Ehrbare Hyänen - Vinachia Burke - E-Book

Ehrbare Hyänen E-Book

Vinachia Burke

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Beschreibung

Was wirst du riskieren, um deinen Status in einer patriarchalischen Welt zu sichern? Einst standen Krillia alle Türen und Geldbörsen offen. Als eine der schönsten Frauen Tannders lagen alle wohlhabenden Händler ihr zu Füßen. Statt sich für ihr Leben zu binden, verschenkte Krillia ihre Freiheit nur für wenige Stunden. Jetzt liegen die besten Zeiten hinter ihr und neben den unverkennbaren Zeichen des Alters plagen sie wachsende Zukunftsängste. Da kommt Karel ser Horchhausen, der Sohn einer der reichsten Familien des Landes, wie gerufen für sie. Wie geplant verfällt der junge Offizier ihrem Charme, doch durch ihn gerät Krillia in die düsteren Verstrickungen seiner Familie. Schon bald deckt sie Geheimnisse auf, die tödliche Gefahren bergen und ihr stellt sich die Frage: Wie hoch wird ihr eigener Einsatz sein? Ein Polit-Thriller voller Ränke und Intrigen in einer viktorianisch inspirierten High-Fantasy-Welt.

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Seitenzahl: 424

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VINACHIA BURKE

Impressum

Copyright © 2023 by

WunderZeilen Verlag GbR (Vinachia Burke & Sebastian Hauer) Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]

EHRBARE HYÄNENText © Vinachia Burke. 2023 Lektorat 1: Cao Krawallo (www.caokrawallo.de) Lektorat 2: David Pawn (www.davidpawn.de) Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de) Cover: Vinachia Burke

Illustrationen: Vinachia Burke Satz & Layout: Vinachia Burkewww.vinachiaburke.com ISBN: 978-3-98867-008-3 Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltshinweise

Ehrbare Hyänen ist ein Fantasybuch für Erwachsene aus dem Genre Low-Fantasy. Neben der Auseinandersetzung mit teilweise anstößigen oder kontroversen Themen hebt dieses Buch bewusst keinen moralischen Zeigefinger. Die Inhalte werden von den Figuren erlebt und nur aus deren individueller Perspektive und vor dem Hintergrund ihrer Welt / Zeit bewertet. Zur Orientierung eine Liste möglicher triggernder Inhalte:

• Sexismus (die Protagonistin ist eine Prostituierte, steht also sehr weit unten in der Gesellschaftshierarchie und das wird auch immer wieder deutlich werden.)

• Psychische Konflikte (u.a. der psychische Preis von lebenslanger Prostitution, wie Drogenmissbrauch, psychosomatische Beschwerden oder andere Formen selbstgefährdenden Verhaltens)

• Explizite sexuelle Szenen (auch mit sanften Anleihen an der BDSM Szene)

• Drogen- und Alkoholgenuss

• Themen, die darüber hinaus in Gesprächen angerissen werden: Menschenhandel, Pädophilie, (illegale) Abtreibungen, Vergewaltigung und Zwangsheirat, Gewalt allgemein, Beleidigung von Homosexuellen, Selbstverletzung

EPISODE I

Nicht mehr und nicht weniger

Stadt Tannder, Ronland im Jahre 290 nach Reichsgründung

Tannders Unterhaltungsviertel. Ein Schandfleck auf der Karte der reichsten und zivilisiertesten Stadt Ronlands. Ein Ort der Verschwendung, der Sinnesfreuden und der Zerstreuung. Wer am Tage noch geziemt und gestriegelt in Zylinder und Gehrock durch die Straßen flanierte, legte hier nach Einbruch der Dämmerung jegliche Zurückhaltung ab. Vergaß Benehmen, Etikette, Regeln und Steifheit. Sobald die Sonne unterging, verschwanden die unscheinbaren, leeren Straßen und füllten sich mit lebenshungrigen Nachtschwärmern.

Begleitet vom Klackern ihrer Absätze glitt Krillia zielstrebig zwischen den in Kleider und Mäntel gehüllten Herrschaften hindurch, die an diesem Abend auf der Suche nach Gold, Unterhaltung oder einer stillen Ecke waren. Ein Mann mittleren Alters lehnte an der Fassade des Gebäudes zu ihrer Linken, dessen graue Arbeitskleidung so gar nicht in dieses Viertel der gehobenen Zerstreuung passen wollte. Wahrscheinlich ein Hafenarbeiter, der bereits ordentlich einen über den Durst getrunken und sich verlaufen hatte. Aus blutunterlaufenen Augen beobachtete er sie. Seine Miene starr, als müsste er sich konzentrieren. Demonstrativ wandte Krillia den Blick ab und hob das Kinn an, während sie an ihm vorbeimarschierte. Kühle Nachtluft streifte ihre Wangen, die sie wie jeden Abend mit rotem Puder betont hatte. Karmin; ein Farbstoff, den die Händler seit zwei Jahrzehnten von jenseits des Meeres in die Stadt brachten. Viel teurer als die Rotpigmente, die für gewöhnlich aus getrockneten einheimischen Blüten gewonnen wurden, dafür mit kräftigerer Färbung: blutrot. Es harmonierte hervorragend mit ihren dunkelbraunen Haaren, die in Wellen über ihre Schultern flossen.

Eine besonders kalte Böe fegte durch die breite Straße und ließ sie ihren Pelzmantel fester um sich ziehen. Eine Aufmerksamkeit von Loddwich, einem ihrer ersten wohlhabenden Regulären. Eines der wenigen Geschenke, die sich wirklich ausgezahlt hatten. Das Kleidungsstück leistete ihr seit zwei Jahrzehnten gute Dienste und sorgte dafür, dass selbst die Konservativen ihr im ersten Moment eine Prise Respekt entgegenbrachten. Vor den halbverglasten Flügeltüren von Forks Gasthaus blieb sie stehen und betrachtete ihr Spiegelbild in den von innen verhangenen Scheiben.

Leise stieß sie die Luft aus. In die knappe Regung legte sie so viel Schwere, so viel Resignation, dass es einem Kunststück gleichkam, die Gänze dieser Gefühle in solch einer kleinen Geste zu verpacken.

Viel zu viele Jahre …

Krillia wusste genau, welche Bereiche ihres Gesichts sie mit Blicken taxieren musste. Die unaufhaltsam wachsenden Krähenfüße, die immer schwerer zu versteckenden Augenringe, die einst rosigen und vollen Wangen, die sich nun viel zu fest über ihren Knochen spannten …

Schönheit war ihr Leben gewesen, ihr Kapital. Denn Krillias makelloses Antlitz hatte ihr in jungen Jahren alle Türen dieser unersättlichen Stadt geöffnet. Ihre niedere Geburt war dahinter stets zweitrangig geblieben. Mitansehen zu müssen, wie dieses Meisterwerk der Natur allmählich zerfiel, schmerzte sie mehr, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie nicht einen Gedanken an das Älterwerden verschwendet hatte. Mittlerweile verging jedoch kein Tag, an dem Krillia nicht mit wachsender Sorge in den Spiegel sah. Die Zeit hatte sie unübersehbar von einer jungen Blüte in eine reife Frau verwandelt. Dabei spielte es kaum noch eine Rolle, wie sorgfältig sie abends ihre Cremes und Puder auftrug. Einige Wirtshäuser in dieser Stadt ließen sie nicht einmal mehr ein. Zu viele Mädchen, die mindestens zwanzig Jahre nach ihr geboren worden waren, warteten auf ihre Gelegenheit. In ihnen floss junges Blut, sie waren unverbraucht und begierig darauf, Gold zu verdienen, unabhängig zu sein. Schleichend hatten sie Krillias Platz eingenommen und dabei war sie noch keine vierzig.

Würde sie heute Erfolg haben? Oder wartete ein weiterer ernüchternder Abend auf sie, den sie damit vergeuden würde, um jede Silbermünze zu feilschen, nur um sich letztendlich mit einer Flasche Wein selbst zu bemitleiden? Zum Glück passierte das noch nicht häufig, doch es kam hin und wieder vor und allein der Gedanke versetzte sie in Angst. Täglich wurde es schwerer, Kunden zu finden, die bereit waren, ihren Preis zu zahlen. Und in ihrer Magengrube wuchs die Sorge, dass auch Fork sie in seinem Lokal bald nicht mehr dulden würde.

