E-Book: 47 - 52 - Judy Morland - E-Book

E-Book: 47 - 52 E-Book

Judy Morland

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. E-Book 47: Gefahren einer Schatzsuche E-Book 48: Geheimnisvolles Haus am Meer E-Book 49: Engel am Abgrund E-Book 50: Verbündete des Grauens E-Book 51: Die Sage um Captain Wratt E-Book 52: Das Testament der Lady Abigail E-Book 1: Gefahren einer Schatzsuche E-Book 2: Geheimnisvolles Haus am Meer E-Book 3: Engel am Abgrund E-Book 4: Verbündete des Grauens E-Book 5: Die Sage um Captain Wratt E-Book 6: Das Testament der Lady Abigail

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Inhalt

Gefahren einer Schatzsuche

Geheimnisvolles Haus am Meer

Engel am Abgrund

Verbündete des Grauens

Die Sage um Captain Wratt

Das Testament der Lady Abigail

Irrlicht – Jubiläumsbox 9 –

E-Book: 47 - 52

Judy Morland Gabriela Stein Anne de Groot Elisa Raven

Gefahren einer Schatzsuche

Unheil und Hass waren die teuflischen Begleiter

Roman von Judy Morland

Der Mann war nur noch einen Schritt von Julia entfernt. Sie stieß mit dem Rücken an einen Baumstamm und konnte nicht weiter zurückweichen. Der kräftige, wutentbrannte Mann stand in Furcht einflößender Haltung vor ihr. Er legte seine riesigen Hände um ihren Hals. Julia versuchte, sich seiner Umklammerung zu entziehen. Sie wand sich verzweifelt in seinen grausamen Händen. Langsam schwanden ihr die Sinne …

»Uff, endlich geschafft!« Julia ließ sich stöhnend in den Sessel fallen. Ihr verletzter Knöchel schmerzte noch immer. Außerdem war sie ganz erledigt von der Hitze und der schlechten Luft, die im Auto geherrscht hatten.

»Zum Glück ist das Bein wenigstens nicht gebrochen«, sagte Sandra nun schon zum dritten Mal. Sie holte einen Hocker und legte vorsichtig das verletzte Bein ihrer Freundin darauf.

Tröstend mischte sich jetzt auch Christine ein: »Der Arzt meint, in ein paar Tagen kannst du wieder laufen. Jetzt schonst du dich eben ein wenig, dann wird es schon wieder gehen. Wir ändern unser Programm einfach und faulenzen während der nächsten Tage.«

»Warum musste ich mich auch so blöd anstellen?«, ärgerte sich Julia über sich selbst. »Damit verpatze ich uns den ganzen Urlaub.«

Sie hätte am liebsten geweint. Es war aber auch zum Heulen. Dieser Unfall brachte ihre Urlaubspläne total durcheinander.

Die drei Mädchen hatten ein riesiges Programm ausgearbeitet. Mit ungeheurem Elan hatten sie sich vorgenommen, sämtliche Sehenswürdigkeiten der Toskana eingehend zu besichtigen, und nun saß Julia hier fest und konnte nur mühsam humpeln.

*

Es hatte alles so schön begonnen. Voller Erwartungen hatten die drei Freundinnen diesen unverhofften Urlaub angetreten.

Christines Eltern hatten einen Bungalow in der Toskana gebucht. Kurz vor Antritt der Reise hatte sich Christines Mutter den Arm gebrochen. Die Buchung war nicht mehr rückgängig zu machen. Als Christine ihren Freundinnen davon erzählte, hatte Sandra sofort geschaltet. Nach einigem Hin und Her waren die drei Mädchen begeistert von der Idee, anstelle von Christines Eltern in die Toskana zu fahren und in dem kleinen Bungalow zu wohnen.

Sie fuhren in Julias Auto. Als sie ankamen, bestaunten sie die herrliche Landschaft, die sich im verheißungsvollen Licht der Abendsonne darbot. Sprachlos standen sie vor dem kleinen Häuschen. Es war reizend. Wie hingeduckt unter hohen Bäumen stand es ein wenig abseits am Straßenrand und schien die Mädchen einzuladen näher zu kommen.

Die Inneneinrichtung war allerdings etwas spärlich, und das Sofa, auf dem Sandra schlafen musste, da nur zwei Betten vorhanden waren, war zu kurz und sehr schmal. Dafür wurden sie vom Garten entschädigt.

Die drei Mädchen erklärten sofort einstimmig, dass sie sich wohl die meiste Zeit auf der Terrasse aufhalten würden. Sie war überdacht und mit blühenden Rankgewächsen bewachsen. Von hier aus sah man die herrlichen, uralten Bäume eines riesigen, total verwilderten Parks, der gleich hinter dem Häuschen begann.

Obwohl es erst Anfang Mai war, schien die Sonne schon sehr heiß und ließ die friedlichen, von kleinen Sonnenflecken durchdrungenen Schatten der uralten Baumriesen noch reizvoller erscheinen.

Bereits am Tag nach ihrer Ankunft war es passiert. Neugierig und voller Tatendrang waren die drei Freundinnen herumgestrolcht, um zunächst die nähere Umgebung zu erkunden. Sie waren durch die kleine verschlafene Ortschaft geschlendert, deren alte Häuser und kleine Weinberge aussahen wie aus einem anderen Jahrhundert, und hatten dann, als es auf der Straße zu heiß wurde, den verwilderten Park erforscht.

Es war nicht einfach, sich einen Weg durch das wuchernde Unterholz zu bahnen. Zähe Ranken und hartnäckige Sträucher hatten die Wege größtenteils überwuchert. Die Mädchen zerkratzten sich ihre nackten Beine an dem dornigen Gestrüpp. Doch das konnte ihre gute Laune nicht beeinträchtigen. Sie hatten ein beträchtliches Stück des unwegsamen Geländes durchstreift, ehe sie zu einem Gebäude kamen, zu dem der Park ganz offensichtlich gehörte. Auf ihrem Weg waren sie an Skulpturen und stillgelegten Springbrunnen, an Steinbänken und von wildwuchernden Pflanzen überdachten Sitzplätzen vorbeigekommen.

Das wuchtige, frei stehende Haus, an dem sämtliche Läden geschlossen waren, war vor langer Zeit bestimmt einmal eine herrschaftliche Villa gewesen. Jetzt wirkte es ein wenig verwahrlost. Die verwitterten hölzernen Fensterläden waren geschlossen. Sie hingen schief in den Angeln und gaben dem Haus das Aussehen eines verwunschenen Märchenschlosses. Obwohl es heruntergekommen und vernachlässigt aussah, konnte man ahnen, dass es einst prunkvoll und großartig gewesen war. Vermutlich war es seit Langem unbewohnt.

Auf dem Rückweg zu ihrem Ferienhaus hatten die drei Mädchen ein halb verfallenes, kleines Gebäude entdeckt. Neugierig waren sie eingetreten. In Augenhöhe stand eine Madonnenfigur, deren Farbe überall abblätterte. Ein Betschemel, der noch verhältnismäßig neu war, stand davor.

»Das ist eine kleine Gebetskapelle«, vermutete Christine. »Die Italiener sind doch angeblich sehr fromm.«

Julia war übermütig auf ein schmales Mäuerchen geklettert, das einst Teil dieser Kapelle gewesen war. Lachend, mit weit ausgebreiteten Armen, hatte sie kurz auf diesem schmalen Mauerrest balanciert, hatte dann das Gleichgewicht verloren und war hastig von der Mauer gesprungen. Dabei war sie mit dem linken Fuß so unglücklich auf der Kante einer efeuüberwucherten Steinstufe gelandet, dass sie vor Schmerz aufgeschrien hatte. Sie war nicht mehr in der Lage gewesen aufzutreten.

Die Freundinnen hatten sie unter einigen Mühen zu einem Arzt gebracht. Dieser hatte festgestellt, dass nichts gebrochen war, das Bein fachgerecht verbunden und Ruhe verordnet.

Da saß sie nun! Ade, schöne Urlaubspläne! Julia war verzweifelt.

*

Am nächsten Morgen sah die Welt wieder etwas freundlicher aus. Nach einigen Stunden Schlaf und einem guten Frühstück war die Aussicht, einige Tage faul hier in dem herrlichen Park herumzuliegen, gar nicht mehr so deprimierend.

»Außerdem haben wir noch fast drei Wochen Urlaub vor uns«, beschwichtigte Christine ihre Freundin Julia. »Dein verletzter Knöchel wird sicher in ein paar Tagen so weit geheilt sein, dass du ohne große Beschwerden gehen kannst.«

Julia bestand darauf, dass ihre Freundinnen nicht tatenlos bei ihr herumsaßen. Sie drängte: »Fahrt ruhig ohne mich los. Ich bin froh, wenn ich euch den Urlaub durch meinen ungeschickten Leichtsinn nicht verderbe. Hier habe ich es bequem. Es ist mir wirklich lieber, wenn ich weiß, dass ich euch nicht zur Last falle.«

Nach einer kurzen Beratung stellten sie ihr Programm um. »Die wichtigen Sehenswürdigkeiten werden wir uns bis zuletzt aufheben. Julia kann dann mit Sicherheit auch wieder laufen«, schlug Sandra vor.

Julia stimmte zu: »Während der nächsten Tage könnt ihr beide euch die Gegend ein wenig ansehen. Es macht mir wirklich nichts aus, allein hierzubleiben.«

Nachdem sie Julia, die es sich auf der Terrasse in einem Liegestuhl bequem gemacht hatte, mit Getränken, Lesestoff und guten Ratschlägen versorgt hatten, bestiegen Christine und Sandra das Auto und brausten davon.

