Eddas Aufbruch - Beate Rösler - E-Book
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Eddas Aufbruch E-Book

Beate Rösler

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Beschreibung

1968 – Eine junge Frau durchbricht die Mauer des Schweigens.

Um der Enge ihres autoritären Elternhauses zu entkommen, geht die 19-jährige Edda als Au-pair nach Paris. In einer politisch aufgeheizten Zeit verliebt sie sich in den Studenten Marcel, der neue Fragen in ihr weckt: Auf welcher Seite standen ihre Eltern in den Jahren des Nationalsozialismus? Zurück in Frankfurt am Main konfrontiert sie ihren Vater, doch dieser hüllt sich in Schweigen. Erst als Edda alte Feldpost im Schlafzimmer ihrer Mutter entdeckt, kommt sie den Ereignissen der Vergangenheit auf die Spur. Was sie herausfindet, stellt nicht nur ihre Beziehung zu Marcel auf die Probe. Edda muss sich zudem entscheiden, wie weit sie für Gerechtigkeit gehen will … 

Der bewegende Aufbruch einer mutigen jungen Frau, die sich der NS-Vergangenheit ihrer Eltern stellt.

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Seitenzahl: 633

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Über das Buch

Frankfurt, 1967: Nachdem Edda hautnah miterlebt, wie der Student Benno Ohnesorg auf einer Demonstration von einem Polizisten erschossen wird, hat sie genug von den Ausreden der Generation ihrer Eltern, die die Jungen verurteilt, aber ehemalige Nazis ungeschoren davonkommen lässt. Gleich nach dem Abitur geht sie für ein Jahr als Au-pair nach Paris. Zwischen Studentenrevolten und Protestmärschen gegen den Vietnamkrieg verliebt sie sich in den Jurastudenten Marcel. Der junge Franzose, dessen Eltern der Résistance angehörten, hat jedoch Vorbehalte gegenüber der Deutschen – insbesondere, da er Edda vorwirft, nicht einmal wirklich zu wissen, auf welcher Seite ihre Eltern in der Zeit des Nationalsozialismus gestanden haben. Als Edda beginnt, die Lebensgeschichte ihres Vaters zu erforschen, kommt ihr ein entsetzlicher Verdacht, der sich nicht nur auf ihre Beziehung zu Marcel auswirkt. Edda steht vor einer folgenschweren Entscheidung …

Über Beate Rösler

Beate Rösler, 1968 in Essen geboren, studierte Rechtswissenschaft und romanische Sprachen in Berlin. Sie ist Übersetzerin und arbeitete viele Jahre als Deutschlehrerin am Goethe-Institut in Frankfurt am Main sowie in Neu-Delhi und Hanoi.

Im Aufbau Taschenbuch sind bisher ihre Romane »Die Reise des Elefantengottes«, »Die Töchter des Roten Flusses« und »Helenes Versprechen« erschienen.

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Beate Rösler

Eddas Aufbruch

1968: Sie rebelliert gegen das Schweigen und sucht nach der Wahrheit

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Westberlin, Juni 1967

Frankfurt am Main, Sommer 1967

Paris, August 1967

Westberlin, Februar 1968

Paris, März 1968

Frankfurt am Main, April 1968

Paris, April 1968

Essen, September 1968

Frankfurt am Main, November 1968

Limoges, Frankreich, Dezember 1968

Frankfurt am Main, Februar 1969

Epilog

Dank

Impressum

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Für Tanya

Westberlin, Juni 1967

Edda warf einen prüfenden Blick auf den plakatierten Bauzaun und versuchte abzuschätzen, ob es ihr in Minikleid und Sandaletten gelingen könnte, ohne nennenswerte Schürfwunden hinaufzuklettern. Würde ihre neue Handtasche, ein Geschenk ihrer Mutter zum neunzehnten Geburtstag, hässliche Kratzer abbekommen? Eddas Blick streifte eine Gruppe junger Männer, die wie Studenten aussahen und es sich dort oben bequem gemacht hatten. Ob sie sich einfach zu ihnen gesellen sollte? Bis der Schah von Persien Mohammad Reza Pahlawi und Farah Diba an der Deutschen Oper einträfen, würde es noch eine ganze Weile dauern.

Sie schlang sich ihr dunkles Haar zu einem lockeren Knoten, die Sonnenbrille schob sie sich auf den Kopf. Passend zum Anlass herrschte strahlendes Kaiserwetter. Tausende drängten in das Areal, das die Polizei vor dem Baugelände abgesperrt hatte, damit das persische Kaiserpaar unbehelligt die Abendvorstellung von Mozarts »Zauberflöte« erreichte. Doch für die Schah-Anhänger, die Schaulustigen und die vielen jungen Leute, die gekommen waren, um gegen den Staatsbesuch zu protestieren, war das Terrain zu knapp bemessen. Fürchtete die Polizei denn nicht, dass die Menschen in Panik geraten könnten?

Einer der Studenten fing Eddas Blick auf und winkte sie zu sich herauf. Er hatte schulterlange Haare und trug ein Stirnband. Edda stutzte. War das Kai? War er tatsächlich gekommen? Doch ihre Augen hatten sich geirrt. Oder vielleicht ihr Herz, das sich enttäuscht zusammenzog. Wofür der Student, den sie fälschlicherweise für Kai gehalten hatte, allerdings nichts konnte. Also winkte Edda zurück und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass sie es sich überlegte. Den Gedanken an Kai schob sie beiseite, vorerst. Zum ersten Mal in ihrem Leben sähe sie eine Weltberühmtheit aus der Nähe, und dass es ausgerechnet Farah Diba wäre, von der Presse hochgelobt als »Jackie Kennedy des Mittleren Ostens«, würde Edda vielleicht dabei helfen, aus diesem verkorksten Tag das Beste zu machen. Ob die Shabanu wirklich so bildhübsch aussähe wie im Fernsehen? Eine derart große Demonstration hatte Edda noch nie erlebt. Die vielen Menschen, das Stimmengewirr und nicht zuletzt das enorme Polizeiaufgebot gaben ihr das Gefühl, einem historischen Ereignis beizuwohnen.

»Kommst du mit, Ariane?« Edda deutete auf den Bauzaun. »Da oben ist es nicht so eng.«

Doch ihre Freundin entschied sich, bei Navid und seinen iranischen Freunden zu bleiben, mit denen er wochenlang gegen den Schah-Besuch mobilisiert hatte. Seitdem er Ariane gebeten hatte, ihm nach der Schule zu helfen, Flugblätter zu verteilen, schwebte diese im siebten Himmel. Jetzt entfalteten sie ein Laken, auf das sie in knallroter Farbe Nieder mit dem Schah und Mörder raus aus Westberlin gepinselt hatten. Einige Buchstaben waren verlaufen, so dass es aussah, als trieften sie vor Blut.

Plötzlich schrillte Edda die Trillerpfeife eines Polizisten ins Ohr. Im nächsten Augenblick scheuchte ein anderer, der einen Schäferhund an der Leine führte, die Studenten vom Zaun herunter. Keinen Zweifel ließen die Beamten daran, mit Knüppeln nachzuhelfen, sollten sie nicht sofort spuren. Die Studenten suchten das Weite.

»Das war’s dann wohl mit deinem Logenplatz«, stellte Ariane fest und schnitt eine Grimasse, die den Polizisten galt. Edda hoffte, dass sie es nicht bemerkt hatten.

Etwas später hielt Edda zusammen mit Navid das Spruchband empor. Arianes Arme waren davon schlapp geworden. Jetzt übte Eddas Freundin sich darin, aus Navids Tabak und Blättchen Zigaretten zu drehen, die sie großzügig in ihrer Umgebung verteilte. Als sie zu Edda hinüberschaute und winkte, stellte Edda wieder einmal fest, dass ihr der blonde Kurzhaarschnitt, zu dem sie Ariane überredet hatte, ausgezeichnet stand. Ihre blauen Augen, die beinahe türkis leuchteten, kamen dadurch viel besser zur Geltung. Um diese spektakuläre Augenfarbe beneidete Edda ihre Freundin, ihre eigenen schimmerten in einem unscheinbaren Grau.

Jemand drückte Edda ein Flugblatt in die Hand, das Farah Diba kritisierte. Der Aufhänger war ein Interview, das sie kürzlich der Neuen Revue über ihr Leben als Kaiserin gegeben hatte. Im Wartezimmer ihres Zahnarztes hatte Edda es verschlungen. An Folter oder Armut hatte sie dabei freilich nicht gedacht, sondern sich ausgemalt, wie Farah Diba mit ihrer Familie an den Stränden des Kaspischen Meeres entlangspazierte. Als Leserin gewann man leicht den Eindruck, es handele sich dabei um ein sommerliches Vergnügen, das sich viele Menschen in Iran leisten konnten, um der glühenden Hitze zu entkommen.

»Die meisten Perser«, zitierte eine Demonstrantin mit Megaphon nun den Text, der aus der Feder einer Journalistin namens Ulrike Meinhof stammte, »sind Bauern mit einem Jahreseinkommen von unter 100 Dollar. Und den meisten persischen Frauen stirbt jedes zweite Kind – 50 von 100 – vor Hunger, Armut und Krankheit. Und die Kinder, die Teppiche knüpfen, fahren auch die – die meisten? – im Sommer an die persische Riviera am Kaspischen Meer?«

Beinahe erschien es Edda, als werfe die Vorleserin ihr vor, dass sie sich für die Kaiserin stärker interessierte als für die Probleme des Iran. Edda war sich bewusst, dass sie bis vor Kurzem keine Ahnung davon gehabt hatte, wie brutal der Schah herrschte. Sie hatte geglaubt, er führte sein Land modern und offen. Hatte er nicht eine Architektin geheiratet, die sich nicht nur für soziale, sondern auch städtebauliche Belange engagierte? So jedenfalls schilderten es die Illustrierten ihrer Mutter.