Ein letztes Mal atmete Krillia tief ein. Dann streckte sie ihre schmale Hand nach dem messingfarbenen Knauf aus und drückte die Tür auf. Warme, süßliche und mit Tabakgeruch geschwängerte Luft schlug ihr entgegen, als sie durch die Tür und die dahinterliegenden Vorhänge trat. Fork stand hinter der Bar. Sein Blick fiel sofort auf sie und ein warmes Lächeln breitete sich unter seinem beeindruckenden Schnauzer aus. Er winkte ihr knapp zu, kaum dass sie drei Schritte in seinen Schankraum gesetzt hatte. Krillia quittierte die Geste nur mit einem knappen Nicken, wenngleich wohlige Erleichterung sie durchströmte, während einer der Kellner ihr den Mantel abnahm.

Wenn er sich noch freut, mich zu sehen, werde ich heute wohl noch nicht vor die Tür gesetzt.

Sorgfältig strich sie den Stoff ihres Kleides glatt und hing sich die kleine Tasche um, in der sie die wichtigsten Utensilien für ihre Art der Arbeit mit sich führte. In ihrer Branche musste man vorbereitet sein, und zwar auf so ziemlich alle Eventualitäten. Sie trug immer Salben, Öle, Schminkutensilien, Parfüm, einen Kamm, Baumwolltücher und die wertvollen ›Mäntelchen‹ bei sich. Sie waren das einzige gebräuchliche Verhütungsmittel in Ronland. Für den Fall eines Unfalls kannte sie allerdings auch die entsprechenden Adressen. Es gab Kräutermischungen, die Schwangerschaften verhindern konnten, doch ihre toxischen Nebenwirkungen ließen sie nur darauf zurückgreifen, wenn es unumgänglich war. Und es gab gewisse Hebammen, die sich mit illegalen Schwangerschaftsabbrüchen eine goldene Nase verdienten.

Adressen, Namen, Kontakte, die Krillia über Jahrzehnte hinweg gesammelt hatte. Wissen, das ein Vermögen wert sein würde, wenn sie eines Tages wirklich zu alt war und sich junge Schützlinge suchen musste, die dafür zahlen würden. So lief es seit Jahrhunderten und sie hatte sich so sehr mit diesen Gedanken arrangiert, dass sie ihr mittlerweile völlig normal vorkamen.

Sie blieb im Eingangsbereich stehen und sah sich gelassen im Schankraum um. Im Geist zählte sie gemächlich die Sekunden mit.

Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.

Langsam setzte sie sich in Bewegung und lief mit geschmeidigem Gang auf den Bartresen inmitten des Raumes zu. Fork sah hin und wieder zu ihr hinüber, während er einige Gläser mit hochprozentigem Alkohol füllte. Er kannte ihre Regeln, ihre althergebrachte Arbeitsweise, wusste, dass sie an der Tür stets wartete, um bemerkt zu werden. Denn Menschen sahen in regelmäßigen Abständen zu Türen, Fenstern und sonstigen Zugängen eines Raumes. Ein unbewusster Fluchtreflex aus grauer Vorzeit. Und für Krillia eine einfache und dezente Art, ihre Anwesenheit kundzutun.

Mit fließenden Bewegungen ließ sie sich auf einen der mit dunkelrotem Samt bezogenen Barhocker gleiten und zog Streichhölzer und ihre Tabakspitze hervor. Doch bevor sie dazu kam, den Tabak zu drehen, trat Fork heran und beugte sich über die Theke.

»Ich brauche einen Gefallen, Krillia.«

Sie legte den Kopf schief, setzte ein einstudiertes, umwerfendes Lächeln auf und klimperte mit den Wimpern. »Für dich tue ich doch alles, Fork.«

Der Wirt deutete mit dem Kinn über ihre rechte Schulter. Sie wandte sich um und erkannte sofort, welchen Tisch er mit seiner Geste meinte. In einer schummrigen Ecke saß ein junger Offizier. Er war allein, sein tiefschwarzes Haar zerzaust und die Knöpfe am Kragen seiner Uniform geöffnet. Auf seinen Epauletten erkannte sie keinen hohen Rang. Wahrscheinlich war er erst kürzlich der Armee beigetreten. Vor ihm auf der Tischplatte standen eine Flasche Wein und ein gefülltes Glas. Doch während sie ihn beobachtete, rührte er beides nicht an. Geistesabwesend studierte er die Maserung des Tisches unter seiner Nase.

»Sieht ziemlich bemitleidenswert aus, der Junge«, sagte sie lapidar und drehte sich wieder zur Theke um.

»Er ist ein Freund«, antwortete der Wirt bestimmt. »Und ich denke, es könnte sich für dich lohnen«, fügte er hinzu, als er ihren skeptischen Blick auffing.

»Ach ja?«

»Er ist ein ser Horchhausen.«

Krillia zog die Augenbrauen hoch und sah sich noch einmal zu dem dunkelhaarigen Offizier um, der sich noch immer nicht geregt hatte.

Ein ser Horchhausen …

Das könnte tatsächlich ihr Glückstag sein.

»Danke für den Tipp«, sagte sie zu Fork und packte ihre Sachen zurück in die Tasche. »Eine Ahnung, was er mag?«

Der Wirt schüttelte den Kopf, ohne eine Miene zu verziehen. »Kann ich dir nicht sagen. Ich hab ihn noch nie mit einer Frau gesehen.«

»Dann hoffen wir mal, dass er überhaupt auf Frauen steht«, sagte Krillia und erhob sich. »Oder auf Frauen in meinem Alter«, fügte sie zu sich selbst murmelnd hinzu. Aber Fork hatte sich in der Zwischenzeit schon wieder anderen Aufgaben zugewandt, sodass er sie ohnehin nicht mehr hörte.

Der Offizier beachtete sie weder im Näherkommen noch als sie sich an den hölzernen Sichtschutz zu seinem Nachbartisch lehnte. Geschnitzte Blumenranken zierten die Oberfläche der Holzplatte.

»Guten Abend«, sagte Krillia und setzte ein strahlendes Lächeln auf.

Der junge ser Horchhausen blinzelte mehrfach, als wäre er in Gedanken gewesen. Im nächsten Moment nahm er eine aufrechte Haltung ein, zog die Schultern zurück und räusperte sich. Erst als er sie direkt ansah, fiel ihr die Brille auf seiner markanten Nase auf. Ein höchst ungewöhnliches Hilfsmittel für einen Offizier.

Und dann auch noch in seinem Alter. Der ist doch noch keine dreißig. Was will die Armee mit einem blinden Befehlshaber?

»Guten Abend«, wiederholte er ihre Begrüßung mit milder Irritation in der Stimme und musterte sie eingehend. Seine leicht zusammengekniffenen Augenbrauen verrieten ihr, dass er noch nicht verstanden hatte, wer oder was sie war.

»Ist an Eurem Tisch ein Platz für reizende Gesellschaft frei?«

Krillia erkannte genau den Augenblick, in dem ihn die Erkenntnis traf. Seine grünen Augen weiteten sich nur ein Stück. Das war ihre liebste Augenfarbe. Sie fand wichtig, bei potenziellen Kunden Dinge zu finden, die sie mochte. Komplimente halfen immer und jeder hatte irgendetwas Gutes an sich. Manchmal brauchte es nur einen zweiten oder dritten Blick, aber bisher war sie stets fündig geworden.

Mach, dass er sich gut fühlt.

Das würde ihr bei diesem Offizier zum Glück nicht allzu schwerfallen. Er war zwar nicht unbedingt der Typ Mann, dem besonders viele Frauen in Tannder hinterhersteigen würden, doch völlig verloren war er auch nicht.

Vor allem nicht mit diesem unverschämten Familiennamen.

»Ich habe kein Interesse. Tut mir leid«, entgegnete er.

Krillia blinzelte. Einmal. Zweimal. Und rührte sich nicht vom Fleck. Eine solch respektvolle Absage erhielt sie überaus selten. Vor allem von jemandem aus seiner Gesellschaftsschicht. Normalerweise rechnete sie an diesem Punkt mit einer mehr oder minder derben Beleidigung. Doch wenn er freundlich war ...

Nun, dann sind die Verhandlungen hiermit eröffnet.

