

»Oh, Mutti, schau doch«, flüsterte sie und ließ die Hand ihrer Mutter los.

»Ist das eine richtige lebendige Katze?«, fragte sie voller Aufregung. »Sie bewegt sich ja gar nicht!«

»Das ist mein Kater Mutzi«, erklärte Carola. »Er schläft nur.«

»Darf ich ihn streicheln?«, fragte Petra.

»Ja, das darfst du.«

»Danke«, sagte Petra und setzte ihren Teddybären auf einen Stuhl. »Sei nicht böse, Teddy«, bat sie leise. »Aber ich habe dich immer noch lieb, auch wenn ich den Kater streicheln möchte.« Dann trippelte sie zu dem Sessel hin und blieb mit großen Augen davor stehen. Als der Kater seinen Kopf hob und sie anblinzelte wich sie ein Stückchen zurück.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, bemerkte Carola. »Er beißt nicht.«

»Wirklich nicht?« Petra streckte die Hand aus und berührte zaghaft das glänzende Fell. »Er beißt wirklich nicht«, konstatierte sie erleichtert und setzte sich auf den Sessel. Als der Kater auf ihren Schoß stieg und sich wieder einrollte, strahlte Petra übers ganze Gesicht.

Indessen hatte Ina die Gemälde an den Wänden betrachtet. »Sind die alle von dir?«, fragte sie bewundernd.

»Ja, Ina«, entgegnete Carola bescheiden, denn es erschien ihr noch immer wie ein Wunder, dass sie auf dem besten Weg war, eine bekannte Malerin zu werden. »Du, da fällt mir mein Versäumnis ein, Ina! Ich wollte dir doch schreiben, aber ich bin nicht dazu gekommen. Die Tage sind mir einfach davongelaufen.«

»Carola, ich weiß doch, wie so etwas ist. Ein Glück, dass ich mir die Adresse von Sophienlust notiert hatte. Ist das dein Mann?«, fragte Ina und deutete auf ein Porträt.

»Ja, das ist Wolfgang. Aber ich habe das Gefühl, dass mir das Bild nicht so gut gelungen ist. Es ist sehr schwer, jemanden zu porträtieren, den man liebt und schon so viele Jahre kennt wie ich Wolfgang. Ich sehe ihn immer wieder anders. Aber jeder Mensch hat wohl mehrere Gesichter«, fügte sie gedankenverloren hinzu, wobei ein zärtliches Lächeln ihre vollen Lippen umspielte.

»Ja, Carola, da ist etwas Wahres dran«, stimmte Ina ihr bei. »Du bist sehr glücklich mit deinem Wolfgang, nicht wahr?«

»Ja. Unendlich glücklich, Ina«, schwärmte die junge Frau, und der Glanz in ihren Augen vertiefte sich. »Von Anfang an wusste ich, dass Wolfgang und ich vom Schicksal füreinander bestimmt sind. Und Wolfgang erging es ebenso.« Carola erzählte ihrer Freundin nun mehr von Wolfgangs Tätigkeit in Sophienlust.

Ina blickte zu Petra hin, die den Kater selbstvergessen mit Zärtlichkeiten überschüttete. »Carola, ich möchte Petra ins Kinderheim geben«, sagte sie leise.

»Du willst Petra in ein Heim geben?«, wunderte sich Carola.

»Ja, Carola, im Augenblick ist es die einzige Lösung für sie.«

»Aber, Ina, das ist mir unbegreiflich! Du hast doch …«

Ina legte den Zeigefinger an die Lippen. »Carola, ich würde dich gern allein sprechen.«

»Ich verstehe. Dann komm mit in die Küche. Ich glaube, du könntest einen starken Kaffee brauchen.«

»Ja, Carola, den hätte ich wirklich nötig.«

Als Ina das Wohnzimmer verlassen wollte, ließ Petra sofort von dem Kater ab und rutschte vom Sessel.

»Petra, bleib nur bei dem Kater. Ich helfe meiner Freundin nur ein bisschen in der Küche.«

»Kommst du auch wirklich wieder, Mutti?«

»Aber ja, mein Liebling.« Ina folgte Carola in die Küche.

»Ina, was ist geschehen?«, fragte Carola und setzte Kaffeewasser auf.

Ina setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. »Mein Mann und ich haben uns auseinandergelebt«, erklärte sie nach dem ersten Zug.

»Aber ich dachte, du wärst mit deinem Mann sehr glücklich«, meinte Carola erstaunt. »Damals sagtest du doch auch, du würdest dich niemals von deinem Kind trennen, egal was auch geschehe.«

»Mein Gott, Carola, ich schämte mich einfach, dir zu erzählen, wie es in Wirklichkeit um meine Ehe stand. Aber ich werde dir alles von Anfang an berichten.«

Ina war froh, endlich jemandem ihr Herz ausschütten zu dürfen. Als sie ihren Bericht beendet hatte, erwiderte Carola mitleidig: »Du tust mir leid, Ina. Meinst du nicht, dass du dich noch einmal mit deinem Mann aussprechen solltest? Ich glaube, zwischen euch gibt es viele Missverständnisse.«

»Carola, dazu ist es zu spät. Ja, wenn diese Rüttgen nicht wäre, gäbe es vielleicht noch einen Weg für eine Versöhnung. Aber so.« Ina schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Carola. Oder glaubst du, ich würde mich so tief vor Eberhard erniedrigen, dass ich um seine Liebe bettle?« Ina drückte ihre halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Siehst du, deshalb möchte ich Petra für ein Weilchen hierherbringen. Ich will sie von weiteren Aufregungen fernhalten.«

»Das ist verständlich«, gab Carola zu. Ihr tat Ina unendlich leid. »Ich werde mit Tante Isi über Petra sprechen«, bot sie an. »Denn ich kann in einem solchen Fall keine Entscheidung treffen. Hoffentlich kommt Tante Isi heute auch nach Sophienlust.« Carola erzählte rasch von Gut Schoeneich.

»Oje, dann muss ich Petra vielleicht wieder mit nach Hause nehmen«, seufzte Ina.

»Du, ich glaube, da kommt ein Wagen. Du hast Glück, es ist Tante Isi!«, rief Carola erfreut.

»Da bin ich sehr froh.« Ina atmete auf.

»Entschuldige mich bitte für einige Minuten«, bat sie dann. »Ich sage nur Tante Isi Bescheid, dass ihr da seid.«

Als Ina allein war, ging sie ins Wohnzimmer. Petra stand sofort auf und rief: »Mutti, wir fahren doch bald wieder heim?«

Statt einer Antwort schloss Ina ihre Tochter liebevoll in die Arme. Als sie den kleinen Körper fest an sich drückte, glaubte sie plötzlich, es doch nicht übers Herz bringen zu können, ihr Kind in Sophienlust zurückzulassen. Vielleicht nehmen sie Petra gar nicht in dem Heim auf, dachte sie und wünschte es sich auf einmal.

*

Dominik, Malu, Pünktchen und Isabel saßen im Wintergarten. Sie sprachen über Frau Reimann und deren kleine Tochter.

»Glaubst du tatsächlich, dass Frau Reimann die Absicht hat, ihre Tochter in Sophienlust zu lassen?«, fragte Pünktchen.

