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Liebe passt nicht in seine Pläne. Seit seine Adoptivmutter starb, ist es Gabriels einziger Lebensinhalt, ihr Vermögen zusammenzuhalten. Bis Vin in sein Leben tritt. Der ist der Bruder der Betrügerin, die Gabriels Bruder heiraten will: tätowiert, muskulös, gefährlich ... und unglaublich heiß. Außerdem haben sie ein gemeinsames Ziel, also steht einer Zusammenarbeit nichts im Wege, oder? Vin muss verhindern, dass seine Schwester nur des Geldes wegen einen windigen Volksmusik-Moderator heiratet. Selbst, wenn dessen Bruder aussieht wie ein Superschurke und Vin schon immer eine Schwäche für Superschurken hatte. Aber vielleicht kann Gabriel ihm helfen, die Ehe zu verhindern? Und vielleicht können sie eine harmlose, kleine Affäre miteinander haben? Doch wenn Gabriel und Vin beteiligt sind, bleibt nichts harmlos oder klein. Und schon bald sind sie gefangen in einem Wirbelsturm aus Intrigen, Mordanschlägen und der größten Gefahr von allen: der Liebe.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Impressum
Ehebrecher
Text Copyright © 2016 Regina Mars
Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.
Regina Mars
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
www.reginamars.de
Lektorat: Brunhilde Witthaut
www.brunhilde-witthaut.de
Umschlagbild und Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst
Copyright © Regina Haselhorst
www.reginahaselhorst.com
Kurz bevor das Flugzeug abstürzte, wollte Gabriel es Karin sagen.
Dass er mit einem anderen Jungen rumgeknutscht hatte. Dass es ihm gefallen hatte. Und dass es sich, obwohl Thorsten ihm seitdem aus dem Weg ging und so tat, als wäre nichts passiert, wie ein Anfang anfühlte. Der Anfang von was? Keine Ahnung. Aber Gabriel würde es herausfinden. Irgendwie musste er es ihr sagen. Sie war der einzige Mensch, zu dem er immer ehrlich war.
Er war mit schweißnassen Händen in den Segelflieger eingestiegen. Klar, er vertraute darauf, dass Karin ihn verstehen würde, so, wie sie es immer tat. Nervös war er trotzdem. Als das Motorflugzeug sie in den Himmel zerrte, konnte er den Blick nicht von den roten Haaren abwenden, die aus ihrem Helm quollen. Die feurige Venus nannte die Presse sie. Oder Das flammende Luder der Volksmusik, je nachdem, wie sie gerade drauf waren. Sie drehte sich zu ihm um und grinste so breit, dass ihre Eckzähne funkelten. Die Haut um ihre Augen legte sich in hundert Fältchen.
»Es geht los!«, brüllte sie gegen den Lärm der Motorengeräusche an. »Bereit?«
Gabriel nickte, genau in dem Moment, in dem der Schlepper abkoppelte. Der Motorenlärm entfernte sich und plötzlich beruhigte sich ihr Flug. Mit einem Mal war alles still. Wie unter Wasser fühlte es sich an, über die winzig kleinen Baumkronen zu gleiten. Er sah den Schatten ihres Fliegers über flickenartig zusammengesetzte Felder streichen, dann über die ersten Bergkuppen, er schien zu zerreißen, sich wieder zusammenzusetzen. Schade, dass die anderen das nicht sehen konnten. Aber Bastian und Joachim hatten sich geweigert, auch nur einen Fuß in den Segelflieger zu setzen.
»Siehst du das?«, fragte Karin und deutete auf die verfallene Ruine links von ihnen. Wie ein verrotteter Zahn ragte sie aus den hellgrünen Sommerbäumen. Dreieinhalb Türmchen, wo vermutlich mal vier gewesen waren.
»Ja. Was ist damit?«
»Das ist Burg Berghall. Na ja, das war sie mal.« Karins Lachen war rau, fast männlich. Verführerisch nannten Journalisten es. Selbst die, die Gabriels Adoptivmutter nicht mochten. »Ein ganz schöner Schrotthaufen. Aber ich werde sie kaufen.«
»Was?« Gabriel betrachtete die traurigen Trümmer, bis sie außer Sichtweite waren. »Warum?«
»Vor zweihundert Jahren hat sie Joachims Familie gehört. Bis sie sie verkaufen mussten. Der nächste Besitzer hat sie total verkommen lassen und inzwischen ist sie für einen Spottpreis zu haben.«
»Wie viel ist ein Spottpreis?«, fragte Gabriel misstrauisch. Das Rechenzentrum seines Gehirns sprang an und überschlug bereits die Kosten einer Renovierung. Viel zu teuer, blinkte es in Leuchtschrift vor seinen Augen auf.
»Ist noch nicht klar. Unter 200.000 werd ich sie drücken können, denke ich. Aber das ist nicht das Problem.«
»Nein. Das wird die Renovierung.« Er kratzte sich am Hals. »Die wird mindestens das Doppelte kosten, selbst wenn wir Unterstützung von der Denkmalschutzbehörde bekommen …«
»Ah, mein kleiner Vermögensberater.« Sie kicherte. »Hast du schon einen Renovierungsplan aufgestellt? Gut, dass ich dich habe. Wie lange dauert es noch mal, bis ich dich endlich einstellen kann?«
Gabriel war vierzehn. Und er hatte tatsächlich bereits einen halben Plan ausgetüftelt. Zumindest alles, was er im Kopf berechnen konnte. Für den steuerlichen Bereich würde er seinen Laptop brauchen, und … ach, er hatte doch eigentlich etwas anderes mit Karin besprechen wollen. Wenn er es irgendwem erzählte, dann zuerst ihr, oder?
»Karin?« Das Zittern in seiner Stimme war kaum zu hören, aber sein Rücken begann, unter dem schweren Fallschirm zu schwitzen.