Sie kicherte. »Wie ist es mit Unterhaltung? Lust auf ein Trinkspiel?«, fragte sie leichthin und ließ sich auf den Platz ihm gegenüber sinken.

Er betrachtete sie abwägend. Sein Blick wirkte deutlich älter als der Rest seiner Erscheinung.

»Was für ein Trinkspiel?«, fragte er nach einigen Augenblicken.

Krillias Lächeln wurde breiter und sie gab sich den Anschein nachzudenken. Dabei wandte sie den Kopf zur Seite und fuhr sich mit einer Hand durch die dunkelbraunen Strähnen. So gab sie ihm Gelegenheit, unbemerkt ihr Profil zu betrachten. An ihren Haarspitzen angekommen legte sie ihren Hals frei und strich mit ihren Fingerspitzen langsam daran herab, bis zu ihrem Dekolleté. Sie hatte das schon hunderte Male getan und auch bei dem jungen ser Horchhausen verfehlte die Geste ihre Wirkung nicht. Als Krillia ihn wieder ansah, ertappte sie ihn dabei, wie er gebannt auf ihre Finger starrte.

»Ich erzähle Euch etwas über mich und Ihr ratet, ob es die Wahrheit oder eine Lüge ist. Wenn Ihr recht habt, trinke ich. Wenn Ihr falsch liegt, trinkt Ihr.«

Sein Blick wanderte wieder zu ihrem hinauf und er zog einen Mundwinkel erwartungsvoll in die Höhe.

Volltreffer. Er mag Herausforderungen.

»Abgemacht.«

Keine fünf Minuten später servierte ihnen Fork persönlich ein Tablett mit kleinen Whiskygläsern. Krillia hatte sich zwischenzeitlich ein paar Fakten zurechtgelegt, denn die Wartezeit verbrachten sie schweigend. Ihr Gegenüber betrachtete sie währenddessen unablässig, als würde er versuchen, ihre Gedanken zu lesen oder ihre Geschichte zu erraten.

Sie grinste in sich hinein.

Das könnte interessant werden.

Sobald der Wirt verschwunden war, lehnte sich der junge Offizier zurück. »Nun dann, verratet mir etwas über euch.«

»Mein Name ist Krillia.«

Ein schelmisches Grinsen erschien auf seinen Zügen. »Wahrheit.«

»Korrekt«, entgegnete sie, trank eines der Gläser leer und stellte es neben sich ab. »Ursprünglich habe ich Näherin gelernt.«

Sein Blick wanderte zu ihren Fingerspitzen und er legte nachdenklich den Kopf schief. »Wahrheit, und bei einem Auftrag habt Ihr jemanden kennengelernt.« 

Ihre Miene versteinerte und sie hoffte, durch keine Regung zu verraten, wie sehr er sie mit seinen Worten erschreckte.

»Darf ich?«, fragte er und deutete auf ihre rechte Hand.

Krillia antwortete nicht, doch zog sie auch nicht zurück, als er sie vorsichtig in seine nahm. Seine Hände waren weich und warm und glücklicherweise nicht schwitzig. Sie mochte schwitzige Hände nicht. Besonders ihrem Daumen und Zeigefinger galt sein Interesse.

»Falls Ihr tatsächlich einmal Näherin wart, dann nicht sehr lang«, sagte er und fuhr behutsam die Haut an ihren Fingerkuppen ab. Eine Berührung, die tausend Blitze durch ihren Körper jagte. Schon jetzt war sie sich sicher, dass sie viel schlimmere Kunden als diesen Offizier gehabt hatte.

»Wie Ihr bereits treffend bemerkt habt, habe ich jemanden kennengelernt«, entgegnete sie mit einem angestrengten Lächeln und zog langsam, aber bestimmt ihre Hand zurück, um ein weiteres Glas zu leeren.

Seine Augen blitzten in Erwartung ihrer nächsten Behauptung. »Und?«

»Und ich bin 38 Jahre alt.«

»Ihr würdet mir niemals Euer wahres Alter nennen«, entgegnete er sofort.

Krillia zog eine Augenbraue in die Höhe und lächelte wahrlich amüsiert. »Ich fürchte, jetzt seid Ihr mit trinken an der Reihe ...« Sie stockte, als ihr auffiel, dass er ihr seinen Namen noch nicht genannt hatte. »Wie heißt Ihr?«

Er lachte auf. Doch in dem Laut fand sie keinerlei Erheiterung, er klang eher nach Bitterkeit. »Ich bin mir sicher, dass ich Eure Gegenwart einzig meinem Familiennamen zu verdanken habe, also spielt nicht die Unschuldige.« Er musterte sie einen Moment. »Das steht Euch nicht.«

Sie verengte die Augen und lächelte gefährlich. »Gut, dann Euren Vornamen.«

Er zögerte für den Bruchteil eines Augenblicks. »Albert.«

»Lüge.«

Ein amüsiertes Schnauben kam ihm über die Lippen und er nahm zwei Gläser von dem Tablett, die er hintereinander leerte.

»Wer ist Albert? Euer Freund oder Euer Vorgesetzter?«, fragte sie. Sie wusste nur zu gut, dass Menschen spontan immer den Namen von jemandem wählten, der ihnen nahestand. Der fiel ihnen für gewöhnlich am schnellsten ein.

»Weder, noch«, sagte er und räusperte sich.

»Euer Geliebter?«

Sein Blick fixierte wieder ihren. »Nein. Ich mag Frauen.«

»Was für Frauen?«, fragte sie erwartungsvoll lächelnd und beugte sich ein Stück über den Tisch vor, denn sie waren mit jedem Satz leiser geworden.

Er tat das Gleiche. Eine Weile hielt er inne und musterte sie aufmerksam. Krillia konnte nicht vorhersagen, wie seine Antwort ausfallen würde.

Komm schon.

Schließlich atmete er tief ein und wieder aus. »Wie viel?«

»Vierzig Silber.«

Das war ihr alter Preis. Der Preis, den man ihr gezahlt hatte, als sie noch fünfzehn Jahre jünger gewesen war. Mittlerweile versuchten die meisten, mit ihr zu verhandeln. Umso mehr musste sie sich beherrschen, keine Überraschung zu zeigen, als er nickte und ihr eine goldglänzende Münze über den Tisch zuschob.

Sie wollte danach greifen, doch hielt mitten in der Bewegung inne. »Sonderwünsche?« Normalerweise war das der Grund dafür, wenn ihr jemand so viel mehr gab.

»Respekt«, antwortete er nur und stand auf. »Ich hole einen Zimmerschlüssel.«

Dann ließ er Krillia allein mit dem Gold zurück. Hastig verstaute sie die Münze in ihrer Tasche, bevor jemand sie sehen konnte. Beinahe hätte sie vor Erleichterung geseufzt.

Das wird mein Notfallgroschen, wenn ich eine Pechsträhne haben sollte.

Als der Offizier zurückkehrte, hatte sie wieder zu ihrer Haltung zurückgefunden und stand elegant auf. Er legte eine Hand auf ihrem unteren Rücken ab und dirigierte sie in Richtung der Treppen, die zu den Zimmern in den oberen Etagen führten. Sie mochte die Zimmer in Forks Gasthaus. Sie waren sauber und verhältnismäßig komfortabel eingerichtet, obwohl er nur moderate Preise verlangte.

Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen fanden sie sich allein in einem Flur wieder, auf dem sich zu beiden Seiten schlichte Türen mit Nummern befanden. Mitten auf dem Gang blieb der junge ser Horchhausen abrupt stehen und versperrte Krillia mit einem ausgestreckten Arm an der Wand den Weg.

»Ja?«, fragte sie irritiert.

»Ich weiß, dass Fork Euch auf mich angesetzt hat, weil er denkt, dass ich etwas Aufmunterung nötig habe.« Eindringlich musterte er sie bei diesen Worten.

Krillia legte den Kopf schief. »Und?«

»Was ich sagen will, ist: Ihr müsst das nicht tun. Ihr habt das Gold. Ihr könnt einfach gehen.«

Beinahe hätte sie laut aufgelacht, wenn sein Ausdruck nicht so ernst gewesen wäre.

»Ihr seid ...« Sie stockte, denn sie fand kein Wort, um zu beschreiben, was das in ihr auslöste. Irgendwie war es lächerlich und gleichzeitig ... großzügig. Zu gut, um wahr zu sein. Es gab keine Märchenprinzen.

