Earl Dumarest 25: Die Terridae - E. C. Tubb - E-Book

Earl Dumarest 25: Die Terridae E-Book

E. C. Tubb

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Beschreibung

Ein Schrein mit mysteriöser Symbolik scheint für Earl Dumarest auf seiner Suche nach den galaktischen Koordinaten der Erde den Durchbruch zu bedeuten – doch die Hinweise führen ihn nach Zabul, einer gigantischen Raumstation voller Träumer, die alle auf das wunderbare Ereignis warten, Terra wiederzufinden. Seine Nachforschungen werden behindert – durch die unerbittlichen Cyclan, die seine Spur erneut aufgenommen haben, und die Bewohner Zabuls selbst, die zwischen Traum und Wirklichkeit hin und her gerissen scheinen.

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Inhalt

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E. C. Tubb

Die Terridae

Ins Deutsche übertragen von Dirk van den Boom

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Mai 2017 Die Originalausgabe erschien 1981 unter dem TitelThe Terridae Copyright © 1981 by E. C. Tubb Vermittelt durch Philip Harbottle Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-321-7 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-512-9 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

1

Er war klein, hatte braune Haut, war gekleidet in Violett mit silberfarbenen Säumen, trug eine Zipfelmütze auf einem wilden Gewirr von Locken und gestreifte Schlauchhosen auf schlanken Beinen, ein Junge von etwa zehn Jahren, gefangen in einem Dickicht von Brombeeren, mit einem Fuß verhakt in die gespannten Kiefer einer Pflanzenfalle. An jedem Handgelenk klapperten hell die Glocken, wenn er seine Arme bewegte. Dumarest hatte sie gehört, als er auf der Anhöhe Rast machte, und sie bis zu ihrem Ursprung den Hang hinunter verfolgt. Nun stand er da und verlagerte das Gewicht des Rucksacks auf seinen Schultern.

»Bist du verletzt?« Dumarest runzelte die Stirn, als der Junge den Kopf schüttelte. »Kannst du nicht sprechen?«

Wieder das Schütteln des Kopfes, dieses Mal begleitet vom Zeigen eines Fingers in Richtung des geöffneten Mundes. Ein Stummer, gefangen in einem Gefängnis aus Dornen, der nur mit den Glocken nach Hilfe rufen konnte. Aber würde so ein Knabe tatsächlich alleine umherlaufen?

Dumarest drehte sich; die Augen verengt beobachtete er die Umgebung. Auf allen Seiten fielen die umgebenden Hügel ab und umarmten die einzige Stadt Shards. Glatter Rasen wechselte sich mit hohen Palmwedeln ab, vermischt mit seidigen Blüten und Brombeeren. Wuchernde Pflanzen wuchsen doppelt so hoch wie ein Mann, trugen saftige Beeren und Fallen, dazu ausgelegt, um Insekten und kleine Nagetiere zu fangen. Die Äste und Stämme, etwa so dick wie ein Mann, wurden bedeckt mit gekrümmten und teuflischen Widerhaken.

»Nicht bewegen!«, rief Dumarest eine Warnung, die Luft zitterte unter dem verzweifelten Gebimmel der Glocken. »Nur ruhig bleiben. Ich hole dich raus.«

Er studierte den Boden, als der Junge gehorchte, und bemerkte die Struktur der Wurzeln im verfilzten Rasen. Auf der einen Seite war ein stachelbewehrter Zweig gebrochen und Flüssigkeit tropfte aus der Fraktur. Als er sich prüfend niederkniete, hörte er ein leichtes Rascheln und drehte sich um, griff nach dem Messer in seinem Stiefel; Sonnenlicht reflektierte auf den neun Zoll scharfen und zugespitzten Stahls.

Ein Rascheln, gefolgt von weiteren Geräuschen, als ein Windstoß die Palmwedel bewegte und die schläfrige Luft mit dem betörendem Duft ihres Parfüms füllte.

Dumarest erhob sich, ließ den Rucksack von seinen Schultern gleiten und bewegte sich in Richtung des eingeschlossenen Jungen. Klein und flink würde der Knabe wenig Mühe haben, um durch die Disteln zu gleiten, Dumarest aber musste sich dreimal einen Weg frei hacken. So erreichte er die liegende Gestalt und bestimmte Dinge wurden klar.

Die Jacke war aus billigem Material, geflickt, ausgefranst, die silberne Kettelung nichts als Reste von Silberfolie. Die Glocken waren aus Bronze und hingen an Drähten vom Handgelenk. Die Hose war bedeckt mit Flicken und der spitz zulaufende Hut war grob genäht, alles unübersehbare Zeichen der Armut trotz ihrer bunten Show, ergänzt durch die hohlen Wangen und die zu hellen Augen, die schwachen Knochen des Jungen selbst. Ein Korb auf einer Seite erklärt die Anwesenheit des Jungen, ein Gefäß, zur Hälfte mit violetten Beeren gefüllt; eine mit Schmerzen gewonnene Ernte.

»Ruhig!« Der schmale Knöchel, eingeklemmt in die Falle, war gesprenkelt mit blauen Flecken, Blut war auf der Hose, Beweis von wilden Anstrengungen, das Bein zu befreien. Das Messer blitzte, als Dumarest im Gewirr der Dornen schnitt. »Nicht bewegen!«.