»Ja? Oh, Moment, warte kurz …« In der Spiegelung der Glaskuppel sah er, dass sie die Stirn runzelte. Dabei vermied sie sonst alles, was Falten verursachen konnte. »Was ist das?«
»Was ist was …«
Nun spürte er es auch. Ihr Flug war nicht länger friedlich und träge. Sie hatten an Fahrt aufgenommen und die Baumkronen kamen rasend schnell näher. Verdammt, was war los? Gabriel schluckte. Seine Fingernägel gruben sich in die Handflächen.
»Mist!« Da war Panik in Karins Stimme. Kalte, nackte Panik.
Von einem Moment zum anderen war Gabriel schweißgebadet. Wolkenfetzen rasten an seinen Augenwinkeln vorbei. Sein Magen hob sich. Wie schnell waren sie? Und warum? Der Wald verschwand, die gleißende Sonne erschien, drehte sich, dann war da wieder der Wald …
»Scheiße!«, kreischte Karin. »Was …« Sie wandte sich um. Plötzlich war ihr Gesicht direkt vor seinem, riesengroß, er sah die roten Äderchen in ihren Augen … »Wir müssen raus!«
Ihr feuchter Atem streifte sein Gesicht. Aber er war wie festgewachsen, konnte sich nicht rühren, nur die Zähne aufeinander pressen, während die Welt immer stärker wirbelte, immer schneller …
Eine Hand auf seinem Bauch. Karin. Löste den Gurt. Ihre Faust schlug auf irgendetwas ein, die Glaskuppel öffnete sich vor den verschwommenen grünen Schemen und mit einem Mal … hörte das Wirbeln auf. Wind riss an Gabriels Haaren. Frische Luft drang in seine Lungen. Was? Warum …
Endlich bewegten sich seine Hände. Über ihm Himmel. Wolken. Dunkle Haarspitzen, flatternd im Fallwind ...
Ja, er fiel.
Seine eiskalten Finger tasteten über seine Brust, fanden die Reißleine, zerrten daran, rutschten ab, zerrten wieder daran. Eine rote Blume flog an seinem Kopf vorbei, breitete sich aus, blühte auf, wurde zu einer Fahne … dann ein Ruck, der seinen ganzen Körper erschütterte und der Fall stoppte. Größtenteils.
Eine Blume. So ein Schwachsinn, dachte Gabriel. Er war nun echt kein Poet und die Blume war ein Fallschirm …
Ein schluchzendes Kichern stieg aus seiner Kehle auf. Seine Kehle, in der sein Herz wummerte wie ein Presslufthammer. Aber die Welt machte wieder Sinn. Oben Himmelsblau, unten grüne Wälder. Oben Kopf, unten baumelnde Füße. Der Ruck hatte ihn gedreht und unter seinen Fußspitzen sah er Burg Berghall. Nah. Die Zinnen kamen ihm langsam entgegen, schon konnte er einzelne Steine ausmachen. Rissige Felsblöcke. Und diesen Trümmerhaufen wollte Karin kaufen …
Karin.
Er blickte auf. Himmel, ein riesiges rotes Zelt über seinem Kopf. Wolken, trügerisch warme Sonnenstrahlen bis zum Horizont, aber kein zweiter Fallschirm. Vielleicht verdeckte sein eigener Fallschirm ihren. Vielleicht war sie hinter ihm.
Er wand sich im Geschirr, drehte sich, so weit er konnte.
Nichts. Und auf einmal raste der Boden auf ihn zu, die Felsblöcke füllten sein ganzes Sichtfeld aus, und …
Heller Schmerz.
Die Welt verschwand.
Selina schmetterte die Tür gegen die Wand.
»Wo ist meine beschissene Strumpfhose? Ich muss scheiße noch mal gut aussehen heute!«
Ihre Schritte lärmten durch die winzige Mietwohnung. Vin und Omi sahen ihr verwundert nach, als sie an ihnen vorbeistampfte. Ein Löffel Babybrei klatschte auf Omis hellblaue Bettdecke statt in ihren Mund, aber Vin achtete nicht darauf.
»Du musst was?«, fragte er seine kleine Schwester. Die riss Schublade um Schublade ihres gemeinsamen Kleiderschranks auf und fluchte vor sich hin. »Seit wann musst du denn gut aussehen? Das ist dir doch sonst wumpe.«
»Hast du wen kennengelernt?« Omis Äuglein begannen zu funkeln. Ein Hauch Rosa erschien auf ihren eingefallenen Wangen und sie richtete sich sogar ein Stückchen von ihrem Krankenlager auf.
»Ja, hab ich«, brummte Selina, ohne das Wühlen in den Schubladen zu unterbrechen. Als wäre das nicht die Neuigkeit des … Jahrzehnts, mindestens. Als hätte sie sich in zweiundzwanzig (!) Jahren je für einen Mann interessiert.
»Einen … Kerl?«, vergewisserte sich Vin. Selina drehte sich zu ihm um und schob ihre Brille höher.
»Ja, was denn sonst?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. Vin blinzelte. Sie sah aus wie immer. Brauner Kapuzenpulli, billiges Brillengestell, zottelige, dunkelblonde Haare, die sie zu einem verrutschten Dutt gebunden hatte. Und graue Augen, aus denen ihr messerscharfer Verstand strahlte wie aus einem Leuchtturm. Vin stand auf.
»Wer ist es?«, fragte er mit seiner bedrohlichsten Stimme. Selina grunzte verächtlich.
»Kein Grund, den Beschützer raushängen zu lassen. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Wer ist es?« Er vertiefte den Bass um mindestens eine Stimmlage.
»Ja, wer ist es?«, piepste Omi und hatte wie immer mehr Erfolg als Vin, der einen halben Meter größer war als sie.
»Das werdet ihr nicht glauben.« Selina grinste. »Jemand von meiner Arbeit. Und ratet mal, wer.«
»Ein junger, heißer Kabelträger?« Vin legte den Kopf schief.
»Dein Chef?«, fragte Omi zögernd. »Aber du hast doch gesagt, der ist ein ekelhafter Drecksack. Und du machst seinen ganzen Job für ihn …«
»Nein. Weiter oben. Noch viel weiter.« Selinas Grinsen wirkte fast wahnsinnig. »Bastian Schaller persönlich!«
»Wer?«, fragte Vin in dem Moment, als Omi »Der Schaller?« kreischte.