»Oder wollt Ihr es?«, fragte er und kam näher.

Krillia regte sich nicht. Weder streckte sie sich ihm entgegen, noch wich sie zurück. Der Moment war seltsam. Allein der Gedanke daran, die Wahl zu haben …

Bisher war er freundlich gewesen und hatte sie mit Respekt behandelt. Auf merkwürdige Weise gab er ihr das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein. Sie könnte nein sagen. Er war ihr so nahe, dass sein Atem ihre Nase und Wangen kitzelte. Nein, sie hatte keine Wahl, nicht wirklich. Doch so zu tun, ließ ihren Magen flattern. Um dieser Regung zu entfliehen, überbrückte sie die letzten Zentimeter zwischen ihnen und berührte mit ihren Lippen seine.

Er fragte sie nicht erneut, sondern erwiderte den Kuss und zog sie in seine Arme.

---

Stunden später waren sie noch immer wach. Krillia lag dösig mit dem Kopf auf seiner Schulter und fuhr geistesabwesend mit einem Finger über die Konturen seines nackten Oberkörpers. Er war keiner von der eiligen Sorte. So viele Männer konnten kaum schnell genug von ihr wegkommen, sobald sie bekommen hatten, wofür sie bezahlten. Sei es aus Scham oder Desinteresse an ihr und bei den meisten war sie deswegen nicht böse. Sie hatte aber auch nichts dagegen, einem gut zahlenden Kunden die Illusion einer Nacht aus Liebe zu lassen. Und das war es offensichtlich, was dieser Mann, dessen Herzschlag sie unter der warmen Haut an ihrem Ohr hören konnte, sich wünschte. Sonst hätte er ihr nicht die Wahl gelassen. Die Illusion, sie würde ihn ebenso begehren, gehörte dazu. Er war nicht der Erste dieser Art, er würde nicht der Letzte sein. Doch sie blieb auf der Hut. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass solche Männer große Probleme bedeuten konnten. Insbesondere, wenn sie einen Besitzanspruch entwickelten.

Der Gedanke ließ sie ihre Schultern, auf denen er locker eine warme Hand abgelegt hatte, anspannen und sie setzte sich auf, die Decke um ihren Oberkörper gewickelt.

»Müsst Ihr weiter?«, fragte er.

»Wollt Ihr die ganze Nacht hier zubringen?«, antwortete sie ihm mit einer Gegenfrage.

Auch er rappelte sich auf und lehnte sich gegen das Kopfende des Bettes.

»Wie viel würde mich das kosten?«

Seine grünen Augen sahen sie so gelassen an, als würde er sich erkundigen, wie sie ihren Tee wünschte. Wieder fiel ihr auf, dass diese Augen so viel älter wirkten als der Rest von ihm. In ihnen las sie Einsamkeit. Eine Gelegenheit, aber auch eine Gefahr.

Wie sehr sehnt er sich nach dieser Nähe? Und wie viel ist er bereit, dafür zu geben?

»Ihr könnt natürlich jederzeit gehen.« Anscheinend hatte er ihr Zögern missinterpretiert.

»Ein weiteres Goldstück«, antwortete Krillia schnell, zu schnell. Das hatte sie nicht durchdacht. So viel würde er ihr niemals geben.

Er verzog amüsiert einen Mundwinkel, doch beugte sich über die Bettkante, wühlte in seinen Sachen und gab ihr eines. Erneut ohne Verhandlung oder sonstige Form von Widerstand. Sie brannte darauf, zu wissen, warum er das tat, aber sie konnte ihre Maske nicht sinken lassen. Wenn er auch nur vermutete, dass diese Beträge für sie nicht üblich waren, wäre es mit ihrem Goldsegen vorbei. Also behielt sie ihren betont neutralen Gesichtsausdruck, als sie die Hand danach ausstreckte. Doch er gab die Münze nicht sofort frei, sondern lehnte sich näher zu ihr. Sie lächelte und ließ ihn nicht aus den Augen. Krillia hatte gelernt, nie unvorsichtig mit einem Kunden zu sein, egal wie charmant er auftrat. Doch dieser hier stahl sich nur einen Kuss von ihren Lippen, bevor er ihr die Münze überließ.

Oh, er braucht diese Illusion.

Sie verstaute das Gold sorgfältig auf ihrer Seite des Bettes.

»Wie ist Euer richtiger Name?«, fragte sie, nachdem sie sich wieder an das Kopfende gelehnt hatte. Es war nicht von Bedeutung, aber sie wollte über irgendetwas reden.

Er fuhr sanft mit einer Hand die Konturen ihres Schlüsselbeins ab. Seine Augen auf ihre Haut geheftet, bemerkte er nicht, wie sie ihn eingehend musterte. Sein Blick, sein ganzer Ausdruck war ungewöhnlich. Sie entdeckte keine Gier, keine Dankbarkeit, keine Verzweiflung und gar keine Wut. Jene Emotionen, die sie sonst in Männern sah, schienen bei ihm nicht vorhanden zu sein. Er wirkte einfach nur ... interessiert, konzentriert, als würde er versuchen, sie einzuschätzen. Seine Hand wanderte tiefer und befreite ihren Oberkörper von der dünnen Decke.

»Karel«, sagte er schließlich, während er die Form ihrer Brüste studierte.

Es verlangte ihr alle Selbstbeherrschung ab, sich unter diesem Blick nicht zu verstecken und ihren alternden Körper nicht aus seinem brennenden Fokus zu winden.

»Wie lange habt Ihr Ausgang?«, fragte sie, um ihn zu irgendetwas anderem zu bewegen, als ihre Rundungen anzustarren und zu berühren.

Er war vermutlich der Jüngste in seiner Familie. Jene jungen Sers, die als Letztgeborene wenig Aussicht auf ein großes Erbe hatten, landeten früher oder später in der Armee. Als Unteroffizier bekam man nicht viele Freiheiten und kaum Sold. Der Gedanke beruhigte sie ein Stück weit. Er konnte sich zu keinem Problem für sie entwickeln, wenn er zur Kaserne zurückmusste.

»Diese Woche«, antwortete er. Seine Stimme klang rauer, dunkler als zuvor.

Obwohl sie deutlich spürte, dass er gerade andere Dinge mit ihr vorhatte, als zu reden, konnte sie sich nicht beherrschen, ihre Überraschung zu zeigen. »Das ist ungewöhnlich.«

Er schnaubte leise und seine Hand wanderte tiefer, verschwand zwischen ihren Beinen und entlockte ihr ein Seufzen, als er die Stelle fand, bei deren Berührung sie sich schon vor einer Stunde unter ihm gewunden hatte.

»Ja«, sagte er leise und beugte sich dicht an ihr Ohr herab. »Und vielleicht habe ich vor, die ganze Woche in diesem Zimmer zu verbringen.«

---

Krillia erwachte bei strahlendem Sonnenschein, blinzelte verschlafen und orientierte sich. Sie befand sich noch immer in einem von Forks Zimmern. Sofort kam ihr die Erinnerung an den Kunden vom Vortag in den Sinn, doch als sie den Kopf wandte, musste sie feststellen, dass die andere Betthälfte leer war. Augenblicklich fühlte sie sich hellwach und stemmte sich mit rasendem Herzen auf. Im ganzen Zimmer konnte sie keine Spur von ihm erkennen, seine Sachen waren verschwunden. Krillia sprang unter der Decke hervor und wühlte in ihrer Kleidung, nur um mit einem erleichterten Seufzen festzustellen, dass sich die Münzen noch an ihrem Platz befanden. Es war ein Risiko gewesen, an seiner Seite einzuschlafen. Insbesondere, wenn so viel Gold auf dem Spiel stand. Allerdings bezweifelte sie, dass sie es in ihrer Erschöpfung letzte Nacht noch bis nach Hause geschafft hätte. Sie hatte selten einen derart angenehmen Kunden gehabt, der sich mehr darum sorgte, dass sie auf ihre Kosten kam als er.