Obwohl stumm, konnte der Junge hören und verstehen und er blieb ruhig, bis Dumarest die Aufgabe abgeschlossen und sein Messer weggesteckt hatte. Glöckchen klirrten, als er den Jungen anhob und die ausgestreckte Hand sah, Entschlossenheit im kleinen Gesicht.

»Du willst die Früchte, oder?« Er hob den Korb als der Junge nickte. »Hier. Kannst du laufen?« Er beobachtete, wie der Junge einen vorsichtigen, humpelnden Schritt tat. »Zu langsam. Ich trage dich.«

Ein Heben und der Junge ritt auf seiner Schulter, den Korb fest in den kleinen Händen. Vorsichtig ging Dumarest den Weg zurück, hielt inne, als er erneut ein leichtes Rascheln vernahm.

Dieses Mal war es nicht der Wind.

Ein Busch aus Gras lag seitlich und Dumarest bewegte sich auf ihn zu, warf den Jungen auf den weichen Boden, als das Rascheln nahe kam. Er drehte sich, duckte sich. Ein auf seinen Kopf gerichteter Schlag ging fehl und zischte durch die Luft, der Mann am Ende des Stocks taumelte durch den überraschenden Mangel an Widerstand aus dem Gleichgewicht. Er war schmutzig, hatte ein Rattengesicht und trug fleckige, grün-braune Kleider, Tarnung, die ihn vor den menschlichen Raubtieren schützte, die im Busch lauerten. Er klappte zusammen und würgte, als Dumarest ihm in den Bauch trat, stolperte zurück, bis er sich in stachelbewehrten Zweigen verhedderte.

»Jarl?« Die Stimme kam von vorne, ungeduldig, missmutig. »Hast du ihn? Hast du ihn, Jarl?«

Zwei von ihnen und es könnten sogar noch mehr sein. Dumarest zog das Messer aus seinem Stiefel und rutschte seitlich unter die Disteln, fühlte das Ziehen der Dornen an seiner Kleidung, das Zerren und Brennen der Widerhaken an seinem Kopf.

»Jarl? Antworte mir, verdammt!«

Ein Rascheln und Dumarest sah einen fleckigen Leib, den Schatten eines großen Körpers, der Glanz des Sonnenlichts reflektiert von verborgenen Augen. Ein Mann stürzte sich nach vorn, einen knorrigen Ast in Händen. Seine Finger öffneten sich unter dem Streich des scharfen Stahls und das Blut spritzte.

»Du Bastard!« Schmerz und Wut verzerrten das verwüstete Gesicht. »Das kostet dich deine Augen! Du wirst blind durch den Busch wandern! Jarl! Kelly! Holt ihn euch, verdammt!«

Er wich zurück, seine unverletzte Hand tauchte in eine Tasche, kam mit einer Pistole wieder heraus. Ein großkalibriger Schrotprojektor, der die Luft mit tödlichem Hagel füllen konnte. Als Dumarest ihn entdeckte, warf er sich nach vorn, Klinge vorgestreckt, stieß die Spitze unter dem Brustbein nach oben, erreichte das Herz. Eine genauso sichere Art zu töten wie mit einem Laserschuss durch das Gehirn.

Als der Mann fiel, hörte er einen wilden Fluch, ein unbeholfenes Laufen an einer Stelle in der Nähe, die Echos eines anderen, wo er seinen Rucksack hingelegt hatte. Als er den Ort erreichte, fand er diesen nicht mehr.

Das Gebimmel der Glocken erinnerte ihn an den Jungen.

Er saß, wo er ihn hingeworfen hatte, die Augen ängstlich, das verletzte Bein steif vor sich. Der Knöchel war zu geschwollen für den Knaben, sodass er nicht mehr als nur kriechen konnte. Jarl war verschwunden, Reste von Haut und Kleidung hing an abgebrochenen Dornen, eine Spur des Blutes zeichnete seinen Weg, dem Dumarest leicht folgen könnte, aber nicht, wenn er gleichzeitig den Jungen zu tragen hatte. Und in der Dunkelheit würden andere Raubtiere sich gerne um hilflose Beute kümmern.

»Hoch!« Dumarest hob den kleinen Körper auf seine Schultern. »Ich bringe dich besser nach Hause.«

* * *

Die Stadt ähnelte dem Planeten – klein, düster, nichts anderes als funktional. Das Landefeld war eine Fläche aus holprigem Schmutz, verlassen nun, die Lagerhäuser verfallen und leer. Einmal hatte es hier einen pulsierenden Strom des Handels gegeben, aber die Adern der wertvollen Erze waren erschöpft, der Betrieb stillgelegt, Schuppen und Arbeiter aufgegeben. Unter ihnen war der hiesige Ladenbesitzer.

»Earl!« Er erhob sich, als Dumarest in seinen Laden kam. »Mann, ist es gut, dich zu sehen!«

Mel Glover war ein ehemaliger Arbeiter, der bei einem Unfall verletzt wurde und nun einen nutzlosen Fuß nachzog. Ein großer, breiter Mann mit einem robusten Körper und einem Gesicht gezeichnet mit einem ewigen mürrischen Ausdruck. Er führte den Laden, fungierte als Agent und hasste jede Sekunde seiner Arbeit. Er fand Erleichterung im Reden, in Drogen und in exotischen Träumen. Nun runzelte er die Stirn, als Dumarest den Jungen absetzte.