Er wandte sich zu ihr um. Sie saß aufrechter im Bett, als sie es seit Wochen geschafft hatte, und in ihren Augen glitzerten Sterne.
»Alter, wer zu Hölle ist dieser Schaller?« Er beugte seinen kahlen Schädel zu Omis kahlem Schädel hinunter. »Und woher kennst du den?«
Nun war er sich sicher: Omi wurde rot. Ließ sie gesünder aussehen, als sie seit Beginn der ersten Chemo gewirkt hatte.
»Na, der ist doch der Moderator von »Hallo Schunkelfreunde«. Der hübsche blonde Bub.«
»Der schleimige Typ mit dem Dauergrinsen?« Vin sah Selina an, die bereits wieder in einer Schublade wühlte. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Warum denn nicht?«, fragte Omi. »Der ist doch knackig.«
»Und reich«, rief Selina aus der Tiefe des Schranks. »Aha!« Triumphierend hielt sie eine hauchzarte schwarze Strumpfhose in die Höhe.
»Schleimig ist der, ohne Ende.« Vin sah die beiden Frauen an, als hätten sie den Verstand verloren. Sie gaben den Blick ebenso zurück.
»Hatten wir nicht gesagt, dass du bei Männern nicht mehr mitreden darfst?«, fragte Omi und sank in die Kissen. Frechheit, die Alte schaute, als wäre er zwölf oder so. »Dein Geschmack ist viel zu schlecht.«
»Genau.« Selina schälte sich aus ihrem Kapuzenpulli. »Ich sag nur Markus.«
Vin verspürte einen Stich, als er den Namen seines Exfreundes hörte. Mitten in der Brust, da, wo er ihn so lange getragen hatte. Vor zwei Jahren hatte Markus sich davongemacht. Kaum, dass es mit Omis Krebserkrankung losgegangen war, hatte er Vin mitgeteilt, dass er nur mit jemandem zusammen sein konnte, der ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.
»Markus war ein dummes Arschloch.« Omi tätschelte Vins Arm.
»Ein absoluter Fiesling«, bekräftigte Selina.
»Ein Superbösewicht«, murmelte Vin.
Leider stand er auf Superbösewichte. Dass er schwul war, hatte er schon mit sieben Jahren kapiert. In dem Moment, in dem in seiner Lieblings-Trickfilmserie »Space Force Horse« der Bösewicht aufgetaucht war. Dr. Evilhelm Bösbart. Geißel der Galaxis, Cyborg und, zumindest in Vins Augen, der schönste Mann, den er je gesehen hatte.
Wie festgeklebt hatte er vor dem Bildschirm gehockt, um keine Minute zu verpassen, in der Dr. Bösbart diabolisch lachte, sich diabolisch in seinem Sessel drehte und diabolisch zu Abend aß. Er hatte Gänsehaut gehabt, wenn Dr. Bösbart seine unnötig komplizierten Pläne erklärte. Seine Omi hatte es belustigt verfolgt. Als er mit elf eine ewig lange Liste erstellt hatte, in der er Filme danach sortierte, wie hübsch der Böse war, hatte sie es auch noch komisch gefunden.
Aber als er mit sechzehn seinen ersten Freund mit nach Hause gebracht hatte, der prompt Omis Quittenlikör klaute und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand? Da hatte sie begonnen, sich Sorgen zu machen.
Jetzt, im reifen Alter von 24 Jahren, sah Vin selbst ein, dass er ein Problem hatte. Es waren ja nicht nur Markus und Ronny, der Quittenlikördieb, gewesen. Sondern auch Mike, der Drogenkurier, Bernd aus der Motorradgang, Anselm, der ihn benutzt hatte, um auf Vins Arbeit im Krankenhaus an hochdosiertes Nasenspray zu kommen … na ja, eindeutig zu viele jedenfalls.
Seit zwei Jahren hatte er nur noch anonyme One Night Stands mit möglichst harmlos wirkenden Kerlen. Er warf einen Blick auf seine Schwester, die nie Probleme mit Männern gehabt hatte. Sie war einfach Single geblieben. Immer. Vin war sich fast sicher, dass sie noch jungfräulich war. Also was sollte der Scheiß mit diesem Volksmusikfuzzi jetzt?
»Bist du verliebt in diesen Volksmusikfuzzi?«, fragte er. Selina starrte ihn an, dann lachte sie laut auf.
»Scheiße, nein!« Sie stemmte die Hände in die Hüften. Mittlerweile war sie nackt bis auf die schlichte weiße Unterwäsche. »Aber er hat Geld. Richtig viel Geld.«
Vin fühlte sich, als hätte er zehn Liter Eiswasser gesoffen. Was?
»Na und?«
»Na, das ist meine Chance!«, rief sie. »Mein Ticket raus aus dem Dreck hier. Und wenn ich es richtig anfange, auch für euch.«
Der Dreck hier war die mickrige Zweizimmerwohnung, in der sie hausten. So voll gestellt mit Krempel, dass die Zimmer noch winziger wirkten. Ein Zimmer für Omi, eins für die Geschwister. Wenn Vin Männerbesuch hatte, schlief Selina auf einer Luftmatratze zu Füßen von Omis Krankenbett, wozu sie den Esstisch hochklappen und an die Wand lehnen musste.
Schön war es echt nicht. Die Tapeten waren vergilbt, der Teppichboden abgetreten und löchrig und die Fenster so undicht, dass ständig ein leichter Lufthauch ging. Ungünstig für Omi. Sie musterte Selina, nun nicht mehr so begeistert.
»Du magst das Sahneschnittchen gar nicht?« Ihr kahler Schädel neigte sich.
Selina zuckte mit den Schultern.