»Ja, Pünktchen. Ich habe für so etwas eine Nase. Wenn ein Kind so aussieht wie das kleine Mädchen, kommt es zu uns.«

»Wenn es wie aussieht?«, fragte Isabel.

»So bekümmert. Außerdem hatte die Kleine verweinte Augen. Aber trotzdem sah sie sehr niedlich aus. Ich glaube, sie hat rötliches Haar und genauso grüne Augen wie Malu.«

Pünktchen zog einen Schmollmund. Sie schätze es nicht sehr, wenn Nick so begeistert von einem anderen kleinen Mädchen sprach. »Aber sie ist noch sehr klein«, meinte sie. »Ein halbes Baby?«

»Es gibt kein halbes Baby«, belehrte Nick sie. »Das Kind ist fünf oder sechs Jahre alt.«

»Das finde ich aber noch sehr klein«, behauptete Pünktchen, um vieles erleichtert. Ein so kleines Mädchen war keine ernst zu nehmende Konkurrenz für sie.

»Seit Pünktchen zehn geworden ist, glaubt sie, schon eine Großmutter zu sein«, neckte Nick sie übermütig.

»Geh, lass mich in Ruhe!«, zürnte sie ihm. »Immer musst du mich ärgern.«

»Nick, du solltest Pünktchen nicht immer kränken«, mischte sich Malu ein.

»Aber Pünktchen sollte doch längst wissen, dass ich so etwas nicht ernst meine. Nicht wahr, Pünktchen, dass weißt du doch?«, fragte er, wobei er ihr ein so liebes Lächeln schenkte, dass ihr ganz wunderlich ums Herz wurde.

»Ja, Nick, das weiß ich«, entgegnete sie eilig.

Malu und Isabel zwinkerten sich zu. So war es stets. Sich einzumischen, wenn Pünktchen und Nick stritten, war eine undankbare Aufgabe.

»Mutti kommt!«, rief Nick und stand auf. Wie ein Wirbelwind sauste er aus dem Wintergarten, um seiner Mutter von Carolas geheimnisvollem Besuch zu erzählen.

Denise betrat gerade, als Nick erschien, das Haus.

»Mutti, fein, dass du da bist!«, rief der Junge. »Ich glaube, wir bekommen wieder einmal Zuwachs in Sophienlust.«

»So? Wer denn?«, fragte Denise verwundert. »Ich weiß von nichts.«

»Carola hat Besuch. Eine Freundin von ihr ist da, die ihre kleine Tochter mitgebracht hat.«

»Aber das braucht doch nicht zu bedeuten, dass sie das Kind hierlassen will.«

»Na, ich habe da so eine Ahnung, Mutti. Du weißt doch, dass ich für solche Dinge eine richtige Spürnase habe.«

»Das hast du allerdings, mein Junge«, gab Denise zu. »Sag, bist du nicht sehr nass geworden?«

»Nur ein bisschen, Mutti.«

»Du hättest doch lieber mit mir fahren sollen.«

»Aber ich wollte doch mein neues Fahrrad ausprobieren. Es ist ganz große Klasse. Nur …« Er zögerte und sagte dann schnell: »Aber wenn Vati mir einen Motorroller gekauft hätte, könnte ich damit täglich zur Schule fahren.«

»Mir ist es lieber, du fährst mit dem Bus in die Stadt, Nick.«

»Aber die anderen Jungen in meinem Alter …«

»Noch musst du dich in diesen Dingen nach uns richten, mein Sohn«, unterbrach Denise ihn ernst und dachte: Ein Glück, dass Alexander ihm keinen Motorroller gekauft hat, obwohl das sein Herzenswunsch war. Ich hätte dann keine ruhige Minute mehr.

»Da kommt Carola«, stellte Dominik fest. »Du wirst sehen, dass ich mich nicht geirrt habe.«

Als Carola Denise von Ina und Petra erzählte, nickte Dominik zufrieden. Wieder einmal hatte er Recht behalten.

»Gut, Carola, ich werde mich mit Frau Reimann unterhalten«, erklärte Denise. »Ich warte auf sie und das Kind im Biedermeiersalon.«

Carola nickte und kehrte in ihre Wohnung zurück, um Ina und das Kind zu Tante Isi zu bringen.

»Wirst du die kleine Petra aufnehmen, Mutti?«, fragte Nick neugierig, als er Carola nachblickte.

»Das kann ich noch nicht sagen, Nick. Das kommt ganz auf die Umstände an.«

Mit dieser Antwort musste Dominik sich vorerst zufriedengeben, aber er wünschte sich von ganzem Herzen, dass das niedliche kleine Mädchen in Sophienlust bleiben würde.

*

Ina betrat, Petra an der Hand, das Biedermeierzimmer. Denise erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und begrüßte die junge Frau und das Kind liebenswürdig.

Petra zeigte kein sehr freundliches Gesicht. Ihrer Meinung nach war sie schon lange genug in Sophienlust. Jetzt wollte sie mit ihrer Mutti wieder nach Hause fahren. Trotzig schob sie die Unterlippe vor.

Denise konnte in einem Kindergesicht wie in einem offenen Buch lesen und wandte sich an Carola, die den beiden gefolgt war. »Bitte, bringe doch Petra zu den anderen Kindern«, bat sie. »Möchtest du einen sprechenden Papagei sehen?«, fragte sie das kleine Mädchen, über dessen Gesicht plötzlich Tränen rollten.

»Einen lebendigen Papagei?« Petra hörte zu weinen auf und blickte die fremde Dame neugierig an.

»Ja, Petra, einen lebendigen Papagei. Er heißt Habakuk und kann alle Namen nachsprechen.«

»Auch meinen?«

»Auch deinen, Petra«, lächelte Denise.

»Petra, wir haben hier in Sophienlust noch viele Tiere. Eine Schildkröte, ein Meerschweinchen und viele Hunde«, versuchte nun auch Carola das Kind von seinem Kummer abzulenken.

»Wenn du mitkommst, werde ich sie dir alle zeigen.«

Petra nickte. »Mutti, aber du wartest auf mich«, flehte sie, hin und her gerissen von dem Wunsch, die Tiere kennenzulernen, und ihrer großen Angst, allein in dem Kinderheim zurückgelassen zu werden.

»Freilich warte ich auf dich, mein Liebling«, beruhigte Ina ihr Töchterchen.

Nach einem letzten misstrauischen Blick verließ Petra mit Carola das Zimmer.

Ina unterdrückte einen schweren Seufzer. Noch hatte sie Frau von Schoenecker ihr Anliegen nicht vorgetragen, noch konnte sie Petra wieder mit nach Hause nehmen. Aber dann dachte sie an die unerfreulichen Verhältnisse, die ihr Zerwürfnis mit Eberhard heraufbeschworen hatten. Es war ihre Pflicht als Mutter, Petra von weiteren seelischen Konflikten fernzuhalten.

Ein entschlossener Ausdruck trat in ihr Gesicht, als sie sagte: »Frau von Schoenecker, ich wäre sehr froh, wenn Petra in Sophienlust bleiben dürfte.«

»Carola sprach schon davon, Frau Reimann. Nur …«

»Dann wollen Sie Petra also nicht aufnehmen?«, fiel Ina ihr erregt ins Wort. »Dann haben Sie für sie keinen Platz mehr?«

»Platz gäbe es genügend, Frau Reimann. Aber eine Mutter sollte es sich lange überlegen, bevor sie ihr Kind in fremde Hände gibt«, gab Denise zu bedenken.