»Anton! Was zum Teufel ist mit dir passiert?« Er blickte Dumarest an. »Er fand dich, oder was?« Das Stirnrunzeln vertiefte sich, als er die Antwort hörte. »Gefangen in den Brombeeren – noch etwas?«

Ein Angriff auf sein Leben, Diebstahl, ein Mann tot – aber Dumarest beschloss, nicht ins Detail zu gehen. Er sagte: »Das ist alles. Ich habe ihn gehört, fand ihn und brachte ihn her. Weißt du, wo er lebt?«

»In der Drell.«

»Mit seinen Leuten?«

»Seiner Mutter. Sein Vater starb letztes Jahr.« Glover griff in eine Dose und warf dem Jungen einen Ball verpackter Süßigkeiten zu. »Hier, Junge. Kannst du gehen? Versuche zu hüpfen. Gut. Dann verschwinde.« Als der Junge fortsprang, an seiner Süßigkeit saugend, den Korb über einem Arm, fügte er hinzu: »Ich wette, du wusstest nicht, dass er das tun konnte.«

»Nein.«

»Aber du weißt, dass er stumm ist?«

Dumarest nickte und blickte sich im Laden um. Es war, wie er sich daran erinnerte, vollgestopft mit einer Vielzahl von Produkten, die meisten aus lokaler Herstellung. Körbe aus hiesigem Schilf, gefüllt mit zarten Blüten, lagen neben Töpfen aus von der Sonne gebackenem Ton, vollgestopft mit Gewürzen, Samen und narkotischen Kräutern. Ein Ballen enthielt Pelze, ein anderer die gegerbten Häute wilder Echsen, die Haut schien durchsetzt mit Silber, Jade und Gold. Produkte von geringem Wert, aber immer noch lohnende Ware, die von Schiffen eingesammelt wurde, die sich mit kleinen Gewinnen zufriedengaben. Unter einem Fenster, das auf die Hügel zeigte, stand ein Tisch, darauf lag ein Buch zusammen mit einem leistungsstarken Fernglas.

»Du hast fast einen Monat da draußen zugebracht«, sagte er. »Ich bekam schon Angst. Glück gehabt?«

»Nein.« Der Rucksack hatte eine Masse Korbinit enthalten; dreißig Pfund von nahezu reinem Kristall, genug für ein halbes Dutzend Hohe Passagen. Zusammen mit seiner Ausrüstung kostete es fast alles, was er besaß. »Im Drell, sagst du?«

»Wie bitte? Ach ja, der Junge.« Glover saugte seine Wangen ein, als er nach einer Flasche griff. »Auch einen? Nein? Nun, auf den Erfolg.« Er leerte das Glas in einem Schluck und es roch sehr nach grob destilliertem Schnaps, als es wieder aufgefüllt wurde. »Die Ecke ist das Nächste an einer Unterwelt, was du hier auf Shard findest. Es wurde einmal richtig mies da, aber dann ist die Firma verschwunden und Dinge haben sich etwas ausgeglichen. Die Armen blieben arm, aber die Reichen standen auf und gingen. War also einiges übrig, was man sich greifen konnte.« Er trank wieder. »Wenn mein Fuß nicht kaputt wäre, wäre ich auch schon weg. Ein guter Job«, sagte er bitter. »Das ist es, was sie mir gesagt haben. Eine gute, verantwortungsvolle Position. Hölle, schau es dir an! Sogar ein Hausi könnte in diesem Loch nicht leben!«

Eine Lüge – aber ein Hausi würde seinen Profit nicht versaufen, seinen Kram nicht durch mangelnde Aufmerksamkeit verrotten lassen oder sich in Selbstmitleid suhlen.

Dumarest sagte geduldig: »Wo im Drell?«

»Es geht immer noch um den Jungen?« Glover schüttelte den Kopf. »Ein dummer Junge – was ist er für dich? Trink was und vergiss ihn besser.« Er griff nach der Flasche, hielt in seiner Bewegung inne, als sein Blick Dumarests Augen traf. »Fivelane«, sagte er. »Nummer achtzehn.«

* * *

Einst hatte es gut ausgesehen, mit sauberer Farbe und klaren Fenstern, nicht mit Papier und Säcken ausgebessert. Ein Zuhause für Menschen mit Stolz. Nun enthielt es Gestank, Verfall und eine Schlampe, die mit berechnendem Blick auf Dumarest starrte.

»Anton«, sagte sie. »Was wollen Sie von ihm?« Ihr Gesicht trug jetzt einen spekulativen Ausdruck. »Wenn Sie darüber nachdenken …«

»Sind Sie seine Mutter?«

»So ähnlich. Seine wahre Mutter ist krank. Ich kümmere mich um alles.« Sie holte Atem, als Dumarest seine Finger um Ihren Arm schloss. »Alles in Ordnung, mein Herr! Kein Problem! Sie ist oben!«

Dumarest fand die Frau in einem Zimmer mit einem schmalen Fenster, halb bedeckt mit Tüchern als Schutz vor der Kälte der Nacht. Es gab ein aufklappbares Bett, einen Tisch, einen Stuhl, eine Box, ein Haufen von verschiedenen Stoffen in einer Ecke. Eine Jacke aus scharlachrotem Tuch lag auf dem Schoß einer Frau, die einst jung und schön gewesen war. Sie hustete und sog Luft ein, um wieder verräterisch zu husten.