Wohlig rekelte sich das verletzte Mädchen in ihrem Liegestuhl. Hier konnte sie es einige Tage aushalten. Ihr Bein schmerzte nur noch, wenn sie es bewegte. In der südländischen Idylle dieses Ortes entspannte sie sich. Sie hörte die Vögel zwitschern und das Gesumm der Insekten. Die Ruhe tat ihr gut. Die letzten Tag waren sehr hektisch gewesen. Nun genoss sie die friedvolle Stille und Abgeschiedenheit. Selbst zum Lesen war sie zu faul.

Angenehm entspannt döste sie vor sich hin. Rings um sie waren nur Bäume und Sträucher. Von ihrem Platz aus konnte sie das nur noch teilweise erhaltene Dach der kleinen Kapelle sehen, auf deren Mauer sie abgerutscht war. Sie überlegte, aus welchem Material dieses Dach sein könnte. Es flimmerte und glänzte in der Sonne.

Plötzlich war alles wie verändert. Sie blinzelte. Die Bäume sahen ganz anders aus. Sie schienen jünger und zum Teil kleiner geworden zu sein.

Das dichte Unterholz, das die Wege überwuchert hatte, war verschwunden. Auch ganz andersartige Geräusche drangen an ihr Ohr.

Die gedämpften Motorengeräusche, die von der Straße hereingedrungen waren, waren mit einem Mal verschwunden. Von fern hörte sie fröhliches Kinderlachen.

Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was sich geändert hatte, aber irgendetwas war anders als zuvor.

Eigentlich wollte sie darüber nachdenken, was nun so plötzlich verändert war, aber sie wurde entsetzlich müde. Die Augen fielen ihr zu.

*

Julia erwachte vom Lärm der zurückkehrenden Freundinnen. Diese hatten Obst und Kuchen mitgebracht und setzten sich zu ihr auf die Terrasse zu einem verspäteten, improvisierten Mittagessen. Fröhlich und munter kauend saßen sie beisammen. Julia betrachtete aufmerksam die Bäume und das Unterholz. Es war alles wie immer, verwildert und uralt. Sie schüttelte unwillig die Erinnerung an die Veränderung ihrer Umgebung ab. Vermutlich hatte sie nur geträumt.

Die Freundinnen plauderten von ihrer Fahrt durch die Hügellandschaft.

»Die ganze Gegend ist sehenswert. Die Straße windet sich malerisch durch die blühende, üppige Landschaft. An manchen Stellen hatten wir eine herrliche Aussicht. Christine fotografierte wie verrückt. Ich musste dauernd anhalten, damit sie die unvergleichlichen Eindrücke auf ihrem Film festhalten konnte. Wenn du nichts dagegen hast, fahren wir noch einmal los, nachdem wir uns ein wenig ausgeruht haben. Wir bringen dann gleich das Abendessen mit. Ich habe eine Pizzeria in der Nähe entdeckt, die sehr einladend aussieht«, erklärte Sandra begeistert.

»Fahrt nur ruhig«, erwiderte Julia, von der übermütigen Laune ihrer Freundinnen angesteckt. »Ich bin froh, wenn ihr euch durch mich Invaliden nicht in euren Unternehmungen stören lasst. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich euch den Urlaub verderben würde. Es ist wunderschön hier. Mir tut es eigentlich sehr gut, einmal so richtig auszuspannen und zu faulenzen. Wenn ich recht bedenke, finde ich die Aussicht, hier eine Weile untätig herumzuhängen, gar nicht mehr so unangenehm.«

Nach dem Mahl holten sich die beiden Mädchen ihre Liegestühle und leisteten Julia einige Stunden Gesellschaft. Dann brachen sie wieder auf. Julia blieb allein zurück und war überhaupt nicht traurig darüber.

Die ganze Welt schien in trägem Schlummer zu liegen. Ringsum herrschte eine Stille, die fast greifbar war. Wie in allen südlichen Ländern hielt die Bevölkerung ihre Mittagsruhe. Kein Auto, kein Radiogeheul, keine lauten Stimmen waren zu hören. Selbst die Vögel und die Insekten schienen zu schlafen.

Julia, die an den ständigen Geräuschpegel der Stadt gewöhnt war, registrierte diese angenehme, tiefe Stille eher als störend. Sie vermisste den Stadtlärm. Kurz dachte sie daran, den mitgebrachten Radioapparat zu holen und einzuschalten, aber sie war zu faul, um aufzustehen.

Christine und Sandra hatten ihr Buch neben den Liegestuhl gelegt, ehe sie verschwunden waren. Julia las ein wenig. Doch schon bald ließ sie das Buch sinken. Sie konnte sich nicht auf den Inhalt der Erzählung konzentrieren.

Ihr Blick fiel wieder auf das glänzende, glitzernde Dach der verfallenen Kapelle, und da geschah es erneut.

Alles war mit einem Schlag verändert. Die Kinderstimmen waren wieder zu hören, und der Park hatte sein Aussehen verändert.

Erstaunt richtete sich Julia ein wenig auf. Was war geschehen?

Jetzt kam ein Mann zwischen den Bäumen hervor. Er war groß und schlank und ungemein attraktiv. Dichtes schwarzes Haar lockte sich widerspenstig um sein rassiges, anziehendes Gesicht. Sein kleines Bärtchen wirkte ein wenig grotesk, passte aber sehr gut zu dem Kostüm, das er trug. Es hätte aus einem anderen Jahrhundert sein können.

Komisch, so auffallend gekleidet im Park herumzulaufen! Vielleicht wurde hier irgendwo ein Film gedreht. Oder der junge Mann ging zu Proben für irgendein Heimatfest, bei dem die alten Trachten getragen wurden.

Erst schien es, als würde er auf sie zugehen, doch dann bemerkte sie, dass er einen anderen Weg nahm. Er hatte sie nicht gesehen.

Die Abzweigung, in die der Fremde einbog, hatten Julia und ihre Freundinnen auf ihrem Spaziergang nicht entdeckt. Aber gestern waren ja auch die Wege total verwachsen gewesen. Im Moment schienen sie gepflegt und in einwandfreiem Zustand.

Bald war der Mann ihren Blicken entschwunden. Lange Zeit regte sich nichts. Dann tauchte der Fremde aus der Richtung, in die er gegangen war, begleitet von zwei jungen Frauen, die eifrig auf ihn einredeten, wieder auf.

Auch die beiden Frauen trugen aufwendige Kostüme. Bewundernd betrachtete Julia die Haarpracht der Frauen. Es musste Stunden dauern, bis eine solche Frisur richtig saß. Leider kamen sie nicht näher. Sie gingen in Richtung Herrenhaus.

Als sie etwas später halb eingenickt war, hatte Julia undeutlich das Gefühl, dass sie nicht auf dem weichgepolsterten Liegestuhl, sondern auf Holz lag. Aber sie schlief ein, ohne weiter nachzuforschen.

Christine und Sandra waren bester Laune. Sie berichteten nach jedem Ausflug begeistert, was sie gesehen hatten. Julia ärgerte sich manchmal, dass sie nicht mit ihnen gehen konnte, ließ sich aber nichts anmerken. Die meiste Zeit verbrachte sie faul und schläfrig im Liegestuhl. Sie konnte bereits kurze Strecken zurücklegen. Zwar humpelte sie noch mühsam, hatte aber dabei keine allzu großen Schmerzen. Bald würde sie wieder gehen können.

Wenn ihre Freundinnen anwesend waren, sah der Park verwildert und uralt aus. War sie dagegen allein, veränderte er sich und wirkte gepflegt und sehr ordentlich. Das Ganze wurde ihr langsam unheimlich.

*

Schon am Vormittag des nächsten Tages tauchten die Fremden in ihrer altertümlichen Kleidung wieder auf. Diesmal kamen sie näher heran.

Julia konnte sie ganz deutlich sehen. Ihre alten Kostüme waren großartig, aber es handelte sich ganz offensichtlich nicht um irgendwelche ländlichen Trachten. Eher glichen sie sehr eleganten Kleidern, wie adlige und reiche Leute sie vor Jahrhunderten getragen hatten. Julia konnte nicht sagen, aus welcher Zeit sie stammten. Sie kannte sich leider nicht so genau mit den einzelnen Epochen und Stilrichtungen aus.

Der attraktive junge Mann hatte sie entdeckt. Er winkte erfreut in ihre Richtung und rief ihr etwas zu. Sie konnte ihn nicht verstehen. Höflich hob sie den Arm und winkte lächelnd zurück. Die weiße Spitze ihres Kleides leuchtete im Sonnenlicht.

Darauf wandte sich der junge Mann in Julias Richtung. Eine der beiden Frauen, die ihn auch heute wieder begleiteten, fasste ihn energisch beim Arm und hielt ihn zurück. Sie redete eifrig auf ihn ein und schüttelte mehrmals aufgebracht den Kopf. Worüber sie redeten, konnte Julia nicht verstehen, dazu waren sie zu weit entfernt.

Stunde um Stunde lag sie allein auf der schattigen Terrasse. Die dicke Frau brachte ihr wieder ein sehr schmackhaftes Mittagessen. Danach schlief sie ein.

*

Als sie erwachte, hörte sie Autolärm. Daran erkannte sie, dass sie in der Gegenwart war. Dem Stand der Sonne nach war es später Nachmittag.

Amüsiert dachte sie an die Begegnung mit den Kostümierten zurück. Lächelnd über ihre Fantasie schalt sie sich selbst einen Narren.

Urplötzlich erschrak sie zutiefst. Obwohl sie genau wusste, dass sie am Vormittag nur einen Bikini getragen hatte, war der weiße Ärmel ihres Kleides, als sie ihren Arm hochhob, zurückgerutscht. Sie hatte nicht darauf geachtet. Aber jetzt kam es ihr wieder in den Sinn. Sie sah an sich hinunter.