Mit mulmigem Gefühl beobachtete Edda, wie die Polizisten sämtliche Neuankömmlinge hinter die Absperrung leiteten. Wie dicht gedrängt sollten sie denn noch beisammenstehen? Bereits jetzt war es kaum möglich, sich nicht ständig gegenseitig auf die Füße zu treten. Um sich herum schnappte Edda Gesprächsfetzen auf, bei denen es darum ging, was mittags vor dem Schöneberger Rathaus geschehen war. Während sich der Schah ins Goldene Buch der Stadt eingetragen hatte, wären sogenannte Jubelperser mit Holzlatten auf demonstrierende Studentinnen und Studenten losgegangen. Minutenlang hätte die Berliner Polizei tatenlos zugesehen und erst eingegriffen, als es die ersten Verletzten gab. Auch Ariane und Navid waren dort gewesen. Danach waren sie in Kais Wohnung aufgekreuzt und hatten Edda fassungslos von den Ereignissen berichtetet.

»Wir müssen denen zeigen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen. Und dass wir viele sind«, hatte Ariane aufgebracht erklärt. »Edda, komm doch nachher mit zur Deutschen Oper.«

Edda hatte gezögert. Was, wenn Kai zurückkommen würde? Sie einfach sitzen zu lassen, passte gar nicht zu ihm. Allerdings war ihr Besuch bislang in keiner Weise so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. In Edda hatte sich deswegen Trotz geregt. Immerhin riskierte sie gewaltigen Ärger, sollten ihre Eltern erfahren, dass sie zu Kai nach Berlin gefahren war. Für sie stand außer Frage, dass ihre Tochter, bevor sie nicht einundzwanzig und volljährig wäre, bei ihrem Freund übernachtete. Ganz zu schweigen davon, dass sie eigentlich gerade zu Hause in Frankfurt für ihr Abitur lernen sollte. Und was hatte Kai getan, damit ihr Wiedersehen so wunderbar werden würde, wie er es Edda in seinen Briefen versprochen hatte? Nichts. Völlig bekifft hatte er sie begrüßt, und nach ihrem Streit darüber war er abgehauen. Glaubte Kai, sie würde sich das gefallen lassen?

»Also gut, ich bin dabei«, hatte sie zugestimmt, woraufhin Ariane sie umarmt und Navid ihr anerkennend auf die Schulter geklopft hatte. Gemeinsam hatten sie nach einem geeigneten Laken, Farbe und Pinseln gesucht.

Jetzt betrachtete Edda die Transparente der anderen, die das Ende der Militärdiktatur und Folter in Iran sowie Autonomie für die Teheraner Universität forderten. Als Sprechchöre anschwollen, stand Ariane auf und stimmte in den Ruf »Schah, Schah, Scharlatan« ein. So laut und entschlossen hatte Edda ihre Freundin noch nie erlebt. Alle, so kam es ihr vor, riefen die Parole mit. Sie selbst blieb stumm, während Ariane mit blitzenden Augen sogar ihre Faust gen Himmel ballte, was Edda dann doch übertrieben fand. Aber klar, Ariane liebte Navid, der Iran hatte verlassen müssen, weil er dort als Oppositioneller verfolgt worden war. Seitdem Ariane das wusste, war für sie sogar Farah Diba als Mode-Ikone gestorben.

»Schah, Schah, Scharlatan!«

Noch immer reckten Edda und Navid das Spruchband über ihre Köpfe. Inzwischen kribbelten Eddas Arme, als wäre nicht nur das Blut aus ihnen gewichen, sondern durch Millionen Ameisen ersetzt worden. Navid begegnete ihrem gequälten Blick und lachte. Er tippte Ariane an und bedeutete ihr, Edda abzulösen. Edda winkte ab, sie würde schon durchhalten. Unwillkürlich hielt sie Ausschau nach Kai. Er mochte es nicht, wenn Tausende einvernehmlich dieselben Parolen brüllten. Es erinnerte ihn daran, dass in Nazi-Deutschland Millionen das nachgebrüllt hatten, was der Führer ihnen propagiert hatte. Ehe sie es verhindern konnte, sah Edda Kais Bild vor sich, rauchend und versunken in die Musik der Doors. Plötzlich kamen ihr die Tränen. Nicht wegen des Schahs war sie stundenlang über die Betonplatten der Transitstrecke geholpert und hatte schikanöse Ewig-und-drei-Tage an der Grenzübergangsstelle darauf gewartet, nach Westberlin einzureisen. Um Kai wiederzusehen, nur deshalb war sie hier.

Ariane drängte sich neben sie. »Was hast du denn? Ist es wegen Kai? Der verdient es, dass du sauer bist!«

Edda nickte.

»Lass ihn ein bisschen schmoren.« Mit einem aufmunternden Zwinkern hakte sich Ariane bei Edda ein.

»Schah, Schah, Scharlatan!« Arianes Stimme schallte in ihr Ohr. An sich gefiel Edda das Wortspiel. Es klang nicht so radikal wie der Ruf »USA – SA – SS«, den Edda gehört hatte, als sie einmal mit ihren Mitschülerinnen gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gegangen war. Natürlich, diese Bombardierungen mussten aufhören. Aber die Amerikaner hatten Deutschland von den Nazis befreit. War es da richtig, sie in einem Atemzug mit Hitlers Schergen zu nennen?

Ganz leise sprach Edda die Worte nun mit, dann sagte sie sie lauter und schneller, bis sie Arianes Rhythmus gefunden hatte. Es tat ihr gut, all das, was sie beschäftigte, in ihre Stimme zu legen und hinauszuschreien. Mittendrin zu sein, fühlte sich auf einmal gar nicht mehr so schlecht an.

Bis plötzlich Tomaten und Farbeier in Richtung der Polizei flogen. Im nächsten Moment sprangen Beamte über die Absperrung. Sofort wurden das Schieben und Schubsen so heftig, dass Edda Angst bekam, erdrückt zu werden. Das Spruchband fiel zu Boden. Die Polizisten griffen sich zwei junge Männer. In einem erkannte Edda den Studenten vom Bauzaun wieder. An den Haaren schleiften sie ihn gnadenlos mit sich fort. Wie schrecklich, dachte Edda entsetzt, es waren doch bloß Tomaten gewesen.

Ariane hatte sich bereits in einen neuen Sprechchor eingeklinkt. Ihre Stimme überschlug sich. »Ge-sta-po! Ge-sta-po!«

Edda verspürte einen Anflug von Panik. Würde sich die Polizei das bieten lassen? Auf einmal hielt sie die Enge kaum noch aus. Sie gab Ariane ein Zeichen, anschließend zwängte sie sich zielstrebig bis zur Bismarckstraße durch. Dort kletterte sie auf eines der rot-weißen Sperrgitter und atmete auf. Endlich etwas Freiraum. Und eine bessere Sicht auf die Deutsche Oper, ein erstaunlich klobiger Betonklotz ohne jede Eleganz. Es hieß, dass Farah Diba orientalischen Glimmer versprühte. Edda hatte den Eindruck, dass ein paar Fünkchen davon der Mauerstadt nicht schaden könnten.

»Hey, Edda.«

Sie fuhr herum, wobei sie beinahe ihr Gleichgewicht verloren hätte.

»Kai.«

Er erklomm das Sperrgitter und rückte neben sie. Ob Kai schuldbewusst aussah, konnte Edda nicht erkennen, denn er hatte sich eine dieser beliebten Masken übergestülpt, die das Gesicht des Schahs oder Farah Dibas karikierten. Nun nahm er die Schah-Maske ab und zog sein Stirnband fest. Mit seinen lockigen Haaren ähnelte er seinem Lieblingssänger Jim Morrison.

»Dass du mich gefunden hast …« Bei all diesen Menschen grenzte es an ein Wunder und dass Kai sich darum bemüht hatte, freute Edda.

Als Kai aufsah, trafen sich ihre Blicke. Seine Augen waren klar und grün, wie Edda sie liebte, nicht rot und verhangen wie am Abend zuvor.

»Ohne deine Nachricht auf dem Küchentisch wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, dich hier zu suchen.« Vage deutete er in ins Gewimmel. »Zum Glück habe ich Ariane getroffen. Sie hat mir einen Tipp gegeben.«

Er deutete ein Lächeln an, das Edda erwiderte. Inmitten dieser Demo über ihren Streit zu sprechen, wäre ihr seltsam vorgekommen, deshalb zeigte sie stattdessen auf Kais Maske. »Darf ich mal sehen?«

»Klar.«

Sie strich die bedruckte Papiertüte glatt, in die auf Augenhöhe Löcher gestanzt worden waren. Dichte Brauen, markante Nase und ein Lächeln mit Zähnen, die suggerierten, dass sie jeden Augenblick zubeißen könnten.

»Genial, nicht wahr?« Kai faltete die Maske zusammen und klemmte sie in seinen Hosenbund. »Auf so etwas muss man erst mal kommen. Typisch Kommune 1.«

Er zündete sich eine Zigarette an, dann ergriff er Eddas Hand. »Lass uns irgendwo ein Bier trinken gehen. Ich weiß, dass ich’s vermasselt habe. Gibst du mir noch eine Chance, dir Berlin schmackhaft zu machen?«

Edda schmunzelte. Vielleicht würde das Wochenende ja doch noch ganz schön werden.