Unbekleidet tapste sie zum Waschtisch und reinigte zuerst sich und anschließend ihre Arbeitsmaterialien gründlich, suchte sie auf Beschädigungen ab, trocknete sie und verstaute sie neben den anderen Sachen in ihrer Tasche. Ihre dunkelbraunen Haare kämmte sie zurecht, so ordentlich es ging, und schlüpfte in ihr Kleid vom Vorabend. Mit ein wenig Rot auf den Lippen, etwas Parfüm an ihrem Hals und einem schwarzen Strich auf ihren Lidern fühlte sie sich schon wieder vorzeigbar. Krillia prüfte noch zweimal, ob sie das Gold auch wirklich dabeihatte, bevor sie das Zimmer hinter sich ließ und in den Schankraum zurückkehrte.

Auf der Treppe hinab hörte sie Gelächter und zog die Augenbrauen zusammen. Forks Lokal hatte um diese Uhrzeit geschlossen. Für gewöhnlich sollte Ruhe herrschen. Mit vorsichtigeren Schritten stieg sie weitere Stufen hinab und spähte durch die offenstehende Tür an ihrem Ende. Krillia erkannte den Wirt, der an einem seiner Tische saß und sich über irgendetwas zu amüsieren schien. Er hielt ein Blatt Karten vor sich in der Hand und mit mildem Schrecken stellte sie fest, dass ihm gegenüber ihr Bettgefährte der vergangenen Nacht saß: Karel ser Horchhausen. Auch er betrachtete mehrere Spielkarten zwischen seinen Fingern, neben ihm stand ein Brett mit Käse, Früchten und Brot.

Sie wollte einen Schritt zurückgehen, als Fork sie entdeckte und einladend eine Hand hob. »Krillia! Wann hab’ ich dich hier zum letzten Mal morgens in meinem Schankraum angetroffen? Eine gute Nacht gehabt?«

Karel sah über die Schulter und lächelte ihr zu. Sein Ausdruck wirkte freundlich und offen, doch sie setzte eine distanzierte Miene auf und nickte knapp. Sein Gold war abgelaufen, ebenso wie die scheinbare Zuneigung, die es ihm erkauft hatte.

»Kann man so sagen«, antwortete sie nüchtern an Fork gewandt.

Aber ich hasse es, einem Kunden am nächsten Morgen zu begegnen.

Der Wirt verzog bei ihrer Antwort in gespieltem Bedauern die Miene und grinste über den Tisch hinweg seinen Freund an.

Der fuhr sich durch die wirren Haare und Krillia fragte sich, ob sie so etwas wie Verlegenheit in seinem Blick sehen konnte. Dann griff er nach dem Brett mit Essen und schob es auf die andere Tischseite. Die Seite, an der sie stand.

»Möchtet Ihr frühstücken?«, fragte er.

Wollte sie nicht. Eigentlich wollte sie nur noch weg und von ihrem Gold ein warmes heißes Bad nehmen.

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, antwortete sie kühler als beabsichtigt.

»Autsch! Warst du doch so schrecklich?«, fragte Fork feixend.

Aber der Offizier warf ihm einen Blick zu, der den Wirt verstummen ließ. Krillia konnte nicht deuten, was zwischen den beiden geschah, doch irgendeine Form von wortloser Kommunikation musste vor ihrer Nase ablaufen. Gerade, als sie entschied, die beiden Männer einfach sitzen zu lassen und sich endlich um ihr ersehntes Bad zu kümmern, räusperte sich Fork, legte seine Karten verdeckt auf die Tischplatte und erhob sich.

»Krillia, Karel hat da ein Anliegen, das er gern mit dir besprechen möchte. Würdest du ihn bitte anhören?«

Skeptisch zog sie eine Augenbraue in die Höhe. Das persönliche Verhältnis der beiden Männer gefiel ihr nicht.

Daran hätte ich allerdings auch denken können, bevor ich Forks Bitte nachgekommen bin und bereitwillig Karels Gold eingesteckt habe.

»Ich habe dir schon einen Gefallen getan, als ich mich überhaupt zu ihm gesetzt habe«, erwiderte sie.

Ihr war bewusst, dass sie sich sehr arrogant anhören musste, aber diese Männer verstanden nie, dass sie ihre eigenen Entscheidungen traf und es klare Regeln gab. Sie war keinem von ihnen etwas schuldig, auch Fork nicht. Sollte er sie eben aus seinem Laden werfen, sie würde einen Weg finden, damit klarzukommen … irgendwie.

Irgendwie habe ich alles überlebt.

Doch zu ihrer Überraschung verstand der junge ser Horchhausen. Er zog seinen Geldbeutel hervor und legte einige Silberstücke auf die Tischplatte.

»Frühstück und Ihr hört Euch mein Anliegen an?«, fragte er mit einer einladenden Geste auf den ihm gegenüber frei gewordenen Platz.

Fork runzelte die Stirn, doch Karel nickte ihm entschieden zu, sodass der Wirt sich schließlich mit einem Schulterzucken abwandte und davonmarschierte.

Krillia trat näher und ließ sich auf die Bank sinken. Zuerst steckte sie die Münzen ein, dann beäugte sie das Frühstück. Sie hatte Hunger, aber sie hatte nicht vor, etwas zu essen. Eigentlich wollte sie den jungen ser Horchhausen einfach nur nicht ansehen. Es war schwierig, einem Kunden vom Vorabend bei grellem Tageslicht in die Augen zu sehen. Noch dazu aus dieser Nähe. Also blieb ihr Blick auf eine Traube dunkelroter Weinbeeren geheftet. Nach einigen stillen Sekunden streckte sie schließlich doch die Hand nach einer der runden Früchte aus und ließ sie in ihrem Mund verschwinden.

Als sie flüchtig hochsah und bemerkte, welchen Blick Karel ser Horchhausen ihr dabei zuwarf, verschluckte sie sich heftig. Hustend schnappte sie seinen Becher, bevor er es verhindern konnte, und nahm einen beherzten Schluck, den sie am liebsten im nächsten Moment auf den Boden gespuckt hätte. Darin war irgendetwas Hochprozentiges und ließ sie nur noch heftiger husten. Mit einer Hand auf ihrer Brust beruhigte sie sich schließlich wieder und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Was soll das? Und warum verdammt trinkt Ihr sowas am frühen Morgen?!«

Er legte den Kopf schief. Gespielte Unschuld zog sich über seine Miene. »Was soll was?«

»Na, Euer Blick, als ich die Traube gegessen habe.«

Er grinste breit. »Ich musste nur daran denken, was ihr letzte Nacht mit diesem Mund angestellt habt.«

Krillia zog düster die Augenbrauen zusammen. »Das war letzte Nacht.«

Sie war strikt in diesen Dingen. Strikt in dem, welchen Umgang sie mit sich erlaubte. Er brauchte abermals nicht lange, um zu verstehen. Sein Grinsen verschwand, er räusperte sich und setzte einen unbeteiligten Ausdruck auf.

Ist das seine Art oder kennt er sich besser in diesem Spiel aus, als er sich zunächst anmerken ließ?

»Ich mache das nicht erst seit gestern, Karel ser Horchhausen. Ich spiele keine Spielchen«, erklärte sie ernst. »Für letzte Nacht habt Ihr bezahlt und das hat nichts mit unserem Gespräch jetzt zu tun. Was wollt Ihr von mir?« 

»Ich wollte nicht respektlos sein.«

»Wart ihr aber.«

Sie beobachtete, wie er die Lippen zusammenpresste. Dann folgte ein knappes Nicken.

»Also, was wollt Ihr nun von mir?«

»Mein Bruder wird dieses Wochenende siebenunddreißig.«

»Glückwunsch, was hat das mit mir zu tun?«, fragte Krillia ungeduldig. Sie wollte wirklich bald ein Bad nehmen.

»Würdet Ihr mich zu den Feierlichkeiten begleiten?«

Bei der Frage konnte sie nicht verhindern, dass ihre Augenbrauen in die Höhe wanderten und sie ihn ungläubig anstarrte.

»Ich?«, fragte sie wenig geistreich.

Er nickte nur.

»Warum ich?« 

Geburtstagsfeiern waren durchaus eine heikle Angelegenheit. Sie hatte bereits eine Reihe offizieller ronländischer Veranstaltungen und Empfänge besucht, aber das war etwas anderes. Feierlichkeiten zu Geburtstagen wurden privater gehandhabt und waren eigentlich nicht für Personen bestimmt, die nicht zum unmittelbaren Familienkreis gehörten.

Bevor er ihr antwortete, brachte er sich in eine aufrechtere Position und faltete die Hände auf der Tischplatte.