»Anton ist ein guter Junge«, sagte sie. »Er tut, was er kann. Er würde auch niemandem schaden.«

Dumarest war geduldig. »Ich will ihm nichts tun. Ich möchte ihn nur kennenlernen. Er ist stumm geboren?«

»Ein genetischer Defekt, der aber behoben werden kann. Ein neuer Kehlkopf …« Ihre Hände schlossen sich auf dem verblichenen Stoff der geflickten Jacke. »Alles, was wir brauchen, ist Geld.«

Die Heilung für so viele Übel. Dumarest bemerkte die Schlankheit der Hände, die Länge der Haare. Sie hatte seine Augen nur bei der ersten Begegnung angesehen, den Blick dann fallen gelassen, als wenn sie sich schämen würde, und tat so, als sei sie aufs Nähen konzentriert. Von unten kamen plötzlich ein Ruf, ein Schlag, ein Schrei.

»Martia«, sagte sie. »Ihr Mann hat wenig Geduld.«

»Und Ihrer?«

»Tot.« Ihre Stimme war so trübe wie ihre Augen. »Vor mehr als einem Jahr jetzt. Ein Unfall.«

»Bei der Arbeit?«

»Im Busch. Ein Freund brachte die Nachricht.« Sie wollte nicht darüber reden und Dumarest beobachtete die Bewegungen ihrer Hände auf der Jacke. Ein Ersatz – der Rand war gold- statt silberfarben besetzt. Anton war noch nicht wieder zu Hause. »Was wollen Sie, Mister?«

»Ich bin auf der Suche nach jemandem. Einem Mann namens Kelly. Er könnte ein Freund von Ihrem Mann gewesen sein. Anton könnte ihn kennen. Tut er das?«

Sie war einen Moment ruhig, dann schüttelte sie den Kopf. »Denken Sie nach«, forderte Dumarest. »Ihr Mann könnte ihn erwähnt haben. Anton … können Sie mit ihm kommunizieren?« Er fuhr fort, als sie nickte. »Kelly könnte sich mit dem Jungen befreundet haben. Jarl auch. Kennen Sie Jarl?«

»Nein.«

Ihre Verneinung kam zu schnell, vielleicht einfach eine automatische Verteidigung. In solchen Orten wie dem Drell waren Fremde immer verdächtig und es wäre nur natürlich, dass sie den Jungen beschützen wollte. »Schade.« Dumarest blieb lässig. »Es ist Geld in der Sache. Ich möchte meine Arbeit tun und abreisen. Hatte Ihr Mann einen Lieblingsplatz? Wer hat Ihnen die Nachricht von seinem Tod gebracht?«

Es stellte die Frage, ohne den Tonfall zu ändern, und sie antwortete mit gedankenloser Reaktion. »Fenton. Boyle Fenton. Er besitzt das Barracoon. An der Ecke Tenlane und Drei.« Sie fügte hinzu: »Er ist ein guter Mann.«

Er hatte die schlechte Nachricht für sie leichter gemacht, gab ihr ein bisschen Geld, versprach, Hilfe zu leisten, wenn sie sie brauchte, ein Versprechen, das sie aus Stolz nicht eingefordert haben könnte.

War der Junge ein Köder gewesen?

Es war möglich und er passte dafür; jung, schwach, hilflos, konnte nicht mehr tun, als nur die Glocken bimmeln zu lassen, eine Ablenkung, um die Misstrauischen zu verwirren, platziert von den Raubtieren, bereit zu töten für jede Beute, die sie finden konnten. Oder hatten sie nur einen echten Unfall für sich genutzt?

»Geht Anton oft aus?«

»Jeden Tag.«

»In den Busch? Allein?«

»Er ist es gewohnt. Er sammelt, was er kann, und verkauft es für das, was er bekommt.« Stolz auf ihren Sohn hob den Kopf der Frau, ein Sonnenstrahl berührte ihr Haar und verlieh ihr gleichzeitig eine vorübergehende Schönheit, gespiegelt in den Knochen von Wange und Kiefer, den gewölbten Brauen über den tief liegenden Augen. Das Fieber färbte ihre Wangen und gab ihr einen falschen Schein der Gesundheit. »Er ist ein guter Junge, Mister!«

Der Junge war klein, schwach und unfähig zu sprechen, kannte sich aber mit den Gefahren des Busches aus. Es handelte sich nicht um einen Unfall, war aber auch nicht ganz seine Schuld gewesen. Die, die ihn benutzt hatten, trugen die Schuld.

Im Erdgeschoss stand die Frau, die ihn begrüßt hatte, wartend im Türrahmen.

»Glück, Mister?« Ihre Augen wanderten in Richtung der oberen Stockwerke. Eines war dunkel von einem frischen blauen Fleck. »Wenn Sie wirklich den Jungen wollen, kann ich das arrangieren.«

Dumarest fragte: »Gibt es hier ein Krankenhaus?«

»Eine Krankenstation in der Rotunde, aber die verlangen Vorkasse.« Ihr Blick schweifte über sein Gesicht, blieb auf dem getrockneten Blut auf der verletzten Kopfhaut liegen. »Für die da oben oder Sie selbst? Wenn es für die da oben ist, dann vergessen Sie es – sie wird keine Jahreszeit mehr überstehen. Wenn es für Sie ist, dann warum Geld verschwenden? Die Mönche werden Sie kostenlos behandeln.«

* * *

Es war ein harter Tag und Bruder Pandion war müde. Er ruhte seine Schultern am sonnenerwärmten Mauerwerk des Gebäudes aus, das als Kirche benutzt wurde, und schaute auf die Schlange, die scheinbar nie endete. Viele der Gesichter waren bekannt, aber alle waren Sünder, gekommen, um den Trost der Beichte zu genießen. Sie würden vor dem Segnungslicht knien, um ihre Schuld zu erleichtern, dann individuell Buße tun und danach das Brot der Vergebung erhalten. Und wenn auch viele nur wegen der Konzentratriegel kamen, war es ein fairer Austausch – denn alle, die auf ihren Knien wie hypnotisiert unter den wirbelnden Schimmern des Lichts knieten, wurden gegen den Drang, einen Mitmenschen zu töten, konditioniert.