»Entschuldigung angenommen. Jedenfalls, wenn du dich nicht wieder bekiffst. Ich mag es nicht, wenn du in anderen Sphären schwebst als ich.« So hatte Edda es empfunden, als Kai sie am Abend zuvor begrüßt hatte. Dabei hatten sie sich wochenlang nicht gesehen. Nachts hatte Edda unglücklich neben ihm gelegen und sich gefragt, ob es eine gute Idee gewesen war, nach Berlin zu kommen.

Theatralisch legte Kai seine Hand aufs Herz. »Ich gelobe, solange du in Berlin bist, nicht mehr zu kiffen und überhaupt nichts zu konsumieren, was mein Bewusstsein irgendwie erweitern oder benebeln könnte.«

Obwohl es ihr wirklich ernst war, musste Edda lachen. Da küsste Kai sie, und er schmeckte vertraut.

»Gleich ist es acht«, stellte sie fest. »Wenn die Demo vorbei ist, könnte ich etwas zu essen vertragen.«

Kai inhalierte tief den Rauch seiner Zigarette, dann warf er die Kippe weg.

»Diese vielen Polizisten machen mich nervös«, gab er zu. »Und in den Seitenstraßen parken Krankenwagen. Wer weiß, was noch passiert. Ich würde lieber sofort verschwinden.«

Wie beunruhigt er klang, überraschte Edda. So kannte sie Kai gar nicht. Entlang der Bismarckstraße formierten sich die Polizisten zu geschlossenen Reihen. Ihre weißen Kalkmützen leuchteten in der aufziehenden Dämmerung. Die Wagenkolonne des Schahs müsste bald eintreffen.

»Aber ich will bleiben.« Es klang schärfer, als Edda es beabsichtigt hatte. So ganz hatte sie Kai den miesen Empfang wohl noch nicht verziehen.

»Kann ich mal durch?« Eine Dame mittleren Alters rüttelte am Sperrgitter. »Mit diesen Krakeelern habe ich nichts zu tun! Lassen Sie mich bitte vorbei!«

Sie klang aufgeregt, aber keiner der Polizisten reagierte.

»Öffnen Sie ihr doch«, bat Kai den Beamten, der ihm am nächsten stand. Sogar ein »Bitte« schob er noch hinterher, aber es nützte nichts. Daher wandte Kai sich direkt an die Frau. »Klettern Sie einfach über die Stangen. Meine Freundin und ich halten Sie fest.«

Wie weggeblasen war seine Gleichgültigkeit, über die Edda sich so geärgert hatte. Freundlich und hilfsbereit, ja, das war Kai. Edda gab ihren Sitzplatz auf und half ihm, die Frau über die Sperre zu hieven. Ein Polizist blickte zu ihnen herüber und zügelte sein Pferd. Sofort klopfte Eddas Herz schneller. Würde er ihnen Ärger machen? Doch aufrecht wie ein siegesgewisser General ritt der Beamte in die andere Richtung davon.

»Was wollt ihr eigentlich?«, polterte die Frau los, nachdem sie ihren Rock zurechtgezupft hatte. Sie zeigte auf Kais zerschlissene Jeanshose und seine ausgetretenen Sandalen. »Lauft rum wie die Gammler und maskiert euch wie Banditen. Aber das seid ihr ja auch. Kommunistenpack.« Sie wandte sich an die Polizisten, die sie zuvor ignoriert hatten. »Am besten stecken Sie die alle in einen Sack und werfen ihn über die Mauer!«

Perplex schauten Edda und Kai der Frau nach, als sie, ihre Handtasche fest umklammert, davonmarschierte.

»Ihr seid viel zu höflich«, kommentierte ein Mann in Jackett die Szene und warf ein Farbei auf die Polizisten, bevor er zwischen den Demonstrierenden untertauchte.

»Ernsthaft, mir reicht’s«, beharrte Kai. »Seit wann bist du so versessen auf Demos?«

»Bin ich doch gar nicht!«

Ein ruhiger Ort, ein kühles Getränk und Kai, das war es, worauf Edda sich freute. Allerdings stand sie schon seit zwei Stunden hier und würde nicht ausgerechnet dann fortgehen, wenn das Kaiserpaar endlich auftauchte.

»Es sind doch nur noch ein paar Minuten.«

Mit einem genervten Stöhnen zog sich Kai die Schah-Maske über den Kopf, als wollte er sich darunter verstecken. Aber er insistierte nicht mehr.

»Seht mal, der Lübke!«, rief jemand hinter Edda. »Und Albertz!« Lang gezogene Buhrufe ertönten. »Sozialdemokrat und Pfarrer. Eine Schande, dass er einen Diktator empfängt.« Der Bundespräsident sowie der Regierende Bürgermeister von Berlin verschwanden in der Oper. Dann fuhr der Schah vor. Augenblicklich flogen Eier, Tomaten, vereinzelt auch Rauchkerzen. Edda stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals.

»Verflixt, Kai, ich kann gar nichts sehen!« Edda musste schreien, denn die Schah-Anhänger waren in lautstarken Jubel ausgebrochen, während die Demonstrierenden alles daransetzten, sie zu übertönen.

»Schah, Schah, Scharlatan!« »Mörder!« »Schah – SA – SS!«

»Der Schah ist ausgestiegen. Farah Diba auch«, rief Kai ihr ins Ohr. Er umfasste Eddas Hüften und hob sie hoch. Gehüllt in einen hellen Mantel und mit kunstvoll aufgestecktem Haar winkte Farah Diba, bevor sie wie der Schah zügig die Oper betrat. Ihr Gesicht hatte Edda nicht genau erkennen können, doch wie anmutig Farah Diba wirkte, das war ihr nicht entgangen. Die Zeitschriften hatten keineswegs gelogen.

»Danke«, sagte Edda, nachdem Kai sie abgesetzt hatte, und sie lächelten sich an. Lärm und Aufregung ließen nach, die meisten machten sich zum Gehen bereit. Edda hörte, dass manche verabredeten, sich zum Ende der Vorstellung erneut zu versammeln, doch dazu hatte sie keine Lust. Das verbleibende Wochenende würde ihr und Kai gehören. Sie legte ihren Arm um seine Hüfte, er seinen um ihre Schulter. Zentimeter für Zentimeter schoben sie sich mit der Masse vorwärts. Soeben setzte sie an, Kai zu fragen, welche Kneipe er vorschlüge, als plötzlich Polizisten mit gezückten Schlagstöcken über die Sperrgitter stürmten. In der ersten Sekunde begriff Edda kaum, was sie sah. Polizisten, die scheinbar wahllos auf Menschen einprügelten, einige stürzten, andere trampelten über sie hinweg. Panische Schreie drangen zu Edda, und sie selbst schrie laut auf, als sie hinfiel.

»Kai!«

Plötzlich war sie umzingelt von Schuhen, die auf alles traten, was am Boden lag: Schah-Masken, Flugblätter und Zigarettenkippen. Auf ihre Hände. Ein stechender Schmerz durchfuhr Edda, und reflexartig schützte sie ihren Kopf.

»Hilfe!«

Jemand stolperte über sie und stieß ihr dabei den Fuß in den Rücken. Edda war klar, dass sie sich aufrappeln musste, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Nur ihr Herz raste, als wollte es ohne Edda die Flucht ergreifen. Jemand rief ihren Namen. Kai. Er zerrte an ihr, was Edda aus der beängstigenden Starre befreite.

»Bist du okay?«, fragte Kai. Verstört nickte Edda.

»Es heißt, ein Polizist sei getötet worden.« Kais Stimme klang verzerrt. Ein Toter? Entsetzt sah Edda ihn an.

»Jetzt geben wir’s euch!«, brüllte ein Polizist. Instinktiv duckte sich Edda, als er seinen Knüppel hob. Der Schlag traf weder sie noch Kai, doch ein Mann, der versucht hatte, sich auf einen Baum zu flüchten, knallte zu Boden. Bestürzt sah Edda mit an, wie der Polizist auf ihn eindrosch.

»Wir können nichts tun«, drängte Kai und zog Edda mit sich. Dem Mann nicht zu helfen, fühlte sich falsch an, doch ihre Angst siegte. Sperrgitter, der Bauzaun, überall Polizei. Wo sollten sie hin? Bruchstückhafte Szenen schreiender, blutender Menschen gruben sich in ihr Gedächtnis. Jetzt flogen auch Steine. Sirenen heulten und Blaulicht flimmerte, die Krankenwagen, die Kai gesehen hatte, waren im Einsatz. Edda kam es vor, als herrschte Krieg. Geschah das alles wirklich?

Eine Gruppe junger Leute versuchte, den Bauzaun einzudrücken. Dahinter lag ein Stück freies Land, ein Fluchtweg. Mit der ganzen Kraft ihrer Körper warfen sich Edda und Kai gegen das Gestänge. Eddas Hand schmerzte, aber es klappte, der Zaun brach ein. Hand in Hand liefen sie los. Inzwischen war es dunkel geworden. Als ihnen einige Gestalten den Weg verstellten, brauchte Edda einen Moment, um zu begreifen, dass es sich um Polizisten handelte. Sie hatten Schäferhunde dabei.