»Weil von mir erwartet wird, dass ich eine Frau an meiner Seite haben werde«, erklärte er ruhig.

Sie hüstelte. »Aber doch mit Sicherheit nicht so jemanden wie mich.«

Ein verschlagenes Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus. »Nein, nicht so jemand wie Ihr.«

»Aber?«

»Kein aber. Das macht Euch zur perfekten Begleitung für mich. Ihr müsst verstehen, dass ich … nicht erpicht darauf bin, zukünftig noch einmal von meiner Familie zu einem solchen Auftritt gezwungen zu werden. Bislang konnte ich mich immer herausreden, doch dieses Mal haben meine Brüder meinen Vorgesetzten persönlich davon überzeugt, mir freizugeben.«

Das klang gar nicht gut. Das klang nach einer Sache, mit der sie eigentlich nichts zu tun haben wollte und dennoch ...

»Wie viel ist Euch das wert?«, hörte sie sich mit fester Stimme fragen.

Sein Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen.

»Irgendwoher wusste ich, dass Ihr das fragen würdet.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, doch als sie nichts darauf erwiderte, fuhr er fort. »Sechs Gold und alle weiteren Gefälligkeiten zahle ich extra.«

»Zehn.«

»Sieben.«

»Zehn.« Sie wiederholte ihr Angebot mit einem aufgesetzten Augenklimpern.

»Es ist keine Verhandlung, wenn Ihr mir nicht auch ein Stück entgegenkommt.«

Sie lehnte sich über den Tisch und funkelte ihn herausfordernd an.

»Acht«, sagte er.

»Zehn.«

Er schnaubte und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Fork wusste ganz genau, warum er mir ausgerechnet Euch auf den Hals gehetzt hat. Schön, also zehn.«

Sie ertappte sich dabei, wie sie bereits überschlug, wie lange ihr das Gold reichen würde, bevor sie sich besann und ihn eindringlich anstarrte.

»Warum ich?«

Er verschränkte die Arme und lehnte sich auf seinem Platz zurück.

»Ich brauche jemanden, der sich von dem Gift meiner Familie nicht beeindrucken lässt, und außerdem gefallt Ihr mir. Ich kann mir mit Leichtigkeit schlimmere Gesellschaft vorstellen. Mit Euch an meiner Seite könnte der Abend tatsächlich ... erträglich werden.«

Krillia spürte, wie ihre Wangen kribbelten. Sie verabscheute ehrliche Komplimente. Wann immer sich etwas in ihr derart regte, hatte sie den Eindruck, den rationalen Blick auf die Dinge zu verlieren. Also stand sie entschieden auf und ging zur Garderobe, damit Karel ihr Gesicht nicht richtig sehen konnte.

»In Ordnung. Ihr zahlt im Voraus«, erklärte sie geschäftsmäßig. 

Sie nahm ihren Pelzmantel vom Bügel, aber bevor sie selbst hineinschlüpfen konnte, zog Karel ihr das Kleidungsstück aus der Hand und hielt es ihr hin, sodass sie nur noch die Arme hindurchzustecken brauchte. Krillia hatte gar nicht mitbekommen, wie er aufgestanden und ihr gefolgt war.

»Ihr müsst das nicht tun«, sagte sie abwehrend und wandte sich zu ihm um, brachte einige Schritte zwischen ihn und sich, während sie den Mantel schloss.

»Ich möchte aber«, beharrte er mit einem sanften Leuchten in den Augen.

»Ich aber nicht«, erwiderte sie kühl. »Ihr seid mein Kunde, Karel sehr Horchhausen. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr tätet gut daran, diese Grenze nicht zu vergessen.«

Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und verließ das Lokal.

Zwei unvereinbare Welten

In den darauffolgenden Tagen traf Krillia ihn jeden Abend in Forks Gasthaus an. Wann immer sie eintrat, entdeckte sie einen dunklen Haarschopf, der sich ihr zuwandte, und grüne Augen, die sie interessiert musterten und sie stumm darum baten, ihm Gesellschaft zu leisten.

Doch jeden Tag ignorierte sie ihn aufs Neue und nahm stattdessen ihren üblichen Platz an der Bar ein. Dort ließ sie sich eine Weile von Fork ins Gewissen reden, der nicht müde wurde, ihr zu erklären, dass sie sich die Zuwendung des wohlhabenden ser Horchhausen nicht verderben sollte. Früher oder später wurde sie seiner Bekehrungsversuche überdrüssig und versuchte ihr Glück bei einigen potenziellen Kunden. Das klappte an manchen Tagen gut, an den meisten war das Ergebnis jedoch ernüchternd. Noch konnte sie es sich leisten, jene abzuweisen, die einen geringeren Preis verlangten; noch.

Letztendlich fand sie dennoch an jedem der Abende irgendwann ihren Weg zu dem Tisch des brillentragenden Offiziers. Er verlor nie ein Wort darüber, dass sie mit anderen Männern verschwand, was sie zugleich beruhigte und irritierte.

In gewisser Weise hasste sie ihn nach einer Weile, weil sie in seinen Augen sah, dass er sie verstand. So jung Karel ser Horchhausen auch war, er konnte Dinge nachvollziehen, die andere Männer womöglich nie verstehen würden. Obwohl sie es nicht zugeben würde, genoss Krillia die Zeit mit ihm jeden Tag ein bisschen mehr. Weniger jedoch seinetwegen als wegen des Goldes und der Atempause von ihren Sorgen, die er ihr damit verschaffte.

»Ist dir meine Tätigkeit eigentlich völlig gleichgültig?«, fragte sie ihn nach etlichen Gläsern Wein am letzten Abend vor der Geburtstagsfeier.

Im Verlauf der Woche waren sie auf seinen Wunsch hin dazu übergegangen, sich zu duzen. Er hatte es ›Übung‹ genannt, damit seine Familie nicht durch eine versehentliche Höflichkeitsformel den Schwindel erriet. Krillia sollte es recht sein, aber sie entdeckte in seinen wachsamen Augen immer mehr Anzeichen dafür, dass er sie mochte. Möglicherweise weil sie ihn manchmal fast schon schroff behandelte. Er hingegen blieb die Ruhe in Person und verhielt sich ihr gegenüber stets respektvoll. Zu fortgeschrittener Stunde ließ er sich zu eher zweifelhaften Witzen auf Kosten des Landesherrn hinreißen. Im Allgemeinen spottete er gern über Politik und das Militär, wann immer er sich unbelauscht fühlte oder sobald Fork sich in seiner Nähe aufhielt. Krillia war nie aufgefallen, dass die beiden Männer so eng befreundet waren. Aber bis vor einiger Zeit hatte sie sich ihre Lokale auch aussuchen können und war nicht jeden Tag in dieses Gasthaus eingekehrt. Für eine Frau in ihrer Branche lohnte es sich, den Arbeitsort regelmäßig zu wechseln. Neue potenzielle Kunden, mehr Gold … sie vermisste diese Zeiten.

»Habe ich das gesagt?«, erwiderte er leise, einen Arm um ihre Schulter gelegt und gedankenverloren mit einer ihrer Haarsträhnen spielend.

»Du hast gar nichts gesagt.«

»Ich würde behaupten, dann kannst du dir aussuchen, wie meine Meinung lautet.«

»Und wenn ich neugierig bin?«

»Hätte mein Wort denn Gewicht?«, entgegnete er. Sein Interesse war nicht zu überhören.

Vorsicht!

Am liebsten wollte Krillia sich selbst dafür ohrfeigen, dass sie das Thema überhaupt angesprochen hatte. Der verdammte Wein hatte sie eingelullt.

»Nein«, erwiderte sie schärfer als beabsichtigt, dann räusperte sie sich. »Ich meine, ich bin nur neugierig. Es wäre sehr ungewöhnlich«, fügte sie in versöhnlichem Tonfall hinzu, mied jedoch seinen Blick.

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Irgendwann fragte sie sich, ob er überhaupt etwas dazu sagen würde, doch schließlich beugte er sich näher zu ihr.

»Ich bevorzuge es, dir die Freiheit der Interpretation zu lassen«, murmelte er dicht an ihrem Ohr, dann sank sein Kopf tiefer und warme Lippen liebkosten ihren Hals. Unwillkürlich schloss sie die Augen und musste einen wohligen Laut unterdrücken. Doch so schnell er diese Nähe hergestellt hatte, so überraschend zog er sich mit einem Räuspern wieder zurück. Verwirrt wandte sich Krillia zu ihm um.