»Du willst nur was mit ihm anfangen, weil er Geld hat?« Vin sprang auf. »Was ist das denn für eine Schnapsidee? Was ist mit Jura zu Ende studieren und selber Kohle machen?«
»Tu ich doch. Und es dauert noch ewig.« Selina schob die Unterlippe vor. »Ein Plan B kann nicht schaden, oder?«
»Doch, kann er.« Vin packte ihre schmalen Schultern. Sie wirkten so zerbrechlich in seinen Pranken. »Du kannst doch nicht einfach … Was hast du vor? Mit ihm in die Kiste hüpfen, seine Geliebte werden und dann hält er dich aus?«
»Viel besser.« Ihr Blick war hart. »Ich werde seine Frau.«
»Waswiewas? Hat er dir schon 'nen Antrag gemacht?«
»Natürlich nicht.« Sie nahm seine Handgelenke und entfernte seine Finger von ihren Schultern. »Er hat nur gefragt, ob er mich zum Essen einladen darf.«
»Und wieso verdammt denkst du, dass er dich heiraten will?«
»Das wird er.« Ihre Augen glitzerten eiskalt. Einen Moment lang machte Vin sich mehr Sorgen um diesen armen Volksmusikfuzzi als um seine liebe kleine Schwester. Die gerade die schwarze Strumpfhose über ihre hübschen Beine rollte. »Ich werde ihn verführen. Sowas von, das hast du noch nicht gesehen.«
»Was?« Vin lachte auf. »Was verstehst du denn davon, du große Verführerin? Du hattest ja noch nie einen Freund.«
»Ich krieg raus, wie das geht. Verlass dich drauf. Ich wette, ich kann das besser als du mit deinen schwerstkriminellen Stechern.«
»Einen Teufel kannst du! Omi, sag was! Du willst doch nicht, dass sie ihre Zukunft wegwirft für so ein Scheiß-Hirngespinst.«
Omi sah sich im Zimmer um. Sie betrachtete die verblichene Tapete und die schiefen Spanholzmöbel, die wirkten, als würden sie ihnen jeden Moment auf den Kopf krachen.
»Die Strumpfhose hat ein Loch«, sagte sie. »Da, an der Wade.«
»Was? Verdammt!« Selina blickte auf die münzgroße Stelle, die ihre helle Haut freiließ. »Das war die Einzige, die ich noch hatte.«
»Nimm Schuhspray«, sagte Omi. »Die schwarze Dose in der obersten Schublade im Flur. Guck nicht so, das funktioniert. Und Männer stehen auf den Geruch. Erinnert sie an Motorräder oder so.«
»Super Idee! Danke, Omi!«
Wie kam Vin eigentlich zu dem Ruf, dass er nichts von Männern verstand? Die beiden waren doch viel schlimmer und außerdem war er selbst ein Kerl …
Er zwang sich, tief durchzuatmen. Ruhig zu bleiben. Als ob Selina es schaffen würde, diesen Schaller abzuschleppen. Omi hatte Vin einmal gezwungen, diese beknackte Sendung anzugucken. Diesem schleimigen Blondschopf hatten die Weiber zu Füßen gelegen. Die meisten von denen waren im Rentenalter gewesen, aber trotzdem … Als ob sein Mauerblümchen von einer Schwester diesen Schleimer überreden könnte, sie zu heiraten. Auf keinsten.
Eine Viertelstunde später hatte Selina sich irgendwie in einen Filmstar verwandelt: kurzes, schwarzes Kleid, lange Beine in geschnürten High Heels, seidige Haare und ein feuchtglänzender Erdbeermund. Vin riss die Augen auf. Omi pfiff ihr hinterher, als sie aus der Tür verschwand, viel zu flink, als dass Vin sie hätte aufhalten können.
»Kacke«, murmelte er, als Selinas Schritte im Flur verklangen. »Was … was macht sie denn?«
Er ließ sich schwerfällig auf Omis Bett sinken und starrte auf die Stelle, an der seine urplötzlich erblühte Schwester eben noch gestanden hatte.
»Ach, Kurzer.« Omis faltiges Händchen strich über seine baumstammdicken, tätowierten Arme. »Du weißt doch, wie sie ist, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat. Dieser Schaller wird die Nacht seines Lebens haben. Und wenn's uns allen was bringt … Möglich wäre es zumindest.«
»Aber das kannst du doch nicht gut finden, Omi. Dass sie einfach so ... dass sie was mit einem anfängt, den sie nicht mal liebt.«
»Liebe ist nicht alles, Junge.« Ihre Stimme klang müde. »War sie nie und ist sie auch heute nicht, egal, was die im Fernsehen sagen.«
»Doch, ist sie.« Vin war selbst klar, dass er wie ein trotziger kleiner Junge klang. Ein trotziger kleiner Junge in einem muskelbepackten Zwei-Meter-Körper mit einem Gesicht, das Leute angsterfüllt die Straßenseite wechseln ließ. Machte den Job als Krankenpfleger nicht leichter, wenn die Patienten sich vor einem fürchteten. Vin hatte sich angewöhnt, viel zu lächeln und laufend Witze zu reißen. Meistens half es.
»Du bist halt zu romantisch, Kurzer. Deshalb fällst du auch immer auf diese Spacken rein.«
»Nicht mehr.« Er räusperte sich. »Seit Markus nicht mehr. Kann aber nicht sagen, dass ich mehr Spaß hab als früher.«
»Ja, die letzten Kerle, die du hier angeschleppt hast, waren ziemliche Waschlappen. Waren die … devot?«
Vin zuckte zusammen. Bewegte sich das Gespräch gerade in die Richtung, dass er mit seiner Omi über Sex sprechen würde? Bitte nicht.
»Ne, äh, ja, ich glaub schon. Keine Ahnung. Ist halt so. Irgendwie ziehe ich die an. Bin eben so ein Brocken, dass die zu mir kommen, wenn sie mal richtig … äh ...« Richtungswechsel!, schrie sein Gehirn. »Also … ich glaub jedenfalls nicht, dass das mit Selina und Schlagerboy was wird.«
»Ach, aber das wär doch schön. Ich würd mich freuen, wenn sie endlich die Liebe in ihr Herz lässt.«
»Ist das etwa so ein »Hallo Schunkelfreunde«-Lied? Lass die Liebe in dein Herz?«, knurrte er.