Nein, sie trug ihren Bikini. »Hirngespinste!«, sagte sie laut.

*

Die Dachspitze der Kapelle zog ihren Blick magisch an. Sie nahm sich vor, noch einmal hinzugehen und diese Ruine genau zu untersuchen, sobald sie ihr Bein wieder belasten durfte.

»Warum sind Sie zurückgekommen? Sie hätten nicht kommen sollen!«, sagte plötzlich eine Stimme ganz nahe neben ihr auf Italienisch. Julia erschrak. Sie hatte niemanden kommen sehen.

Ein kleiner grauhaariger Mann stand neben ihr und tadelte sie mit vorwurfsvoller Stimme: »Warum sind Sie nicht geblieben, wo Sie waren? Das wird kein gutes Ende nehmen.«

»Aber ich mache hier Urlaub mit meinen Freundinnen«, verteidigte sich Julia, obwohl ihr nicht klar war, was der Alte ihr vorwarf.

Sie sprach sehr gut Italienisch, da ihre Mutter eine geborene Italienerin war und sich oft auf Italienisch mit ihr unterhielt.

Der Fremde, ein älterer Mann, lief ebenfalls im Kostüm eines längst vergangenen Zeitalters herum. Allerdings war seine Kleidung nicht so prunkvoll und aufwendig.

Aufgeregt wiederholte er: »Urlaub! Dass ich nicht lache! Wenn der Padrone Sie hier findet, wird er kurzen Prozess machen.«

Verständnislos starrte Julia den kleinen Mann an. Dieser änderte seine Taktik. Nun hob er bittend die Hände und bat eindringlich: »Bitte, Signora Giulia, hören Sie auf meinen Rat. Gehen Sie von hier fort, ehe es zu spät ist. Sie haben doch dem alten Sergio stets vertraut. Warum wollen Sie jetzt nicht mehr auf mich hören?« Mit weinerlicher Stimme flehte er sie an: »Geben Sie dem Padrone sein Eigentum zurück. Mit Gewalt werden Sie nichts erreichen. Und unseren jungen Signor Salvatore machen Sie ebenfalls unglücklich. Bitte, reisen Sie ab, so schnell es geht.«

Julia wusste nicht, was der Mann wollte. Wieso kannte er überhaupt ihren Namen? Wie kam er hierher? Was hatte er hier zu suchen? Und wieso wollte er, dass sie abreiste?

Eindringlich bettelnd wiederholte er: »Bitte, Signora Giulia, hören Sie auf den gut gemeinten Rat des alten Sergio. Geben Sie alles zurück und reisen Sie ab.«

Julia wusste nicht, was sie von dem unzusammenhängenden Gejammer des Alten halten sollte. Unsicher sah sie dem Mann nach, als er sich grußlos umdrehte und in Richtung Straße davonschlurfte.

Aber was war das? Vor Schreck und Entsetzen blieb ihr fast das Herz stehen.

Hinter ihr stand nicht der Bungalow, den sie gemietet hatten, sondern ein völlig anderes Gebäude. Es war langgezogen, niedrig und aus grauem Stein gehauen. Nun sah sie auch, dass die Terrasse von Rosen umgeben war. Wo vorher nur Unkraut wuchs, prangte jetzt ein gepflegter, üppig blühender Garten. Anstelle der modernen Liegestühle bemerkte sie eine reich verzierte hölzerne Bank.

Ihr erster Impuls war aufzuspringen. Aber bei der unbedachten Bewegung machte sich ihr verletztes Bein schmerzhaft bemerkbar. Es tat so weh, dass sie sich sofort wieder auf das hölzerne Lattengestell zurückgleiten ließ, von dem sie hochgefahren war. Der Schmerz umnebelte ihr Gehirn. Alles verschwamm und wurde dunkel um sie.

*

Sie erwachte in ihrem Liegestuhl. Der kleine Bungalow stand geduckt unter den hohen Bäumen wie immer. Der Garten war verwildert, und nirgends waren Leute mit altertümlicher Kleidung zu sehen. Sie musste geträumt haben!

Nur ihr Bein war Wirklichkeit. In ihrem Knöchel tobte und pochte es.

Völlig verwirrt dachte sie nach. Nein, es konnte nur ein Traum gewesen sein. Vermutlich hatte sie den Fuß im Schlaf bewegt, und nun schmerzte er wieder.

An diesem Abend tat ihr das verletzte Bein, mit dem sie am Morgen schon kurze Strecken schmerzfrei zurückgelegt hatte, wieder entsetzlich weh. Deshalb musste sie auch den nächsten Tag im Liegestuhl verbringen.

Da Julia tagsüber nur faul herumlag, konnte sie nachts nicht richtig schlafen. Sie lag wach und hörte auf den Wind, der ums Haus pfiff. Ihre Gedanken waren bei den unheimlichen Vorgängen, die sie in den letzten Tagen erlebte. Grübelnd lag sie im Bett. Was sollte sie tun? Hatte es einen Sinn, sich jemandem anzuvertrauen? Niemand würde ihr glauben. Sie würde sich nur lächerlich machen mit ihrer unwahrscheinlichen Geschichte.

Es stürmte stundenlang, doch als Julia nach einem kurzen, unruhigen Schlaf am Morgen erwachte, schien wieder die Sonne vom wolkenlosen Himmel.

Christine und Sandra beabsichtigten, an den Strand zu fahren. Sie saßen über die Straßenkarte gebeugt und suchten die günstigste Strecke.

»Wir werden fast eine ganze Stunde für die Anfahrt benötigen. Es ist eigentlich zu weit für eine Halbtagstour«, überlegte Sandra laut.

Christine nickte mit dem Kopf. »Wenn Julia mitkommen könnte, würden wir den ganzen Tag dort bleiben. Die weite Autofahrt lohnt nicht, um nur kurz im Meer zu baden.«

»Also fahren wir nicht zum Meer.«

Unsicher blickte Sandra zu Julia und fragte zaghaft: »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir dich heute den ganzen Tag allein lassen?«

Julia schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht«, beteuerte sie. »In meinem Liegestuhl fühle ich mich sehr wohl. Und wenn mir langweilig wird, kann ich lesen.«

Christine zögerte noch. Mit all ihrer Überredungskunst bestärkte Julia die beiden in ihrem Entschluss, bis zum Abend wegzubleiben.

*

Julia horchte auf das Geräusch von Sandras davonfahrenden Auto. Dann richtete sie ihren Blick leise seufzend auf den friedlichen Park mit seinen dunkelgrünen Baumriesen und dem glänzenden Kapellendach dazwischen. Mit einem Mal veränderte sich ihre Umgebung wieder.

Entsetzt blickte sie sich um. Was war nur los? Wurde sie verrückt? Oder schlief sie und hielt ihren Traum für Wirklichkeit?

Diesmal war es nicht so ruhig wie sonst. Stimmen drangen zu ihr. Ein Hund bellte.

Als sie sich umblickte, entdeckte sie den Alten, der sie am Vortag gewarnt hatte. Sergio lächelte ihr sorgenvoll zu und kam, als sie zurücklächelte, langsam näher.

Er begrüßte sie langatmig und berichtete dann: »Den Brief, den Sie mir gestern für den Padrone mitgaben, habe ich überbracht. Wie nicht anders zu erwarten, tobte er furchtbar vor Wut. Die nächsten Tage hat er in Florenz zu tun. Aber sobald seine Geschäfte abgeschlossen sind, will er sich mit Ihnen befassen. Ich ahne nichts Gutes. Bitte, Signora Giulia, überlegen Sie sich die Sache noch einmal.«

Julia sah ihn verständnislos an. Hier musste ein Irrtum vorliegen. Sie hatte niemals einen Brief an diesen mysteriösen Padrone geschrieben.

Der alte Mann ließ sie nicht zu Wort kommen. Beschwörend bat er sie erneut, so schnell wie möglich abzureisen. Dann fügte er noch sorgenvoll hinzu: »Der Padrone hat streng verboten, Signor Salvatore von Ihrer Anwesenheit zu unterrichten. Er würde ihn am liebsten wegschicken, damit er nicht mit Ihnen zusammentrifft. Aber das geht momentan schlecht, weil Salvatores Sohn übermorgen getauft wird. Das wird ein Fest! Ganz Florenz steht Kopf.«

Ausführlich schilderte er die Festvorbereitungen und redete und redete. Wie es bei Südländern üblich ist, waren dabei seine Hände und sein ganzer Körper ständig in Bewegung. Julia hörte ihm ergeben zu. Es hatte keinen Sinn, ihn zu unterbrechen. Scheinbar war dieser Sergio ein wenig wirr im Kopf. Er sah allerdings harmlos aus.

Ohne richtig auf seine Worte zu achten, sah sich Julia um. Wie schon mehrmals hatte sich wieder alles verändert. Sie sah den gepflegten Park, das graue Steinhaus und die Holzbänke. Überrascht bemerkte sie, dass auch sie sich verändert hatte. Sie trug ein weit ausladendes, altertümliches weißes Kleid, das verschwenderisch mit kostbaren Spitzen besetzt war. Ihr rechter Fuß steckte in einem zierlichen Satinschuh, doch ihr linkes Bein war dick verbunden. Was hatte das alles zu bedeuten?

In dem langgezogenen Steinhaus, das jetzt anstelle des kleinen Bungalows stand, wurde es unruhig. Kindergeschrei und eine Frauenstimme waren zu hören.

Die Terrassentür wurde schwungvoll geöffnet. Eine ältere, dicke Frau mit einer Schürze trat heraus. Auf dem Arm trug sie ein kleines Kind. Als das Kind Julia erblickte, strahlte es übers ganze ausdrucksvolle Gesichtchen und streckte seine Arme nach ihr aus. »Mama«, jubelte es laut.