Ina schüttelte den Kopf. »Ich brauche nicht mehr zu überlegen, Frau von Schoenecker. Gewisse Umstände zwingen mich dazu«, bekannte sie und schilderte dann in kurzen Zügen, was sie zu diesem entscheidenden Schritt bewog.

Denise hörte ihr verständnisvoll zu. Dann empfahl sie Ina, sich schon im Interesse ihres Kindes wieder mit ihrem Mann auszusöhnen.

»Dafür ist es zu spät«, erklärte Ina betrübt. »Wenn zwei Menschen, wie mein Mann und ich, sich so weit auseinandergelebt haben, gibt es nur noch eine Lösung: die Trennung.«

»Also dann werde ich Petra im Kinderheim aufnehmen«, entschloss sich Denise schnell.

»Vielen Dank, Frau von Schoenecker. Dass Petra in Ihrer Obhut bleiben darf, ist für mich eine große Beruhigung. Darf das Kind gleich dableiben?«

Denise nickte zustimmend.

»Ich werde Petra in der nächsten Woche besuchen und ihr noch Sachen mitbringen.«

Ina bedankte sich noch einmal, wusste aber nicht, ob sie sich über ihren schnellen Erfolg freuen sollte oder nicht. Jetzt, wo endgültig feststand, dass Petra in Sophienlust bleiben würde, fühlte sie sich nicht ganz so erleichtert, wie sie eigentlich erhofft hatte.

Denise war das lebhafte Mienenspiel der jungen Frau nicht entgangen. Sie hoffte in deren Interesse, dass das Ehepaar letzten Endes doch noch einen Weg finden würde, der sie wieder zusammenbrachte. »Möchten Sie noch Sophienlust besichtigen?«, fragte sie, um Ina abzulenken.

»Ja, das würde ich sehr gern.« Ina lächelte gezwungen.

Die Damen verließen den Salon. Zuerst unterhielten sie sich mit Frau Rennert, dann besichtigten sie das Haus.

Ina war ganz begeistert von den hellen, freundlichen Räumen. Hier muss ein Kind glücklich sein, dachte sie und atmete auf.

Petra befand sich im Wintergarten inmitten einer fröhlichen Kinderschar. Denise stellte Malu, Pünktchen, Angelika, Vicky und Isabel der jungen Frau vor. Dann kam Nick, der sofort das Wort ergriff. Seine Lebhaftigkeit riss alle mit, auch Petra.

»Du, es ist recht schön hier«, flüsterte sie ihrer Mutter zu. »Aber trotzdem möchte ich nicht hierbleiben. Auch mein Teddy hat gesagt, er will wieder zur Großmama.«

»Petra, hör mir mal gut zu«, begann Ina und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um Petra beizubringen, dass sie für eine Weile hierbleiben müsse.

»Ich fahre doch mit heim?«, fiel Petra ihr ins Wort.

»Nein, Petra, du wirst hierbleiben.« Ina fühlte sich am Ende ihrer Kräfte.

»Aber ich will nicht!«, rief Petra unglücklich und fing an zu weinen.

Die anderen Kinder betrachteten mitleidig das kleine Mädchen, das durchaus nicht in Sophienlust bleiben wollte. Sie waren sich alle darin einig, dass Petra sich schnell einleben würde. So war es immer, und so würde es wohl auch immer bleiben.

Dominik hielt die Zeit für gekommen sich einzumischen. Bisher war es ihm stets gelungen, verzweifelte Kinder von ihrem Schmerz abzulenken.

»Petra, du wolltest doch die Ponys sehen«, erinnerte er das Kind. »Komm, wir laufen schnell zu den Ställen.«

Petra hörte zu weinen auf und blinzelte den großen Jungen misstrauisch an. »Ja, die Ponys möchte ich sehen«, gab sie zu. »Aber meine Mutti soll mitkommen.«

»Petra, ich habe noch etwas mit meiner Freundin zu besprechen«, erwiderte Ina. »Geh nur mit.«

»Ja, Mutti. Du, hier ist es wie in einem richtigen Zoo. Es gibt so viele Tiere und …«

»Siehst du, es ist wirklich hübsch hier.«

Petra fuhr sich über die Augen, um die letzten Tränenspuren fortzuwischen. Vielleicht würde es ihr hier doch gefallen, überlegte sie. Alle Kinder waren sehr lieb zu ihr. Wie drollig der Papagei mit dem komischen Namen war! Ja, und sehr klug war er auch. Nick hatte ihm nur dreimal ihren Namen vorgesagt, dann hatte er ihn schon nachsprechen können.

Carola erschien mit Vickys Mäntelchen, das sie dem Kind anzog.

»Dann können wir gehen«, erklärte Dominik und lächelte Petra aufmunternd zu. Malu nahm die Kleine bei der Hand.

»Mutti, ich bin bald wieder da!«, rief Petra ihrer Mutter noch zu, dann schloss sie sich den anderen Kindern an.

Draußen kam ein kleiner Hund angelaufen und sprang freudig bellend an Malu hoch.

»Ist das dein Hund?«, fragte Petra neugierig.

»Ja, das ist Benny. Er ist ein Wolfsspitz.

Petra konnte es nun kaum erwarten, die Ponys zu bewundern. Als sie darunter auch ein Fohlen erblickte, war sie so entzückt, dass sie für ein Weilchen alles andere vergaß. Erst später, als sie mit den anderen Kindern im Speisesaal heiße Schokolade trank und Magdas köstlichen Apfelkuchen aß, wurde sie unruhig. Wo nur ihre Mutti so lange blieb?

Ina hatte noch mit Carola geplaudert und dann auch noch Wolfgang Rennert kennengelernt. Aber danach drängte sie darauf, heimzufahren.

»Das Schlimmste steht mir noch bevor«, sagte sie, als sie sich von Carolas Mann verabschiedete. »Der Abschied von Petra. Hoffentlich weint das Kind nicht!«

Zusammen mit Carola verließ Ina die Wohnung. Als die beiden im Speisesaal erschienen, kletterte Petra sofort von ihrem Stuhl.

»Mutti, da bist du ja endlich«, begrüßte sie Ina mit überschwänglicher Freude. »Ich habe furchtbare Angst gehabt, dass du ohne mich fortgefahren wärst.«

»Petra, ich muss jetzt heimfahren«, erklärte Ina bekümmert, dabei blickte sie Denise, die soeben gekommen war, hilfeflehend an. Diese nickte ihr kaum merklich zu.

»Petra, du musst jetzt ein tapferes kleines Mädchen sein«, bat Ina und hob ihr Töchterchen hoch. Sie bedeckte das Kindergesicht mit Küssen, dann stellte sie Petra wieder sanft auf den Boden und verließ fast fluchtartig den Speisesaal.

Fassungslos blickte Petra auf die Tür, die sich hinter ihrer Mutti geschlossen hatte. »Mutti!«, rief sie und wollte sich von Denises Hand losreißen.

»Sei lieb, mein Kleines«, bat Denise das verzweifelte kleine Mädchen. »Deine Mutti wird bald wiederkommen. Schon in der nächsten Woche wird sie dich besuchen.«

»Ich will zu meiner lieben Großmama, ich will …« Petra begann bitterlich zu weinen.