»Ist etwas?«

»Wir müssen über morgen sprechen. Du solltest wissen, dass das kein Spaziergang werden wird.« Sie betrachtete ihn abwartend und versuchte, dem Grund seiner plötzlichen Ernsthaftigkeit auf die Spur zu kommen. »Meine Brüder ... sie werden erkennen, was du bist, sobald du auch nur die gleiche Luft atmest wie sie.«

Belustigt zog Krillia eine Augenbraue in die Höhe und nippte an ihrem Weinglas. »Haben sie einen ähnlichen Frauengeschmack wie du?«

Eingehend musterte er ihre Gesichtszüge.

Wonach sucht er?

»Nein«, antwortete er zögerlich. »Sie ...« Er brach ab und fuhr sich tief einatmend durch die wirren Haare. »Vielleicht war das keine gute Idee.«

»Was?«

Etwas schimmerte in seinen Augen, das sie dort bisher nicht gesehen hatte.

Reue? Sorge?

»Du bist ein Mensch«, erklärte er nüchtern.

Es dauerte einige Sekunden, bis sich Krillia ihrer Verwirrung bewusst wurde und der Tatsache, dass sie Karel entgeistert anstarrte. »Ja«, erwiderte sie schließlich in der Hoffnung, ihn damit zum Weiterreden zu animieren.

»Meine Brüder sind … schwierig, um nicht zu sagen unausstehlich. Sie werden dich vermutlich nicht so behandeln, als seist du … nun ja … ein Mensch.«

Einen Moment lang schaffte Krillia es, ihre Lippen aufeinanderzupressen. Dann entwich ihr ein erster gedämpfter Laut, bevor sie ihre Beherrschung vollends verlor und ungehemmt auflachte. Karel sah sie zweifelnd an, als wäre er sich nicht sicher, ob sie den Inhalt seiner Worte verstanden hatte.

»Und du glaubst wirklich, dass mich das aus der Ruhe bringen könnte?«, fragte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, doch mit noch immer zuckenden Mundwinkeln.

»Mich würde diese Aussicht an deiner Stelle aus der Ruhe bringen.«

Krillia lehnte sich in seine Richtung und streckte sich, bis ihre Lippen beinahe seine Ohrmuschel berührten. »Mit Verlaub, Karel ser Horchhausen ...«, raunte sie in einer tiefen Tonlage, die sie für gewöhnlich nutzte, um Männern verheißungsvolle Dinge zuzuflüstern. »Als ich das erste Mal Münzen für körperliche Gefälligkeiten nahm, wollte mein Kunde mich hinterher verprügeln. Das war vor mehr als zwanzig Jahren. Seither besitze ich unzählige Narben und Wunden. Ich kenne jede Beleidigung und jede Form von Schmerz. Du sorgst dich darum, dass deine Brüder mich nicht wie einen Menschen behandeln könnten? Nun, ich sorge mich, weil du es tust.«

Sie zog sich gerade weit genug zurück, um ihm in die Augen sehen zu können. Er betrachtete sie wieder mit diesem neutralen Blick, der ihm so eigen war, als würde er etwas abschätzen. Langsam strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und zog sie dann wieder näher an sich heran.

»Meine Brüder denken, dass mit mir etwas nicht stimmt«, raunte er.

»Ich denke, sie haben recht«, hauchte sie sofort und war sich anschließend unsicher, ob sie sich nicht lieber hätte zurückhalten sollen.

Sein Blick glitt zu ihren Lippen. »Ich weigere mich, zu glauben, dass mich das schlechter macht.«

»Nein, aber es macht dich unglücklich.«

»Und einsam ...«, murmelte er und küsste sie.

Dieses Mal war es anders. Als seine Lippen die ihren fanden, spürte Krillia, wie ein Kribbeln sie erfasste, ein so intensives Gefühl, dass sie sich sicher war, er würde es genauso wahrnehmen. In dieser Nacht verlangte sie nicht vorab nach ihrem Gold. Nie zuvor hatte sie sich hinterher bezahlen lassen, aber das konnte er nicht wissen. Dieses Mal war sie es, die es nach der Illusion von etwas anderem … etwas Echtem gedürstet hatte.

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Am nächsten Tag, dem Tag der Geburtstagsfeier, erschien ein Kurier an der Türschwelle von Krillias Wohnung. Eigentlich handelte es sich mehr um ein Wohn-Schlaf-Esszimmer mit abgetrenntem Toiletten- und Badebereich, aber mit den Jahren hatte sie sich ihre Unterkunft ausreichend angenehm eingerichtet, dass sie gern als Wohnung darüber dachte.

Der junge Mann hielt ein großes Paket in den Händen und sah sie ein wenig unsicher an, als bezweifelte er, an der richtigen Adresse zu sein.

»Eine Sendung von Karel ser Horchhausen …?«, fragte er mit einer Stimme, die kaum den Stimmbruch hinter sich hatte.

»Ja, die ist für mich«, antwortete Krillia.

Der Kurier zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, als sie die Hände nach dem Paket ausstreckte, aber lang genug, dass sie die Regung bemerkte.

»Können Sie mir das quittieren?«, fragte er und hielt ein kleines Formular in die Luft, während sie das Paket auf ihrem Bett abstellte.

Wortlos kehrte Krillia zu ihm zurück, nahm ihm den Zettel samt Bleistift aus der Hand und unterschrieb. Als sie ihm das Stück Papier zurückreichte, blickte er entgeistert darauf.

»Ist noch etwas?«, fragte sie unschuldig.

Der Bengel ist offensichtlich überrascht, dass jemand an dieser Adresse lesen und schreiben kann.

Eilig schüttelte er den Kopf und wandte sich zum Gehen.

»Moment!«, rief sie ihm hinterher.

Er schien wahrlich schockiert, als sie ihm auch noch ein paar Kupfermünzen in die Hand drückte. Höflich senkte er dankend und sich gleichzeitig verabschiedend den Kopf und eilte die abgetretenen Holzstufen hinab.

Krillia sah ihm kurz hinterher, dann kehrte sie in ihr kleines Reich zurück.

Vorsichtig öffnete sie die Sendung des Offiziers. Darin befanden sich, sorgfältig verpackt, ein Kleid, Schuhe, eine Notiz und zehn Goldstücke. Zuallererst versteckte sie das Gold bei ihrem seit einigen Tagen beträchtlich wachsenden Vorrat unter einer lockeren Diele, dann probierte sie das Kleid an. Der cremefarbene Stoff schmiegte sich wie angegossen an ihren Körper, was nicht verwunderlich war, denn Karel hatte sich am Abend nach ihrer Zustimmung nebst ihrer Adresse auch ihre Maße für den Schneider notiert. Und bei der Wahl ihrer Garderobe hatte sich der junge ser Horchhausen wahrlich nicht lumpen lassen. Der Schnitt des Kleides entsprach der neuesten Mode und im Bereich des Mieders zierten es aufwendige silberfarbene Stickereien. Der dazu verwendete Faden schimmerte sogar im Sonnenlicht. Die farblich darauf abgestimmten Schuhe saßen ebenfalls tadellos. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal so feine Kleider getragen hatte. Sofort fühlte sich glatt zehn Jahre jünger und … begehrenswert.

Schließlich warf sie einen Blick auf den beigelegten Zettel. Darauf stand in kunstvoll geschwungenen Lettern:

Um 6 nach Mittag holt dich eine Kutsche ab. Ich empfange dich auf dem Anwesen. Danke, K.

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Krillia verbrachte die Zeit bis zum Abend damit, in ihrem neuen Kleid durch ihr Zimmer zu laufen und sich gedanklich für die vergangene Nacht zu schelten. Was sie zu ihm gesagt hatte, war die Wahrheit. Die meisten Männer behandelten sie wie einen Gegenstand, ein Spielzeug oder ein Accessoire, das sie sich leisteten. Natürlich hatte es Ausnahmen gegeben, aber an die wenigsten erinnerte sie sich mit Wohlwollen.