»Ne, das ist von der Karin Schaller.« Omi seufzte. »Als ich die Liebe in mein Herz ließ, da erblühten alle Rosen. So ein wundervoller Text. Viel zu früh von uns gegangen, die Karin.«
»Du redest immer, als hättest du sie gekannt.« Vin lächelte. »Dabei … Moment mal, Schaller? Ist die mit Selinas Date verwandt?«
»Ja klar, der Bastian ist doch ihr Sohn. Wusstest du das nicht?«
»Ne, woher denn?«
»Na, aus der Presse. Und im Fernsehen kam das auch, damals, als sie gestorben ist.«
»Das hat mich 'nen Scheiß interessiert damals. Wie alt war ich da? Vierzehn?« Und komplett damit beschäftigt, seinen ersten Kuss zu verarbeiten, während seine Kumpel damit rumgeprotzt hatten, wie viele Weiber sie schon flachgelegt hatten. Na ja, die meisten dieser Storys hatten sich eh als dreckige Lügen entpuppt.
»Zehntausend Rosen hat ihr Mann auf ihr Grab gelegt. Ich hab die Bilder in der Frauenpostille gesehen. Der muss sie sehr geliebt haben. Und 'nen Springbrunnen hat er ihr gebaut.«
»Was, auf's Grab?«
»Ich sag doch, die haben Kohle.« Omis Blick wanderte in die Ferne. »Selina hat nicht unrecht, weißt du? Hätten wir damals mehr Geld gehabt, hättest du die Schule weiter machen können. Dann hättest du studieren können. Ein richtiger Arzt könntest du sein, nicht nur ein Pfleger.«
»Ich bin gern Pfleger, Omi.«
»Ja, aber verdienen tätest du mehr als Arzt. Und 'ne eigene Wohnung hättest du auch, nicht nur ein halbes Zimmer hier.«
»Das ist mir scheißegal«, brummte er. Das Einzige, das ihn wirklich störte, war, dass sie sich keine Pflegekraft für Omi leisten konnten. Selina und er teilten sich die Last und trotzdem mussten sie sie noch viel zu oft allein lassen. Oft fürchtete er, während er im Fitnessstudio war, dass sie gerade aus ihrem Bett gefallen war, Durst hatte und nicht aufstehen konnte, oder … Er schüttelte den Kopf.
»Ich muss gleich zur Nachtschicht, Omi. Brauchst du noch was?«
»Ich hab alles, Junge. Amüsier dich gut.«
»Auf der Arbeit?«
»Kannst ja danach in diese Bar.« Sie zwinkerte ihm mit ihrem wimpernlosen Lid zu. »Du weißt schon, wo du andere junge Männer triffst. Die haben früh morgens noch auf, oder? Bring ruhig wen mit, ich hör eh nicht mehr viel.«
»Äh, ich überleg's mir.« Er küsste ihre knochige Stirn. »Und schreib mir 'ne Nachricht, wenn Selina heimkommt.«
»Vielleicht kommt sie ja nicht heim.«
Vin knurrte und stand auf. Es war zu früh, um sich Sorgen zu machen. Wahrscheinlich stellte Selina nach einem Abendessen fest, dass dieser Volksmusikfuzzi so hohl wie langweilig war. Auf keinen Fall würde sie ihr Leben mit so einem verbringen wollen. Und falls doch, würde er das halt verhindern. Egal, wie.
Dünne Rauchfäden zogen an Gabriels Nase vorbei. Sie stammten von mindestens fünfzig Räucherstäbchen, die in dem mit Samtbahnen behängten Raum die Luft verpesteten. Die Räucherstäbchenhalter waren aus dunklem Holz geformte Elefanten, Tiger, Buddhas und … überproportionale Penisse. Immerhin, ein halber Punkt für Originalität. Abgesehen davon war der vernebelte, überheizte Raum genau so ein Klischee wie die Frau vor ihm.
Mutter Medusas Haare waren schwarz gefärbt, in der Mitte gescheitelt und reichten ihr bis zu den großmütterlich breiten Hüften. Um Hals und Arme trug sie ein Arsenal von Goldringen und der Kajal um ihre geschlossenen Augen verlieh ihr die Aura eines depressiven Pandas.
»Du bist gekommen, um etwas über die Liebe zu erfahren«, brummte sie nach einer bedeutungsschwangeren Pause.
»Fehlanzeige.«
Sie hob die Lider und betrachtete ihn aus wässrigen Äuglein. Falls sie erstaunt war, ließ sie sich nichts anmerken. Ihr Blick flitzte über seinen maßgeschneiderten Anzug, die glänzende schwarze Krawatte und seine streng zurückgekämmten Haare.
Er wusste, welchen Eindruck er auf andere Menschen machte: Er schüchterte sie ein. Gabriel war weder riesig noch außergewöhnlich stark, aber da war etwas Stechendes in seinen hellgrünen Augen, das die Leute dazu brachte, sich sehr, sehr unwohl zu fühlen. Mutter Medusas Miene flackerte kurz, dann hatte sie sich wieder im Griff.
»Doch, das bist du, Sohn«, sagte sie milde. »Dein Verstand weigert sich, es zu akzeptieren, aber dein Herz verzehrt sich nach Geborgenheit, so sehr du das auch zu bestreiten versuchst.«
Fast hätte er gelacht. Aber die Angelegenheit war zu ernst für Späße. Er setzte sich ihr gegenüber und ahmte ihren Schneidersitz nach.
»Ich möchte mit meiner verstorbenen Mutter sprechen. Können Sie das arrangieren?«
Sie lächelte.
»Die Seelen der Dahingeschiedenen verlassen dieses Universum nie vollständig. Wenn die Bedingungen glücken, kann ich durch den Abdruck, den sie im Geist ihrer Lieben hinterlassen haben, zu ihnen rufen und sie im Jenseits finden.«
»Und was wären die richtigen Bedingungen?«
Sie sah ihn verschwörerisch an und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern.