Alle bemühten sich, die Kleine zu trösten. Endlich hörte sie zu schluchzen auf. Aber beim Abendbrot lehnte sie jedes Essen ab.

Dominik gelang es schließlich, Petra zum Lachen zu bringen. Er schnitt so komische Grimassen, dass sie plötzlich mit den anderen Kindern um die Wette lachte.

Alle atmeten erleichtert auf. Das Schlimmste schien überstanden zu sein. Denise nickte ihrem Sohn dankbar zu.

Dominik wandte sich wieder an Petra. »Ich glaube, du hast noch nie eine so gute Nusscreme gegessen.« Mit diesen Worten steckte er Petra einfach den gefüllten Löffel in den Mund.

Die Kleine war so überrascht, dass sie gehorsam schluckte. »Das schmeckt wirklich fein«, erklärte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Na also. Dann iss allein weiter!«

Das ließ sich Petra nicht zweimal sagen.

Denise hatte angeordnet, dass Petra mit Isabel das Zimmer teilen sollte, weil das Mädchen viel Verständnis für das Leid anderer Kinder zeigte. Isabel würde sicherlich die richtigen Worte finden, falls Petra wieder zu weinen anfangen sollte.

Aber Petra war zu müde, um noch nachdenken zu können. Die Aufregungen, die hinter ihr lagen, und die unzähligen neuen Eindrücke dieses Tages waren zu viel für sie gewesen. Als sie im Bett lag, fielen ihr auch schon die Augen zu.

Denise deckte das Kind sorgsam zu und legte ihm noch den Teddybären ins Bett.Nach einem letzten Blick auf das schlafende kleine Mädchen verließ sie leise das Zimmer. Auch Petra würde bald ihren Schmerz vergessen haben, dachte sie und war froh, dass Nick im Wagen bereits auf sie wartete.

»Nick, du bist mir eine große Hilfe«, sagte sie zu ihrem Sohn, als sie die Straße nach Schoeneich entlangfuhren.

»Findest du?« Er lächelte verlegen. Manchmal fragte er sich, ob er nicht schon zu groß sei, um sich noch mit so kleinen Kindern abzugeben. Schließlich war so etwas Frauensache. Aber wenn ein Kind seine Hilfe brauchte, dann konnte er einfach nicht anders, als helfen.

*

Der schmerzliche Abschied von Petra hatte Ina so aufgewühlt, dass sie sich kaum auf den Straßenverkehr konzentrieren konnte. Ununterbrochen dachte sie an ihr Kind, das sie allein in Sophienlust zurückgelassen hatte. Als sie sich vorstellte, dass Petra nun in einem fremden Bett liegt und weint, flossen auch ihre Tränen immer reichlicher.

Erst als die ersten Lichter der Stadt in der Ferne zu sehen waren, dachte Ina wieder an Eberhard. Angst presste ihr das Herz zusammen, weil sie sich daran erinnerte, dass er ja aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausziehen wollte. Vielleicht hatte er während ihrer Abwesenheit bereits seine Sachen gepackt?

Nur das nicht, dachte Ina unglücklich. Sie konnte sich ein Leben ohne ihren Mann noch immer nicht vorstellen. Eberhard und sie gehörten zusammen. Sollte es nicht doch noch eine Möglichkeit geben, ihre Ehe zu retten? Schon Petra zuliebe?

Während der Fahrt durch die Stadt war Ina fest entschlossen, alles zu tun, um eine Aussöhnung mit Eberhard herbeizuführen. Als sie vor dem Appartementhaus ausstieg und nach oben blickte, sah sie Licht in ihrer Wohnung. Also war Eberhard nach Hause gekommen.

War er nach Hause gekommen, um für immer dazubleiben? Hatte er es sich vielleicht doch anders überlegt und die neue Wohnung für sich nicht gemietet? Doch nein, das durfte sie sich nicht einreden. Sie war eine erwachsene Frau, die sich keinen Illusionen hingeben durfte. Sie musste sich mit den Realitäten auseinandersetzen. Und sie kannte Eberhard gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht wie ein Fähnchen im Wind drehte, sondern seinen Entschluss, sie zu verlassen, mit allen Konsequenzen durchführen würde.

Ina schloss leise die Wohnungstür auf. Wie immer, wenn Eberhard daheim war, brannte überall das Licht. Als Ina ihren Mantel an der Garderobe aufhängte, sah sie Eberhards Trenchcoat auf seinem gewohnten Platz. Das trieb ihr unvermutet die Tränen in die Augen. In einer plötzlichen Aufwallung ihrer Gefühle schmiegte sie ihr Gesicht in den Stoff, wobei ihr wieder bewusst wurde, dass sie nie aufhören würde, Eberhard zu lieben.

Nach einem tiefen Atemzug lauschte sie angespannt. Sie hörte Eberhards Schritte im Schlafzimmer, dann das Knarren der Schranktür und das Aufziehen von Fächern. Eberhard war also heimgekommen, um auszuziehen. Das bedeutete eine endgültige Trennung.

Ina war wie gelähmt. Alles Blut strömte ihr aus dem Herzen, ein feiner stechender Schmerz in der Herzgegend löschte momentan jedes andere Gefühl in ihr aus.

Du darfst nicht weinen, sagte sie sich und ging ins Wohnzimmer. Aus dem Elfenbeinkästchen, das sie Eberhard zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, nahm sie eine Zigarette.

Die Geräusche im Schlafzimmer verstummten. Es wurde auf einmal unheimlich still in der Wohnung, so still, dass Ina nicht wagte, das Tischfeuerzeug aufschnappen zu lassen.

Ich sollte zu ihm gehen und noch einmal mit ihm in aller Vernunft sprechen, überlegte sie. Vielleicht wartet er darauf, dass ich ihm entgegenkomme. Doch im nächsten Moment verwarf sie diesen Gedanken wieder, da sie an Ursula Rüttgens herausfordernde Schönheit dachte. Vermutlich würde die Journalistin in Eberhards neuer Wohnung bereits auf ihn warten. Das war ein unerträglicher Gedanke für Ina. Die Vorstellung, dass Eberhard dieser Frau dieselben zärtlichen Worte wie einst ihr selbst sagen würde, machte sie ganz elend.

Jetzt hob Ina lauschend den Kopf. Eberhards Schritte waren wieder zu hören. Nun fiel die Badezimmertür leise ins Schloss.

Ina blickte wie gebannt auf die angelehnte Wohnzimmertür. Jetzt würde Eberhard zu ihr ins Zimmer kommen. Wie werde ich reagieren, wenn er mich um Verzeihung bittet, fragte sie sich.

Aber dann geschah das Unfassbare. Eberhard ging an der Wohnzimmertür vorbei.

Als Ina hörte, dass er die Wohnung verließ, fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Mit tränenblinden Augen tastete sie sich durch das Zimmer und stand dann in der Diele. Der Trenchcoat war fort. Eberhard war tatsächlich ohne ein Abschiedswort gegangen.

Ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit überkam Ina. Ich muss ihn zurückrufen, um ihn noch einmal zu sehen, um noch einmal seine geliebte Stimme zu hören. Ich muss …

Ina lief zur Wohnungstür und legte die Hand auf die Klinke. Doch sie zog sie so schnell wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt. Nein, ich werde Eberhard keinen Schritt nachlaufen, dachte sie resigniert und ließ die Arme sinken.

Mit hängenden Schultern kehrte Ina ins Wohnzimmer zurück. Aufschluchzend sank sie auf Eberhards Lieblingssessel. Aus, dachte sie. Ich habe Eberhard für immer verloren.

Ruhelos wanderte Ina später durch die Wohnung. Ein Weilchen blieb sie vor dem offenen Kleiderschrank stehen und hob eine Krawatte auf, die auf dem Boden lag. Sorgfältig hängte sie sie wieder auf. Dann schloss sie mechanisch die Schranktür und die Fächer der Kommode.

Als ihr Blick auf das breite Doppelbett fiel, durchlief ein Zittern ihren Körper. Nein, sie konnte diese Nacht nicht allein in der Wohnung bleiben, sonst würde sie verrückt werden.

Ina dachte plötzlich an ihre beste Freundin, Alberta Holm, die mit ihrem Bruder, dem Kinderarzt Dr. Viktor Holm, zusammenwohnte. Ja, sie würde sie anrufen und sie bitten, bei ihr übernachten zu dürfen.

Ina wählte die Telefonnummer und atmete auf, als sich ihre Freundin meldete. Als sie ihre Bitte vortrug, antwortete Alberta, sie freue sich sehr auf ihr Kommen.

Erleichtert legte Ina den Hörer auf. In aller Eile tat sie die nötigsten Sachen in ihren Handkoffer. Dann löschte sie alle Lichter in der Wohnung und schloss die Wohnungstür ab.

*

Dr. Viktor Holm blickte seine Schwester Alberta gespannt an. »Wer war denn am Apparat?«, fragte er.

»Ina hat angerufen. Sie hat angefragt, ob sie eine Nacht bei uns bleiben dürfe.«

»Ina will bei uns übernachten!«, sagte der junge Arzt und sprang so heftig auf, dass die Gläser auf dem Tisch leise klirrten.

»Deshalb brauchst du nicht gleich den Tisch umzustoßen«, spottete Alberta gutmütig. »Ina ist doch auch früher immer zu mir gekommen, wenn sie irgendwelche Probleme hatte, mit denen sie nicht fertig werden konnte.«

Viktor nickte. »Ich hätte jede Wette eingehen können, dass Inas Ehe mit einem Fiasko enden würde. Niemals hätte sie diesen Zeitungsmenschen heiraten dürfen.« Er zündete sich nervös eine Zigarette an und trat ans Fenster. Dabei dachte er an die vielen verzweifelten Stunden, die seine hoffnungslose Liebe zu Ina ihm bereitet hatte.

Schon als Gymnasiast hatte er Ina geliebt, obwohl sie damals erst vierzehn Jahre alt gewesen war. Eines Tages werde ich sie heiraten, hatte er sich vorgenommen, und sich voller Eifer in sein Medizinstudium gestürzt.

Als seine Schwester, die mit Ina in der gleichen Schulklasse war, ihm dann gesagt hatte, Ina liebe ihn nicht so, wie eine Frau einen Mann lieben sollte, hatte er es nicht glauben wollen. Aber später hatte er es glauben müssen, denn Ina hatte sich mit Eberhard Reimann verlobt. Was er damals gelitten hatte, hatte er keiner Menschenseele anvertraut. Lange hatte er gebraucht, um damit fertig zu werden. Doch endlich war es ihm gelungen, Ina wieder unbefangen gegenüberzutreten. Aber niemals hatte er die Hoffnung aufgegeben, Ina eines Tages doch noch heiraten zu können.

Alberta betrachtete ihren Bruder und ahnte, wie es in ihm aussah. Nach wie vor war es für sie unbegreiflich, dass Ina nicht ihren Bruder geheiratet hatte. Viktor besaß charakterliche Qualitäten, die nicht jeder aufzuweisen hatte. Mit seinen dunkelblonden Haaren, seinen grauen Augen und der sportlichen Gestalt sah er außerdem blendend aus. Auch war er ein seelenguter Mensch und ein ausgezeichneter Kinderarzt.

Als ihre Eltern vor einigen Jahren kurz hintereinander gestorben waren, hatte Alberta sich verpflichtet gefühlt, sich um ihren unverheirateten Bruder zu kümmern und ihm die Wirtschaft zu führen. Sie arbeitete jedoch außerdem halbtags in einem Verlag. Ihr Beruf und die anfallenden Hausarbeiten hatten ihr bisher keine Zeit gelassen, an ihr Privatleben zu denken. Aber auf dem letzten Betriebsausflug hatte sich der Buchhalter Willy Bord augenfällig um sie bemüht. Doch vorläufig durfte sie noch nicht an eine feste Bindung denken. Noch brauchte Viktor sie. Wenn sich Ina aber scheiden lassen und Viktor heiraten würde, dann würde auch sie endlich ans Heiraten denken können.

Viktor drehte sich zu ihr um und sagte: »Du wirst es noch erleben, Alberta, dass Ina meine Frau wird.«

»Bitte, Viktor, mach dir keine allzu großen Hoffnungen!«, bat Alberta. »Ina liebt ihren Mann sehr und wird bestimmt alles tun, um ihre Ehe zu retten. Dazu kenne ich sie viel zu gut.«

»Glaubst du das wirklich?«, fragte er skeptisch. »Den Eindruck habe ich nicht. Ina ist sehr stolz. Sie wird ihm niemals verzeihen, dass er ein Verhältnis mit einer anderen hat.«

»Du denkst an die Journalistin? Bist du auch sicher, dass er wirklich ein Verhältnis mit ihr hat?«

»Wie kannst du nur noch daran zweifeln?«, fragte er. »Die Spatzen pfeifen es doch schon von den Dächern. Unsere Stadt ist viel zu klein, um so etwas verbergen zu können.«

»Aber vergiss nicht, dass Ina und Eberhard ein Kind haben«, sagte Alberta und legte Holz im Kamin nach.

»Na und?« Er lachte. »Petra ist noch sehr klein und wird sich leicht an einen anderen Vater gewöhnen. Sie liebt mich sehr, das weißt du doch. Wegen Petra mache ich mir keine Sorgen.«

Alberta lächelte gutmütig. Natürlich hoffte sie schon in Viktors Interesse, dass Ina ihn heiraten würde. Aber sie gab sich keinen Illusionen hin, weil sie wusste, dass Ina ihren Bruder zwar achtete und schätzte, aber nicht liebte. Ina würde niemals einen Mann ohne Liebe heiraten, dessen war sie sicher.

»Ich muss noch das Bett im Gästezimmer beziehen«, erinnerte sich Alberta plötzlich an ihre Hausfrauenpflichten.

»Und ich hole eine Flasche Wein aus dem Keller«, erklärte Viktor und verließ ebenfalls das Zimmer.

Während Alberta das Gästezimmer für ihren Besuch herrichtete, malte sie sich aus, wie es sein würde, wenn sie einmal heiratete. Das Läuten der Hausglocke riss sie aus ihren Träumereien, in denen Willy Bord die Hauptrolle spielte. Schnell verließ sie das Zimmer, aber auf halber Treppe verhielt sie ihren Schritt. Viktor öffnete Ina schon die Tür. Leise zog sich Alberta wieder in das Gästezimmer zurück, um die beiden für ein Weilchen allein zu lassen.