»Lassen Sie uns einfach gehen«, bat eine Frau. Sie klang, als wäre sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Es half nichts. Schonungslos trieben die Polizisten sie zurück, hinein ins Chaos. Auf einmal sah Edda Kai nicht mehr. Vor wenigen Sekunden war er doch noch neben ihr gewesen. Panisch sah sie sich um, aber in der Dunkelheit gelang es ihr nicht, einzelne Gesichter auszumachen. Kai blieb wie vom Erdboden verschluckt. Edda fiel ein Polizist auf, der eine Verletzte zu den Sanitätern führte. Langsam und vorsichtig, wie ihr schien. Vielleicht waren sie ja nicht alle feindselig. Sie würde ihn um Hilfe bitten.

»Die kommen mit Wasserwerfern! Los, lauft!«

Die flüchtende Menge riss Edda mit, bis ihnen erneut Polizisten den Weg verstellten. Also schlugen sie eine andere Richtung ein. Noch nie hatte Edda vor der Polizei Angst haben müssen. Jetzt fühlte es sich an, als würde sie um ihr Leben rennen. Reizgas brannte in ihren Augen, wohin sie lief, erkannte sie kaum. Sie rannte, wenn die anderen rannten, und verschnaufte, wenn sie es taten. Nur nicht stolpern, nur nicht fallen. Von dem Durst, der sie plagte, als wäre sie seit Stunden auf der Flucht, lenkte dieser Gedanke sie zwar ab, nicht aber von ihrer Sorge um Kai. Wo war er? Ob er nach ihr suchte? In einem günstigen Augenblick scherte Edda aus und versteckte sich in einem Hauseingang. Hier war es etwas ruhiger. Zusammengekauert, die Knie von ihren Armen umschlungen, hoffte Edda, mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Wie sollten Kai und sie einander wiederfinden?

Plötzlich knallte es. Edda schreckte zusammen. Was war das gewesen? Etwa ein Schuss? Hellwach starrte sie den jungen Leuten und Polizisten nach, die an ihr vorbeistürmten, als hätten sie nichts gehört. Hatte da wirklich jemand geschossen? Wer? Die Polizei? Das konnte nicht sein! Oder doch? Womöglich ein Warnschuss? Aber nein, die Gefahr, inmitten all dieser Menschen jemanden zu treffen, wäre viel zu groß. Kai! Wo war er bloß? Als sie an ihn dachte, schoss die blanke Angst durch ihren Körper. Sie musste ihn finden, jetzt sofort. Ihre Beine hatten zu zittern begonnen. Dennoch zwang Edda sich, aufzustehen.

*

Hinter der Scheibe der Hochbahn zog Berlin an ihr vorbei, ohne dass Edda der Stadt Beachtung schenkte. Ihr Spiegelbild im Fenster starrte ihr aus der Nacht entgegen, durchscheinend und fahl wie ein Geist. Und genauso fühlte sie sich auch, fassungslos und aufgelöst in Angst, vor allem um Kai. Ihn inmitten der Tumulte wiederzufinden, war unmöglich gewesen, und im Nachhinein kam es Edda naiv vor, dass sie darauf gehofft hatte. Sie machte sich auch Gedanken um Ariane und Navid. Doch irgendwie glaubte sie, dass die beiden es schon schaffen würden, sich mit ihren protesterprobten Freunden durchzuschlagen und dem Polizeikessel zu entkommen. Unaufhörlich kreisten in ihrem Kopf die verstörenden Bilder des Abends und ließen ihre Schläfen pochen. Kai hatte den richtigen Riecher gehabt. Wären sie bloß gegangen, als noch Zeit dazu gewesen war. Auf einmal verstand Edda selbst nicht mehr, weshalb es ihr so wichtig gewesen war, einen Blick auf Farah Diba zu erheischen. Irgendwann war es ihr gelungen, unter den Sperrgittern hindurchzurobben und in Richtung Kurfürstendamm zu laufen. Aber auch dort stockte der Verkehr, und Edda war heilfroh gewesen, als sie es endlich in eine U-Bahn geschafft hatte. Sie ließ ihren Blick durch den Waggon schweifen. Wie konnten die Leute seelenruhig in ihren Zeitungen blättern, als wäre nichts geschehen? Das Alltägliche der Situation wirkte auf sie ebenso surreal wie die Szenen der Gewalt, die sich vor der Oper abgespielt hatten.

Am Kottbusser Tor stieg Edda aus, weil ihr die Gegend bekannt vorkam. Waren sie nicht gestern in Navids Käfer hier entlanggefahren? Sie bog in die Adalbertstraße ein, wobei sie überlegte, ob ihr ein bestimmtes Geschäft, ein Friseurladen oder eine Kneipe im Gedächtnis geblieben war. Nun rächte es sich, dass Edda nach der langen Reise zu müde gewesen war, um auf die Umgebung zu achten. Als sie an einem öffentlichen Fernsprecher vorbeilief, bedauerte sie es, dass Kai kein Telefon besaß, sonst hätte sie sich erkundigen können, ob er zu Hause in der Muskauer Straße auf sie wartete. Vertieft in ihre Gedanken, bemerkte Edda erst, als die Straße endete, dass sie vor einer hohen Mauer stand. Vor der Mauer. Es kam ihr vor, als hätte sich der graue Betonwall soeben erst vor ihr aufgerichtet. Direkt dahinter erstreckte sich der sogenannte Todesstreifen. Von den elektrischen Zäunen, Panzersperren und abgerichteten Hunden hatte neulich ihr Vater berichtet, nachdem er von einem Ärztekongress aus Berlin zurückgekehrt war. Dass bei dem Versuch, in den Westen zu fliehen, Menschen starben, war Edda bewusst, aber da in der DDR weder Verwandte noch Freunde der Noltings lebten, spielte dieses Wissen in ihrem Leben keine große Rolle. In diesem Augenblick jedoch kam Edda nicht umhin, sich vorzustellen, was geschähe, wenn DDR-Soldaten einen Fluchtversuch entdeckten. Gleißendes Scheinwerferlicht würde den schützenden Mantel der Dunkelheit zerreißen und den Todesstreifen überfluten. Ein Entrinnen gäbe es nicht. Auch das hatte ihr Vater erzählt, wie Edda sich auf einmal erinnerte. Plötzlich meinte sie, auf der anderen Seite der Mauer ferne Rufe zu vernehmen. Als sie angestrengt in die Nacht horchte, blieb aber alles still. Im Dauerlauf eilte Edda weiter.

Die Eingangstür war nur angelehnt. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete Edda in den vierten Stock hinauf. Rockmusik dröhnte aus der Wohnung und es roch nach Marihuana. Außer Atem hämmerte sie gegen die Tür. Sekunden später stand Ariane vor ihr und fiel Edda um den Hals.

»Endlich! Langsam haben wir uns Sorgen gemacht.«

Edda erwiderte Arianes Umarmung, linste dabei aber über deren Schulter hinweg ins Innere der Wohnung. »Ist Kai bei euch?«

»Nein«, erwiderte Ariane. »Ich dachte, er wäre bei dir!«

»Wir sind im Tumult getrennt worden.«

Im Korridor erschien Navid, gefolgt von Kais Mitbewohner Bertold, einem blonden Hünen mit Bart, der einen Joint in der Hand hielt. Edda begrüßte die beiden, obwohl sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte, um sämtliche Krankenhäuser nach Kai abzuklappern.

»Wieso gehst du denn gleich vom Schlimmsten aus?«, versuchte Bertold Edda zu beruhigen. »Du bist doch selbst eben erst eingetrudelt.«

»Er hat recht«, stimmte Navid zu. »Lass uns noch etwas warten. Was ist eigentlich mit deiner Hand passiert?«

Derweil Navid Teewasser aufsetzte und Ariane Tassen abwusch, die sie aus einem Stapel schmutzigen Geschirrs gefischt hatte, kühlte Edda mit einem feuchten Tuch ihre geschwollene Hand. Gegenseitig berichteten sie sich, was in den letzten Stunden geschehen war.

Nach gelungener Flucht waren Ariane und Navid zur Zentrale des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, SDS, am Ku’damm gelaufen. Zusammen mit den iranischen Studenten hatte der SDS gegen den Schah mobilisiert, weshalb sie dort zu Recht einige von Navids Freunden vermuteten.

»Danach sind wir sofort hierhergekommen«, endete Ariane. »Wir hatten geglaubt, ihr wärt schon da.«

Davon, dass angeblich ein Polizist getötet worden war, hatten sie auch gehört und hofften, dass es nicht stimmte.

»Falls doch, kann es nur ein Unfall gewesen sein«, sagte Navid bestimmt. »Niemand von uns würde vorsätzlich einen Menschen töten.«

Alle pflichteten ihm bei, und Ariane blies in ihre dampfende Teetasse, als könnte sie diesen hässlichen Gedanken damit fortpusten.

»Die Polizei war es, die das Kommando ›Knüppel frei‹ gegeben hat. Wir sind wie gejagte Hasen davongerannt.«

Mit jedem Wort klang Ariane aufgebrachter. Edda nickte. Genauso hatte sie es auch empfunden. Navid hingegen zeigte sich eher bestürzt. »In Iran gehört Polizeigewalt zum Alltag. Aber in der Bundesrepublik? Ich dachte, hier läuft das anders.«

Dass ein Schuss gefallen war, hielten Ariane und Navid dennoch für ausgeschlossen. In eine Menschenmenge zu feuern, trauten sie nicht einmal den aufgebrachten Polizisten zu.

»Es wird ein Knallfrosch gewesen sein«, mutmaßte Navid, ein Gedanke, der Edda sofort beruhigte. In ihrer Panik hatte sie wohl ein harmloses Geräusch dramatisch aufgebauscht. Um Kai sorgte sie sich trotzdem.