»Weißt du, was tektonische Magnetstränge sind, Junge? Man könnte sie als Lebensadern der Erde bezeichnen und nur speziell ausgebildete Menschen sind in der Lage, sie überhaupt zu erkennen. In Tibet, in einem kleinen Bergdorf namens Urru, laufen drei dieser tektonischen Magnetstränge zusammen. Dies ist weltweit nur an diesem einzigen Ort der Fall, was ihn zum spirituellsten Punkt der Erde macht.«
Ihre blassen Augen schienen direkt in seine Seele zu schauen.
»Dort wurden bei einer Ausgrabung Steine gefunden. Spirituell aufgeladene Steine. Nur mit ihnen ist es möglich, so viel Seelenenergie freizusetzen, dass man die Barriere zwischen den Lebenden und den Toten durchdringen kann.«
»Aha. Und haben Sie so einen Stein?«
Sie lächelte geheimnisvoll.
»Ist das ein Ja, oder …«
»Ich besitze tatsächlich einen der Urru-Steine.« Mutter Medusas Stimme wurde eindringlicher. »Doch ihn zu verwenden, fordert einen hohen Preis. Einen …«
Gabriel griff in seine Anzugjacke und holte seine Brieftasche heraus.
»Wie viel?«, fragte er.
»Der Preis ist nicht materiell«, tadelte sie. Aber ihre Augen glänzten, als sie auf das makellose Leder seines Portemonnaies schauten. »Es ist vielmehr so, dass die Kraft der Urru-Steine schwindet, sobald sie aus ihrer natürlichen Umgebung entfernt werden. Mit jeder Séance, mit jedem Mal, das ich den Stein benutze, um eine Seele zu kontaktieren, verbrauche ich einen Teil seiner Macht. Deshalb kann ich ihn nur in äußerst seltenen Fällen …«
»Wie viel?«, wiederholte er und verfluchte bereits die Umstände, die ihn zwangen, diesen verrauchten Ort aufzusuchen. Mutter Medusas Gesicht nahm einen genervten Ausdruck an, bevor es wieder zu Ruhe und Seelenfrieden zurückkehrte.
»Dreitausend Euro.«
Er öffnete seine Brieftasche und zählte ihr dreitausend Euro auf die samtene Tischdecke. Mit einer so geübten wie eleganten Bewegung nahm sie sie auf und ließ sie in den Falten ihres Gewandes verschwinden. Dann zauberte sie aus irgendeiner anderen Tasche ein geschnitztes Holzkästchen.
Eine schöne Arbeit. Olivenbaum, vermutete Gabriel. Geschwungene Formen vereinten sich zu einem mandalaartigen Muster auf dem Deckel. Als sie es aufklappte, schien der Raum sich zu erhellen.
Der Stein war milchig grün, faustgroß und durchzogen von rostroten Adern. Er leuchtete auf seinem Bett aus roter Seide.
»Das ist er«, flüsterte Mutter Medusa. »Wunderschön, nicht wahr?«
»Nicht schlecht. Können wir nun mit meiner Mutter sprechen? Ich habe in einer halben Stunde einen Termin.«
Diesmal hielt ihr genervter Gesichtsausdruck eine ganze Weile an. Aber sie nickte. Stumm bewegte sie ihre Lippen. Der Raum schien kälter zu werden. Die Rauchschwaden kamen in Bewegung, flossen in einem grauen Strudel um Mutter Medusa herum, die komplizierte Gesten vollführte, immer um den Stein herum, ohne ihn je zu berühren.
»Wie heißt Ihre Mutter?«, murmelte sie plötzlich, ohne Gabriel anzusehen.
»Barbara Mosbichler.«
Er schluckte. Karin erschien in seinem Kopf, so, wie sie zwischen ihren Auftritten neben ihm gesessen hatte: das Gesicht eine dicke Maske aus Make-Up, das Lächeln breit und strahlend. Sie hatte sich immer die Zeit genommen, zwischendurch zu schauen, ob es ihren Söhnen gut ging. Bastian war damals schon vollkommen in dem Trubel aufgegangen …
»Barbara Mosbichler, kannst du mich hören?«, fragte Mutter Medusa mit gesenkten Lidern. »Dein Sohn vermisst dich und möchte mit dir sprechen …« Ein Ruck ging durch ihren Körper. Ihre Hände erstarrten und ihre Augen verdrehten sich. Als die Iris wieder in den Augenhöhlen erschien, hatte sich ihr Ausdruck verändert. Wärmer war er. Fast, als wäre es wirklich …
»Junge.« Sie lächelte zurückhaltend. Karin hatte nie zurückhaltend gelächelt. »Wie schön, dich zu sehen.«
Gabriel richtete seine Krawatte.
»Mama.« Er hatte Karin kein einziges Mal »Mama« genannt. »Ich brauche deine Hilfe. Es geht um Papa.«
»Deinen Vater?« Sie legte den Kopf schief. »Oh nein. Was ist mit meinem Schatz?«
»Er …« Gabriel seufzte und schüttelte traurig den Kopf. »Er vermisst dich so sehr. Er trinkt jeden Abend und nun … nun ist er auf dieses Weib hereingefallen.«
»Oh, mein Armer. Was tut dieses Weib?«
»Sie erzählt ihm Lügen. Böse Lügen.« Gabriel atmete tief durch. »Sie macht ihm weis, sie könnte im Jenseits Kontakt mit dir aufnehmen. Erzählt ihm, sie sei ein Medium, das die Barriere zwischen Leben und Tod durchdringen könnte. Dabei ist sie eine verkrachte Kosmetikerin, die dreimal durch die Gesellenprüfung gefallen ist.«
»Was?« Madame Medusas Augen wurden schmal.
»Ja, und außerdem musste sie vor drei Jahren Insolvenz anmelden, weil ihre Massagepraxis pleitegegangen ist. 240.000 Euro Schulden, stell dir das vor.« Gabriel machte eine Kunstpause, während Mutter Medusa immer blasser wurde. »Sie hat ihm sogar einen falschen Namen genannt. Mutter Medusa. So ein Klischee. In Wahrheit heißt sie Petra Biersack. Aber mach dir keine Sorgen, Mama.«
Er lächelte Madame Medusa freundlich zu. Die sah ihn inzwischen an, als überlegte sie, ihn abzumurksen.