*

Ina lächelte befangen, als sie in die grauen Augen ihres Jugendfreundes blickte. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen, um sich an seiner breiten Brust auszuweinen. Aber sie wusste, dass Viktor für sie mehr als nur Freundschaft empfand, deshalb war sie ihm gegenüber stets ein wenig gehemmt.

»Ich freue mich sehr, dich zu sehen«, sagte Viktor nach der Begrüßung und half Ina aus dem Mantel. Der zarte Duft, der ihren goldblonden Haaren entströmte, steigerte sein Verlangen, die junge Frau einfach in die Arme zu nehmen und festzuhalten, um sie vor weiterem Kummer zu beschützen.

Aber wieder einmal war seine Vernunft stärker als dieses übermächtige Gefühl. Ina brauchte in ihrer augenblicklichen Verfassung einen Freund, aber keinen Liebhaber.

»Wo ist denn Alberta?«, fragte Ina nervös, denn sie fürchtete nach einem Blick in Viktors Augen neue Komplikationen, denen sie sich einfach nicht mehr gewachsen fühlte.

»Sie bezieht das Bett im Gästezimmer.«

»Dann gehe ich auf einen Sprung zu ihr hinauf«, erklärte Ina schnell und griff nach ihrem Köfferchen.

Während Viktor enttäuscht ins Wohnzimmer zurückkehrte, lief Ina die Treppe hinauf und betrat das hübsche Zimmer, in dem sie nicht zum ersten Mal übernachtete.

Alberta zog gerade das Laken glatt. Lächelnd blickte sie ihre Freundin an.

»Guten Abend, Ina«, sagte sie.

»Alberta, ich bin so froh, dass ich kommen durfte. Lass doch, ich mach das schon«, fügte sie hinzu und wollte Alberta den Bettbezug aus den Händen nehmen.

»Lass nur«, erwiderte Alberta, »ich bin ja gleich fertig. Du musst dich erst einmal ausruhen, denn du siehst völlig erschöpft aus.«

»Ich habe Petra in ein Kinderheim gebracht und …« Ina schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte auf. »Ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich bin einfach fix und fertig.«

Tröstend nahm Alberta ihre verzweifelte Freundin in die Arme und ließ sie ausweinen. Als der Schmerz leichter geworden zu sein schien, schüttete Ina ihr das Herz aus.

»Und das Schlimmste ist, dass ich Eberhard noch immer liebe. Du kannst das vielleicht nicht verstehen, Alberta, weil du noch niemals wirklich geliebt hast. Aber Eberhard ist ein Stück von mir geworden. Ein Leben ohne ihn kann ich mir nicht mehr vorstellen. Und doch muss ich ohne ihn weiterleben, weil Petra mich braucht. Arme kleine Petra.« Wieder begann Ina zu weinen. »Sie wird genauso unglücklich sein wie ich, weil ich sie allein gelassen habe.«

Armer Viktor, dachte Alberta, als sie sanft über Inas seidenweiches Haar strich. Große Chancen hatte er nicht bei Ina.

Als sich Ina beruhigt und ihre verweinten Augen mit kaltem Wasser erfrischt hatte, folgte sie Alberta nach unten.

Viktor erwartete die beiden bereits ungeduldig. Das freudige Aufleuchten in seinen Augen beunruhigte Ina von Neuem. Als sie Alberta so spontan um Hilfe gebeten hatte, hatte sie nicht mit Viktors Anwesenheit gerechnet.

Ina rauchte an diesem Abend mehr, als sie vertrug. Auch sprach sie dem ausgezeichneten Wein reichlich zu, und Viktor holte noch eine zweite Flasche aus dem Keller.

Viktor erwies sich als selbstloser Freund, denn er versuchte ebenso wie seine Schwester, Ina nicht aller Hoffnungen zu berauben. Aber seine Gedanken gingen dabei eigene Wege. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn Ina diesen Zeitungsmenschen überhaupt nicht mehr wiedergesehen hätte.

Als Ina dann im Bett lag, kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um Eberhard und Ursula Rüttgen. Aufstöhnend warf sie sich herum und presste ihr Gesicht in das Kissen, um das Schluchzen, das sie überwältigte, zu ersticken.

*

In gewisser Weise entsprachen Inas quälende Vorstellungen der Wirklichkeit. Allerdings ahnte sie nicht, wie schwer es Eberhard Reimann gefallen war, die Wohnung ohne ein Abschiedswort zu verlassen. Doch er hatte gewusst, wenn er Ina noch einmal gegenübergetreten wäre, dann wäre er schwach geworden. Da er das auf alle Fälle hatte vermeiden wollen, war er ohne Abschied gegangen. Außerdem hatte er sich schon als junger Mensch vorgenommen, einen schnellen Schlussstrich zu ziehen, falls seine Ehe einmal einen solchen Punkt erreichen sollte. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende, hatte er sich gesagt, als er gegangen war.

Nun parkte Eberhard Reimann seinen Wagen vor dem Haus, in dem er ein hübsches Appartement gefunden hatte und stieg aus. Er hatte nicht die geringste Lust, in die für ihn noch so fremde Wohnung zu gehen. Aber was blieb ihm denn anderes übrig?

Als er die Wohnungstür aufschloss, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er übereilt gehandelt hatte, als er so Hals über Kopf von Ina fortgezogen war. Machte nicht fast jede Ehe eine Krise durch? Ina und er waren etwas mehr als sechs Jahre miteinander verheiratet. Sie waren jetzt im sogenannten verflixten siebten Jahr. Daran hätte er denken müssen. War es denn wirklich so unverzeihlich gewesen, dass Ina weiter ihren Beruf hatte ausüben wollen?

Eberhard stellte die Koffer in der Diele ab und schaltete alle Lichter ein. Obwohl die Heizkörper angestellt waren, fröstelte er leicht. Er ging in das große Wohnzimmer mit den neuen Möbeln und hatte das Gefühl, eine Schaufensterauslage zu betreten. Es würde ein Weilchen dauern, bis er sich hier wohlfühlen würde, dachte er und ging an den Barschrank.

Ursula Rüttgen hatte an alles gedacht. Sie hatte mehrere Flaschen zur Auswahl gekauft und auch hübsche Gläser besorgt. Trotzdem wurde Eberhard dieses unpersönliche Gefühl, das ihn in diesen vier Wänden beherrschte, nicht los. Auch nicht nach dem ersten Glas Whisky.

Als es läutete, zuckte er leicht zusammen. Sein erster Gedanke galt Ina, obwohl das absurd war, denn sie hatte ja keine Ahnung, wo er wohnte. Also konnte es nur Ursula Rüttgen sein.

Sie war es.

Mit strahlenden Augen stand sie vor ihm. Ihr volles braunes Haar flutete unter ihrer schicken Samtkappe hervor. Sie war vollbeladen mit Päckchen und Tüten.

»Nimm mir bitte die Sachen ab«, bat sie lachend, »statt mich wie das siebte Weltwunder anzustarren. Sonst lasse ich einfach alles zu Boden fallen«, drohte sie übermütig.