Ein gerechter Tausch, aber wie viele mussten konditioniert werden, ehe man sicher und in Frieden auf den Straßen wandeln konnte? Pandion kannte die Antwort, wie auch alle jene, die im Dienst der Kirche der Universalen Bruderschaft standen, aber es zu wissen, minderte seine Entschlossenheit nicht. Sobald alle auf ihre Mitmenschen sahen und die Wahrheit des Credos erkannten – Hier, in der Gnade Gottes, gehe ich! –, würde das neue Zeitalter anbrechen.

Er würde es nie selbst erleben, wie auch kein anderer Mönch es würde. Die Menschen reisten zu weit und pflanzten sich zu schnell fort, doch jede von der Kirche berührte Person verringerte den Schmerz und die Angst um exakt diesen Beitrag. Jeder, der in einem anderen das Spiegelbild dessen sah, was er hätte sein können, bedeutete einen Schritt fort von Barbarei und Grausamkeit. Ein Leben in diesem Streben war ein gut verbrachtes Leben.

Er richtete sich auf, als Dumarest sich näherte, die braune, selbst gemachte Kutte verdeckte die kantigen Linien seines Körpers. Schon als Jugendlicher war er nie sonderlich dick gewesen und Jahre der Entbehrung hatten seine Haut straff über die Knochen gespannt und die Muskeln schrumpfen lassen. Doch die Entbehrung war freiwillig gewählt worden und keine Pflicht, denn die Kirche glaubte nicht an die Tugend des Schmerzes oder den Nutzen von Leid – doch wie konnte er sich selbst laben, wenn so viele hungrig blieben?

»Bruder?« Seine Augen, tief liegend unter den markanten Brauen, studierten die große Gestalt, die jetzt vor ihm anhielt. »Wenn Sie in die Kirche wollen, dann gibt es bereits eine Warteschlange.« Diese war zu lang und Pandion fühlte sich ein bisschen schuldig an seiner Trägheit. Bruder Lloyd hatte jetzt Dienst, frisch ausgeruht, aber die Schuld blieb, beschmutzt vielleicht von der Sünde des Stolzes – wann würde er lernen, dass andere seinen Platz einnehmen konnten? »Wenn es sich um eine andere Sache handelt, helfe ich gerne«, fügte er hinzu.

»Ein Junge«, sagte Dumarest. »Stumm, um die zehn Jahre. Kennen Sie ihn?«

»Anton? Ja.«

»Er war verletzt und ich habe mich gefragt, ob er hier für eine Behandlung aufgetaucht ist.«

»Es ist möglich«, sagt Pandion. »Ich habe ihn nicht gesehen, stehe hier nur kurze Zeit. Sie kennen ihn gut?«

»Nein, aber ich mache mir Sorgen.«

Der alte Mönch lächelte mit aufrichtiger Freude. »Vielleicht hat er um Hilfe gebeten. Wenn ja, hätte Carina Davaranch sich um ihn gekümmert.«

* * *

Sie war groß, ihre Haare bildeten einen goldenen Helm über dem gerundeten Schädel. Ihre Augenbrauen waren dick, beschatteten tiefe Augen aus starkem Blau. Ihr Mund war hart, die Lippen schmal, mit einem bestimmten Ausdruck in ihren Kiefern. Eine Frau in ihrem vierten Jahrzehnt, die aber älter wirkte, als sie war. Ihre Hände mit ihren grob abgerundeten Nägeln hätten ebenso gut zu einem Mann gehören können.

»Benötigen Sie Hilfe?« Ihre Augen trafen die seinen, hoben sich zum getrockneten Blut auf seinem Kopf. Der mattgrüne Kittel maskierte die Konturen Ihres Körpers. »Sie müssen sich setzen – Sie sind zu groß für mich.«

Ein Mann schrie auf, als Dumarest gehorchte. Der schmerzliche Ausdruck kam von einer Gestalt, die ausgestreckt auf einem Tisch an der Seite lag, flankiert von zwei anderen, die Grün trugen. Beides Männer, keiner jung, Mönche, damit befasst, eine oberflächliche Wunde zu behandeln. Es gab kein Zeichen des Jungen.

»Ein Unfall«, sagte sie, bemerkte Dumarests Aufmerksamkeit. »Ein Zimmermann war nachlässig mit einem Meißel. Lassen Sie mich nun Ihren Kopf betrachten.«

Er roch ihr Parfum, als sie sich über ihn beugte, und fragte sich, warum sie es trug. Eine Verteidigung gegen die natürlichen Gerüche eines solchen Ortes? Der Wunsch zur Betonung ihrer Weiblichkeit? Sie trat zurück, griff nach einem Stäbchen und tunkte es in eine antiseptische Flüssigkeit, wusch das getrocknete Blut ab.