Bertold, der ihnen rauchend zugehört hatte, hielt Edda seinen Joint entgegen. »Versuch es mal damit«, empfahl er ihr. »Das ist Balsam für deine Nerven.«

»Ich kiffe nicht.«

Bertold seufzte und inhalierte selbst einen weiteren Zug. »Mach dir keinen Kopf. Kai kann prima auf sich selbst aufpassen.«

Es störte Edda, dass Bertold klang, als bemuttere sie Kai. Trotzdem ging sie auf seine Bemerkung nicht ein. Stattdessen fragte sie spitz: »Warst du denn auch an der Deutschen Oper? Hast du miterlebt, was dort losgewesen ist?«

»Nö«, antwortete Bertold. »Ich glaube nicht, dass irgendeine Demo die Welt verbessert.«

Ariane verdrehte die Augen. »Vom Kiffen ändert sich aber auch nichts.«

»Doch, meine kleine Welt schon«, erwiderte Bertold. »Marihuana macht sie lebenswerter.«

Im Nebenzimmer drehte Ole seine psychedelische Musik lauter, weshalb Edda am liebsten die Türen geschlossen hätte, aber die gab es in Kais Wohnung nicht mehr. Sogar die Toilettentür hatten seine Mitbewohner ausgehängt. Scham sei spießig, meinten sie.

Erneut wanderte Eddas Blick zu der runden Wanduhr über der Spüle. Es gab keinen Grund, länger auf Kai zu warten. »Wo ist die nächste Telefonzelle?«

Bertold beschrieb es ihr, während Ariane, die Edda begleiten würde, Navid küsste, als stünde ihnen ein Abschied für immer bevor. Edda zog sie mit sich.

Zuerst riefen sie in den Krankenhäusern nahe der Deutschen Oper an, danach arbeiteten sie sich bis nach Kreuzberg vor. Vergeblich. Nirgendwo war Kai registriert worden. Als ihnen nach ihrem Telefonat mit dem Urban-Krankenhaus das Kleingeld ausging, kehrten Edda und Ariane in die Muskauer Straße zurück. Das Küchenfenster war noch immer erleuchtet und in Edda regte sich Zuversicht. Ob Kai mit Navid, Bertold, vielleicht auch Ole bereits bei einem Bier zusammensäße? Doch die Wohnung empfing sie still, lediglich der aufgetürmte Geschirrberg wartete auf sie.

»Und jetzt, Ari? Was sollen wir tun?«

»Uns ein bisschen ausruhen«, antwortete Ariane. Ihre Kiefer mahlten, als unterdrückte sie ein Gähnen. »Heute Nacht finden wir Kai nicht mehr.«

Einen Augenblick lang stand Edda mit hängenden Armen da. Dann ließ sie Wasser in die Spüle ein. Ungläubig sah Ariane ihr dabei zu. »Ist das dein Ernst? Du willst abwaschen?«

»Ich kann sowieso nicht schlafen.«

Mit einem Stöhnen griff Ariane nach einem Handtuch, um den tropfenden Teller abzutrocknen, den Edda ihr reichte. Obwohl ihre Hand noch etwas schmerzte, tat Edda die monotone Arbeit gut, und nachdem sich das Chaos in Kais Küche gelichtet hatte, fühlte sie sich besser.

Später saßen sie am geöffneten Fenster, wo Ariane eine ihrer selbst gedrehten Zigaretten in den nächtlichen Junihimmel paffte. Dort oben funkelten die Sterne wie Millionen Lichter einer weit entfernten, unendlich großen Stadt.

»Meine Mutter glaubt, dass sie uns beschützen«, murmelte Ariane schläfrig.

»Die Sterne? Ach, was«, erwiderte Edda ein wenig barsch. »Dann wäre Kai längst zu Hause.«

Ariane warf ihre halb gerauchte Zigarette aus dem Fenster, wie ein Glühwürmchen flog sie davon.

»Er kommt schon noch«, sagte sie und drückte Eddas Hand. »Morgen wird bestimmt alles gut.«

»Aber es ist bereits morgen.«

Im selben Augenblick klappte die Wohnungstür zu. Ein Schlüsselbund fiel klimpernd zu Boden, woraufhin jemand leise fluchte. Ganz kurz erstarrten Edda und Ariane, dann sprangen sie auf. Am Eingang zog Ole, der offenbar noch einmal fortgegangen war, gerade seine Schuhe aus.

»Ihr seid noch auf«, stellte er fest. »Dann habt ihr es also auch schon gehört.«

»Was gehört?« Vor Enttäuschung darüber, dass es nicht Kai war, der vor ihr stand, klang Eddas Stimme kratzig.

»Auf der Demo hat es einen Studenten erwischt«, antwortete Ole. »Er ist tot.«

Seine Worte trafen Edda wie ein Schlag.

»Er ist … tot? Bist du sicher?«

Langsam richtete Ole sich auf. Seine dunklen Haare ließen sein Gesicht noch blasser erscheinen. »Was genau passiert ist, weiß ich nicht.«

Ariane weckte Navid, während Edda, ganz benommen, Ole in die Küche folgte. Knallfrösche, von wegen. In ihrem Magen rumorte die Erkenntnis, dass sie vielleicht doch einen Schuss gehört hatte. Und Kai war immer noch nicht zu Hause.

*

Das Radio, das normalerweise auf dem Regal in der Küche stand, war spurlos verschwunden. Ole vermutete, dass Bertold den Apparillo zum Musikhören mit in einen Park genommen und dort vergessen hatte. Um zu erfahren, was für eine Tragödie sich vor der Deutschen Oper abgespielt hatte, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als auf die ersten Zeitungen am Morgen zu warten. Sie beschlossen daher, sich ein paar Stunden hinzulegen. Obwohl Edda bezweifelte, dass es ihr gelänge, zur Ruhe zu kommen, streckte sie sich auf Kais Matratze aus. Das Laken, das er als Decke verwendete, zog sie sich bis unter die Nase und sog den vertrauten Geruch ein, den Geruch nach Kai. Wenn er doch endlich heimkäme! Dafür, dass er sich nicht blicken ließ, gab es eigentlich nur eine plausible Erklärung: Es war ihm nicht möglich. Unruhig wälzte sich Edda hin und her. Seitdem Edda ihm in der Tanzstunde zum ersten Mal begegnet war, hatte sie miterlebt, wie häufig Kai mit Verletzungen im Krankenhaus gelandet und nicht selten mit einem Gips wieder herausgekommen war. Seinen letzten Armbruch, verschuldet durch einen unvorsichtigen Mopedfahrer, hatte Kai erst vor einem halben Jahr auskuriert. Mit bewundernswertem Humor hatte er damals behauptet, zu spüren, dass schon bald sein vom Schicksal vorgesehener Anteil an Pech aufgebraucht wäre. Inständig hoffte Edda, dass es an diesem Abend so weit wäre.

Irgendwann war sie dann doch eingeschlafen. Als Kai sie sanft weckte, meinte Edda erst, noch zu träumen. Beinahe ungläubig berührte sie mit den Fingerspitzen seine Wange. Gleich darauf fiel sie Kai um den Hals und küsste ihn. Er schmeckte nach Zigaretten und Kaffee, seine linke Hand war in Gips verpackt.

»Mittelhandbruch«, erklärte er, rutschte zu ihr auf die Matratze und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Edda rückte dicht neben ihn.

»Bis ich die Finger wieder gebrauchen kann, wird es eine Weile dauern.« Mit der eingegipsten Hand vollführte er eine Bewegung, die an ein unbeholfenes Winken erinnerte. Edda registrierte, dass Kais Augen gerötet waren. Vor Müdigkeit, sagte sie sich, denn so, als ob er einen Joint geraucht hätte, wirkte er nicht. Außerdem hatte er ihr hoch und heilig versprochen, die Finger vom Marihuana zu lassen, bis sie abreiste.

»Wie ist das passiert?«, erkundigte sie sich.

Kai seufzte. »Nachdem ich dich verloren hatte, hat sich ein Polizist an meine Fersen geheftet. Wie ein Irrer bin ich gerannt und dann gestolpert. Tja, so saublöd muss man erst mal fallen …«

Mitfühlend drückte Edda seine gesunde Hand. »Das tut mir leid, Kai.«

»Wenigstens ist es diesmal nicht die Rechte, sonst könnte ich an der Uni schon wieder nicht mitschreiben.« Mit dem Daumen liebkoste er Eddas bläulich verfärbte Hand und schob hinterher: »Es hätte alles schlimmer kommen können.«

»Allerdings.«

Impulsiv umarmte Edda ihn. Angesichts eines Toten hatten gebrochene Knochen etwas von ihrem Schrecken verloren. »Du ahnst ja gar nicht, wie froh ich bin, dass du lebst. Hast du von dem Studenten gehört?«

»Von Benno Ohnesorg? Klar, im Krankenhaus lief ständig das Radio. Man sagt, er hätte eine Schädelverletzung erlitten.«

Benno Ohnesorg. So hieß er also.

Aus seinem Tabakpäckchen fingerte Kai eine fertig gedrehte Zigarette. Edda entzündete ein Streichholz und gab ihm Feuer. Während Kai rauchte, erzählte sie ihm, dass sie glaubte, inmitten des Chaos vor der Oper einen Schuss gehört zu haben. War im Radio davon die Rede gewesen, dass Benno Ohnesorg von einer Kugel getroffen wurde?