Da war Joanen gewesen, der gutaussehende Neffe des Bankhausbesitzers von Tannder, der sie mit einer Inbrunst geliebt hatte, von der sie sich anfangs hatte blenden lassen. Doch er war einer von denen, die sie und ihre Tätigkeit zu hassen lernten. Die glaubten, mit genügend Gold ihren Retter spielen zu können, bis sie merkten, dass sie gar keinen Retter wollte. Auf Joanen sollten noch Gilb, Honzar, Bilaner und Sep folgen, doch sein Hass war der gleißendste und zerstörerischste gewesen. Unwillkürlich fuhr sie mit den Fingerspitzen über die wulstige Narbe, die ihren linken Oberschenkel zierte. Die Stelle, an der er ihre Haut mit einem Schürhaken aufgerissen hatte.

Der Heiler Cromin hatte die Wunde versorgt und wurde im Verlauf der Behandlung zu ihrem Kunden. Eigentlich ein guter Mann, doch mit einem übertriebenen Helferbedürfnis. Er verfolgte sie schon bald überallhin, um ständig das Gefühl haben zu können, ihr Held zu sein. Dann gab es noch die Verzweifelten, die alles dafür taten, sie bezahlen zu können. Sie hätten die Ersparnisse ihrer Kinder gestohlen, um eine Minute länger ihre Aufmerksamkeit genießen zu dürfen. Diese Kunden waren zwar in der Regel harmlos, doch sehr anstrengend. Denn auch sie folgten ihr auf Schritt und Tritt und legten sich gern ungefragt mit unhöflichen Freiern an.

Karel ser Horchhausen fiel bis jetzt in keine dieser Kategorien. Vielleicht hatte sie sich deswegen am Vorabend gehen lassen.

Ich war leichtsinnig gewesen! Das brauche ich mir nicht schönzureden … Wie lang kenne ich ihn jetzt? Keine Woche! Es ist gut möglich, dass er sein wahres Ich noch verborgen hält.

Mit einem tiefen Seufzen ließ sie sich auf ihr Bett zurückfallen.

Wem mache ich eigentlich etwas vor? Wenn er wie die anderen wäre, hätte ich es bemerkt. Seine Brüder haben recht. Mit ihm stimmt etwas nicht und ich täte gut daran, das nicht zu vergessen.

Sie schloss die Augen und spürte wieder seine Hände und seine Lippen auf ihrer Haut. Die letzte Nacht hatte sie genossen. Mehr noch als die Nächte davor. Eine Sache blieb aber ungewöhnlich: Er gab ihr zu viel Gold. Vielleicht fiel er doch in die Kategorie Mann, die ihr weißer Ritter sein und sie aus diesen scheinbar schlimmen Lebensumständen befreien wollten. In jedem Fall war es zu früh für eine Entwarnung.

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Pünktlich hielt die versprochene Kutsche vor dem Wohnhaus, in dem Krillia lebte. So gut wie alle Reichen besaßen Anwesen rund um Tannder, daher überraschte es sie auch nicht, als das Gefährt mit ihr die Stadtgrenzen überquerte. Wer Rang und Namen hatte, arbeitete in der Stadt, aber lebte dort nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Wohlerzogene Kinder gediehen besser in der freien Natur und mit standesgemäßem Umgang als zwischen Pöbel und Kopfsteinpflaster.

Krillia seufzte leise und ihr warmer Atem ließ die Scheibe der Kutschentür beschlagen, durch deren Fenster sie die vorbeiziehende Landschaft beobachtete. Über dem Kleid des jungen ser Horchhausen trug sie wie so häufig ihren bewährten Pelzmantel und extra für den Anlass außerdem dezente Perlenohrringe und eine dazu passende Kette. Beides jahrzehntealte Geschenke irgendeines Kunden.

In der letzten Nacht – vor ihrem kopflosen Fehltritt – hatte Karel sie ausführlich vorgewarnt und auf den Abend vorbereitet. Er hatte ihr die Namen seiner Brüder genannt, Wastim und Phal, ihre Ämter, beides Rathmänner in der Stadtversammlung, und Wastim, der ältere, war darüber hinaus Vorsitzender der Tuchhändlergilde. Die Familie hatte ihren Reichtum durch Handel mit Stoffen aufgebaut. Sie kannte nun außerdem die Namen der Frauen des Hauses, Lina und Gealisse, und deren Kinder. Lina hatte drei Söhne und eine Tochter. Gealisse nur eine Tochter. Er hatte ihr außerdem die Namen aller erwarteten Gäste genannt und ihre Verbindung zur Familie ser Horchhausen erklärt, doch sie musste zugeben, dass sie ab diesem Zeitpunkt schon nicht mehr besonders aufmerksam zugehört hatte. Was interessierten sie Namen und Angewohnheiten des Cousins zweiten oder dritten Grades?

Doch Karel war unerbittlich gewesen und außerdem nicht müde geworden, immer wieder zu betonen, wie ungemütlich der Abend für sie werden würde.

»Warum tust du das dann?«, hatte sie ihn gefragt.

»Weil ich es kann. Und weil ich ihnen damit zeigen kann, welch dummen Fehler sie begehen, mich in ihr Theater hineinzuziehen.«

»Du klingst wie ein Fünfzehnjähriger.«

Er zuckte mit den Schultern und grinste. »Dass ich jünger bin, scheint dich ja nicht zu stören.«

»Dein Gold stört mich nicht.«

Bei diesen Worten hatte sein Blick wieder einmal diesen intensiv forschenden Ausdruck angenommen. Als suchte er etwas in ihrem Mienenspiel. Doch was hoffte er zu finden? Echte Zuneigung? Sentimentalität? Beides hatte sie vor langer Zeit begraben. Zu viele Männer, zu viele Enttäuschungen. Keine Gefühle, kein Ärger. So einfach war das und an dieser Regel würde sie auch für einen freundlichen ser Horchhausen nichts ändern. Sie ging fest davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er ihr einen verächtlichen Begriff für ihre Tätigkeit an den Kopf werfen würde, sei es aus Eifersucht, Wut oder Grausamkeit. Sie konnte nur noch nicht einschätzen, welchem dieser Werkzeuge sich der junge Offizier wohl bedienen würde.

Nach einer etwa einstündigen Fahrt kam die Kutsche endlich zu einem Halt und ein älterer Mann in der Uniform eines Hausdieners öffnete ihr die Tür. Krillia atmete noch einmal tief durch und schluckte die plötzlich aufwallende Nervosität herunter. Nun gab es kein Zurück mehr. Zum wiederholten Mal fragte sie sich, ob sie diesem Abend wirklich gewachsen war. Mit Beleidigungen und Anfeindungen konnte sie leben. Aber nie zuvor war sie in einen derart engen Familienkreis gebracht worden. Diese Vertrautheit der Gäste behagte ihr nicht.

Riskant.

Ehrlicherweise hatte sie vom ersten Moment an kein gutes Gefühl bei dieser Sache gehabt, doch das Gold und die Angst hatten sie dazu verleitet, jegliche Vorsicht in den Wind zu schlagen. Prinzipien konnte sie sich in ihrer Lage einfach nicht leisten. Sie musste zusehen, wie sie in den nächsten Jahren über die Runden kam.

Umsichtig stieg sie aus dem Gefährt und entdeckte erleichtert, dass Karel ser Horchhausen am oberen Treppenabsatz auf sie wartete. Er hatte seine übliche Offiziersjacke gegen einen feinen Gehrock getauscht und begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange.

»Danke«, murmelte er an ihrem Ohr.

»Ich pflege zu tun, wofür man mich bezahlt«, erwiderte sie flüsternd, ergriff den Arm, den er ihr darbot, und betrat an seiner Seite das Haus.

Ein gigantisches Gebäude. Beinahe eines Palastes würdig. Sie konnte es sich nicht verkneifen, sich mit einem verschwörerischen Grinsen zu ihm hinüberzubeugen. »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass du dieses Schloss eines Tages erbst? Vielleicht überlege ich es mir dann noch einmal mit ein paar Gefühlen.«

Karel stoppte und eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Entgegen ihrer Erwartung entdeckte sie keinen Hauch von Belustigung in seiner Miene. »Ich werde dich wissen lassen, falls es dazu kommt.« Er sprach ruhig und hielt die Tonlage betont neutral, ein bisschen zu gelassen. Ihr entging keinesfalls die Spur von Resignation in seiner Stimme.