»Still halten!« Das Brennen war scharf, doch schnell vorbei. Ein Spray und es war geschehen. »Nun für eine Weile in Ruhe lassen und dann haben Sie auch keine Probleme. Wenn Sie das Geld für die Behandlung haben, legen Sie es in die Schachtel.«

Eine Geste zeigte, wo sie war. Als er Münzen in den Schlitz steckte, fragte Dumarest: »Wie lange arbeiten Sie hier schon?«

»Ich kam auf der Orchinian vor zehn Tagen hier an. Ein Fehler; ich bin hier stecken geblieben und ich muss mich beschäftigen. Die Mönche waren bereit, mich helfen zu lassen.«

»Haben Sie den Jungen behandelt?«

»Den Stummen? Ja. Er hatte einen Bluterguss am Sprunggelenk und kleinere Wunden, aber er wird schon in ein paar Tagen wieder in Ordnung sein, wenn er es ruhen lässt.« Sie fügte hinzu: »Schade. Ein netter Junge. Wenn er mein wäre, würde ich eine Hure werden, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe, ihm eine Stimme zu kaufen.«

»Geben Sie ihr nicht die Schuld.«

»Ihr?«

»Seine Mutter. Ich habe sie gesehen und sie stirbt.«

»Ich weiß nichts davon.« Carina blickte auf ihre Hände, dann trafen ihre Augen wieder auf Dumarest. »War ich so durchschaubar?«

»Nein.« Er wechselte das Thema. »Was hat Sie nach Shard gebracht?«

»Ich habe es doch gesagt – ein Fehler. Ich war auf Zanthus und zwei Schiffe standen auf dem Feld. Ich warf eine Münze und die Quoten waren gegen mich, ich habe mich für das falsche entschieden. Gut, Gott sei Dank, ich habe Geld, um von hier zu verschwinden. Und Sie?«

Dumarest hatte Probleme, wenn er seine gestohlenen Besitztümer nicht wiederfand. Shard hatte keine Industrie, keine einfache Quelle von Rohstoffen. Er hatte Glück, aber zum Leben in den Hügeln über Wochen benötigte er Ausrüstung, die er nicht mehr hatte. Ohne Geld war er gestrandet, und das hieß oft zu verhungern.

Er sagte: »Ich werde durchkommen.«

»Da bin ich mir sicher.« Ihre Finger waren geschickt, als sie seine Wunde berührten. »Und vielleicht werden Sie lernen, sich das nächste Mal zu ducken.«

»Ich werde es versuchen.«

»Das werden Sie. Nein! Warten Sie!« Ihre Finger hielten ihn fest, als er aufstehen wollte. Starke Finger, die ihm über den Schädel strichen, die Linien seines Kiefers, auf den Knochen von Wangen und Augenbrauen verharrten. Er dachte an einen Chirurgen, der nach Frakturen suchte, oder einen Bildhauer, der Lehm zu formen begann. »Ich möchte Sie malen«, sagte sie. »Werden Sie mir Modell sitzen?« Sie spürte sein Zögern. »Ich zahle«, fügte sie hinzu. »Es wird nicht viel sein, aber ich zahle.«

Der Mann, der geschrien hatte, setzte sich aufrecht am Rand des Tisches hin. Er schwitzte, sein Gesicht gezeichnet, es war hager. Auf seinem Brustkorb lag eine breite Schicht von transparentem Verband, darunter glänzte die fein säuberlich vernähte Wunde.

Dumarest sah ihn an und fragte sie: »Haben Sie heute jemanden mit mehreren Wunden behandelt? Ein Mann mittleren Alters, die Haut gerissen am Gesicht, dem Rücken und den Schultern.«

»Nein.«

»Hat jemand anders?«

»Ich habe Dienst seit dem Morgengrauen.« Ihre Hand fielen von seiner Wange, als sie zurücktrat. »Wir hatten schon eine Frau mit einer geschnittenen Lippe, einen Mann mit zwei gebrochenen Fingern, drei Kinder mit Verbrennungen und Verbrühungen, ein Mädchen, das Gift geschluckt hat. Ein ruhiger Tag. Vielleicht hat die Krankenstation den Mann, den Sie suchen.«

»Könnten Sie das herausfinden?«

Für einen Augenblick starrte sie ihn an und dann, ohne Kommentar, verließ sie den Raum. Aus einem Nebenraum hörte er das Klingeln eines Telefons, ihre Stimme, ihr Warten, erneut ihre. Als sie zurückkehrte, schüttelte sie erneut den Kopf. »Nein.«

»Vielen Dank. Ich schulde Ihnen einen Gefallen.«

»Sie können ihn zurückzahlen.« Sie löste die Befestigung des Kittels. »Können Sie mich nach Hause bringen?«

2

Zuhause, das war ein Studio unter einem Dachfirst, ein heller Ort mit Fenstern, die das Sonnenlicht auf abblätternde Wände und den Boden aus unbehandeltem Holz scheinen ließen – ein Loft mit einem breiten Bett, einem Schrank, einem Tisch, Stühlen, einer Staffelei, an der die Frau stand, und einem Stuhl, auf dem Dumarest saß. Der Ausblick zeigte die Hügel, das Wirrwarr des Busches, das wegen des wechselnden Lichts zu einem dunklen Grün wurde, jetzt bedrohlich wirkte, mit der Ahnung lauernder Gefahren. Der Eindruck wurde durch die sterbende Sonne verstärkt, die niedrig am Horizont in einem Meer von Ocker und Orange ruhte, rotbraun wie verbranntes Kupfer. Eine wütende Sonne, die mit der Geschwindigkeit starb, mit der sie geboren worden war, und bald die Welt in die Nacht stürzen würde.