Kai schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Das ist aber auch harter Tobak, Edda.« Mit gerunzelter Stirn zupfte sich Kai Tabakreste von der Lippe. Dann sah er sie prüfend an. »Du dachtest doch wohl nicht, ich wäre abgeknallt worden? Mensch, Edda, du und deine überbordende Phantasie.«

Mit seinem gesunden Arm zog er sie an sich, und Edda lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Doch warum waren Kai und Bertold überhaupt der Ansicht, dass sie überreagiert hatte? Schließlich gab es einen Toten und zahlreiche Verletzte, einer von ihnen war Kai selbst.

Etwas schwerfällig erhob sich Kai, um einen roten Filzstift zu holen, den er Edda mit einem Lächeln reichte.

»Magst du?«, fragte Kai.

Sie schmunzelte, konnte sich aber eine winzige Spitze nicht verkneifen. »Möchtest du dasselbe Motiv wie immer?«

Sie zeichnete ein großes Herz auf seinen Gips und schrieb in geschwungenen Buchstaben ihren Namen hinein. Fast beiläufig berichtete Kai ihr, dass er festgenommen worden war.

Edda ließ den Stift sinken und starrte Kai an. »Du warst im Gefängnis? Warum erzählst du mir das erst jetzt?«

Kai schnitt eine Grimasse. »Eine beschissene Erfahrung, kann ich dir sagen. So, wie uns manche Beamte behandelt haben, würde es mich nicht wundern, wenn sie ihre Ausbildung bereits unter Adolf absolviert hätten. Die Schmerzen in meiner Hand waren denen völlig egal. Am Morgen haben sie mich endlich laufen lassen.«

Bei der Vorstellung, dass Kai nach solch einer Nacht allein zum Krankenhaus gefahren war, zog sich Eddas Herz zusammen.

»Ich wäre gerne bei dir gewesen«, sagte sie, woraufhin Kai sie küsste. Vorsichtig half Edda ihm, sich aus seiner Jeans zu schälen. Während sie miteinander schliefen, durchflutete sie eine Woge der Erleichterung. Tränen rannen ihr übers Gesicht, schwemmten die Anspannung der letzten Nacht davon. Nicht einmal die fehlende Zimmertür machte ihr in diesem Moment etwas aus.

*

Edda döste an Kais Seite, bis gedämpfte Stimmen sowie ein dumpfes Hämmern zu ihr vordrangen. Beides kam aus der Küche. Was war da los? Ohne Kai zu wecken, stand Edda auf, um nachzusehen. Den Kopf in beide Hände gestützt, saß Ole am Tisch und schien in einen Zeitungsbericht vertieft zu sein. Ariane rührte mit einem langen Stab in einem Eimer, in dem sie ein helles Laken schwarz färbte. Ein anderes schwarzes Stück Stoff nagelte Navid gerade auf einer Holzlatte fest. Daher stammte also das hämmernde Geräusch. Ariane erklärte ihr, dass sie Trauerfahnen bastelten. Später würden sie damit zur Freien Universität fahren, um an einer Kundgebung für Benno Ohnesorg teilzunehmen. Nach Kai fragte niemand.

»Kai ist zurück«, platzte es aus Edda heraus, woraufhin Ariane und Navid sie belustigt ansahen.

»Eure Wiedersehensfreude haben wir mitbekommen,« entgegnete Ariane, und Edda, die peinlich berührt nicht wusste, wohin mit ihrem Blick, versenkte ihn im dunklen Farbwasser.

»Aber das ist doch schön«, mischte sich mit wackeliger Stimme Ole ein. Überrascht blickte Edda auf. Oles Augen sahen verquollen aus, als ob er geweint hätte. Er deutete auf ein Zeitungsbild. »Was glaubst du, was seine Frau dafür geben würde, Benno in ihren Armen zu halten.«

Edda trat dichter zu Ole heran und betrachtete das Pressefoto. Es zeigte einen jungen Mann, den Sanitäter auf eine Trage betteten, sein Gesicht war bleich, die Lider geschlossen.

Zum Glück hat es nicht Kai erwischt, schoss es Edda durch den Kopf. Im nächsten Moment wallte Mitleid in ihr auf, für den getöteten Benno, aber auch für seine Frau, die seinen Tod wahrscheinlich noch gar nicht begreifen konnte. Was mochte sie empfinden, wenn sie sich dieses Bild ansah?

»Er war so ein netter Typ«, sagte Ole traurig. »In der Zeitung steht, die Polizei hätte ihn für einen Rädelsführer gehalten. Dabei war Benno total pazifistisch eingestellt. Vor ein paar Wochen hat er geheiratet. Und bald wäre er Vater geworden.«

Oles Stimme brach. Edda setzte sich neben ihn und legte den Arm um seine Schulter. Tröstende Worte gab es nicht. Nachdem Ole sich etwas beruhigt hatte, erfuhr Edda von ihm, dass er Benno Ohnesorg persönlich gekannt hatte. »Aus der Uni. Er hat auch Romanistik studiert und wollte Lehrer werden, so wie ich.«

Und wie Kai, dachte Edda, nur dass er für Englisch eingeschrieben war.

Ariane ließ das Laken einweichen und blätterte nun in der Bild-Zeitung. »Du kannst dir nicht vorstellen, was die schreibt.« Sie richtete sich an Edda, was wohl bedeutete, dass die anderen es bereits wussten. »Ihnen, also uns, den Demonstranten, genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen. Oder hier, Springers B. Z.: Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen. Wer hat, bitte schön, alles kurz und klein geschlagen? Wir doch nicht.« Arianes blaue Augen blitzten eisig. Dann fragte sie in die Runde: »Wie soll man denn mit Leuten reden, die so einen Schwachsinn verzapfen?«

»Oder die ihn glauben«, fügte Ole hinzu.

Navid warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Wir müssen gleich los«, stellte er fest. »Den Stoff im Eimer können wir vergessen, der wird nicht rechtzeitig fertig.«

Ariane stürzte ihren Kaffee hinunter. »Was ist mit dir und Kai?«, fragte sie Edda. »Kommt ihr mit?«

Edda schüttelte den Kopf. »Kai ist verletzt, der braucht jetzt erst mal Ruhe. Wenn er wach wird, fahren wir zum Wannsee.«

Ariane insistierte nicht. Trotzdem fühlte Edda sich unbehaglich, als sie zurück zu Kai unter die Decke kroch.

*

Im Strandbad Wannsee war es brechend voll. Einen Strandkorb hatten Kai und Edda nicht ergattert, aber das machte Edda nichts aus. Auf ihrem Badetuch im Sand zu liegen, erinnerte sie an die Ferien, die sie im letzten Sommer mit ihren Eltern an der Adria verbracht hatte. Sonne, Strand und tiefblaues Meer, das mediterrane Ambiente hatte Edda sehr genossen. Bloß Kai hatte sie vermisst. Sie beugte sich über ihn und stellte fest, dass er schon wieder schlief. Zärtlich strich sie ihm das Haar aus der sonnengebräunten Stirn. Anschließend rückte sie ihre Bikini-Träger zurecht und blinzelte in die Nachmittagssonne. Was sie sah, stand in scharfem Kontrast zu dem, was sie bislang in Berlin erlebt und gesehen hatte. Johlende Kinder belagerten die Wasserrutschen, Eltern buken mit ihren Kleinsten Kuchen aus Sand, manche Badegäste spielten Ball, andere tummelten sich im Wasser oder ließen sich auf einer Luftmatratze über den See treiben. Gelächter ertönte, hier und da auch Musik. Eddas Gedanken wanderten zu Ariane, Navid und Ole, die sich keine Entspannung gönnten. Hätten Kai und sie vielleicht doch zu der Trauerkundgebung mitgehen sollen?

Ein Fußball, der auf ihrem Handtuch landete, riss Edda aus ihren Gedanken und weckte Kai. Gleich darauf kam eine Gruppe pitschnasser Kinder angerannt und entschuldigte sich. Lachend warf Kai ihnen den Ball zu. Anschließend schob er seine Sonnenbrille zurück und küsste Edda auf die Schulter. Durch seine Finger ließ er warmen Sand auf ihren Oberschenkel rieseln. Edda genoss das Kribbeln auf ihrer Haut. Irgendwo in der Nähe sang aus einem Radio Peter Alexander von rotem Wein und spanischen Nächten, ein Lied, das Eddas Mutter manchmal vor sich hin summte. Zärtlich streichelte Edda Kais Rücken. In weniger als vierundzwanzig Stunden würden sie sich verabschieden müssen. Es war gut, dass sie sich endlich Zeit füreinander nahmen.

»Wenn ihr die Finger nicht bei euch behalten könnt, geht gefälligst woanders hin«, zeterte die Frau, die Peter Alexander hörte. »Was sollen denn meine Kinder denken?«

Als Edda begriff, dass sie mit ihnen sprach, begann ihr Gesicht vor Scham zu brennen. Die Frau war in ihren Dreißigern, auf ihrem Schoß saß ein ungefähr vierjähriges Mädchen mit blonden Rattenschwänzchen, neben ihr auf der Decke ein kleiner Junge, der die großen weißen Punkte auf dem Badeanzug seiner Mutter zählte.

»Sie werden denken, dass wir uns gernhaben«, gab Kai ruhig zurück und lächelte das Mädchen an, das daraufhin verlegen seinen Kopf zwischen den Brüsten seiner Mutter vergrub. Mit einer abfälligen Bewegung aus dem Handgelenk wandte die Frau sich von Kai ab. Dafür tauchte ein Mann, krebsrot von der Sonne, hinter seiner Zeitung auf.