Die dicke Frau ging direkt auf Julia zu und setzte ihr das Kind mit freundlicher Geste auf den Schoß. Das äußerst lebhafte Kindchen mochte etwa zwei Jahre alt sein. Es war verpackt in jede Menge Spitzen und Rüschen und sah darin ganz allerliebst aus.

Julia brachte es nicht übers Herz, die Freude des Kindes zu zerstören. Darum nahm sie es liebevoll in ihre Arme.

Der alte Sergio schlurfte ins Haus, und auch die Frau ging, nachdem sie gefragt hatte, ob die Signora noch irgendwelche Wünsche hätte, zurück ins Haus.

Da saß Julia nun und hatte ein fremdes Kind im Arm, das sie »Mama« nannte.

Gedankenverloren spielte sie mit dem Kind. Ihr fiel ein altes italienisches Kinderlied ein, das ihr die Mutter früher oft vorgesungen hatte. Leise sang sie es. Das kleine Kind auf ihrem Schoß klatschte vor Vergnügen in die Hände und bat: »Noch einmal, bitte noch einmal!«

Während sie automatisch sang, wanderten ihre Gedanken. Was war nur geschehen? Sie kam sich vor, als wäre sie in eine andere Zeit versetzt. Träumte sie das alles nur?

Das Kind lenkte sie von ihren grübelnden Überlegungen ab. Es plapperte eifrig und versuchte, ihr etwas zu erzählen. »Tlina mitgehen. Droße Fest«, verstand Julia.

»Ein großes Fest?«, fragte sie die Kleine, die eifrig nickte und weitererzählte. Leider konnte Julia nicht verstehen, was sie meinte. Doch sie wusste bereits von Sergio, dass ein Tauffest bevorstand. Der kleine Sohn von Salvatore sollte getauft werden. Vermutlich sprach die Kleine davon.

Unruhig hopste das Kind auf ihr herum und ließ sich schließlich von der Liege gleiten. Es lief zum Rand der mit Steinen belegten Terrasse und spielte dort mit Grashalmen und kleinen Steinchen.

Julia glaubte zu träumen. Sie zwickte sich in den Arm. Aber das Trugbild verschwand nicht. Wieso war sie in dieser fremden, unbekannten Umgebung, in der sie jeder zu kennen schien? Es musste irgendetwas mit dem Kapellendach zu tun haben. Immer wenn sie es anblickte, veränderte sich ihre Umwelt auf erschreckende Weise. Julia hatte Angst.

Sie schaute zum Kapellendach. Aber – was war das? Das goldglänzende Kuppeldach der Kapelle war nicht zu sehen. Obwohl die Bäume kleiner waren als zuvor, war nirgends eine Kapelle zu erblicken.

Langsam kroch das Entsetzen in Julias Gehirn. Das ging nicht mit rechten Dingen zu.

Das Kind lenkte sie ab. Es wollte mit ihr spielen. Julia beruhigte sich nur mühsam. Sie kannte sich nicht mehr aus. Wie konnte sie wieder in ihre gewohnte Welt zurückgelangen?

Mit halb unterwürfigem, halb vertrautem Lächeln kam die Frau, die das Kind gebracht hatte, aus dem Haus und teilte mit: »Das Mädchen, das in der Küche helfen soll, ist angekommen.«

Energisch wandte sich die dicke Frau, ohne auf eine Antwort zu warten, zum Haus und sagte freundlich: »Komm, Donatella, die Signora will dich sehen.«

Hinter ihr erschien ein schmächtiges, verschüchtertes Mädchen in der Tür.

»Das ist Donatella«, stellte die dicke Frau das Mädchen vor, das linkisch an der Tür stehen blieb. »Sie ist fleißig und anständig«, versicherte sie, als Julia nichts darauf antwortete.

Julia wusste nicht, was von ihr erwartet wurde. Sie war noch immer in ihrem Grauen über die Entdeckung gefangen, dass sie stets, wenn sie allein war, in eine andere Zeit glitt. So nickte sie nur stumm.

Das schien zu genügen.

»Dann werde ich ihr gleich alles zeigen«, sagte die dicke Frau eifrig und nahm das Mädchen mit ins Haus.

Julia konnte hören, wie die dicke Frau die neue Küchenhilfe durchs Haus führte und ihr alles zeigte. Dabei erfuhr auch Julia einiges über die Haushaltsführung. Aufmerksam lauschte sie, als die dicke Frau erklärte, wie sich der Tagesablauf der Signora gestaltete.

Kurz darauf kam die dicke Frau zurück. »Der kleine Sonnenschein bekommt nun seine Mahlzeit. Komm, Dioselina«, sagte sie liebevoll und nahm das Kind mit sich.

Die schüchterne Donatella brachte Julia ein Tablett mit herrlichen Speisen und stellte es auf das eilig herangerückte Beistelltischchen. Sie wünschte unterwürfig guten Appetit und verschwand wieder.

Julia war hungrig. Sie aß mit Genuss die ausgefallenen Köstlichkeiten. Danach wurde das leere Tablett von dem schüchternen Mädchen wieder abgeholt. Die dicke Frau streckte ihren Kopf aus einem Fenster und lobte erfreut: »So ist es schön, Signora Giulia. Sie haben alles aufgegessen. Das ist ein gutes Zeichen.«

Julia lächelte unsicher. Sie verstand nichts. Grübelnd dachte sie nach. Dieser Spuk wurde durch die Kapelle ausgelöst, dessen war sie inzwischen ziemlich sicher. Aber wodurch verschwand er wieder? Sie erinnerte sich, dass sie bisher jedes Mal eingeschlafen und in der Wirklichkeit aufgewacht war. Sie wollte es versuchen. Also schloss sie die Augen und bemühte sich einzuschlafen. Doch es gelang nicht.

*

Lange Zeit lag sie mit geschlossenen Augen da. Sie hörte die fremden Geräusche um sich und konnte nicht schlafen.

Ganz in der Nähe hörte sie die Stimmen der dicken Frau und des Mädchens. Als sie gerade begann einzudösen, schnappte sie ein paar Brocken der Unterhaltung der beiden auf und war vor Neugier sofort wieder hellwach. Angestrengt lauschte sie.

»Die ärmste Signora Giulia. Endlich hat sie ein wenig Schlaf gefunden«, erklang die mitleidige Stimme der dicken Frau. »Sie nimmt alle Gefahren und Demütigungen auf sich, um für ihre kleine Tochter ein Zuhause und Sicherheit zu finden.«

Das Mädchen fragte etwas. Sie sprach sehr leise. Julia konnte sie nicht verstehen.

»Man merkt, dass du nicht von hier bist. Darüber redete damals die ganze Ortschaft. Nein, der Padrone brachte meine arme Signora seinerzeit hierher. Sie war seine – wie soll ich das einem Kind wie dir erklären – nun, seine Geliebte. Er ließ ihr dieses Haus bauen. Hier sollte sie das Kind, das sie von ihm erwartete, zur Welt bringen«, erzählte die dicke Frau.

Das Mädchen warf etwas ein.

Die Frau widersprach entschieden: »Nein, nein! Darüber regte sich niemand auf. Der Padrone war seit Jahren Witwer. Obwohl sein Sohn Salvatore bereits im heiratsfähigen Alter war, war der Padrone noch sehr rüstig und aktiv. Er ist überall beliebt und geachtet. Man gönnte ihm diese kleine Liebschaft. Was ist denn schon dabei? Selbst Signora Giulia wurde nach einiger Zeit von den meisten Bewohnern des Ortes akzeptiert. Sie entband ein Mädchen, unseren kleinen Sonnenschein Dioselina. Ich bekam den Auftrag, mich um die Signora und das Baby zu kümmern. Seitdem bin ich bei ihr. Ich ging auch mit ihr in die Verbannung.«

Die Stimmen verstummten. Julia schloss abermals die Augen. Sie war fest entschlossen zu schlafen, aber es gelang ihr nicht.

Nach einiger Zeit fragte das Mädchen im Haus wieder etwas. Julia konnte zwar ihre Stimme hören, doch die Worte verstand sie nicht.

Die Antwort der Frau konnte sie dagegen ganz deutlich verstehen: »Ja, natürlich! Er war ja auch viel zu alt für die Signora. Das war das Verhängnis. Signora Giulia lernte den Sohn des Padrone kennen. Salvatore ist jung und hübsch. Ein herrliches Paar, die reinste Augenweide«, schwärmte die Frau verzückt. Dann wurde sie wieder ernst. »Sie verliebten sich ineinander. Zuerst trafen sie sich nur heimlich. Lange Zeit ging alles gut. Aber man kann so etwas nicht auf die Dauer geheim halten.«

Die Stimmen entfernten sich. Julia musste sich sehr anstrengen, um die nächsten Worte zu verstehen.

»Der Padrone war geschäftlich unterwegs, nach seiner Rückkehr sollte die Hochzeit seines Sohnes Salvatore in allem Prunk gefeiert werden. Er war der einzige Erbe des Padrone und sollte nun die Frau heiraten, die ihm schon als kleines Kind ausgesucht worden war. Natürlich war Signora Giulia kein Hinderungsgrund. Bei den feinen Herrschaften ist es ganz normal, dass die Herren sich nebenbei einige Damen zu ihrer Erbauung halten. Natürlich versuchen die feinen Herren alles, um ihre Seitensprünge zu vertuschen.«

»Trotzdem weiß jeder davon«, lachte Donatella. Sie musste in der Nähe des geöffneten Fensters stehen, denn Julia hörte sie nun ganz deutlich.