»Earl! Du hast dich bewegt!« Ihr Ton war rau vor echtem Zorn. »Wie kann ich deine Stimmung einfangen, wenn du nicht still hältst?«

Ein Vorwurf, den zu machen sie das Recht gewonnen hatte, und er gefror wieder, seine Augen suchten den Busch ab. Jarl konnte da unter den Disteln liegen, aufgerissen, blutend, auf den Tod wartend. Oder er hatte ein Loch gefunden, in dem er sich verbarg, bis es sicher war, zurück in die Stadt zu kommen. Die Sicherheit würde nach Einbruch der Dämmerung gegeben sein, wenn er in einem Zimmer irgendwo von Leuten mit gemeinsamen Interessen gepflegt werden konnte.

Aber Kelly war unverletzt.

»Earl!«

»Es tut mir leid.« Die Pose war unangenehm und er hielt sie schon zu lang. »Kann ich mich strecken?«

»Später.«

Sie war streng, aber sie verstand ihr Handwerk. Ihre Finger bewegten sich mit flinker Grazie und ihr Gesicht war verloren in der abstrakten Welt einer kreativen Künstlerin. Ein Trick des Lichts verwandelte eine Scheibe des Fensters in einen Spiegel und er beobachtete die Neigung und Bewegung ihres Kopfes, den Helm von geglättetem Haar, der das knochige Gesicht umgab. Sie hatte sich verändert und trug jetzt einen Kittel, der lose von ihren Schultern hing, in der Taille mit einem Gürtel gebunden. Ein Fleck Farbe auf der Wange raubte ihr die Jahre und sie sah irgendwie jung und voller kindlicher Begeisterung aus.

Die Täuschung entstand durch Spiegel und Licht und er sah erneut suchend in den Busch hinaus, zu den Ausläufern der Stadt. In der Ferne bewegte sich etwas und er spannte die Muskeln, verengte die Augen, aber es war nur ein Tier, das den Schmutz durchwühlte. Er saß schon zu lange und würde bald gehen müssen.

* * *

»Jetzt?«

»Jetzt«, sagte sie zögernd. »Komm und sag mir, was du denkst.«

Er macht eine Pause, bevor er antwortete, studierte, was er sah. Die Kleidung war richtig: graue Tunika und Hose mit hohen Stiefeln, der Griff seines Messers ragte aus dem rechten Schaft. Der Hintergrund war der gleiche: die Hügel jenseits des Fensters, der Busch, das sterbende Licht, das den Himmel bemalte. Aber der Mann, den sie gezeichnet hatte, schien ein Fremder zu sein. Das Gesicht war eine Maske aus Hass, Schmerz und kalter Entschlossenheit. Eine Mischung durchsetzt mit rücksichtsloser Grausamkeit, die ihm die Aura eines sprungbereiten Raubtieres verlieh.

»Ist das, wie du mich siehst?«

»Das ist, was ich glaube, was du bist«, korrigierte sie. »Nicht an der Oberfläche, aber in der Tiefe, wo es drauf ankommt. Ein einfaches Tier, das ums Überleben kämpft, so gut es kann. Der einzige Unterschied zwischen dir und dem Rest von uns ist, dass du gut darin bist. Verärgert?«

»Nein.«

»Gut.« Sie schien erleichtert. »Manche Männer können es nicht ausstehen, sich selbst in einem echten Spiegel zu sehen. Sie wollen etwas sein, das sie nicht sind. Dummköpfe, die oft nicht wissen, wie sie ihre Dummheit zeigen.«

»Menschlich«, sagte Dumarest. »Es ist nur menschlich, dass man die eigenen Fehler nicht mag und sein Bestes tut, um sie direkt wieder zu vergessen.« Er blickte wieder auf die Leinwand. »Wie lange hast du gebraucht, um das zu lernen?«

»Die inneren Stimmungen richtig zu treffen? Drei Jahre lang lernte ich an der Universität zu Brenarch auf Drago. Das war, bevor ich beschloss, Medizin zu studieren, und nachdem ich erkannte, dass ich nie eine Tänzerin sein würde.«

»Drago – deine Heimatwelt?«

»Nein. Geboren bin ich auf Mevdon. Hast du tatsächlich Verständnis für posierende Narren?«

»Ich versuche, sie zu verstehen.« Er schüttelte den Kopf, als er ihr in die Augen sah. »Du arbeitest mit den Mönchen, Carina – haben sie dich nichts gelehrt?«

»Ich helfe den Mönchen«, sagte sie. »Ich kann es nicht ausstehen, gelangweilt zu sein. Das heißt aber nicht, dass ich glaube, was sie lehren. Tolerant zu sein, ja, und sanft und nett und die Fantasie zu haben, sich für andere zu interessieren. Aber ich bin nun mal eine Künstlerin und für mich gibt es keine Schönheit in Schmutz und Verfall, keinen Ruhm im Scheitern. Und als Ärztin empfinde ich nichts als Abscheu für Krankheit und Unwissenheit.«