»Ausgerechnet du willst uns belehren, ja?«, wetterte er gegen Kai. »Lass dir erst mal die Haare schneiden, du siehst ja aus wie ein Mädchen.« Aufgebracht schüttelte er seine Zeitung zurecht. »Eine Schande, wie ihr euch benehmt.«

»Mit Ihnen habe ich gar nicht geredet«, gab Kai prompt zurück.

»Komm, Kai, wir suchen uns einen anderen Platz«, drängte Edda.

»Du willst dich von den Spießern vertreiben lassen?«, erwiderte Kai und nahm demonstrativ eine lässige Haltung ein.

Der Mann glotzte Kai noch immer an, als wäre er von den Socken, dass dieser ihm widersprochen hatte. Besänftigend legte ihm seine Frau ihre Hand auf den Arm und sagte etwas, das Edda nicht verstand, jedoch dazu führte, dass der Mann sich wieder hinter seiner Zeitung verschanzte.

Verstohlen sah sich Edda um. Einige Leute starrten zu ihnen herüber. Nein, feindselige Blicke ertrug sie jetzt nicht. Entschlossen stand sie auf, legte ihr Handtuch wie eine Stola um die Schultern und lief zum See. Kai folgte ihr unter Protest.

»Jetzt ärgere dich doch nicht so«, sagte Edda, als Kai sie eingeholt hatte. Mit einem ausgiebigen Kuss half sie nach, seine schlechte Laune zu vertreiben.

»Wenn du dein Abi hast, könnten wir wegfahren«, schlug Kai vor, als sie aneinandergeschmiegt am Ufer standen und aufs Wasser blickten. »Irgendwohin. In die Türkei, nach Afghanistan und Indien. Wie fändest du das?«

Edda lachte. »Aufregend. Aber wie kommen wir dahin? Ohne Auto, ohne Führerschein.«

Kai war jetzt Feuer und Flamme. »Gar kein Problem. Wir trampen. Das kostet auch nichts.«

Wieder lachte Edda. »Meine Eltern wissen ja nicht mal, dass ich nach Berlin gefahren bin. Wie soll ich ihnen da Indien erklären?«

Als sie weitergingen, fragte Kai: »Hast du ihnen endlich gesagt, dass du vorhast, nach Berlin zu ziehen?«

»Noch nicht.«

Einen Moment schwiegen sie. Dann murmelte Kai: »Manchmal habe ich das Gefühl, du willst gar nicht kommen.«

Edda seufzte. Es stimmte, dass Berlin sie nicht wirklich reizte. Dass Kai hergezogen war, um der Wehrpflicht zu entgehen, hatte sie verstanden. Nicht jedoch, weshalb er die große Freiheit in einer Stadt witterte, die von einer Mauer umschlossen war. Wenn sie aber nicht nach Berlin käme, wie würde es dann mit ihnen weitergehen?

»Lass mich erst mal mein Abitur bestehen«, wich sie aus.

In diesem Augenblick rief jemand Kais Namen. Arm in Arm mit einer großen, schlanken Frau, die Edda auf Ende zwanzig schätzte, steuerte sein Mitbewohner Bertold auf sie zu. Während sie sich begrüßten, musterte Edda möglichst unauffällig die Frau an seiner Seite, die sich ihr als Daisy vorgestellt hatte. Lange hellblonde Locken fielen ihr bis auf die Hüften hinab und wurden von einem schwarzen Hut kontrastiert, an dem sie ein paar Blumen befestigt hatte. An ihren Ohrläppchen baumelten große Ringe, und sie trug mehrere Halsketten, die sich wie Farbtupfer von ihrem weißen Kleid abhoben. Außerdem hatte sie eine Gitarre dabei, die ihre Erscheinung abrundete wie ein treffsicheres Accessoire. Mit ihrem schlichten Bikini und dem nachlässig gebundenen Pferdeschwanz kam Edda sich neben Daisy auf einmal unscheinbar vor.

»Ich musste einfach wissen, wie es dir geht«, sagte Daisy zu Kai. »Deshalb bin ich bei euch vorbeigegangen. Und Bertold meinte, ich würde dich hier finden.«

Behutsam berührte sie Kais Gips. Eine harmlose Geste, die Edda trotzdem intim erschien, nicht zuletzt, weil Kai auf einmal fahrig wirkte. Eddas Magen zog sich zusammen, als hätte jemand hineingekniffen.

»Wir haben ein lauschiges Plätzchen entdeckt. Kommt mit«, lud Bertold sie ein, und da Edda nichts einfiel, was sie dagegen hätte einwenden können, gingen sie Bertold und Daisy hinterher.

»Wer ist das?«, fragte Edda leise.

Über Kais Gesicht huschte ein Lächeln. »Daisy? Wir kennen uns aus dem Knast.«

»Wie bitte?«

»Sie ist gestern genauso zufällig in diesen Schlamassel geraten wie ich. Heute Morgen sind wir gemeinsam entlassen worden. Daisy hat mich ins Krankenhaus gebracht.«

Edda schnappte buchstäblich nach Luft. Daisy hatte Kai zum Arzt begleitet? Mit ihm gewartet, bis er behandelt wurde? Hatte sie dabei vielleicht sogar seine Hand gehalten? Und Edda war voll des Mitleids gewesen, weil Kai die Nacht allein hatte durchstehen müssen. Von wegen.

»Davon hast du kein Wort gesagt.«

Kais Blick, fand Edda, flackerte. »Ist das denn wichtig?«

»Findest du nicht?«, entgegnete Edda.

»Nein.«

Der Platz, von dem Bertold gesprochen hatte, lag abseits des Trubels und war von dichten Büschen umgeben. Ein Mann in Fellweste und kurzer Jeans, zu der er Winterstiefel trug, spielte Gitarre. Neben ihm in einem langen Rock saß eine Frau mit Brille, Stirnband und Zöpfen.

»Iris und Gunnar«, stellte Daisy die beiden vor. Gunnar unterbrach sein Spiel, um Daisy leidenschaftlich zu umarmen. Sieh an, dachte Edda erleichtert, Daisy hat einen Freund. Sie setzten sich in einem Kreis zusammen, Edda zwischen Bertold und Kai, Daisy ließ sich samt ihrer Gitarre neben Kai nieder. Während sie sich über Musik, Berlin und den Schah-Besuch unterhielten, zog Edda sich das gelbe Kleid über und öffnete ihr dunkles Haar. Als sie es sich über den Rücken fließen ließ, fing sie Kais Blick auf und fühlte sich besser.

Bertold hatte das kleine Küchenradio dabei – offenbar war es wieder aufgetaucht – und schaltete es ein. Er suchte Musik, aber es liefen Nachrichten.

»Könnten wir die hören?«, bat Edda.

Bundeskanzler Kiesinger, verkündete der Moderator, hätte zu entscheiden, in welcher Form er gedächte, einen Brief des Sowjetzonenministerpräsidenten Willi Stoph zu beantworten.

»Was für ein grausiges Wort«, frotzelte Iris. »Bloß nicht die DDR beim Namen nennen.«

Als es um Benno Ohnesorg ging, wurden alle still. Sein Leichnam war obduziert worden, wobei sich herausgestellt hatte, dass es sich bei seiner Schädelverletzung um eine Schusswunde handelte. Ein Beamter in Zivil hatte Benno Ohnesorg mit seiner Dienstwaffe getötet. Eddas Augen weiteten sich. Also hatte sie recht gehabt. Sie hatte einen Schuss gehört, den auf Benno Ohnesorg. Niemand hatte ihr das geglaubt, auch Kai nicht. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, den Kai nicht zu bemerken schien, weil er damit beschäftigt war, eine Zigarette zu drehen. Gern hätte Edda die Nachrichten weiterverfolgt, um zu erfahren, wie die Politiker reagierten. Aber Gunnar forderte Bertold auf, das Radio auszuschalten.

»Sonst sind wir gleich alle mies drauf«, erklärte er, »und das wäre gar nicht gut.«

»Ich brauche aber Musik«, erwiderte Bertold.

Gunnar holte seine Gitarre.

»Wow«, entfuhr es Kai, nachdem Gunnar zu spielen begonnen hatte. »Somebody to love von Jefferson Airplane. Grandioses Stück. Grandiose Sängerin.«

Weder von der Gruppe noch dem Stück hatte Edda je gehört, war aber ein wenig stolz darauf, dass Kai sich mit Musik so gut auskannte. Gunnar nickte ihm freundlich zu, dann bat er Daisy, ihn auf ihrer eigenen Gitarre zu begleiten. Zudem stimmte sie mit rauchiger Stimme in den Song ein. Den Refrain sangen sie alle mit, beim zweiten Durchlauf auch Edda.

Don’t you want somebody to love

Don’t you need somebody to love

Wouldn’t you love somebody to love

You better find somebody to love

Sie spürte Kais Wärme und mochte den Klang seiner Bassstimme. Als sie zu ihm aufblickte, stellte sie irritiert fest, dass Daisy Kai so intensiv ansah, als sänge sie für ihn allein. Und wohin blickte Kai? Edda richtete sich derart abrupt auf, dass Daisys Blick kurz zu ihr hinübersprang, ebenso Kais. Jetzt wandte sich Daisy Gunnar zu, der sie anlächelte, als hätte er ihr Spielchen nicht bemerkt oder als störte es ihn in keiner Weise. Unbefangen bot er Kai seine Gitarre an, die dieser mit einem bedauernden Blick auf seine Gips-Hand ablehnte.