»Oh, Verzeihung!«, rief er und nahm ihr einen Teil ab.

Sie folgte ihm in die Küche, um sich der restlichen Sachen zu entledigen, und kehrte dann wieder in die Diele zurück.

Vor dem Spiegel ordnete sie ein wenig ihr Haar und zwinkerte ihrem Spiegelbild dabei zu. Tausend Teufelchen tanzten in ihren grauen Augen. Endlich war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen. Eberhard hatte seine Frau verlassen. Dieser Schritt brachte sie ihrem gesteckten Ziel, Eberhard zu heiraten, erheblich näher.

Als sie vor gut zwei Jahren Eberhard Reimann kennengelernt hatte, war ihr sofort bewusst gewesen, der oder keiner. Dass er verheiratet war und eine Tochter hatte, war für sie kein Hinderungsgrund, ihre Fühler nach ihm auszustrecken. Schließlich konnte man sich scheiden lassen.

Schon bald hatte sie herausgefunden, dass Eberhards Ehe nicht sehr gut zu sein schien. Diese Ehekrise kam ihr nun sehr gelegen. Außerdem war sie ein auffallend hübsches Mädchen, besaß Mutterwitz und war tüchtig in ihrem Beruf. Alles Vorzüge, die einen Mann wie Eberhard Reimann ansprechen mussten. Doch er war mit geschlossenen Augen in ihre Falle gegangen. Bald wird sie endgültig zuschnappen, dachte Ursula zufrieden und wandte sich mit einem spöttischen Lächeln von ihrem Spiegelbild ab.

Eberhard befand sich noch immer in der Küche. Ursula blieb unter der Tür stehen und beobachtete ihn wie eine lauernde Katze. Er stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Kühlschrank und ordnete die Lebensmittel ein. Statt ihm zu helfen, lehnte sie sich an den Türrahmen und sah ihm zu. Ich werde mit allen Mitteln, selbst mit unfairen, um ihn kämpfen, dachte sie. Denn ich will ihn haben.

Ursula war allerdings nicht mehr ganz so selbstsicher, als sie daran dachte, dass er allem Anschein nach nicht ganz so leicht einzufangen war, wie sie erwartet hatte. Denn bisher war es zwischen ihnen noch zu keinen Intimitäten gekommen, außer zu einigen Küssen. Natürlich hatte ihnen bisher die Gelegenheit gefehlt, doch jetzt, wo er diese Wohnung gemietet hatte, würden sie einander bestimmt näherkommen. Und war sie erst einmal seine Geliebte, würde er ihr mit Haut und Haaren verfallen.

Hätte Ursula geahnt, was für Gedanken Eberhard momentan bewegten, wäre sie vermutlich weniger siegessicher gewesen. Als er die Lebensmittel in den Kühlschrank einräumte, fühlte er Inas Nähe fast körperlich. Er drehte sich um.

Verwirrt fuhr er sich über die Stirn, als er jetzt nicht in Inas blau-grüne Augen blickte, sondern in die grauen von Ursula. Das spöttische Aufblitzen darin rief in ihm, wohl zum ersten Mal, so etwas wie Abneigung gegen sie hervor.

»Habe ich einen schwarzen Fleck auf der Nase?«, fragte sie leicht verlegen, als er sie so seltsam ansah.

»Du? Aber nein«, lachte er. »Ich war mit meinen Gedanken spazieren.«

»Das war nicht zu übersehen«, spottete sie. »Wie wäre es mit einem Drink? Ich hätte ihn nötig. So eine Kälte im April.« Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen. »Man merkt, dass das Haus erst vor Kurzem fertig geworden ist. Die Wände scheinen noch feucht zu sein.« Vor ihm betrat sie das Wohnzimmer. »Hier muss noch einiges verändert werden, damit der Raum eine persönlichere Note erhält«, bemerkte sie und ließ sich auf der Couch nieder. »Eine hübsche Stehlampe, ein paar Bilder an den Wänden, ja, und Blumen.«

»Wenn man so viele Jahre wie ich verheiratet ist, fällt es schwer, sich wieder ans Junggesellenleben zu gewöhnen.«

Darauf gab Ursula klugerweise keine Antwort. Sie wechselte das Thema und sagte: »Was hältst du davon, wenn ich morgen zu dem Exminister fahre, um ihn zu interviewen?«

»Eine gute Idee. Wirst du die Story über ihn bis morgen Abend fertig haben?«

»Ja, Eberhard, das werde ich schaffen.« Sie lehnte sich weiter zurück und schlug ihre schönen Beine übereinander. Aber er blickte nicht einmal zu ihr hin, denn wieder dachte er an Ina.

Was würde sie heute Abend machen? Ob er sie schwer dadurch getroffen hatte, dass er ohne ein Abschiedswort die Wohnung verlassen hatte? Zumindest nach Petra hätte er sich erkundigen müssen, dachte er. Aber in seiner Erregung hatte er gar nicht an das Kind gedacht. Armes kleines Baby, ging es ihm durch den Kopf. Wie wirst du dich in einem Kinderheim fühlen?

Dann dachte er an seine Mutter, die seit zwei Tagen im Krankenhaus lag. Gestern Vormittag war er kurz bei ihr gewesen und hatte mit ihr über Petra gesprochen.

»Dass ihr Petra in ein Kinderheim gebt, ist unverzeihlich«, hatte sie sich erregt. »Ihr seid Rabeneltern. Statt euch zu vertragen, wie es sich für anständige Eltern mit Pflichtbewusstsein gehört, benehmt ihr euch wie zwei leichtfertige Menschen.«

Natürlich hatte seine Mutter recht, sagte er sich. Aber wer konnte schon über seinen eigenen Schatten springen?

»Eberhard, hier bin ich!«, rief Ursula, weil sie sich vernachlässigt fühlte. »Wo bist du denn nur dauernd mit deinen Gedanken?«

»Verzeih, mir geht halt so allerhand im Kopf herum.«

»Schenk mir doch bitte noch einen Whisky ein«, bat sie lächelnd und schob ihm das Glas hin.

Schweigend erfüllte er ihr diesen Wunsch.

»Und du?«, fragte sie enttäuscht.

»Ich habe heute schon genug getrunken. Ursula, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir einen Kaffee kochen würdest. So stark wie möglich.«

Sehr gern tat sie das nicht. Denn sie hatte sich den Verlauf dieses Abends anders vorgestellt. Alkohol, leise zärtliche Musik und dann ein Hinübergleiten in das Land der Liebe …

Aber Eberhards Sinn schien nicht nach diesen Dingen zu stehen. Deshalb erhob sie sich mit einem unterdrückten Seufzer und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Dann suchte sie nach dem gemahlenen Kaffee und nach der Kaffeekanne.

Als Eberhard den Kaffee getrunken hatte, erhob er sich plötzlich und blickte auf seine Armbanduhr. »Es ist schon fast zwölf. Mitternacht, Ursula. Ich bin sehr müde. Bist du mir böse, wenn ich dich bitte …«

»Aber nein, mein Lieber«, fiel sie ihm lachend ins Wort. »Bei einem so galanten Rausschmiss kann man ja nicht böse sein.« Sie gab ihm einen sanften Nasenstüber und verließ das Zimmer. Als sie sich vor dem Spiegel ihre Kappe aufsetzte, beobachtete sie ihn hinter sich. Wird er mich zum Abschied küssen, fragte sie sich mit steigender Erregung.