»Nun ja. So ist es eben. Es wäre alles nicht so schlimm gewesen. Aber der Padrone war krank vor Eifersucht. Er war fast ein Jahr nicht zu Hause gewesen. Als er zurückkam, hörte er von dem Skandal. Er tobte. Noch immer liebte er Signora Giulia und wollte sie auf keinen Fall an seinen Sohn abtreten.«

Die Stimme der dicken Frau brach ab. Scheinbar waren die beiden Dienstboten mit einer anstrengenden Arbeit beschäftigt, die ihre ganze Kraft erforderte. Denn man hörte angestrengtes Stöhnen und kratzende Geräusche, wie wenn Metall auf Metall reibt.

Schwer atmend fuhr die Frau fort: »Signor Salvatore weigerte sich, sein Verhältnis zu Signora Giulia zu beenden. Signora Giulia wollte vom Padrone nichts mehr wissen. Es gab großen Krach. Der Padrone ist sehr heißblütig, und sein Sohn nicht minder. Sie gerieten sich ernsthaft in die Haare. Der alte Sergio, der persönliche Diener des Padrone, konnte das Schlimmste verhindern. Ihm ist es zu verdanken, dass die Dinge ohne Blutvergießen abgingen. Er hatte erfahren, dass der Padrone die Angelegenheit mit Gewalt lösen wollte und Signor Salvatore sich gegen seinen Vater stellte. Geduldig versuchte er zu schlichten.«

Wieder unterbrach sie sich, um etwas hochzuheben, wobei sie geräuschvoll stöhnte. Dann beendete sie ihren Bericht mit den Worten: »Signora Giulia tat das Vernünftigste. Sie reiste ab, ohne ihren neuen Aufenthaltsort mitzuteilen.«

Julia hatte längst die Augen wieder geöffnet. Das war ja spannender als ein moderner Krimi!

*

Im Haus war es wieder still. Julia beschloss zu schlafen. Ehe sie die Augen schloss, sah sie, dass der gut aussehende Fremde, den sie an den letzten beiden Tagen jeweils kurz gesehen hatte, aus dem Park trat. Diesmal kam er direkt auf sie zu.

»Giulia, mein Herz! Dich hier zu wissen, dich zu sehen und nicht zu dir kommen zu dürfen, war die größte Qual für mich.«

Dieser Mann musste jener Salvatore sein, von dem die dicke Frau gesprochen hatte.

Überschwänglich begrüßte er Julia, die sich nicht zu helfen wusste. Sie musste ihn abwehren. Aber wie? Sollte sie um Hilfe rufen? Vermutlich würde sie sich damit nur lächerlich machen.

Der junge Mann küsste sie leidenschaftlich und murmelte ununterbrochen verliebte Worte. Julia war hilflos. Sie ließ alle seine Liebesbezeugungen apathisch über sich ergehen. Zu ihrem Erstaunen fand sie es überhaupt nicht unangenehm, von einem feurigen Italiener angehimmelt zu werden. Wortreich erklärte er ihr seine Liebe. Sie lag nun entspannt da und hörte ihm mit sehr gemischten Gefühlen zu.

Salvatore schien plötzlich zur Besinnung zu kommen. »Ach ja, richtig. Du bist krank, wurde mir erzählt. Ich war so überglücklich, dass du wieder hier bist. Habe ich dir wehgetan?«

Reumütig setzte er sich neben Julias Liege auf den Boden. Julia lächelte verstört. Sie kam mit dieser Situation nicht ganz zurecht.

Der junge Mann gestand ihr mit lauter Stimme und leidenschaftlichen Gesten: »Es war die Hölle für mich. Alles zog mich zu dir hin. Seit ich erfuhr, dass du hier bist, lässt mich mein Vater überwachen. Immer ist jemand in meiner Nähe, damit ich dich nicht besuchen kann. Aber heute gelang mir die Flucht. Alle unsere Leute sind in Aufregung wegen der Taufe meines Sohnes. Da! – Meine Frau und ihre Schwester. – Verdammt!« Er sprang auf.

Beruhigend sagte er zu Julia: »Mach dir keine Sorgen. Das regle ich schon.«

Dann lief er auf die beiden Frauen zu und begleitete sie, heftig auf sie einredend, durch den Park.

Julia war mit einem Mal entsetzlich müde. Sie schlief ein.

*

Durch den Lärm, den Christine und Sandra verursachten, als sie vom Strand zurückkehrten, erwachte Julia aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie kam nicht sofort richtig zu sich. Wo war sie? War sie bei Salvatore und dem kleinen Mädchen Dioselina? Oder war sie in der Wirklichkeit, bei Christine und Sandra? Sie war total verwirrt.

Als sie Christine schwungvoll und gut gelaunt auf die Terrasse heraustreten sah, atmete sie erleichtert auf. Wahrscheinlich hatte sie alles nur geträumt.

Christine und Sandra waren braun gebrannt und müde. Aufseufzend ließen sie sich in die Liegestühle fallen, die sie neben Julia aufgestellt hatten.

»Im Auto war es viel zu heiß«, jammerte Sandra. »Nächstes Mal fahren wir erst heim, wenn es kühler ist.«

Christine schwärmte ganz begeistert vom Meer. »Ich war noch nie am Meer. So weit das Auge reicht, nur Wasser. Das konnte ich mir nicht richtig vorstellen. Und ein Strand, sage ich dir, wie im Bilderbuch. Kilometerweit nur weißer Sand und Sonne. Und noch fast keine Menschen. Es war himmlisch.«

»In der Nähe gibt es sogar Duschen, um das Salzwasser abzuspülen. Es ist einfach vollkommen«, bestätigte Sandra lebhaft.

»Du musst morgen auch mitkommen, Julia.« Christine hatte bemerkt, dass Julia ein wenig neidisch zugehört hatte.

*

Am Abend beschlossen die drei Mädchen, in die nahegelegene Pizzeria zum Essen zu gehen. Mühsam humpelte Julia, auf Christine gestützt, die kurze Strecke.

Als sie die kleine Pizzeria betraten, waren sie entzückt. Es gab nur vier Tische, doch der ganze Raum strahlte eine angenehme Atmosphäre aus. Leider waren die wenigen Tische besetzt.

Ein Ober kam beflissen herbeigeeilt und deutete mit einer einladenden Handbewegung auf einen Bogen, der in einen weiteren Raum führte.

»Versuchen wir es also weiter hinten«, schlug Sandra mit hoffnungsvollem Optimismus vor und ging bereits durch den Bogen. Im Hinterzimmer standen wieder nur einige Tische. Julia humpelte hinter den Freundinnen her und war fast sicher, dass sie die Strapazen dieses Ausfluges umsonst auf sich genommen hatte.

Auch hier war alles besetzt. Nur an einem großen Tisch waren noch zwei Plätze frei. Aber dort saßen vier junge Italiener, in angeregte Unterhaltung vertieft.

Plötzlich blieb Julia wie angewurzelt stehen. Einer von den jungen Männern war … Vor Überraschung rief sie laut: »Salvatore!«

Der Mann am Tisch hob den Kopf, grüßte freundlich und fragte auf Italienisch: »Kennen wir uns?«

Benommen stand Julia da und brachte kein Wort heraus. Das war Salvatore! Er glich ihm wie ein Ei dem anderen. Nur der kleine Bart fehlte. Aber sonst – es gab keinen Zweifel, das war eindeutig Salvatore.

Der Mann, den Julia Salvatore genannt hatte, wirkte ein wenig unsicher. Er musterte sie immer noch nachdenklich.

»Ich kann mich nicht genau erinnern, aber irgendwo habe ich Sie schon einmal gesehen. Helfen Sie mir«, bat der Fremde, während er aufstand und mit ausgestreckten Händen auf sie zukam.

Verlegen wehrte Julia ab. »Entschuldigen Sie. Sie erinnerten mich an jemanden, den ich flüchtig kannte. Ich weiß selbst nicht, was mit mir heute los ist.« Sie wollte hastig weitergehen.

Aber der Italiener hielt sie zurück. »Suchen Sie einen Platz? Wenn Sie nichts dagegen haben, rücken wir ein wenig zusammen, dann können Sie sich zu uns setzen.«

»Was sagt er?«, fragte Sandra ungeduldig.

Als Julia ihren Freundinnen übersetzte, was der Mann vorgeschlagen hatte, stimmte Sandra sofort entschlossen zu. Sie setzten sich.

Wie sich herausstellte, hieß der Mann, den Julia als Salvatore erkannt hatte, tatsächlich Salvatore.

Es wurde ein vergnüglicher Abend. Obwohl Sandra und Christine nur einige Brocken Italienisch verstanden, unterhielten sie sich ausgezeichnet mit Salvatore und seinen Freunden.

Sandra war überrascht. »Woher kennst du diesen Mann?«, fragte sie neugierig. Neckend drohte sie mit dem Finger: »Ich glaube, dich dürfen wir nicht länger allein zurücklassen. Du hast heimlich Bekanntschaft mit den Einheimischen geschlossen.«

Julia verteidigte sich lachend: »Ich kenne ihn doch überhaupt nicht. Er ist mir vollkommen fremd.«

»Diesen Trick musst du mir auch einmal verraten«, bat Sandra verschmitzt. »Das ist die neueste Masche, mit einem Mann anzubändeln. Du siehst so harmlos und schüchtern aus, dabei hast du es faustdick hinter den Ohren.«

Bis die Speisen serviert wurden, unterhielten sich alle in einem deutsch-italienischen Kauderwelsch. Die Stimmung stieg, als Julia den Unsinn, den sie gegenseitig in der jeweils fremden Sprache erzählten, wörtlich übersetzte. Nach der Mahlzeit tranken sie Brüderschaft.