»Ich werde ihm helfen. Weißt du, ich habe herausgefunden, dass sie die Einkünfte aus ihrer Wahrsagerei nicht dem Insolvenzverwalter meldet. Überleg mal, sie knöpft ihren Kunden Tausende von Euros ab. Bar auf die Hand, das kann der ja gar nicht überprüfen. Aber nun habe ich den Beweis.«
Er hob sein Handy, so, dass sie deutlich das Aufnahmesymbol sehen konnte. Ihre schlaffen Wangen erbleichten.
»Diese Betrügerin wird ins Gefängnis wandern, das kannst du mir glauben.«
»Wa… aber …« Mutter Medusas Blick flackerte unruhig durch den Raum. Falls sie versuchen würde, ihn mit einem der geschmacklosen Räucherstäbchenhalter zu erschlagen, würde sie ihr blaues Wunder erleben. Er war lange nicht mehr beim Taekwondotraining gewesen, aber wehren konnte er sich immer noch.
»Es sei denn …« Er legte eine Extraportion Eis in seinen Tonfall und lächelte diabolisch. »Nun, falls diese Frau Biersack mir das Geld zurückzahlt, das sie Papa unrechtmäßig abgenommen hat, plus … sagen wir, zwanzig Prozent Schmerzensgeld, dann würde ich vielleicht davon absehen. Ich bin ja kein Unmensch …«
Er musste gar nicht zu Ende reden. Aus den unzähligen Falten ihres Gewandes holte sie einen verknickten Stapel Geldscheine und knallte ihn auf den Tisch. Wühlte weiter, förderte noch mehr zutage, bis er schließlich zufrieden nickte und die Scheine einsteckte.
»Einen spirituellen Tag wünsche ich noch.« Er erhob sich. Mutter Medusa durchbohrte ihn mit ihren Blicken. Ein faltiger Wust erschien auf ihrer Stirn.
»Arschkopf«, murmelte sie, so leise, dass er es fast nicht gehört hätte.
Er hob eine Augenbraue und sie sah weg. Mit einer eleganten Bewegung beugte er sich vor und hob die Holzschachtel mit dem Urru-Stein auf.
»Jade, nehme ich an«, sagte er und schaute unter den Stein. »Ah, wie ich es mir dachte: Von unten mit einer Leuchtdiode angestrahlt. Schöner Effekt, Frau Biersack. Genau wie der Ventilator, sobald Sie Ihre Beschwörungsformeln sprechen.«
Mutter Medusa würdigte ihn keines Blickes. Ohne wirklich zu wissen, warum, steckte er die Schachtel mit dem Stein ein und spazierte aus dem Raum.
Draußen war es bereits dunkel und, dem Februar angemessen, eiskalt. Ein alter Ford Fiesta tuckerte über die kleine Nebenstraße, aber sonst war nicht viel los vor Mutter Medusas »Praxis«.
Er würde seinen Anzug in die Reinigung geben müssen. Der Rauch hatte sich tief in die Kaschmirfasern gegraben und er stank wie ein Esoterikshop. Unglaublich, worauf die Leute reinfallen, dachte er. Ein paar Lämpchen, Qualm, schöne Worte, Hoffnung … und sie ließen sich ausnehmen. Gabriel schüttelte den Kopf.
Mit langen Schritten ging er zu seinem Porsche. Wie durch ein Wunder hatte er einen Parkplatz gefunden, obwohl die in Köln so selten wie vierblättrige Kleeblätter waren.
Fast acht. Er lohnte sich nicht mehr, ins Büro zurückzukehren. Besser, jetzt etwas Leichtes zu essen, und dann … Verwundert stellte er fest, dass er keine Termine hatte. Weder Geschäftstermine noch private. Bastian war im Studio, Joachim traf einen alten Freund und beide hatten keine neuen Katastrophen verursacht, die Gabriel verhindern musste.
Ein freier Abend. Gabriel ließ sich in die weichen Ledersitze sinken und schloss die Tür. Er könnte etwas unternehmen. In den »Keller« gehen. Oder ins »Sergej«. Endlich mal wieder Sex, endlich ein bisschen Entspannung in den Armen irgendeines gutaussehenden Fremden, endlich …
Sein Handy klingelte.
»Gabi! Du wirst es nicht glauben!!«, rief Bastian überglücklich und Gabriels Träume von muskulösen Mackern verpufften. Irgendetwas war im Busch, das spürte er ganz deutlich.
»Was gibt's?«, fragte er und seufzte.
»Ich hab sie gefunden! Die Eine! Die einzig wahre große Liebe, so wie in Mamas Liedern!« Bastian lachte und Gabriels Kopf sank auf das Lenkrad. Nein. Bitte nicht. Nicht schon wieder. »Und wir werden heiraten«
Gabriels Kopf schoss hoch wie eine Rakete beim Start. »Wie bitte?«
»Ich hab sie eben gefragt. Und sie hat ja gesagt. Natürlich hat sie das. Zu mir sagt man nicht Nein.« Bastian kicherte. »Du musst sie kennenlernen, bald schon. Sie ist so … außergewöhnlich.«
Gabriel knurrte leise. Eine neue Mitgiftjägerin also. Klar würde er sie kennenlernen. Und sie ihn, und dann würde sie herausfinden, dass man an Bastian Schallers Vermögen nicht so leicht herankam.
»Also, eigentlich geht das nicht«, sagte Janine und lächelte Vin ängstlich an. »Dein Vertrag läuft noch bis … bis Mitte des Jahres.«
Vin lächelte zurück und versuchte, möglichst harmlos auszusehen. Nützte nichts, Janine blickte zu ihm auf, als wollte er sie fressen. Sie wirkte winzig in ihrem grellgelben »FitnessExpress«-Trainingsanzug. Winzig neben ihm, dem tätowierten, vernarbten Muskelberg. Immer wieder sah sie auf den Bildschirm vor sich, als würden sich die Vertragsbedingungen dadurch ändern.