»Eine Ärztin?«

»Fünf Jahre an der Hamed Foundation auf Hyslop. Sie benutzen Hypno-Unterricht und Zellular-Erfahrungstherapie. Ich habe einen Abschluss, aber ich will nicht behaupten, mehr zu sein als nur mittelmäßig.«

Er sagte trocken: »Du musst jung begonnen haben.«

»Verdammt zu jung!« Die Bitterkeit ihrer Reaktion überraschte ihn. »Ich weiß nicht, was für eine Art von Kindheit du hattest, Earl, aber meine war einfach nicht vorhanden. Mein Vater war ein Genie und wollte, dass ich auch eines werde. So hat er mich intellektuell zwangsernährt und hat mich fast wahnsinnig gemacht. Wenn er nicht gestorben wäre, wäre es ihm auch gelungen.«

»Deine Mutter?«

»Die starb bei meiner Geburt – so wurde mir gesagt. So manches Mal denke ich, ich muss aus einer Brutkammer gekommen sein. Die Wahrheit könnte sein, dass mein Vater eine genetische Leihmutter gemietet hat, die sein Kind austrug und später versorgte. Wie auch immer, er ist jetzt tot. Eines Tages werde ich zurückkehren und auf seinem Grab tanzen.«

Dumarest sagte: »Hast du schon einmal jemanden gemalt, der so begabt ist wie du selbst?«

»Nein. Warum? Ich …« Sie brach ab, verstand. »Der Spiegel der Wahrheit. Bin ich so schlimm?«

»Du bist menschlich – genauso wie der Rest von uns.«

»Und ich spiele genau so sehr etwas vor?«

Er sagte nichts, aber seine Augen gaben die Antwort und sie runzelte die Stirn, umarmte sich selbst, als sie durch das Fenster sah. Draußen war die Welt dunkel geworden, die Sonne verschwunden, wie ausgelöscht, und die Sterne erleuchteten den Himmel mit einer kalten und unfreundlichen Schönheit. Zu viele Sterne und viel zu nah; der Saragossa-Cluster war ein Haufen voller Welten, die meisten ähnlich wie Shard – Planeten, die kein Gesetz anerkannten und nur die grundlegendsten Elemente der Zivilisation aufwiesen. Sackgassen-Welten, gebraucht, fortgeworfen, den Beutejägern überlassen; Plätze frei von Kultur und Tradition, Dschungel, in denen nur die Starken zu überleben hofften.

»Nacht.« Carina erschauerte in der zunehmenden Kälte. »Einen Moment ist es Sommer und dann ist man mitten im Dunkel des Winters. Ich hasse die Kälte. Ich hatte mich mal auf Camarge verirrt; mein Floß wurde beschädigt und ich musste anlanden und auf Rettung warten. Fünf Tage lang mit Temperaturen niemals über dem Gefrierpunkt – die Hölle ist aus Eis.«

»Camarge«, sagte Dumarest. »Du bist herumgekommen.«

»Und?«

»Drei Jahre Ausbildung zur Malerin. Fünf für die Ärztin.«

»Und ich reise.« Sie wandte sich ihm zu, ihre Augen hell vom Trotz. »Jetzt sag mir, dass ich mein Leben verschwende.«

»Ich würde das nicht sagen.«

»Es gibt viele, die würden. Es gibt viele, die haben es auch gesagt. Werde sesshaft, sagen sie. Umsorge einen Mann und gebäre einen Haufen Kinder. Sei eine Köchin, eine Krankenschwester und eine Geliebte. Eine wirkliche Frau.« Ihr Ton war spröde vor Zorn. »Was wissen sie alle darüber? Eine Frau ist nicht anders als ein Mann in ihren Bedürfnissen und Wünschen. Sie kann genauso rastlos sein. Der Drang zu reisen ist stark. Sie wird sonst fade und gelangweilt wie jeder Mensch, der je geboren wurde.«

»Also hast du dich auf den Weg gemacht«, sagte Dumarest. »Eine Reisende.«

»Ja«, sagte sie. »Ich reise.«

Sie trieb von Welt zu Welt, verdiente Geld, so gut sie konnte, bewegte sich auf einer rastlosen Suche nach … was? Frieden, hätte sie sagen können oder Glück, aber für sie und jene, die wie sie waren, gab es so etwas nicht. Immer gab es eine weitere Welt zu sehen, eine weitere Reise anzutreten. Hoch, wenn sie es sich leisten konnte, mit dem Zauber der Schnellzeit die Stunden in Sekunden zu komprimieren. Wenn Sie das Geld nicht hatte, reiste sie gedopt, gefroren und neunzig Prozent tot in Tiefkühlschreinen, konzipiert für den Transport von Tieren. Riskierte die fünfzehnprozentige Wahrscheinlichkeit zu sterben, um billig zu reisen. Und am Ende?

Dumarest hatte sie gesehen, alt, verbraucht, hungrig auf feindseligen Welten. Nicht viele, denn nur einige wenige wurden alt und wenige davon waren Frauen. Diese, mit einem stärkeren Realitätssinn ausgestattet als Männer, nahmen mit, was sie konnten, wenn sie noch attraktiv genug waren, um ein gewisses Maß an Sicherheit und Komfort zu erreichen.

Vielleicht würde Carina das Gleiche tun.

* * *

Das Barracoon