Julia saß neben Salvatore, den sie so gut kannte und der dennoch ein Fremder war. Immer wieder betrachtete sie ihn. Es gab keinen Zweifel. Ihre Verwirrung und Angst nahmen zu. Nun gab es also diesen Salvatore wirklich. Was hatte das alles zu bedeuten? Vielleicht machte er sich nur einen Spaß mit ihr. Immerhin war es möglich, dass Salvatore sich verkleidete und einen Bart anklebte. Vielleicht machte es den jungen Italienern Spaß, den naiven deutschen Mädchen vorzugaukeln, sie wären in der Vergangenheit. Nur – wozu sollte das gut sein?

Nach einigen Gläsern Wein vergaß sie ihre Bedenken und genoss den Abend. Als sie von ihrem Missgeschick mit dem verstauchten Knöchel erzählte und bedauerte, dass sie zur Strafe für ihre Unachtsamkeit nun häufig allein im Bungalow zurückbleiben musste, während die beiden Freundinnen die ganze Toskana unsicher machten, erbot sich Salvatore, sie zu besuchen.

»Ich freue mich, dich wiederzusehen«, strahlte er sie an. »Nur kann ich nicht genau sagen, wann ich mich freimachen kann. Bei uns zu Hause geht im Moment alles drunter und drüber.«

Julia freute sich. »Du kannst jederzeit kommen. Ich bin fast immer auf der Terrasse im Liegestuhl anzutreffen.«

»Was für wichtige Dinge hast du denn vor?«, fragte einer seiner Freunde. »Ahnenforschung?« Die jungen Männer lachten schallend. Julia verstand den Witz nicht ganz.

Salvatore erklärte es ihr: »Ich interessiere mich für unsere Vorfahren. Für meine Freunde ist das unverständlich. Sie hänseln mich ständig damit. Aber das stört mich nicht.« Dann wandte er sich an seine Freunde und erklärte: »Nein! Im Augenblick habe ich sehr reale Probleme. Ich muss das Dach unseres Hauses ausbessern.«

Daraufhin erhob sich erneut das Gelächter, in das auch Salvatore gut gelaunt einstimmte.

Julia sah die jungen Männer verdutzt an. Christine und Sandra warteten darauf, dass sie ihnen übersetzte, worüber die jungen Männer lachten. Doch Julia wusste es nicht.

Salvatore bemerkte ihr verdutztes Gesicht. »Unsere großartige Villa bricht uns langsam, aber sicher über den Köpfen zusammen«, meinte er humorvoll. »Seit Jahren bröckelt sie stillvergnügt vor sich hin. Wenn ich versuche, ein Loch zu stopfen, entsteht nebenan ein neues, meist noch viel größeres. Zurzeit bin ich dabei, das Dach notdürftig auszubessern. Hoffentlich regnet es in nächster Zeit nicht.«

Er legte temperamentvoll die Arme um Julia und versprach mit glutvollen Worten, ganz bestimmt im Laufe des nächsten Tages bei ihr vorbeizuschauen.

Julia sah in die schwarzen Augen des jungen Italieners, und ihr Herz schlug schneller. Zu genau konnte sie sich an die Zärtlichkeiten erinnern, die sie mit dem Namensvetter und Doppelgänger dieses Salvatore ausgetauscht hatte. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihm.

*

Am nächsten Tag wollten Christine und Sandra noch einmal ans Meer fahren. Sie drängten Julia mitzukommen.

»Du kannst ganz ruhig am Strand liegen und musst dein Bein nicht belasten«, versprach Christine. »Wir fahren dich mit dem Auto ganz nah an den Sandstrand, es ist wirklich nicht weit zu gehen.«

Aber Julia lehnte ab. »Der Arzt riet, das verletzte Bein möglichst wenig zu bewegen. Ich bleibe besser noch ein paar Tage in meinem Liegestuhl. Wenn ich jetzt leichtsinnig herumlaufe, bin ich möglicherweise während des ganzen Urlaubs behindert.«

»Der Weg zur Pizzeria schadete deinem verletzten Knöchel doch auch überhaupt nicht«, beharrte Christine.

Auch Sandra mischte sich ein und versuchte Julia zum Mitkommen zu überreden.

Doch Julia schüttelte stur den Kopf. »Ich bin lieber vorsichtig.«

Nachdem die beiden Freundinnen weg waren, setzte sie sich wieder auf die Terrasse. Sie wollte herausfinden, ob die Kuppel der Kapelle tatsächlich der Auslöser für ihre verrückten Träume war. Konzentriert bemühte sie sich, nicht in die Richtung dieser gleißenden, glitzernden Dachkuppel zu sehen. Es geschah nichts.

Die Sonne schien heiß vom wolkenlosen Himmel. Vögel zwitscherten, und der Straßenlärm drang gedämpft zu ihr. Ein sanfter Windhauch ließ die Blätter leise rascheln.

Obwohl sich Julia fest vorgenommen hatte, nicht in die geheimnisvolle, unwirkliche Welt zurückzukehren, die sie zugleich erschreckte und anzog, wankte sie nun. Je länger sie so tatenlos herumsaß, umso unruhiger wurde sie. Es gab noch so viele Ungereimtheiten. Sie war neugierig. Zu gern würde sie erfahren, was sich im Leben dieser längst vergessenen Giulia und ihrem Salvatore weiter ereignete. Gelangweilt rekelte sie sich in ihrem Liegestuhl. Noch zögerte sie, doch die Verlockung war groß. Ein Blick auf die Kuppel der Kapelle würde genügen, und sie könnte das abenteuerliche Geschehen zurückholen, das sie in den letzten Tagen geängstigt und zugleich fasziniert hatte.

Schließlich gab sie vor sich selbst zu, dass ihre Sehnsucht nach Salvatore und seiner Welt größer war als ihre Furcht vor den unheimlichen Vorgängen.

Sie richtete ihre Augen auf das Dach der Kapelle, und tatsächlich veränderte sich alles. Von einer Sekunde zur anderen war sie in eine andere Umgebung und vermutlich auch in ein anderes Jahrhundert gewechselt.

Das kleine Kind, von dem sie »Mama« genannt wurde, spielte in ihrer Nähe. Es kam immer wieder mit verschiedenen Gegenständen zu ihr gelaufen und zeigte sie ihrer »Mutter«. Freudig wiederholte die Kleine die Worte, die Julia ihr geduldig vorsagte.

Aus dem Haus drangen Geschirrgeklapper und murmelndes Stimmengewirr. Dann erklang ein Knall, wie von zerbrochenem Porzellan. Eine verängstigte Kinderstimme, die vermutlich dem schüchternen Mädchen Donatella gehörte, fing an, sich furchtsam zu entschuldigen und heulte dann längere Zeit jämmerlich und tiefunglücklich.

Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich ein riesiger Hund neben Julia. Sie erschrak. Sie fürchtete sich vor Hunden. Und dieses Exemplar war eher ein Kalb als ein Hund. Das überdimensionale Tier wedelte freudig mit dem Schwanz. Es schien sie zu kennen. Zaghaft und vorsichtig begann Julia den Riesenhund zu streicheln. Er genoss es sichtlich.

Neugierig sah sie sich um. Sie be fand sich in derselben ordentlichen, gepflegten Umgebung wie an den letzten Tagen. Wo war sie? Am meisten irritiert war sie durch das Fehlen der Kapelle. Sie wollte der Sache auf den Grund gehen.

Vorsichtig stand sie auf. Ihr Bein schmerzte kaum noch. Am Kopfende der hölzernen Liege lehnte ein reich verzierter Gehstock. Sie nahm ihn und stützte sich darauf. Auf diese Weise musste sie ihr Bein nicht so stark belasten. Überrascht stellte sie fest, wie hilfreich der Stock war.

Mit dem Hund an der Seite humpelte sie auf den Waldweg zu. Das Kind kam ihr nachgelaufen und griff nach ihrer Hand. »Tlina auch mit«, bettelte sie.

Julia lächelte das kleine Mädchen freundlich an und stimmte zu: »Natürlich darfst du mitkommen.«

Sie hatte das anhängliche, liebenswerte Kind in der kurzen Zeit in ihr Herz geschlossen. Die kleine Tochter von Giulia und dem Padrone war ihr komischerweise sehr vertraut.

Aber war Giulia nicht sie selbst? War das kleine Mädchen nicht ihr Kind? Nein! Sie hatte doch kein Kind! Ihre Gedanken drehten sich verwirrend im Kreis. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Ehe die Zweifel wieder in ihr hochstiegen, wollte sie an etwas anderes denken.

Langsam humpelte sie mithilfe des Gehstockes durch den schattigen Park. Das Kind an ihrer Seite plapperte ununterbrochen und forderte ihre Aufmerksamkeit. Julia sprach mit ihr und wunderte sich selbst, wie gut sie mit der Kleinen zurechtkam. Sie war kleine Kinder nicht gewohnt.

Der Hund trottete neben ihnen her. Ab und zu sprang er einige Schritte voraus, wartete dann aber wieder auf die Frau und das Kind, die nur langsam vorankamen.

Sie kamen an den Platz, wo die Kapelle nach Julias Schätzung stehen musste. Suchend sah sie sich um. Ungläubig ging sie einige Schritte auf dem Weg zurück, suchte in beiden Richtungen, konnte aber keine Kapelle finden. Sie war absolut sicher, dass die Kapelle an diesem Weg gestanden hatte, als sie vor einigen Tagen auf dem Mäuerchen verunglückte. Oder lagen einige Jahrhunderte dazwischen?

Alles Suchen und Forschen half nicht. Julia ging noch mehrmals die Strecke ab, es gab keine Kapelle. Nur ein einfaches schmiedeeisernes Kreuz war zu sehen, sonst nichts.

Verwirrt ging sie den unkrautfreien, sauber geharkten Weg zurück. Der Marsch hatte ihrem verletzten Knöchel nicht gutgetan. Sie fühlte bei jedem Schritt einen stechenden Schmerz.