»Ich weiß«, sagte er und bemühte sich um eine sanfte Stimme, »aber, na ja, das Auto ist gestern verreckt. Steht jetzt in der Werkstatt. Keine Ahnung, wie teuer das wird, aber ich weiß jetzt schon, dass ich mir das Studio nicht mehr leisten kann.«
Oder das Boxtraining. Oder endlich das Tattoo auf seiner Brust fertig stechen zu lassen. Nur zur Hälfte farbig sah es echt selten dämlich aus.
»Ich kann den Vertrag nicht vorzeitig beenden. Die Regeln sind da eindeutig und ich hab keine Befugnis, jemanden vor der Frist da rauszulassen …«, piepste sie und er ärgerte sich mal wieder, dass er so bedrohlich wirkte. Er wollte sie nicht einschüchtern, verdammt! Er wollte nur die Autoreparatur bezahlen können, damit er Omi weiter zum Arzt und zurück kutschieren konnte. Janines Stirn legte sich in Falten.
»Also, äh … also außer, wenn jemand stirbt. Soll ich eintragen, dass du tot bist?«
»Geht das?«, fragte er erstaunt.
»Ja, schon. Ist nur ein Klick. Aber willst du echt … ich meine, das bringt doch bestimmt Unglück.«
»Egal. Tu es.«
Zehn Minuten später trat er als frisch Verstorbener aus dem Fitnessstudio. Er hatte sich noch schnell von den anderen Jungs verabschiedet, die dort Gewichte hoben. Gute Jungs. Er würde die Kameradschaft im FitnessExpress vermissen. Vor allem, wenn er zuhause volle Wasserflaschen als Hantelersatz stemmen und auf dem Kinderklettergerüst im Hof Klimmzüge machen würde. Aber es musste sein.
Vin seufzte. Noch zwei Wochen bis zum Monatsende. Sein Gehalt kam für gewöhnlich drei Tage früher an. Bis dahin würde das Geld reichen, oder? Musste es. Würde es. Bestimmt. Nach Regen kam wieder Sonnenschein, das stand schließlich auf seinen Rücken tätowiert. Direkt unter dem flammenden Einhorn in seinem Nacken … Sein altersschwaches Handy brummte. Omi.
»Alles in Ordnung?«, fragte er, als er ihren unsteten Atem hörte. Scheiße, was war passiert? Selina sollte doch bei ihr sein!
»Er hat sie gefragt«, schluchzte Omi. »Der Schallerbub. Und sie hat ja gesagt!«
»WAS?« Das Handy rutschte aus Vins rechter Hand. Knapp schaffte er es, es mit der linken aufzufangen, bevor es auf dem Asphalt zerschellte.
»Er hat was?«, wiederholte er, kaum, dass er den Apparat wieder an sein Ohr gedrückt hatte. »Und sie hat was?«
»Brüll nicht so, Kurzer.«
»Ich brüll, soviel ich ...« Er hielt inne. »Tschuldigung. Aber warum ... ich meine, das war was? Ihr drittes Date? Und er hat sie echt gefragt, ob … sie ihn heiraten will?«
»Was denn sonst? Ob sie mit ihm Waffeln backen will?« Omi schluchzte wieder auf. Vin hätte am Liebsten mitgeheult.
»Nicht traurig sein, Omi. Das ist doch noch gar nicht sicher. Bis zur Hochzeit kann viel passieren ...«
»Ich weine, weil ich so glücklich bin!« Schluchzen. »Endlich weiß ich, dass ihr versorgt seid, wenn ich mal gehe ...«
»Du gehst nirgendwohin«, schnappte er. »Und Selina heiratet diesen Moderator auf gar keinen Fall! Ist sie bei dir? Gib sie mir!«
»Aber Kurzer ...«
»Bitte«, knurrte er.
»Ja, Moment ...« Rascheln. Flüstern. Leises Kichern und er konnte ganz klar das Wort »Dickschädel« ausmachen. Diese Weiber würden ihn eines Tages noch in die Klapse bringen …
»Mein Lieblingsbruder!« Selina kicherte. »Und Trauzeuge, wenn du dich benimmst.«
»Tu ich nicht. Und du heiratest auf gar keinen Fall diesen Schlagerboy, ist das klar? In unserer Familie heiratet man aus Liebe oder gar nicht.«
»Wer hat denn die bescheuerte Regel aufgestellt? Du etwa?«
»Die hat … Gott aufgestellt«, behauptete er. »Und das … Universum. Und alles, was gut und richtig ist, verdammt!«
»Du spinnst doch.«
Vin seufzte. Er setzte sich auf den Bordstein vor dem FitnessExpress und starrte auf die hässliche Wellblechwand der Papierfabrik gegenüber. Wenn er zu lange hier saß, würde er festfrieren, aber er hatte mit einem Mal keine Kraft mehr in den Beinen.
»Seli, ich … ich will einfach nicht, dass du dich unglücklich machst. Und das wirst du. Das Geld ist bestimmt toll, für die ersten ein, zwei Jahre. Aber dann … dann wirst du immer weniger verstehen, warum du das getan hast und immer mehr unnützen Scheiß kaufen und immer trauriger werden, und ...«
»Dann kann ich mich doch scheiden lassen. Ich … wenn ich es richtig mache, bekomme ich sogar die Hälfte der Kohle zugesprochen.« Auch ihre Stimme war ernst geworden.
»Und wie wirst du dich dabei fühlen, wenn du so einen miesen Plan durchziehst? Außerdem, was, wenn ihr dann Kinder habt? Willst du die da mit reinziehen? Willst du, dass die erfahren, dass du ihren Vater nie geliebt hast?«
»Ne.« Ihre Stimme wurde rauer. »Ne, will ich nicht, nur … Mensch, Vin. Das ist meine eine Chance. Ich weiß, du kommst irgendwie damit klar, aber mich hat das schon immer angekotzt. Dass das Geld nur so ganz knapp reicht, dass wir von einer Beinahe-Katastrophe in die nächste schlittern. Dass mein Scheißstudium schon ewig dauert, weil ich ständig bei »Hallo Scheißschunkelfreunde« arbeiten muss, weil ich es mir sonst nicht leisten kann … Und jeden Tag sitzt mir diese Panik im Nacken.