Aber nichts dergleichen geschah. Höflich half er ihr in den Mantel, dabei bedankte er sich dafür, dass sie ihm an diesem Abend Gesellschaft geleistet hatte.

»Gern geschehen«, erwiderte sie kühl und reichte ihm die Hand, die er kameradschaftlich drückte.

Jedenfalls benimmt sich so kein verliebter Mann, sagte sie sich, doch dann schob sie seine Zurückhaltung auf seine Müdigkeit. Morgen würde sie ihn davon überzeugen, dass man eine Frau wie sie nicht so schnell vergaß.

Als Eberhard die Kette vor die Wohnungstür hängte, atmete er erleichtert auf. So charmant und unterhaltsam Ursula auch sein konnte, manchmal ging sie ihm doch sehr auf die Nerven. Sie gehörte zu den anstrengenden Frauen, bei denen ein Mann sich niemals entspannen konnte. Auch wurde er das Gefühl nicht los, dass sie sich mehr von ihm erhoffte als nur reine Freundschaft. Aber noch liebte er Ina …

*

Petra schlug die Augen auf. Verwirrt setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Das fremde Zimmer jagte ihr Schrecken ein. Große Tränen liefen über ihre Wangen, als sie an ihre liebe Großmama dachte, die sie jeden Morgen mit einem Kuss geweckt hatte.

Es war schon so, wie Großmama gesagt hatte: Mutti liebte sie nicht. Sonst hätte sie sie nicht allein in dem Kinderheim zurückgelassen.

Als Petra das Fell ihres Teddybären berührte, lächelte sie unter Tränen. Zärtlich nahm sie das Stofftier in die Arme und flüsterte: »Teddy, was sollen wir nur machen? Sollen wir vielleicht fortlaufen? Oder wird Mutti doch bald wiederkommen? Vielleicht hat sie es sich überlegt und holt uns heute wieder ab?«

Isabel war durch Petras Flüstern wach geworden. »Guten Morgen«, sagte sie fröhlich. »Hast du gut geschlafen?« Sie schob die Bettdecke zurück und setzte sich auf den Bettrand, um ihre Pantöffelchen anzuziehen.

»Weiß nicht.«

»Hast du geträumt? Man sagt doch, was man in der ersten Nacht in einem anderen Haus träumt, geht in Erfüllung.«

»Ich weiß nicht, was ich geträumt habe. Ich will wieder nach Hause«, erklärte Petra weinerlich.

»Pass auf, es wird dir heute schon recht gut bei uns gefallen.«

»Niemals wird es mir hier gefallen«, trotzte Petra.

»Aber warum denn nicht? Es ist ein großes Glück, dass du nach Sophienlust gekommen bist, Petra«, bemerkte Isabel fast feierlich und stand auf. »Sophienlust ist das schönste Kinderheim auf der ganzen Welt. Eigentlich ist es kein richtiges Kinderheim, sondern eine Zufluchtsstätte für alle Menschen, die einen schweren Kummer haben und nicht mehr weiterwissen im Leben.«

»Wirklich?« Isabels Worte über Sophienlust beeindruckten Petra immerhin so weit, dass sie sich für ihre neue Umgebung zu interessieren begann. »Warum ist das denn hier so?«, fragte sie neugierig.

»Warum? Ja, weil hier niemand fragt, woher ein Mensch kommt. Alle sind sehr lieb, und keiner will mehr etwas Böses tun, wenn er ein Weilchen bei uns ist. Weißt du, Sophienlust wurde von einer guten Fee erbaut. Ja, so muss es gewesen sein«, fügte Isabel gedankenverloren hinzu.

»Ist das ein Märchen?« Petras Augen strahlten plötzlich. Großmama hatte ihr die schönsten Märchen erzählt. Stundenlang hatte sie ihr zuhören können.

»Ein Märchen?« Ein verträumter Ausdruck trat in die dunklen Mädchenaugen.

»Dann erzähl mir doch das Märchen von der guten Fee«, bat Petra begeistert und vergaß ihren Kummer.

»Heute nicht, Petra. Ich muss zur Schule.«

»Ach so.« Petras glückliche Stimmung war schon wieder verflogen. Doch beim Frühstück griff sie tüchtig zu, denn sie hatte großen Hunger. Wie jeden Morgen ging es im Speisesaal lustig zu, sodass Petra sich plötzlich recht wohlfühlte. Es war doch etwas Schönes, mit so vielen Kindern beisammen zu sein, dachte sie und lief dann mit den noch nicht schulpflichtigen Kindern hinaus, um dem roten Schulbus, der zur Dorfschule fuhr, nachzublicken. Der zweite Bus, der die Gymnasiasten in die Stadt brachte, war längst abgefahren.

Carola, die sich an diesem Vormittag um die kleineren Kinder kümmern musste, weil Schwester Gretli ihren freien Tag hatte, blickte zum Himmel empor. »Kommt schnell ins Haus!«, rief sie munter. »Es fängt schon wieder zu regnen an. Wir gehen in den Bastelraum.«

Petra folgte den anderen Kindern neugierig in den Bastelraum. »Was macht man denn hier?«, wollte sie wissen.

»Basteln, Petra«, lächelte Carola.

»Basteln?«

»Ja, manchmal kneten wir mit Plastilin, oder wir machen Laubsägearbeiten.«

»Wir dürfen auch malen und zeichnen«, erzählte ein kleiner Junge voller Eifer.

Petra nickte. Sie wollte etwas aus Plastilin machen und sagte das auch Carola, die ihr daraufhin eine kleine Schachtel mit bunten Plastilinröllchen gab. »Was willst du denn modellieren?«

»Modellieren? Was ist denn das?«

»Kneten«, erklärte ihr Carola. »Hast du schon eine Idee?«

»O ja, ich möchte gern deinen Mutzi kneten.«

»Gut, Petra.«

Bald wurde es ganz still in dem Raum. Mit glänzenden Augen und roten Bäckchen arbeiteten die Kinder eifrig an ihren kleinen Arbeiten. Petras rosa Zungenspitze fuhr immer wieder über ihre Lippen vor Begeisterung über diese neuartige Beschäftigung.

Als ihr Kunstwerk fertig war, glühten ihre Wangen vor Glück. »Schau doch!«, rief sie. »Das ist Mutzi.«

Carola lächelte gerührt über Petras Freude, als sie ihr die Arbeit zeigte. Mit viel Fantasie konnte man sogar eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Kater Mutzi feststellen.

»Sehr schön hast du das gemacht«, lobte Carola lächelnd und betrachtete die kleine Figur von allen Seiten.

»Und jetzt mache ich ein Pony. Vielleicht das Fohlen mit dem hellen Fell. Schau, da kann ich das Plastilin nehmen.«

»Ja, Petra.« Carola ging weiter zu einem anderen Kind.

Der Regen peitschte gegen die großen Fensterscheiben, aber in dem Raum war es gemütlich warm. Petra gefiel es auf einmal sehr gut in Sophienlust. So lustig wie hier war es nicht einmal bei der lieben Großmama gewesen, fand sie und betrachtete dann stolz das Fohlen, das ihr besser gelungen war als der Kater.