*

Noch verborgen vom Schatten der Parkbäume, sah sie, dass auf der Terrasse ihres Hauses etwas los war.

Ein älterer, sehr selbstsicherer Mann stand breitbeinig und irgendwie drohend auf der Terrasse. Der Mann, seinem Auftreten nach ganz offensichtlich der viel zitierte Padrone, wetterte mit lauter Stimme.

Die dicke Frau und das Mädchen standen aufgeregt und ängstlich vor ihm und jammerten leise. Sie duckten sich geradezu vor der gewaltigen Macht, die dieser Mann ausstrahlte.

Da entdeckte das Mädchen Julia, die eben den Schutz der Bäume verließ. Sie deutete mit dem Finger in ihre Richtung und sagte etwas.

Die dicke Frau kam ihr erleichtert entgegen und stützte sie. Julia war ihr dankbar dafür. Ihr Bein schmerzte inzwischen sehr.

»Der Padrone wartet schon auf Sie. Beeilen Sie sich, er ist sehr zornig«, murmelte die dicke Frau aufgeregt.

Julia wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie grüßte den vornehm wirkenden, ein wenig dicken Mann freundlich. Vorsichtig legte sie sich auf die Liege nieder und legte den verletzten Fuß hoch.

»Ach, die Signora geruhen endlich allergnädigst zu erscheinen«, brüllte der Furcht einflößende Mann zornbebend. Er war offensichtlich nicht gewohnt, dass man ihn warten ließ. Nur mühsam beherrschte er sich. Äußerst ablehnend erwiderte er Julias Gruß. Er war wütend und warf ihr allerhand Unfreundlichkeiten an den Kopf.

Die kleine Dioselina begann erschreckt zu weinen. Der Padrone bemerkte das Kind erst jetzt. Sofort änderte sich seine Haltung. Wie ausgewechselt beugte er sich freundlich zu dem kleinen Mädchen, hob es hoch, schwenkte es durch die Luft und küsste es.

»Aber, aber, mein großes Mädchen wird doch keine Angst haben«, sagte er mit liebevoller Stimme. »Bist du gewachsen, Dioselina! Du bist ja schon fast eine junge Frau. Erkennst du mich denn nicht mehr?«

Erst als Dioselina zaghaft lächelte, drückte er sie der dicken Frau in die Arme.

»Hier, kümmere dich um sie«, befahl er kurz angebunden. »Ich habe mit ihrer Mutter ein ernstes Wort zu reden.«

Die dicke Frau nickte unterwürfig und verschwand eilfertig mit dem Kind im Haus.

Kaum waren sie weg, begann der Padrone abermals mit seinem wütenden Gebrüll.

»Ich holte dich aus der Armut. Was wärest du ohne mich? Eine verarmte, halb verhungerte Frau ohne Zukunftsaussichten. Und wie dankst du es mir?«

Mit hochrotem Gesicht und unruhigen Bewegungen neigte er sich zu ihr. Julia fürchtete, er würde sie schlagen. Eingeschüchtert wagte sie es nicht, etwas zu erwidern.

»Du erpresst mich! Habe ich das verdient?« Er raufte sich die grau melierten Haare.

Julia erkannte, dass der Padrone in einer Zwangslage steckte. Wenn sie nur wüsste, worum es eigentlich ging. Sie schwieg.

Kurz überlegte sie, ob es einen Sinn hätte, einfach die Augen zu schließen, um wieder ins zwanzigste Jahrhundert zu gelangen. Aber sie wagte es nicht. Wenn sie sich in seiner Anwesenheit schlafend stellte, würde sich höchstwahrscheinlich der Zorn des Padrone noch steigern.

Ärgerlich und wild gestikulierend zog der selbstgefällige Mann ein Blatt aus seiner Rocktasche. »Hier, wie kommst du dazu, mir so einen Wisch zu schicken?«

Er wedelte wild mit dem Brief herum und fauchte: »Wenn du denkst, du kannst mich erpressen, dann irrst du dich. Was soll der ganze Unsinn? Habe ich jemals behauptet, dass die Kleine nicht von mir ist? Ich habe es dir schon mehrmals gesagt: Gib mir den Schmuck zurück, und ich werde für dich und das Kind sorgen. Was willst du mit den Schmuckstücken? Du kannst sie nicht verkaufen, weil jeder sie kennt. Für dich sind sie wertlos. Also, wo hast du sie versteckt?«

Julia war total perplex. Was war denn nun wieder los? Bisher war es ihr nur ein wenig komisch vorgekommen, dass sie ein Kind haben sollte. Dioselina hatte sie »Mama« genannt, und alle anderen hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die wirkliche Mutter des kleinen Mädchens war.

Nun schien es, dass sie auch eine Diebin und Erpresserin sein sollte. Das ging zu weit! Niemals hatte sie jemanden betrogen, und Erpressung fand sie widerwärtig. Sie hatte sich inzwischen so sehr in ihre Rolle hineinversetzt, dass sie erst nach kurzer Überlegung registrierte, dass sie nicht wirklich diese Signora Giulia aus der Vergangenheit war.

Sie wünschte sich zurück in die Zeit, in der sie ein junges Mädchen war, das mit ihren Freundinnen Urlaub machte. Aber das nutzte nichts.

Der Padrone hatte sich so richtig in seine Wut gesteigert. Mit sich überschlagender Stimme tobte er: »Du hast nicht nur meinen wertvollen Schmuck, auch meinen Sohn hast du mir verdorben. Du Hure, du Miststück, du …«

Nun wurde es Julia zu viel. Eine Hure, ein Miststück ließ sie sich von diesem arroganten Kerl nicht nennen. Das ging wirklich zu weit. Sie sprang entrüstet aus ihrer Liege hoch – und knickte ein. Ein fürchterlicher Schmerz durchdrang ihren Knöchel. Sie schrie auf und wurde ohnmächtig.

*

Langsam tauchte Julia aus tiefer Schwärze hervor. Sie schwebte. Töne drangen in ihr Bewusstsein. Jemand nannte ununterbrochen mit flehender Stimme ihren Namen.

»Giulia, Giulia, was ist mit dir? Giulia, so sag doch etwas«, hörte sie eine aufgeregte Stimme auf Italienisch betteln.

Noch unsicher öffnete sie die Augen und erkannte Salvatore, der sich besorgt über sie beugte.

»Salvatore«, murmelte sie noch ganz benommen, »wie schön, dass du gekommen bist.«

Sie schickte sich gerade an, die Arme um seinen Hals zu legen, als sie ernüchtert feststellte, dass er ein modernes T-Shirt und Bermudashorts trug und keinen Bart hatte. Das war nicht der Salvatore, der sie so leidenschaftlich geküsst hatte. Obwohl er genauso aussah, sich genauso bewegte und genauso redete wie ihr Liebhaber aus der Vergangenheit, war dieser Salvatore ein Mann des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Mann der Gegenwart.

Noch immer ganz verwirrt, flüsterte sie: »Lass mich nicht mehr allein. Ich hatte solche Angst vor deinem Vater. Zum Glück wurde ich ohnmächtig.«

Was murmelte sie denn da? Jetzt brachte sie schon alles durcheinander. Dieser Salvatore konnte doch nichts wissen von ihren Erlebnissen in der Vergangenheit. Sie musste sich zusammenreißen.

Aber was war nun Wirklichkeit, und was war Traum? Als der Padrone sie beschimpft hatte, war sie aufgesprungen und neben der Liege zusammengebrochen. Jetzt lag sie tatsächlich neben ihrem Liegestuhl auf dem Boden, und ihr verletzter Knöchel schmerzte. Julia war so ausgepumpt und verzweifelt, dass sie unvermittelt zu weinen begann.

Salvatore redete beruhigend auf sie ein. Die Nähe des Mannes tat Julia gut. Eine prickelnde Erregung überflutete sie, als er seine Arme beschützend um sie legte. Bald war ihre Verwirrung über die unerklärlichen Vorgänge einer anderen, angenehmeren Verwirrung gewichen. Alles war plötzlich so einfach und klar. Nichts konnte ihr passieren, solange Salvatore bei ihr blieb. Sie wollte ewig so liegen bleiben, den jungen Mann neben sich und frei von Angst und Sorge.

»Lass mich nicht allein«, bettelte sie.

Salvatore versprach, bei ihr zu bleiben, bis ihre Freundinnen zurückkamen. Während sie auf Christine und Sandra warteten, entdeckte er eine Flasche Wein.

»Das ist genau das, was du jetzt brauchst«, sagte er befriedigt.

Gemeinsam leerten sie den Wein und unterhielten sich angeregt. Julia beruhigte sich nach und nach und genoss es, mit dem amüsanten jungen Mann zu flirten.

Als er sie ausfragen wollte, wie es dazu kam, dass sie bewusstlos auf dem Boden gelegen hatte, wich Julia aus. Niemand würde ihr glauben, dass sie durch die Zeit reiste. Man würde sie für verrückt halten.

*

Am nächsten Tag war Julias Knöchel blutunterlaufen und pochte schmerzhaft. Die rötlich und blauviolett schimmernde Verletzung war wieder sehr angeschwollen und sah entsetzlich aus.

Da sie während der Nacht vor Schmerzen kaum geschlafen hatte, suchte Julia den Arzt auf. Er erneuerte den Verband, verschrieb eine Tinktur gegen den schlimmen Bluterguss, der sich gebildet hatte, und ordnete strenge Bettruhe an. Julia würde sich noch einige Tage nicht an den Unternehmungen ihrer Freundinnen beteiligen können.

Christine hatte Julia begleitet. Sandra wollte inzwischen einkaufen gehen. Begeistert hatten sie entdeckt, dass in sämtlichen Straßen des kleinen Städtchens an diesem Tag Marktbuden aufgestellt waren. Mit Kauflust war Sandra sofort losgezogen. Auch Christine hatte sehnsüchtig nach den verlockenden Marktständen geschaut.