»Du kannst trotzdem spielen«, behauptete Daisy.

Kai grinste. »Mit einer Hand? Wie soll das gehen?«

Daisy rückte noch näher an ihn heran und platzierte ihre Gitarre in seinem Schoß. Damit ihre langen Haare Kai nicht kitzelten, drehte sie sie zu einem lockeren Knoten.

»So, pass auf. Die Akkorde greife ich mit meiner linken Hand, du zupfst die Saiten mit deiner rechten. Was willst du spielen? Etwas von den Beatles?«

Sie einigten sich auf Michelle. Erst holprig und unter Gelächter klappte es mit der Zeit immer besser. Sie spielten und sangen Lieder von Joan Baez, The Doors und The Who. Kai strahlte, während an Eddas Herz die Eifersucht zerrte. Die Lust am Singen war ihr vergangen.

»Gehen wir gleich?«, flüsterte sie Kai zu, nachdem Daisy die Gitarre endlich beiseitegelegt und sich zu Gunnar gesellt hatte.

»Warum?«, fragte er erstaunt. »Gefällt es dir etwa nicht?«

»Doch«, lenkte Edda ein. »Aber wir hatten kaum Zeit für uns.«

»Der Abend ist noch lang«, erwiderte Kai.

Ehe Edda etwas dazu sagen konnte, kam ihr Daisy mit einer Frage zuvor. »Wie sieht es aus? Seid ihr bereit für eine Reise?«

»Jederzeit«, antwortete Bertold.

Edda hatte den Eindruck, die Einzige zu sein, die nicht kapierte, worum sich das Gespräch drehte. »Was für eine Reise?«

»Einen Trip«, klärte Iris sie auf. »LSD, Schätzchen.«

Scharf sog Edda die Luft ein. Von dieser Droge hatte sie gehört, und alles hatte verrückt geklungen.

»Das ist nichts für mich«, sagte sie. Es war endgültig an der Zeit, zu gehen. Sie suchte Kais Blick, aber er mied ihren.

»Ich möchte es probieren.«

Seine Worte trafen Edda wie ein Schlag. »Spinnst du, Kai? Du hast mir etwas versprochen! Schon vergessen?«

Wie hektisch Kai an seiner Zigarette zog, zeigte Edda, dass er mit sich rang. Die anderen taten, als bekämen sie den Disput nicht mit. Gunnar spielte weiter Gitarre, während Daisy mit Iris und Bertold tuschelte.

»Das ist eine gute Gelegenheit.« Kai klang, als hielte er das für ein logisches Argument. »Ich möchte schon lange wissen, wie es ist, Farben zu hören, Töne zu sehen. Mensch, Edda, stell dir das mal vor! Manche sagen, man bekäme durch LSD einen völlig neuen Blick auf die Welt. Reizt dich das denn gar nicht?«

Es gelang Edda, ihre aufsteigenden Tränen in ein wütendes Funkeln zu verwandeln. »Nein, und das weißt du ganz genau«, zischte sie. »Ich habe gehört, man halluziniert und tut absurde Dinge. Da kann wer weiß was passieren.«

In dem Moment, als sie das sagte, verstummte Gunnars Gitarrenspiel und Bertold stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. »Du bist ein wirklich nettes Mädchen, Edda, aber du redest wie meine Mutter. Und, mal ehrlich, wegen der bin ich ausgezogen.«

Daisys Lachen kratzte in Eddas Ohren, während sie wie betäubt dasaß. Was fiel Bertold ein, sie derart zum Gespött zu machen? Als Gunnar bat, die Harmonie zu wahren, damit ihre Reise eine angenehme werden könne, hätte Edda ihn beinahe geschüttelt. Doch letztlich war ihr Gunnar egal, und auch Bertold, Daisy und Iris interessierten sie nicht. Was sie zutiefst verletzte, war, dass Kai es zuließ, dass sie sich auf ihre Kosten amüsierten. Er verteidigte sie nicht, ließ sie gar gnadenlos auflaufen. Weshalb stand er nicht zu ihr? Und wie konnte er es vorziehen, die kostbaren Stunden, die ihnen blieben, im Drogenrausch zu verbringen als gemeinsam mit ihr? Sogar das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, war er bereit, dafür zu brechen.

Steinschwer lastete diese Erkenntnis auf ihr, doch sie rüttelte Edda auch auf. Sie schulterte ihre Tasche und erhob sich. Endlich sah Kai sie an, etwas erschrocken, aber sitzen blieb er trotzdem.

»Du musst nicht gehen«, sagte er, aber es klang halbherzig.

Väterlich legte Gunnar seinen Arm um Edda. Seine Fellweste kratzte auf ihrer Haut. »Mach dir keine Sorgen. Ich nehme nichts und werde ein Auge auf alle haben, natürlich auch auf Kai«, versicherte er. »Es kann allerdings ein Weilchen dauern, bis er heimkommt. Sein Zeitgefühl wird ein anderes sein …«

Er setzte an, um Edda mehr über LSD zu erzählen, aber sie hatte nicht vor, ihm zuzuhören. Ein kurzes Nicken in die Runde brachte sie noch zustande, dann stakste sie mit steifen Beinen durch den Sand davon. Einmal wandte sie sich nach Kai um. Nein, er war ihr nicht gefolgt, noch nicht einmal mit seinen Blicken. Vielmehr hatte er sich bereits Daisy zugewandt, die ihm etwas auf seine Zunge legte wie eine Hostie. Rasch lief Edda weiter, so dass sie nicht mehr sah, wie Daisy Kai zum See führte, auf den sie gemeinsam blickten, als läge vor ihnen die Weite des Ozeans.

*

»Da«, sagte Ariane. »Da hinten ist er.«

Edda fuhr zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, ihre Freundin spräche von Kai.

»Wo?«, entfuhr es ihr. Damit schälte sie sich aus ihrem Kokon des Schweigens, in den sie sich nach ihrem Abschied von Kai verkrochen hatte, als sie auf die Rückbank von Navids Käfer geklettert war. Falls man es überhaupt als Abschied bezeichnen konnte, wo er ihr doch bloß wortlos dabei zugesehen hatte, wie sie ihre Reisetasche packte und ging. Weder er noch sie hatten ein versöhnliches Wort über die Lippen gebracht, geschweige denn einen Kuss. Nicht einmal dazu, Kai in die Augen zu schauen, hatte Edda sich durchringen können.

Durch die Frontscheibe wies Ariane auf die Straße. »Na, dort, auf der Brücke.«

Vor ihnen lag Dreilinden, der Checkpoint Bravo der West-Alliierten, den alle passieren mussten, die mit dem Auto von Westberlin in die Bundesrepublik reisten. Navid drosselte das Tempo und reihte sich in die Autoschlange ein, die auf die alte Brücke zukroch, auf der die Grenzbaracke errichtet worden war. Direkt darunter floss der Teltowkanal, sein Gewässer mittig aufgeteilt in West und Ost.

»Haltet die Pässe bereit.« Navids Fingerknöchel traten hell hervor, so fest umschloss er das Lenkrad. Nachdem der Schah-Besuch eskaliert war, fürchtete er, als Iraner besonders gründlich kontrolliert zu werden. Doch die amerikanischen Grenzer unterbrachen nicht einmal ihr Gespräch, sondern winkten Navid beiläufig durch.

Auf einer beidseitig bewaldeten Straße erreichten sie nach wenigen Kilometern den ostdeutschen Grenzübergang Drewitz. Hier stauten sich Pkws, Laster und Reisebusse derart, dass Eddas vage Hoffnung, zügig durchzukommen, zerstob. Die Junisonne hatte den Käfer aufgeheizt, und ihre Bluse klebte an Eddas Rücken. Bei heruntergekurbelten Fenstern hörten sie Radio und bewegten sich im Schneckentempo auf den Kontrollpunkt zu. Ariane drehte Zigaretten, die Navid während des Wartens eine nach der anderen rauchen würde. Dabei summte sie die Melodie von Penny Lane mit. Normalerweise hätten alle laut gesungen, doch danach war niemandem zumute. Zu sehr steckte ihnen das vergangene Wochenende in den Knochen. Für Ariane und Navid gab es kein anderes Thema mehr als den Tod von Benno Ohnesorg. Edda war darüber genauso entsetzt, schlingerte jedoch wegen Kai durch andere Wechselbäder der Gefühle. Aus dem Fenster starrend, bemühte sie sich, die deprimierenden Bilder, die hartnäckig immer wieder vor ihr auftauchten, wegzublinzeln. Den leblosen Körper von Benno Ohnesorg. Die gewalttätigen Szenen der Anti-Schah-Demo. Ihre eigene panische Suche nach Kai. Ariane und Navid, die Trauerfahnen zusammenzimmern. Den weinenden Ole. Bertolds ironisch grinsendes Gesicht. Daisy und Kai.

Spät am Vormittag, kurz vor Eddas Abreise, war Kai endlich zu Hause aufgetaucht. Wo hatte er die Nacht verbracht? Am See? Bei Daisy? Todmüde hatte er sich auf seine Matratze geworfen, und Edda fragte sich noch immer, ob ihn der Drogenrausch derart erschöpft hatte oder eine Liebesnacht mit Daisy. Als sie sich zum zigsten Male vorstellte, dass die beiden ungehemmt miteinander geknutscht haben könnten, entfuhr ihr ein gequälter Laut.

»Ist alles okay?«, fragte Ariane mitfühlend.

»Jaja«, winkte Edda ab, woraufhin Ariane sich abwandte und fortfuhr, Zigaretten zu drehen.