»Geh ruhig auch los, Christine«, schlug Julia vor, nachdem sie umständlich ins Auto geklettert war. »Ich werde im Auto warten.«

Während die Freundinnen in kleinen Kostbarkeiten und Ramsch wühlten und mit den Händlern feilschten, saß Julia im überhitzten Auto und langweilte sich. Sie beneidete Sandra und Christine. Als die beiden Mädchen endlich genug kitschige und sogar einige brauchbare Dinge gekauft hatten, war Julia verschwitzt und übelster Laune. Sie beteiligte sich nicht an der angeregten Plauderei, die Sandra und Christine über ihre soeben erstandenen Schätze führten.

»Fehlt dir etwas?«, fragte Christine besorgt.

Julia erwiderte kurz angebunden: »Mein Bein schmerzt.«

*

Am Nachmittag lagen alle drei Mädchen faul auf der schattigen Terrasse. Julia sah wiederholt intensiv auf das Dach der Kapelle. Das Kapellendach, das ansonsten golden glänzte und in der Sonne funkelte, wirkte jetzt wie ein ganz normales Ziegeldach. Offensichtlich wirkte der Spuk nur, wenn sie allein war.

»Gestern hatte ich den Eindruck, das Kapellendach glänze golden«, sprach sie ihren Gedanken aus.

Christine und Sandra schauten in die Richtung. Sandra meinte desinteressiert: »Es ist total heruntergekommen. Aber ich denke, es würde sich kaum rentieren, dieses alte Gemäuer zu renovieren.«

»Diese Wildnis muss einst ein schöner Park gewesen sein. All die Sitzplätze und die Statuen. Ich kann mir vorstellen, wie die Leute mit großartigen Roben darin spazieren gingen«, träumte Christine.

Julia blickte sie erstaunt an. War auch Christine in die Vergangenheit zurückversetzt worden? Doch Christine erzählte schon weiter, was sie in einem historischen Film über solch reiche, geachtete Familien gesehen hatte.

Als etwas später Salvatore aus dem Park trat, erschrak Julia. Nun war es also wieder geschehen. Erst als ihre Freundinnen ihm freudig zuwinkten, wurde ihr klar, dass sie nicht in einem vergangenen Jahrhundert weilte. Sie freute sich, den jungen Mann zu sehen.

Er trug eine kleine Plastiktüte in der Hand. Überschwänglich berichtete er: »Jetzt weiß ich, an wen du mich erinnerst, Giulia. Wir besitzen ein Miniaturbild, das wohl nur deshalb noch nicht verkauft wurde, weil das Porträt von einem unbekannten Maler stammt. Auch der bemalte Holzrahmen ist ziemlich wertlos. Auf diesem Gemälde ist eine junge Frau abgebildet, die dir aufs Haar gleicht. Angeblich war sie die Konkubine eines meiner Vorfahren. Komischerweise hieß sie ebenfalls Giulia.«

Er zog das kleine Bild aus seiner Tüte und zeigte es Beifall heischend den Mädchen. Staunend betrachteten sie es.

»Wenn jemand behaupten würde, dass dieses Bild ein Porträt von Julia ist, würde ich es sofort glauben. Diese Ähnlichkeit!«, wunderte sich Sandra.

Julia betrachtete das Bildchen lange. Ja, es war, als würde sie in den Spiegel sehen. Nur das schwarze gelockte Haar, das sie normalerweise offen trug, hatte die Frau auf dem Bild zu einer kunstvollen Frisur hochgetürmt. Doch abgesehen davon und von der ungewöhnlichen Kleidung sah diese Frau ihr unheimlich ähnlich.

Obwohl es sehr heiß war, fror Julia plötzlich. Was ging mit ihr vor? Das alles war unheimlich. Sie bekam langsam aber sicher Angst vor dem mysteriösen Geschehen, in das sie gegen ihren Willen verstrickt wurde.

Salvatore setzte sich eine Weile zu den Mädchen. Als er sich etwas später verabschiedete, lud er die drei Mädchen ein, gemeinsam mit ihm und seinen Freunden am Sonntagabend zu einem Dorffest zu gehen. Natürlich sagten die Mädchen freudig zu.

*

Erst kurz vor Einbruch der Dämmerung, als Christine und Sandra noch einmal weggingen, um fürs Abendessen einzukaufen, konnte sich Julia wieder in die Vergangenheit zurückversetzen.

Als sie die Kuppel der Kapelle, die im letzten Abendlicht leuchtete, betrachtete, veränderte sich schlagartig ihre Umgebung. Sie lag auf der Terrasse und hörte mehrere Stimmen durcheinanderreden, konnte aber nichts verstehen.

Die dicke Frau kam aus dem Haus und meldete, dass der Doktor angekommen sei.

Fast im selben Moment trat auch Salvatore aus dem Park. Herzlich wie immer begrüßte er Julia. Diese merkte erstaunt, dass ihr Herz höher schlug, als sie ihn sah. Sie hatte sich in einen Mann verliebt, der in einem anderen Jahrhundert lebte als sie. Wie sollte das weitergehen?

»Oh, Signor Salvatore, der Doktor ist eben angekommen. Vielleicht könnten Sie der Signora ins Haus helfen? Sie darf doch ihren Fuß nicht belasten«, bat die dicke Frau.

Amüsiert dachte Julia darüber nach, wie komisch es doch war, dass sie in der Vergangenheit dieselben Probleme mit ihrem Bein gehabt hatte wie im zwanzigsten Jahrhundert.

Salvatore reichte ihr galant seinen Arm. Suchend blickte Julia auf das Kopfende der Liege, wo ihr geschnitzter Stock lag. Doch sie brauchte ihn nicht. Salvatore hatte ihr Zögern bemerkt und sie kurzerhand auf den Arm genommen. Er trug sie ins Haus, als wäre sie federleicht.

Neugierig sah sich Julia um. Es war ziemlich düster, aber man konnte die reiche Einrichtung ahnen.

Sie durchquerten einen großen, spärlich möblierten Raum, in dem ein wuchtiger Treppenaufgang aus Marmor fast die ganze Front einnahm, und einen kleineren Aufenthaltsraum mit schweren Brokatvorhängen und dicken Teppichen. Dann waren sie im Schlafzimmer. Hier stand ein überdimensionales Bett mit einem schweren Baldachin. Das Bett war so hoch, dass der davorstehende Schemel nötig war, um es zu besteigen. Außer dem Bett, einem steiflehnigen Stuhl und einer Kommode mit aufwendigen Intarsienarbeiten war der Raum leer. Die Bilder an den Wänden konnte Julia nicht richtig sehen. Dazu war es zu dunkel.

Die dicke Frau zog beflissen die schweren Bettvorhänge zur Seite, und Salvatore legte Julia vorsichtig in die weichen Kissen.

Ängstlich wartete Julia, was nun geschehen würde. Ihr war das alles nicht ganz geheuer. Die mitfühlenden Mienen der Umstehenden wirkten sehr beängstigend.

Ein kleiner Tisch wurde hereingetragen. Der Doktor, ein lächerlich dürrer Mann mit einer großen, spitzen Nase, eilte geschäftig im Raum umher. Er zog aus seiner großen Tasche Fläschchen, Tiegel und jede Menge Geräte hervor. Bei diesem Anblick wurde Julia von Grauen ergriffen.

Inzwischen entfernte die dicke Frau, unterstützt von Donatella, den Verband. Julia erschrak, als sie ihr Bein sah. Sie hatte sich doch nur den Knöchel umgeknickt. Nun hatte sie plötzlich eine offene, eitrige, entzündete Wunde am Unterschenkel.

Mit großem Getue beugte sich der Arzt über die Wunde und schüttelte bedenklich den Kopf. Seine deutlich zur Schau gestellte Wichtigkeit stieß Julia ab.

Er wandte sich an die dicke Frau: »Lass bitte einige starke Männer holen, Maria.«

Julia bekam es mit der Angst zu tun. Was hatte der unsympathische, nicht besonders saubere alte Doktor vor? Als sie an die Geräte dachte, die der Arzt bereitgelegt hatte, und seine Anweisungen hörte, geriet sie in Panik.

Salvatore stand am Kopfende des Bettes und hielt ihre Hände in den seinen. Beruhigend redete er ihr Mut zu.

Verlegen kamen zwei junge Kerle ins Zimmer gestolpert. Sie wurden links und rechts vom Bett postiert und erhielten genaue Anweisungen.

Julia schrie vor Entsetzen auf. Das war doch nicht möglich! Verzweifelt schloss sie die Augen. Sie wollte schlafen, um in ihre Zeit versetzt zu werden und dieser Tortur zu entgehen. Der Arzt wartete, bis die dicke Frau eine Unterlage unter Julias Bein geschoben hatte, dann begann er mit seiner schaurigen Arbeit.

Salvatore flüsterte voller Liebe und Mitleid tröstende Worte in Julias Ohr. Da durchdrang ein schneidender Schmerz ihr Bein. Julia schrie auf. Entsetzt versuchte sie, sich zu befreien. Aber die Männer hielten sie unbarmherzig fest. Der Arzt fuhr mit seinem grausigen Werk fort. In unerträglicher Qual bäumte sich Julia auf. – Nein! Der Schmerz raubte ihr fast die Sinne. Von Qual und Grauen geschüttelt, dachte sie, verrückt zu werden.

Nach einer halben Ewigkeit, wie es ihr schien, beendete der arrogante Arzt endlich die peinvolle Behandlung und ordnete an, die Wunde wieder zu verbinden. Der Schmerz, der noch immer in Julias Bein wütete, machte es ihr unmöglich, klar zu denken.

Die dicke Frau brachte ihr ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit.