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Was bleibt, wenn dein einziger Freund all eure gemeinsamen Träume in Stücke reißt?
Tech-begabt zu sein, erfüllt Alexym mit Stolz. Nicht nur, weil er der Gesellschaft damit helfen kann. Sondern auch, weil dieses Talent die einzige Chance auf ein gutes Leben für ihn und seine Familie ist. Mit dem Start an Seouls renommierter Highschool für Begabte schwört er sich, seinen Wert für das System unter Beweis zu stellen.
Jin hingegen will nicht glänzen, sondern ausbrechen.
Seine Fähigkeit empfindet er als Bürde und das hört auch mit seiner Flucht an die Highschool nicht auf. Statt vom System ausgenutzt zu werden, sehnt er sich nach Freiheit. Daher gibt er nichts auf Regeln in dieser Welt, die ihm als Ausnahmetalent eigentlich zu Füßen liegen sollte.
Trotz aller Unterschiede, hält die beiden ein Ziel zusammen: gemeinsam die Welt zu verändern. Bleibt nur ein kleines Problem – sie haben sich diese Idee in den Kopf gesetzt, ohne den allmächtigen Trelomi-Konzern um Erlaubnis zu fragen …
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Seitenzahl: 621
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vinachia Burke | Juliet May
Copyright © 2025 by
Wunderzeilen Verlag GbR Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]
Synaptic Shadows – MoonbowText © Vinachia Burke und Juliet May, 2025 Story Edit: Mary Stormhouse (www.instagram.com/marystormhouse)
Lektorat: Cao Krawallo (www.instagram.com/cao_krawallo)
Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de)
Umschlagillustration: Kilian Wycisk (www.aurigae.art)
Satz & Layout: Vinachia Burke (www.vinachiaburke.com)
Innenillustrationen: Juliet May (www.julietmay.at) ISBN: 978-3-98867-057-1
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Alle Rechte vorbehalten.
Am Ende des Buches findet ihr ein Glossar, das alle im Text mit PopUp versehenen Begriffe noch einmal erklärt.
Außerdem gibt es eine Playlist!
Und wichtige Content Notes. Hier gelangt ihr zur Liste.
Für Michi
Danke, dass du »Synaptic Shadows« vom ersten Tag an
begleitet und uns unterstützt hast.
Weil du den letzten Schritt nicht mehr mit uns gehen
konntest, ist die Geschichte dir gewidmet.
Seoul, Trelomi-Konzern-Nation am 13. Februar 2079
Vorreiter in Technologie und Innovation.
Hier hatte ihre Freundschaft begonnen.
Hier würde sie ihr unweigerliches Ende finden.
Wie hatte es nur so weit kommen können?
Seit Stunden stellte sich Jin diese Frage, in der verzweifelten Hoffnung, etwas übersehen zu haben. Aber die Antwort blieb dieselbe. Es gab keinen Weg zurück. Keine Alternative.
»Alexym On.« Die Stimme seines Assistenten hallte durch den Raum, riss Jin aus seiner Starre.
»W-wie war das?« Er blinzelte und schüttelte den Kopf.
Hubert seufzte und legte das Tablet auf den gläsernen Tisch zwischen ihnen. Dann räusperte er sich. »Bei der Person hinter den Terroranschlägen handelt es sich um Alexym On.«
Die Worte erreichten Jin, hallten durch seinen Geist. Er verstand ihre Aussage, ihre Bedeutung, sträubte sich jedoch dagegen, sie gänzlich an sich heranzulassen. Er wollte mit der Faust auf den Tisch schlagen und seinem Assistenten entgegenbrüllen, dass er gerade völligen Unsinn redete. Oder würde das Jin aussehen lassen, als versuchte er, sich die eiskalte Wahrheit schönzureden?
Er stand auf und wandte sich von den anderen Anwesenden ab. Der Besprechungsraum lag umgeben von den schillernden Lichtern Seouls. Eine Galaxie aus Neonfarben erstreckte sich jenseits der Fensterfront, auf die er gemächlich zuschritt. Vor neun Jahren hatte er in dieser Stadt zum ersten Mal so etwas wie eine Heimat gefunden; ein Zuhause, das jedoch keinen Wert mehr für ihn besaß.
Die gläsernen Wände des Raumes hielten die pulsierende Energie Seouls von den fünf Gestalten fern, die hier zusammensaßen, um über die Zukunft von knapp fünfzig Millionen Menschen zu verfügen. Einer von ihnen war Jin Evans, dem die Verantwortung dieser Entscheidungsgewalt zu schwer wog. Denn wofür auch immer sich die anderen Regierungsmitglieder und Vorstandsvorsitzenden aussprachen:
Er hatte das letzte Wort.
Die Gesichter der Anwesenden wurden dezent von den flackernden Bildschirmen auf den Tischplatten beleuchtet. Stille herrschte im Raum, durchbrochen von fernem Summen auf den Straßen und Flugbahnen außerhalb.
»Du bist doch nicht etwa sentimental, oder, Evans?«, fragte Caina Tang, die Geschäftsführerin von Trelomi1. Sie zählte zu den zehn mächtigsten Personen der Welt.
Jin schenkte ihr einen gereizten Blick. Für ihn war Tang wie ein falscher Ton in einer Symphonie, der nichts als Irritation hinterließ.
»Sentimentalität ist nicht mein Stil«, erwiderte Jin kühl und verschränkte die Arme. Er ließ seinen Blick über die weiteren Anwesenden schweifen. »Ich bin lediglich der Meinung, wir sollten die Verbrechen einer Person mit absoluter Sicherheit belegen können, ehe wir sie …« Er schluckte und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»… hinrichten?«, ergänzte Tang und stützte den Kopf auf die Hand. Schwarzes Haar fiel in langen Strähnen über ihre Schultern und betonte die Konturen ihres runden Gesichts. Die Eleganz ihrer Haltung wirkte auf Jin seltsam verhöhnend. Ihre Handlungen waren zu kontrolliert, ihre Wortwahl überbetont korrekt – jeder Satz, jeder Blick stellte einen stillen Anspruch auf Überlegenheit. Diese Art feiner Arglist zeichnete Tang aus; niemand sonst wagte es, Jin herauszufordern.
»Ja«, antwortete er. »Bevor ich den Befehl gebe, jemanden zu exekutieren, möchte ich sicher sein, dass seine Taten nicht von der Hand zu weisen sind.« Jin atmete tief durch, ehe er sich über die Lehne seines Stuhls beugte und die Augen verengte. »Wir Tech-Begabten2 sind immerhin Menschen und keine gefühlslose KI, auch wenn Leute wie du das gern vergessen.« Sein Blick durchbohrte Tang, die jedoch keinerlei Regung zeigte.
Wir Tech-Begabten.
Leute wie du.
Ja, in Wahrheit hatte die Gesellschaft mit ihrer Kategorisierung von Menschen den perfekten Nährboden für diese Tragödie geschaffen.
Die Unbegabten3 genossen einen grundsätzlich guten Lebensstandard. Doch bereits kleinste Regelverstöße konnten ihnen den Zugang zu Bildung, fortschrittlicher medizinischer Versorgung und ähnlichen Annehmlichkeiten verwehren.
Ihr Komfort speiste sich aus den Fähigkeiten der Tech-Begabten, die ihre Talente im Dienste der Gesellschaft einsetzen mussten. Sie waren nichts weiter als Sklaven in einem System, das sie zu Werkzeugen reduzierte, um den Wohlstand der Allgemeinheit zu erhalten.
Niemand wusste mit Sicherheit, welche Faktoren für die Genmutation verantwortlich waren, die Tech-Begabte hervorbrachte. Doch ohne sie und ihren unermüdlichen Einsatz hätte die Menschheit nie solch technologische Höhen erreicht. Die seither folgenden Innovationen hatten sie davor bewahrt, sich durch die systematische Zerstörung des Planeten selbst zugrundezurichten.
Erst nach einigen Augenblicken kräuselten sich Caina Tangs Mundwinkel zu einem amüsierten Grinsen.
Einen Moment lang sah Jin seine Optionen ganz klar vor sich, insbesondere eine: Es wäre ein Leichtes für ihn, Tang und die anderen an Ort und Stelle zu töten. Die Intensität der im Raum vorherrschenden Schallfrequenzen auf ein so hohes Level zu steigern, dass ihre Körper vor Schock zersprängen wie alte Glühbirnen bei plötzlichem Spannungsanstieg. Tiefrot würde ihnen das Blut aus Ohren und Nase triefen, ihre Lungenbläschen platzen und jedes einzelne Organ unter dem Druck des Schalls zerreißen.
Wäre er auf seinem damaligen Weg geblieben, hätte er diesem Impuls jetzt nachgegeben. Doch Jins Leben hatte eine andere Richtung eingeschlagen. Seinetwegen.
»Dann sind wir, zumindest was Alexym On betrifft, einer Meinung?«, fragte Caina Tang und überschlug die Beine.
»Sind wir«, antwortete Jin und sah wieder in die Runde.
Dae Hwan Kim, Präsident der Trelomi-Konzern-Nation-Region Korea, der mit seiner nervösen Körperhaltung wirkte wie ein kleiner Schuljunge,
Caina Tang, Geschäftsführerin des Trelomi Megakonzerns4, rein durch Erbe an ihre Position gelangt,
Beiye Miller, eine der obersten Vorsitzenden der NeuroTech Society5, die Tang ebenso wenig ausstehen konnte wie er.
Und sein Assistent Hubert, dessen Nachname Jin wieder vergessen hatte, wie ihm gerade bewusst wurde.
Jin blinzelte. »Wann geben wir die Exekutionsorder bekannt?«, fragte er und legte die Arme verschränkt auf der Rückenlehne des für ihn vorgesehenen Stuhls ab.
Präsident Kim räusperte sich. »Mitternacht?« Sein Blick huschte zu Tang, suchte nach Bestätigung, was Jin sauer aufstieß. Kim war nichts als eine Marionette, damit die Allgemeinbevölkerung jemanden hatte, auf den sie ihre Unzufriedenheit projizieren konnte. Der Megakonzern war unantastbar, besaß kein eigenes Gesicht.
Tang nickte. »Einverstanden. Je eher, desto besser.«
Miller seufzte schwer. »In Ermangelung anderer Möglichkeiten bin ich ebenso dafür.«
Jin hatte die letzte Stimme, die stärkste von allen, wie immer. »Sagen wir zwei Uhr«, sprach er und erntete ein zögerliches Nicken der anderen. »Ich nehme an, Trelomi kümmert sich darum?«
»Gerade veranlasst«, sagte Tang mit einem spitzen Zug um die Lippen. Sie tippte auf das Hologrammfeld vor sich und begann, vorzulesen, doch die Worte rauschten einfach an Jin vorbei. Die einzigen, die zu seinem Verstand durchdrangen, waren:
»… wird Alexym On, der bereits 2072 aus der NeuroTech Society verstoßen wurde, aufgrund terroristischer Handlungen gegen die Trelomi-Konzern-Nation hiermit zum Tode verurteilt.«
Keine zwanzig Minuten später verließen Tang, Kim und Miller endlich den Raum, der damit ein wenig von seiner bedrückenden Atmosphäre verlor.
Jin gelang das Atmen dennoch nur mit Mühe. Auch sein Assistent war drauf und dran, durch die Tür zu huschen.
»Hubert.« Jin lehnte an der breiten Fensterfront. Regen fiel in dicken Tropfen dagegen und ließ Jins Ohren immer wieder klopfartig summen. Er ertappte sich dabei, der sanften Stimme in seinem Kopf Gehör zu schenken: ein vertrautes Flüstern, das ihn zu mehr Achtsamkeit ermahnte.
Sein Assistent fuhr zusammen und machte auf dem Absatz kehrt. »J-ja?« Zögerlich trat er ein paar Schritte zurück in den Besprechungsraum. »Brauchen Sie noch etwas?«
Jin schloss die Distanz zwischen ihnen und umfasste seine Ellenbogen. Huberts braunes Haar war sorgfältig gescheitelt und leicht zur Seite gegelt. Gemusterte Manschettenknöpfe und silberne Zierstreifen an den Nähten und am Kragen verliehen seinem schwarzen Anzug eine persönliche Note. Während sein Erscheinungsbild Professionalität ausstrahlte, zeichneten sich in Huberts Augen Erschöpfung und Nervosität ab.
Nacheinander zog Jin zwei Stühle zurück und ließ sich seitlich auf einem davon nieder. »Setz dich.«
Hubert entglitten sämtliche Gesichtszüge. Er tat, wie ihm geheißen, und nahm gegenüber von Jin Platz. Das Tablet in seinen Händen umklammerte er so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
Einen Moment lang überlegte Jin, was er sagen könnte, damit Hubert nicht so eingeschüchtert war und nicht vor lauter Panik womöglich noch umkippte. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Letzten Endes begegneten ihm Menschen immer nur auf eine von zwei Arten: mit Angst oder Schmeichelei. Ganz egal, was er auch versuchte.
»Du gehörst jetzt seit fünf Monaten zu meinen Assistenten«, sagte Jin und lehnte sich betont locker zurück. »Gefällt’s dir?«
Zwischen Huberts Brauen bildete sich eine tiefe Falte. »Ja, Mr. Evans. Ihnen direkt zu unterstehen, erfüllt mich mit der größtmöglichen Ehre und …«
Jin schnaubte belustigt, was sein Gegenüber umgehend verstummen ließ. »Bullshit.« Er neigte den Kopf und grinste schief. »Unter mir zu arbeiten ist ein Martyrium. Diese ganze Hierarchie und all die Aufgaben, die euch von der NeuroTech Society aufs Auge gedrückt werden, blanker Hohn.« Jin stieß einen langen Seufzer aus. »Wie alt bist du?«
Hubert blinzelte irritiert. Er machte eine Andeutung, als wollte er mit dem Finger seine Schläfe doppeltippen. Sicher, Jin könnte einfach in Trellify6 nachsehen – seine Linse mittels Druck auf den T-Link7 aktivieren und Huberts biografische Daten abrufen.
»Ich will die Antwort von dir hören«, sagte Jin stattdessen. »Ein wenig menschliche Interaktion. Du weißt schon, was unsereins verlernt hat.«
»Zweiundzwanzig«, murmelte Hubert und kratzte sich am Kinn, ehe er kleinlaut ergänzte, »morgen, um genau zu sein.«
Jin hob eine Augenbraue und sah auf das Display an der Wand. Vierzig Minuten bis Mitternacht.
»Dann wird es höchste Zeit für dich, nach Hause zu gehen«, sagte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Aber ich habe noch …«, wandte Hubert ein, wurde jedoch unterbrochen.
»Geh nach Hause.« Jin blickte an die Decke. Die Wände waren hoch, bestimmt vier Meter. Durch die spärliche Innenbeleuchtung ließen sich die Umrisse der weiß-polierten Metall-Paneele kaum erkennen. Dennoch versuchte er, sich darauf zu konzentrieren und den Linien mit dem Blick zu folgen. »Hast du Familie hier in Seoul?«
»Einen Bruder und zwei kleine Nichten.«
Jin nickte und schloss die Augen. »Hubert. Du bist … engagiert und aufmerksam.« Er sog tief Luft in die Lungen ein und kämpfte damit gegen die Übelkeit an, die mit jeder verstreichenden Minute intensiver wurde. »Ich will, dass du heute noch eine letzte Sache für mich tust.«
»Natürlich«, erwiderte Hubert umgehend und zückte sein Tablet, um sich Notizen zu machen. Doch Jin neigte sich vor und brachte den Bildschirm mit einem Doppeltippen darauf wieder zum Erlöschen.
»Geh nach Hause und weck deinen Bruder. Packt eure wichtigsten Sachen und sieh zu, dass du euch und deine Nichten aus der Stadt bekommst.«
Reglos blickte Hubert ihn an.
»Nimm deine Liebsten und geh.«
»A-aber, Mr. Evans, wohin …«
»Ganz egal«, sagte Jin. »Nur fort von hier.«
»Aber … unsere Wohnung, wir haben endlich eine leistbare gefunden. Wir können nicht einfach …«
Jin blendete den Protest des Assistenten aus und aktivierte seinen T-Link. Buchstaben erschienen über Huberts Kopf, verrieten Jin seinen vollen Namen, der einen satten Grünton annahm. Sein T-Score8 war hoch, er verhielt sich also wie von einem Bürger der Trelomi-Konzern-Nation erwartet wurde: Er verstieß gegen keine Regeln, bezahlte seine Rechnungen fristgerecht und fügte sich widerstandslos in das System ein.
Hubert gab einige Informationen über sich preis, wie Jin durch Überfliegen seines Profils erkannte. Geboren in Sibirien, aufgewachsen in einem Vorort Seouls, Tech-begabt, jedoch offenbar nicht gut genug. Für die Aufnahme an einer NeuroTech-Highschool hatten seine Fähigkeiten nicht gereicht, daher war seine Begabung früh verkümmert. Dieser Hilfsjob hier war das Höchste, was sich für einen Menschen wie Hubert erreichen ließ.
»Verstehen Sie das?«, fragte dieser mit aufeinandergepressten Fingerspitzen, als Jin ihm wieder Gehör schenkte. Das Tablet lag auf seinen Knien, von denen eines permanent wippte und das Gerät zum Schaukeln brachte. Doch Huberts Bewegungen brachen abrupt ab, als sein T-Link ihm einen Geldeingang auf seinem Konto signalisierte.
Jin stand auf und wandte sich der Tür zu. »Nimm deine Familie und verlasse Seoul«, wiederholte er. »Leistbares Wohnen darf für die Sicherheit von Menschenleben keine Rolle spielen.« Mit diesen Worten trat er hinaus auf den Korridor. Nach wenigen Metern hörte er einen Stuhl zu Boden fallen.
»Mr. Evans!« Huberts Schritte hallten im Gang wider. Er griff nach Jins Arm, was diesen zurückzucken ließ. Er hasste es, berührt zu werden. Besonders so plötzlich. Doch sein bis eben noch verschreckter Assistent schien jegliche Ehrfurcht verloren zu haben. »Sir, ich kann das nicht annehmen!«
Jin trat zur Sicherheit noch einen Schritt zurück, schenkte seinem Gegenüber dennoch ein Lächeln. »Du bist hiermit aus meinen Diensten entlassen. Geht nach Jakarta, Shanghai oder Peking. Ganz egal. Nur versprich mir, dass du diese Stadt verlässt.«
»Aber Sir!«
Jin erstarrte. Rang Hubert etwa mit den Tränen?
»Wieso?«, fragte sein ehemaliger Assistent mit zittriger Stimme. »Wieso um alles in der Welt tun Sie das für mich?«
»Sieh es als Wiedergutmachung«, sagte Jin lapidar und zuckte mit den Schultern. »Als Hommage an den Menschen, dem ich das einzige bisschen Glück in meinem Leben verdanke.« Er wandte sich wieder ab. »Der hätte heute genau dasselbe getan.«
»Wird es zu mehr Anschlägen kommen?« Huberts Atem ging schnell, sein Keuchen drang unangenehm an Jins empfindliche Ohren. »Soll ich deshalb gehen? Sollen wir den Notstand ausrufen, oder …«
»Hubert.«
»Sie wissen mehr als Sie sagen!«
Jin warf ihm einen Schulterblick zu und ließ einige Augenblicke verstreichen. »Es wird keine weiteren Anschläge geben«, antwortete er schließlich. »Doch ich kann nicht für die Sicherheit dieser Stadt garantieren.« Er schluckte schwer. Hubert sollte endlich verschwinden. Ihn allein lassen, damit Jin all seine Gefühle tief in den hintersten Winkel seiner Seele schieben und unter schweren Betonplatten begraben konnte. Sie durften ihm nicht im Weg stehen.
»Was wird dann passieren?«
Jin wollte nicht darüber sprechen, nicht darüber nachdenken. »Wenn ich es dir sage, verschwindest du, ohne noch ein einziges Wort an mich zu richten?«
Hubert nickte. »Ich will wissen, wovor ich davonlaufe. Was so Gefährliches passieren wird, dass Sie keinen Ort in Seoul für sicher halten.«
»Hältst du mich für stark?«, fragte Jin. Den Körper immer noch abgewandt richtete er seinen Kopf wieder nach vorn und ließ seinen ehemaligen Assistenten hinter sich.
»U-updaten Sie gerade Ihren Sarkasmus-Chip?«, stammelte Hubert ungläubig. »Sie sind der mächtigste Tech-Begabte der Welt.«
Jin schnaubte kaum hörbar. Natürlich. Was hatte er auch erwartet? »Und was weißt du über Alexym On?«
»Er ist ein Terrorist. Der wahrscheinlich gefährlichste Tech-Begabte. Er wurde vor sieben Jahren aus der NeuroTech Society ausgeschlossen.«
»Weißt du auch weswegen?«
»Unbefugter Einsatz seiner Fähigkeit, Ausweitung seiner Testsubjekte auf …«
»… Menschen«, ergänzte Jin und schüttelte bloß den Kopf. »Du musst jetzt gehen. Die Zeit wird knapp.«
»Aber Sir, Sie haben mir immer noch nicht …«
Jin legte Daumen und Ringfinger der rechten Hand aneinander und bewegte sein Handgelenk ruckartig, aktivierte seine Fähigkeit, um Hubert für den Moment die Stimme zu nehmen. Jins Atem ging stoßweise. Er musste hier weg, ertrug keine sinnlosen Diskussionen mehr. Gewissheit kroch ihm den Nacken hinauf, als er sagte:
»Ich muss handeln, bevor sie seine Verurteilung bekannt geben. Sobald Lex davon erfährt, wird er anfangen, Zivilisten und alle, die sich gegen ihn stellen, zu töten. Uns bleiben knappe zwei Stunden.« Jin ballte die Hände zu Fäusten. »Dir, um deine Familie aus der Stadt zu schaffen, und mir, um meinen besten und einzigen Freund zu finden.« Seine Beine zitterten, fühlten sich an, als könnten sie sein Gewicht nicht länger tragen. »Ist dir klar, was das Todesurteil gegen Alexym On bedeutet?« Seine Lippen bebten. »Es ist eine Order an mich, ihn zu töten. Weil niemand sonst es kann. Also werde ich jetzt gehen und …«, Jin schluckte schwer, »… alles zu Ende bringen.«
Mit diesen Worten ließ Jin Hubert endgültig zurück. Seine Schritte wurden schneller. Die Lichter der Wolkenkratzer und Hologramme9 zogen an ihm vorbei. Als er den Aufzug erreichte, ließ er sich schnaubend gegen die Kabinenwand fallen.
Ja, er war die einzige Hoffnung dieser Nation.
Das hier war seine Aufgabe.
Trelomi und die NeuroTech Society erwarteten nun von ihm, Alexym in Seoul aufzuhalten, bevor er eine Metropole nach der anderen von ›Schneeflocken‹ säuberte, wie er die Unbegabten zu nennen pflegte: fragile, unter dem leichtesten Druck zerbrechende Geschöpfe.
Jin trat aus dem gläsernen Wolkenkratzer der NeuroTech Society in Yongsan im Herzen von Seoul. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Nachthimmel, der von den Hologrammen und Lichtern der Stadt verdrängt wurde. Die dichten Türme der Innenstadt ragten hier so hoch ineinander, dass Jin sich weit zurücklehnen musste, um ein Stück des schwarzen Firmaments zu erblicken.
Seit neun Tagen und etwas mehr als dreiundzwanzig Stunden wartete eine Nachricht auf ihn, blinkte immer wieder mahnend auf, wenn er seinen T-Link aktivierte. Sie hatte ein Ablaufdatum, das um Mitternacht erreicht wäre. Schon allein deshalb hatte Jin die Bekanntgabe von Alexyms Todesurteil verzögert. Er wusste, von wem die Nachricht stammte und dass er nicht länger vor ihrem Inhalt flüchten konnte. Davor, was sie lostreten würde. Was er tun musste.
Für das Wohl dieser Welt, die Jin schon sein gesamtes Leben lang verachtete. Ohne Alexym hätte diese Spirale aus Wut und Hass Jin bereits vor Jahren verschlungen; ihn weiter mit sich in die Tiefe gezogen, bis er die Menschheit und ihre verfluchte Technologie in Abertausende Partikel zerfetzt hätte.
Die Ironie dahinter schmeckte bitter. Und ehe die Nachricht in den unendlichen Tiefen des Cyberspace verschwand, navigierte Jin mit seinem Blick in Richtung des entsprechenden Symbols, um sie abzurufen.
Nein, er würde nicht länger weglaufen.
Schließlich war all das hier allein seine Schuld.
Neun Jahre zuvor
»Ey, aus dem Weg!«
Erschrocken zuckte Alexym zusammen und sprang beiseite.
»Hast du ’nen Crash10?«, rief der Typ ihm im Vorbeigleiten zu. Er trug dieselbe Schuluniform wie Alexym, nur mit anderen Farbakzenten. Wild gestikulierend rauschte er auf seinem neonpinken T-Board davon, glitt mühelos durch die Luft. Selbst auf dem Schulgelände setzte er sein irrsinniges Tempo fort und verschwand schließlich aus Alexyms Blickfeld.
In den Worten des Fremden hatte trotz seiner Rücksichtslosigkeit ein Funken Wahrheit gesteckt: Alexym stand gedankenlos mitten im Schultor und starrte die Gebäude an.
Er zwang sich, ein paar Schritte auf das Gelände zu gehen, um den ankommenden Schülern nicht länger im Weg zu stehen. Ihm unterliefen in seiner neuen Umgebung noch viele Fehler. Zu umfassend waren die Umstellung und das Erlernen der Alltagsunterschiede. Hier gingen die Menschen anders miteinander um als zu Hause. Gerade einmal ein paar Tage lebte er jetzt in Seoul.
Für den Besuch dieser Highschool hatte er die zahlreichen Veränderungen in Kauf genommen und war sogar geflogen! Wie das Flugzeug ihn mühelos fortgetragen und die Welt unter ihm winzig dahinziehen lassen hatte, war beängstigend und faszinierend zugleich gewesen. Trotz der Unsicherheit fühlte Alexym sich auch befreit, denn all seine Sorgen schienen in Moskau zurückgeblieben zu sein.
Seoul war ein Neuanfang; eine Gelegenheit, etwas anderes zu sehen als die immer gleichen Probleme daheim. Mit seinem Umzug hatte er zum ersten Mal das Einflussgebiet von Sot Lovinasonic11 verlassen, um in der Trelomi-Konzern-Nation zu leben. Was bedeutete, dass er bei seiner Ankunft zuerst ein umfangreiches Update auf seinem Smartphone vornahm und bei einem Arzt den S-Link in seiner rechten Schläfe durch einen T-Link ersetzen ließ.
Die Gelegenheit, in Seoul auf die Schule zu gehen, verdankte er einzig der koreanischen Abstammung seines Vaters.
Alexym wanderte um die Grünfläche herum. Schotter knirschte unter seinen Schuhen. Der Weg schlängelte sich über das ganze Gelände und verband die altertümlich anmutenden Schulgebäude miteinander.
Heute war sein erster Tag an der Highschool. Hier sein zu dürfen empfand er als ein Privileg. Die wenigsten Begabten schafften die Zulassung zu der weiterführenden Bildung, die ihm hier zuteilwerden würde.
Vor dem Eingang des Hauptgebäudes stellte er sich vorsorglich an die Seite, um nicht noch einmal jemanden zu behindern. Dann holte er sein Smartphone heraus und warf einen Blick auf Trellify.
Tagesablauf Erstsemester an der NeuroTech III Seoul (Industrie & Kommunikation), lautete die Überschrift der Nachricht, die er sich vorsorglich mit einem roten Stern markiert hatte.
8:00 Uhr Einführungsrede von Rektorin Evelyn Baker – Ort: Aula (Hauptgebäude Erdgeschoss, Raum 1.1)
9:00 Uhr biometrischer Check-in, Freigabe für das interne Schulnetz
Bezug der zugewiesenen Wohnunterkünfte. (Wer keine Benachrichtigung erhalten hat, meldet sich bitte via Trellify bei Mr. Park.)
12:00 Uhr Mittagessen (Geben Sie umgehend nach dem Check-in Ihre Ernährungspräferenzen in das Schulnetz ein, sonst erhalten Sie Allgemeinkost.)
13:30 Uhr Führung durch die Räumlichkeiten der Schule im Klassenverband (Ihre Klasse und zuständige Lehrperson werden Ihnen beim Check-in mitgeteilt)
16:00 Uhr Vorstellung des Lehrpersonals und NeuroTech Vorführung der höheren Jahrgänge
18:00 Uhr Abendessen, danach Freizeit
Alexym steckte das Smartphone weg. Ihm blieb noch eine gute Viertelstunde bis zur Einführungsrede. Höchste Zeit, die Aula zu finden. Er trat durch die schwere hölzerne Doppeltür, die vermutlich drei Meter in die Höhe ragte. Im Inneren erwartete ihn ein Schachbrettmuster aus Marmorfliesen, die den Boden der Eingangshalle bedeckten. Von der Decke hingen diverse Schilder mit Piktogrammen. Offensichtlich war hier nicht nur die Fassade retro. Wann hatte er zuletzt eine analoge Ausschilderung in Gebäuden gesehen? Die meisten Orte verfügten heute ausschließlich über interaktive Karten, die sich mittels T-Link aktivieren ließen.
Eines der kleinen Bildchen brachte ihn vor der Aula dazu, spontan eine Abzweigung zu nehmen: die zur Schultoilette. Er nutzte die willkommene Gelegenheit, um seine Hände gründlich zu waschen und zu desinfizieren. Als Kind war er Opfer so vieler Infekte gewesen, dass ihn die Sorge vor Krankheiten nie völlig losließ. Krank zu sein hatte immer bedeutet, dass er nicht für seine jüngeren Geschwister hatte da sein können. Und ohne ihn waren sie praktisch auf sich allein gestellt.
Beim Abtrocknen der Hände warf er einen flüchtigen Blick in den großen Spiegel, auf den jemand mit einem Holo-Marker12 »NeuroTech Rulez!« geschrieben hatte.
Alexym schüttelte lächelnd den Kopf und warf das Papierhandtuch in den Müll. Schmierereien, kaum dass der erste Schultag begonnen hatte, schoss ihm durch den Geist. Schließlich wurden die renommierten NeuroTech Schulen bei Schuljahreswechsel grundgereinigt. Die Highschool versprach bereits jetzt, turbulenter zu werden als die Elementar- und die Mittelschule.
Zugegeben, er kam quasi vom Land. Verglichen mit Seoul war Moskau nur ein Nest. Seit in den Einflussgebieten der Trelomi-Konzern-Nation 2052 die alten Landesgrenzen aufgehoben worden waren, explodierte die Megacity förmlich vor Zuwanderern, insbesondere aus den früheren Ländern China und Nordkorea. Auch der Zusammenschluss mit ehemals angrenzenden Städten trug einen Teil dazu bei.
Auf dem Weg zur Aula verteilte er gewissenhaft sein Desinfektionsgel auf den Händen und spähte durch die offenstehende Tür. Noch dominierten leere Stuhlreihen den großen Versammlungsraum. Gewohnheitsmäßig setzte er sich in die letzte Reihe. Nicht, weil er einer jener Schüler war, die keinerlei Disziplin für den Unterricht mitbrachten, sondern weil er für seine sechzehn Jahre recht groß geraten war und niemandem den Blick auf die Bühne versperren wollte.
Allmählich füllte sich der Saal. Alexym verteilte in aller Ruhe Handcreme auf der vom Desinfektionsmittel trockenen Haut. Ein lästiger Nebeneffekt seiner gewissenhaften Keimentfernungsgewohnheit.
Um sich die Wartezeit zu verkürzen, überschlug er die Anzahl der aufgereihten Stühle. Anscheinend erwartete die Schule mehr als hundertfünfzig neue Begabte in diesem Jahr.
Plötzlich ließ sich jemand zwei Plätze von Alexym entfernt so heftig auf einen Stuhl fallen, dass der einige Zentimeter geräuschvoll über den harten Boden nach hinten rückte. Der fremde Mitschüler stöhnte gequält.
Sofort wandte sich Alexym zu ihm um. »Alles gut? Hast du dich verletzt?«
»Hä?« Der andere taxierte ihn mit verständnisloser Miene, streckte ein Bein aus und fläzte sich bestmöglich hin. Zusätzlich legte er einen Ellenbogen über die Rückenlehne des Stuhls zwischen ihnen.
Alexym musste selbst zugeben, dass er nicht verletzt aussah. Also lächelte er ein wenig peinlich berührt. »Entschuldige, mein Fehler. Ich dachte, du bräuchtest womöglich Hilfe.«
Der Fremde fixierte ihn aus bernsteinfarbenen Augen, die harmonisch zu seinem lohbraunen Hautton passten. Weniger harmonisch wirkte hingegen die Grimasse, die er zog. Er starrte drein, als hätte ihm jemand ein »Hä?« auf die Stirn gemalt.
»Mein Name ist Alexym«, sagte er, um ein längeres Anstarren zu vermeiden, und streckte eine Hand aus.
»Jin«, antwortete der andere einsilbig. Er bewegte sich nur minimal, indem er mit den Fingern des Armes wackelte, der über die Stuhllehne hing. »Ich mag nicht angefasst werden.«
Alexym zog die Hand zurück. Sollte ihm nur recht sein, er hielt ebenfalls nicht viel von diesem gesellschaftlich ritualisierten Keimaustausch. Ihm war unbegreiflich, wie sich das in den letzten Jahrzehnten selbst in Asien hatte durchsetzen können.
Wieder stöhnte Jin und rieb sich die Augen. »Scheiße, warum muss dieses analoge Meeting schon so früh losgehen?«, murmelte er. »Ich brauche Kaffee.«
Mit einem weiteren gequälten Geräusch zog er ein Smartphone in türkiser Hülle aus der Tasche, passend zu der Uniform, die gleichfarbige Akzente besaß.
Alexym beobachtete absichtlich nicht, was Jin damit anstellte, das ging ihn nichts an.
Auf der Bühne saßen mittlerweile etliche Erwachsene, vermutlich alle aus dem Lehrpersonal. Eine der Personen erkannte Alexym als die Rektorin Evelyn Baker. Nicht nur, weil sie die einzige Europäerin auf der Bühne war, sondern auch wegen ihrer auffallend kupferroten Haare, die ihm schon auf ihrem Porträtfoto in Trellify aufgefallen waren, als er sich über seine neue Schule informiert hatte.
Auf den meisten Plätzen im Saal saßen nun Schüler. Begabte, wie er und …
»Adachi! Kaffee!«, bellte Jin in sein Smartphone, wobei ihm ein paar seiner dunklen Haare in die Stirn fielen. Sie waren durchzogen von neonblauen Strähnen und am Hinterkopf teilweise zu einem Zopf gebunden.
Alexym konnte nicht anders, als dem kuriosen Mitschüler noch einmal seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Doch bevor er die Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, verstummte der Saal. Die Rektorin hatte ihren Platz am Rednerpult eingenommen.
»Willkommen an der NeuroTech Seoul III, der Highschool für die Fachbereiche Industrie und Kommunikation. In den kommenden drei Jahren werden Sie hier zur Elite unter den NeuroTech-Begabten ausgebildet werden, um unsere Gesellschaft weiterhin in Sicherheit und Wohlstand gedeihen zu lassen.«
»Pff ... Sicherheit und Wohlstand, am Arsch«, sagte Jin so leise, dass nur Alexym die Worte verstand.
»Wir sind als NeuroTech Society stolz, Ihnen die Gelegenheit bieten zu können, unabhängig von und sicher vor möglicherweise übereifrigen Interessen der Wirtschaft, ihre Fähigkeiten kennenzulernen und korrekt anzuwenden. Sie haben das Privileg, in einem geschützten Umfeld und unter professioneller Anleitung nicht nur Ihre Talente, sondern auch Ihre Persönlichkeit und vor allem Ihr Selbstbewusstsein zu entfalten.«
»Bla, bla, bla – so ein gequirlter Blödsinn.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Alexym, wie Jin wieder sein Smartphone zückte und darauf gelangweilt herumspielte.
In den nächsten dreißig Minuten versuchte er dem für ihn interessanten Vortrag zu lauschen, wurde aber ständig vom Schnauben des anderen abgelenkt. Vermutlich brachte Jin so seine Ablehnung zu irgendeinem der gesagten Punkte zum Ausdruck.
Schließlich beschloss Alexym, seinen Sitznachbarn zu beschwichtigen und dazu zu bewegen, der Rednerin und ihren Worten ein wenig Respekt und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Als jedoch die holografische Wand13 hinter Rektorin Baker mittels neuer Überschrift die Ferienpläne ankündigte und sie erneut die Stimme hob, sprang Jin unerwartet auf.
Rektorin Baker unterbrach abrupt ihre Rede. »Juliano Evans!«
An der Betonung des Namens konnte Alexym deutlich die subtile Autorität heraushören, die Eltern häufig nutzten, wenn sie mit ihren Kindern redeten, die im Begriff waren, eine Dummheit zu begehen.
Er schielte zu Jin, doch der wirkte völlig ungerührt von der Nennung seines Namens. Im Gegenteil, als sich die anderen Erstsemester auf ihren Stühlen zu ihm umsahen, begann er sogar, breit zu grinsen.
»Der einzig Wahre.«
Posierte er etwa? Das konnte doch nicht sein. Die Perspektive spielte Alexyms Wahrnehmung sicherlich einen Streich.
»Haben Sie eine Frage oder Anmerkung?«, fragte die Rektorin.
Jin deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Tür der Aula. »Mein Kaffee ist gerade gekommen und ich habe beschlossen, ich warte schon mal am Bio-Check-in. Wenn Sie noch etwas Interessantes mitzuteilen haben, schicken Sie es mir per Trellify, Mrs. Baker. So, wie sonst auch.« Mit diesen Worten stapfte er davon und ließ einen ganzen Saal von Erstsemestern erstaunt zurück. An der Tür hielt er noch mal inne. »Oh und … Danke!«
Einen Moment herrschte Stille, nachdem das Geräusch der sich schließenden Tür verhallt war.
Ein Mädchen mit langen rosafarbenen Haaren, die in knallpinken Spitzen endeten, schnaubte laut. »Was war das denn für ein aufgeblasener Glam-Bug14?«
»Miss Sturmhäuser, bitte begrenzen Sie sich in Ihrem Vokabular«, erklang sofort die strenge Stimme der Rektorin.
»Na, was ist denn mit dem? Hat der Sonderrechte oder dürfen wir jetzt alle gehen?«
»Mr. Evans hat keine Sonderrechte, er wird für diesen Zwischenfall eine Strafarbeit bekommen und wenn Sie ihm dabei nicht Gesellschaft leisten möchten, empfehle ich Ihnen, Ihr Temperament zu zügeln. Gut, wo war ich stehengeblieben …?«
Eine gute Stunde später trat Alexym vor den biometrischen Schulscanner, der wie schon bei den Dutzenden Schülern vor ihm einmal piepte und dann grün leuchtete. Sofort meldete sein T-Link einen Download. Neben dem Zugang zum internen Schulnetz und dem Stundenplan erfuhr er auch seine Zimmernummer: Fünfhundertvierzehn. Wohnheim zwei.
Er verließ das Hauptgebäude und begab sich zu dem großen Wohnblock etwa hundert Meter zu seiner Rechten. Dort angekommen fuhr er in das oberste der fünf Stockwerke und suchte das Zimmer mit der Nummer vierzehn. Auf dem Flur gab es zahlreiche Räume, Alexym schätzte mindestens fünfzig.
Auf dem Gang herrschte einiger Tumult durch die frisch einziehenden Schüler. Viele der Neuen schienen sich bereits aus der Mittelschule zu kennen. Wäre er in Moskau geblieben, hätte es ihm auch so ergehen können. Nun musste er sich neu einfinden.
Irgendjemand hatte laut Musik aufgedreht und dumpfer Bass hallte durch den Gang.
Zum ersten Mal an diesem Tag entfuhr Alexym ein resigniertes Seufzen, als er endlich seine Zimmertür fand und feststellte, dass der musikalische Lärm aus dem Nebenraum drang. Er hielt sein Smartphone an das elektronische Schloss, das wie der Bio-Check-in zuerst piepte und dann grün blinkte.
Ihn erwartete ein schmuckloser Raum mit dunklem Teppichboden und weißen Wänden. Links stand ein Schreibtisch, rechts befanden sich ein kleines Badezimmer und das Bett. Dazu ein Nachtschrank mit passendem schlichtem Nachtlicht und eine Kommode. Auf der stand bereits die Tasche, die er kurz nach seiner Ankunft in Seoul hergeschickt hatte. Die Schule hatte darum gebeten, persönliche Gegenstände vorab zuzusenden, damit am ersten Tag nicht alle mit Koffern auf dem Hof standen.
Begleitet von dem dumpfen Wummern des Basses öffnete Alexym seine Tasche. Er holte einige weiße Shirts heraus, drei schwarze Stoffhosen und neben einer Reihe Boxershorts und Socken noch seine Waschtasche und zwei Ersatzuniformen. Die einzigen sonstigen persönlichen Gegenstände, die er eingepackt hatte, waren drei gerahmte Zeichnungen seiner Geschwister und ein gelb-violettes Armband. Ein geknüpftes Abschiedsgeschenk, angelehnt an die Farbakzente seiner Schuluniform. Denn obwohl die Grunduniform für alle gleich aussah, durften Schüler zwei Farben zur Individualisierung wählen. Alexyms erstrahlte in Violett und Gold. Lächelnd band er sich den Kinderschmuck um das Handgelenk und stellte die drei Bilder auf den Nachttisch. Sie würden ihn regelmäßig daran erinnern, dass er diese Ausbildung unbedingt erfolgreich beenden musste.
Der sentimentale Moment hielt zu seinem Bedauern nicht lange, denn er wurde von dieser nicht abflauenden, stumpfen Punkmusik aus dem Nebenzimmer gestört.
»Na schön«, sagte Alexym zu sich selbst und ging zurück zur Zimmertür. »Zeit, neue Freunde zu finden.«
Am Morgen hatte er von seinem letzten Geld einige Mochi gekauft. Eines holte er aus der Tasche und hielt es auf der ausgestreckten flachen Hand wie auf einem Tablett, bereit, die Süßigkeit jemandem als Kennenlerngeschenk anzubieten. Im Gang vor seinem Zimmer kam ihm ein Schüler entgegen, der jedoch plötzlich kehrtmachte und wieder im Aufzug verschwand. Okay, das war merkwürdig. Kurz sah Alexym ihm irritiert hinterher, doch dann fing er sich und ging auf zwei in ein Gespräch vertiefte Mädchen zu. Aber sobald er neben ihnen stand, verstummten die beiden und starrten ihn an, als hätte er soeben Dreck auf sie geworfen. Alexyms Herz klopfte unangenehm in seinem Hals und er schaffte es kaum, zu schlucken. Mit vermutlich hochrotem Kopf wandte er sich ab und lief wortlos weiter.
»Weirdo«, hörte er die beiden noch flüstern. Entmutigt rieb er sich den Nacken.
Niemand sonst sah aus, als wollte er mit ihm reden, und die bisherigen Begegnungen hatten seine ohnehin wackelige Zuversicht gehörig gedämpft. Auf andere zuzugehen, fiel ihm schwer. Zu schwer.
Seufzend atmete er aus und hob den Blick. Er stand vor der Tür, durch die die furchtbare Musik herausschallte. Sollte er es bei seinem Zimmernachbarn versuchen?
Zögerlich hob Alexym die Hand und musste mehrfach klopfen, bis die Tür abrupt weit aufgerissen wurde. Zu gern hätte er ein Bild von seinem Gesichtsausdruck gehabt, als dieser spezielle Mitschüler von der morgendlichen Versammlung plötzlich vor ihm stand.
Die ihm bereits bekannte Hä?-Grimasse auf Jins Miene verflog, als der ihn ebenfalls erkannte. »Ah! Lex! Was gibts? Oh – ist das für mich? Ich liebe Mochi!« Mit diesen Worten schnappte sich der einen knappen Kopf kleinere Typ die Süßigkeit und stopfte sie sich sofort in den Mund. An seiner linken Unterlippe blitzte ein türkiser Piercingstecker auf.
Verdattert beobachtete Alexym, was vor seinen Augen geschah und brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen.
»Mein Name ist Alexym.« Die Worte stolperten ganz unbewusst aus ihm heraus.
»Lex ist cooler!«, rief Jin über den Lärm der Musik hinweg und winkte ihn in sein Zimmer.
»Ich bevorzuge Alexym.«
Wieder erschien die Hä?-Grimasse auf Jins Gesicht und er machte eine abwinkende Geste, die wohl »Was auch immer« bedeuten sollte.
»Ich wohne nebenan und …«
»Echt? Gehst du nachher zu der öden Schulführung?«
Gerade als Alexym zu fragen ansetzte, ob er denn nicht endlich mal diesen Krach leiser drehen wollte, erstarb die Musik unvermittelt.
»Was?« Wie war das passiert? Hatten sie Stromausfall?
»Schall«, antwortete Jin knapp und winkte ihn rein.
Wahrscheinlich erschien auf Alexyms Miene ein riesiges Fragezeichen. »Was?«, wiederholte er perplex. Verarschte ihn der Typ?
»Willst du jetzt da ewig auf dem Flur stehen bleiben? Komm endlich rein.«
Zutiefst unsicher, ob er nicht lieber zurückkehren sollte, zögerte Alexym weiterhin. Letztendlich entschied er, dass umdrehen jetzt unhöflich wäre. Also betrat er das Zimmer von Jin Evans, obwohl sein Instinkt ihn dazu drängte, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
Implantate
In der Schläfe jedes Menschen sitzt ein winziges Implantat, das den zentralen Zugangspunkt zu allen persönlichen und gesellschaftlichen Diensten bietet:
Bankkonto, digitale ID, medizinische Daten, soziale Netzwerke, Internetzugang - alles läuft über diese implantierte Schnittstelle.
Ein kurzes Doppeltippen an die Schläfe genügt, um eine in die Netzhaut integrierte Linse zu aktivieren. Diese projiziert ein individuell angepasstes Augmented-Reality-Interface direkt ins Sichtfeld.
Das Implantat trägt in jeder Nation einen eigenen Namen. In der Trelomi-Konzern-Nation bezeichnet man es als T-Link.
Langsam trat Alexym ein und schloss die Tür hinter sich. Jin hatte selten jemanden gesehen, der mit solcher Vorsicht agierte.
»Hier liegen keine Minen rum oder so«, sagte er und hob einen Mundwinkel. Jin ließ sich in seinen blauen Sitzsack fallen. »Du kannst ganz normal gehen.«
»Ich bewege mich immer so«, erwiderte sein Gegenüber und strich sich eine hellbraune Strähne aus den Augen. Sie hatte sich aus der Haarpartie gelockert, die Alexym über seinen Mittelscheitel hinweg nach hinten gesteckt trug. Seitlich fiel ihm sein Haar fransig ins Gesicht, die Spitzen reichten teils bis an sein Kinn. »Außerdem … will ich nicht auf deine Sachen treten.«
Jin verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lachte. »Ich hab vorhin mein Haarspray gesucht, darum liegt hier so viel Zeug«, erwiderte er und sah zu Alexym hinüber. »Stör dich nicht dran. Bin bald eingerichtet.«
Die Miene seines Mitschülers verriet Erstaunen, seine eisblauen Augen scannten neugierig den Raum. »Du hast viel Gepäck. Sind das da verpackte Regale?«
»Der Rest steht bei Adachi«, erwiderte Jin und seufzte. »Keine Ahnung, wo der Idiot schon wieder steckt.« Er neigte sich vor und griff nach seinem Smartphone. »Setz dich ruhig. Aufs Bett oder an den Schreibtisch. Erzähl mal: Was kannst du so?«
Alexym blinzelte und ließ sich an der Kante von Jins Bett nieder, als hätte er Sorge, etwas zu verunreinigen. »Was ich kann?«
»Du weißt schon.« Jin grinste und vollführte eine lockere Bewegung aus dem rechten Handgelenk, Mittelfinger und Daumen aneinandergelegt. »Bist du einer dieser Material-Bugs15, die den Rest ihres Lebens auf irgendwelchen Baustellen verbringen werden?« Er lehnte sich weiter vor und faltete die Hände. »Oder bist du interessant?« Das letzte Wort betonte er bewusst dramatisch, um eine Reaktion zu provozieren.
Alexym zeigte keinerlei Regung, woraufhin Jin umgehend die Lust an ihrem Gespräch verlor.
»Ich finde alle Fähigkeiten interessant und auf ihre Weise besonders«, entgegnete Alexym schließlich, was Jin eine Grimasse ziehen ließ.
»Hättest du mir das Mochi nicht gebracht, wärst du mit dem Spruch jetzt unten durch«, sagte er und verdrehte die Augen. Klasse. Jemand mit Harmoniebedürfnis; vielleicht sollte er ihn rauswerfen.
»Aber alle von uns leisten doch einen Beitrag«, ergänzte Alexym. »Und ich finde es …«
»Hör mal, Lex.«
»Ich heiße Alexym.«
Jin hob eine Braue. »Weißt du, Lex …«
Sein Gegenüber seufzte, die weichen Gesichtszüge zeigten allmählich einen Hauch erster Anspannung, was Jin amüsiert weiter an dem Thema festhalten ließ. »Mich interessiert gerade eigentlich nur, welchen Beitrag du leistest.«
Jin hatte keinen Bock auf Grundsatzdiskussionen; nicht mit einem Gesinnungsethiker wie seinem Zimmernachbarn hier. Also galt es, sich auf die spannenden Aspekte zu konzentrieren. »Was ist deine Fähigkeit?«
Alexym zögerte und blickte verlegen zur Seite.
»Also doch so ein Material-Bug?«, fragte Jin.
»Nein.«
»Bist du scheiße auf deinem Gebiet und hast dich hier eingekauft?«
»Was?« Alexyms Augen weiteten sich. »Nein!«, schoss er zurück, ehe er sich räusperte und in gemächlicherem Ton nachlegte: »Als ob sowas möglich wäre.«
Jin grinste und war drauf und dran, etwas zu erwidern, als die Zimmertür aufflog. Unter lautem Geschnaube trat Adachi ein, hinter den in seinen Armen aufgetürmten Kartons kaum erkennbar.
»Da bist du ja endlich«, sagte Jin und überschlug die Beine.
Die Kisten stellte Adachi auf dem Schreibtisch ab, den er am Morgen bereits ans Fenster geschoben hatte. Schweiß lief ihm von der hohen Stirn, sein sonst ordentlich frisiertes schwarzes Haar stand wild in sämtliche Richtungen. »Brauchst du die Sachen wirklich alle heute?«, fragte er keuchend und fächelte sich mit seinem Sakko ein wenig Luft zu. »Immerhin fehlen dir noch einige Regale.«
Jin verschränkte die Arme. »Die Regale fehlen nur, weil du sie noch nicht aufgebaut hast«, entgegnete er vorwurfsvoll. »Und ich hab mein Zeug lieber hier als in dem seltsamen Keller da unten.«
»Keller?« Alexym neigte den Kopf, beinahe hätte Jin ihn vergessen.
»Oh, richtig. Adachi, das hier ist Lex.«
»Alexym«, korrigierte der erneut und streckte die Hand aus.
»Das ist Adachi, mein Assistent«, ergänzte Jin und seufzte. »Der meine Trello-Coke16 vergessen hat.«
In Adachis schmalen Augen lag ein gereizter Ausdruck, der jedoch verflog, als er Alexyms Händedruck erwiderte. Anschließend öffnete er den obersten Karton und zog eine Dose des gewünschten Getränks heraus, um es Jin zu reichen.
»A-Assistent?« Alexym blinzelte. »Du hast einen Assistenten?«
»Du nicht?«, fragte Jin und nahm einen großen Schluck aus seiner Dose. »Adachi, bring Lex auch eine.«
»N-nein, bloß keine Umstände«, wandte dieser ein und hob beschwichtigend die Hände.
»Hä?« Jin zog die Augenbrauen zusammen. »Willst du lieber was anderes?«
»Nein, also, er braucht mir doch nicht extra was zu bringen.«
Adachi war inzwischen aus dem Raum gehuscht und ließ Alexym völlig verstört zurück. Der tippte sich zweimal gegen die Schläfe, um seinen T-Link zu aktivieren. Sofort erschien eine Linse, die seine Iris violett färbte, während er Jin betrachtete.
»Ist mein Profil spannend?«, fragte er nach einer Weile und bedeutete Adachi, wieder zu gehen, nachdem dieser eine Auswahl an Getränkedosen auf den Tisch gestellt hatte. Mit einem Ruck stand Jin auf und griff nach Cherry Dew, einem Wasser mit Grüntee und Kirschblütengeschmack. Dabei fiel sein Blick auf Alexyms Schuhe: Er trug das zur Schuluniform gehörige Modell aus dunklem Nanopolymer mit violetten Schnürsenkeln, was Jin irritiert innehalten ließ. Immerhin durften sie doch ihre eigenen Schuhe tragen. »Vielleicht trifft das ja eher deinen Geschmack«, sagte er und warf seinem Gegenüber die Dose auf den Schoß.
Alexym schreckte auf und deaktivierte seinen T-Link. Kurz besah er das Getränk. »Das kann ich nicht annehmen.«
Jin legte den Kopf schief, wollte fragen, was sein verdammtes Problem war. Doch dann dämmerte ihm etwas. »Du musst das nicht bezahlen.«
Alexym schob seine Unterlippe vor, sichtlich nicht einverstanden.
»Ich hab dein Mochi gegessen«, ergänzte Jin daher und grinste schief. »Und ich werde dir noch oft genug Süßkram klauen.«
Der Anflug eines Lächelns trat auf Alexyms Gesicht. »Vielen Dank«, sagte er und öffnete die Dose. »Und nein, so spannend war dein Profil jetzt nicht. Du verrätst kaum etwas. Anstatt mir Fragen über meine Fähigkeit zu stellen, erzähl du doch erstmal.« Er schenkte ihm einen ernsten Blick. »Wer war der Typ eben wirklich? Was hat es mit dem Keller auf sich? Was hast du vorhin über Schall gesagt und warum zum Sot’lovschen17 bist du einfach aus der Versammlung gegangen?«
Jin ließ es sich nicht nehmen, abermals breit zu grinsen. »Du kommst aus russischen Gebieten!«
Alexym hielt sich beide Hände vor den Mund, als wäre ihm etwas rausgerutscht.
»Ist doch cool. Da hab ich noch nie gewohnt.« Er legte den Kopf schief. »Aber irgendwie …«
»Mein Vater ist Koreaner«, sagte Alexym und seufzte. »Aber die alten Länder gibt es doch nur noch als … kulturelle Grenzen«, ergänzte er. »Ohne meinen Vater wäre ich gar nicht hier an der Seoul III.« Behutsam strich er über das spitze Profil seiner Nase. »Und du?«
»Ich bin von überall und nirgendwo.«
Alexym stieß einen langen Seufzer aus. »Okay, ich seh schon. Du willst einfach nichts über dich verraten.«
»Das ist mein Ernst«, erwiderte Jin und zuckte mit den Schultern. »Wir sind alle paar Monate umgezogen, daher weiß ich nicht, was ich antworten soll, wenn mich jemand nach meiner Herkunft fragt.«
Alexym zog überrascht die Brauen hoch. »Und warum gehst du dann ausgerechnet hier zur Schule?«
»Oh!« Grinsend streckte sich Jin in Richtung einiger Kartons, schob den obersten achtlos zu Boden, um an eine Posterröhre zu kommen. »Ganz einfach!« Kurz blickte er durch den Raum und kletterte schließlich auf das Sideboard direkt hinter sich.
»Ähm … Bist du sicher, dass …«
Mit den Fingern fuhr Jin am Papier entlang, die in der Wand integrierten Nanobots18 aktivierten sich durch den Druck und hielten das Poster perfekt. Anschließend streckte er beide Arme aus, zeigte auf sein Werk. »Min-Hee!« Jin warf den Kopf zur Seite, strich sich dramatisch eine imaginäre Strähne aus der Stirn – ganz im Stil seines Lieblingsidols. Doch irgendwie reagierte Alexym so gar nicht, blinzelte nur, den Mund leicht geöffnet.
»Ähm … Min … Hin?«
»Alter.« Jin hüpfte zurück auf seinen Sitzsack. »K-Rock? Schon mal gehört?« Er verengte die Augen, als Alexym die junge Künstlerin auf dem Plakat nur ungläubig betrachtete. »Schauspielerin ist sie auch. Sie kann einfach alles!«
»Klar weiß ich, was K-Rock ist«, erwiderte Alexym mit einem flachen Lächeln, ohne eine Spur von Begeisterung. »Du hast also keine Familie in Seoul?«
»Nope.« Jin seufzte. Okay, dann wohnte er jetzt eben drei Jahre neben jemandem, der Min-Hees cybergeiler Kunst gegenüber indifferent war. Er würde das schon irgendwie verkraften. Viel nagender war gerade die Frage nach seiner Familie. Jin zögerte, entschied sich dann für die einfachere Antwort, bevor Alexym noch weiter nachbohrte. »Mein Vater arbeitet für Trelomi. Freie Schulwahl also in deren Gebiet. Und damit war klar, dass ich nach Seoul will!« Grinsend deutete er auf das Abbild seines Idols. »Mein Vater ist Umwelttechniker, darum überall dort, wo Trelomis Expertise gebraucht wird.«
»Und der Kerl eben? War das wirklich dein Assistent?«, fragte Alexym und nahm die Erklärung zu Jins Erleichterung einfach hin.
»Wie er leibt und lebt«, sagte er. »Die Zimmer im Wohnhaus sind alle belegt, daher muss Adachi im Keller wohnen. Wenn er sich außerhalb des Geländes einmietet, ist das zu umständlich.«
Entgeistert starrte Alexym ihn an, seine Mimik erweckte den Eindruck, als hätte Jin in einer ihm unbekannten Sprache gesprochen.
»Was den Rest anbelangt …«, sagte Jin und rieb seine Handflächen. Die kaum wahrnehmbare Musik – er erfasste ihre Frequenz und spielte mit den wellenförmigen Schwingungen im Raum, als wären sie aus biegsamem Draht. Die Luftmoleküle ringsum setzten sich in Bewegung und ließen die Lautstärke anschwellen und den Bass kräftig wummern. »Nichts Besonderes.«
Alexym wandte den Kopf suchend im Raum herum, um die Quelle der Musik auszumachen, fand sie jedoch nicht. »Elektrogeräte?«, rief er durch den Lärm.
Jin ließ die Schallwellen wieder abflauen und die Klänge verstummen.
»Kannst du mit deiner Begabung Elektrogeräte steuern?«
»Frequenzen. Schall. Solches Zeug.« Er gab sich möglichst unbeeindruckt, damit Alexym keine weiteren Fragen stellte. Spätestens bei ihren Einstufungen nächste Woche würde die ganze Schule wissen, was für ein Freak er war. Ein paar Tage gespielte Normalität war alles, was Jin wollte. »Und du?«
Seufzend drückte Alexym die Fingerspitzen aneinander. »Holografie19«, erwiderte er knapp. »Ein Wunder, dass ich es mit sowas überhaupt bis an die NeuroTech-Highschool geschafft habe.«
»Whoa!« Jin neigte sich nach vorn. »Wie cool! Kannst du einen Holo-Adachi erschaffen? Am besten einen, der nicht spricht und …« Er verstummte, als Alexym lauthals zu lachen begann. Dabei hielt er seine Hand vor den Mund und schüttelte leicht den Kopf.
»Nein, sowas kann ich nicht«, erwiderte er mit einem Mal fast wieder scheu. »Tiere krieg ich schon ganz gut hin. Ich muss mein Bestes geben. Viel lernen, meine Fähigkeit so schnell wie möglich weiterentwickeln, um eine Chance auf einen Abschluss zu bekommen.«
Jin ließ sich zurück in seinen Sitzsack fallen und starrte an die Decke. »Oh Mann.« Sie waren wie Tag und Nacht. Dynamik und Statik. Schwarz und Weiß. Sollte er hier und jetzt eine Diskussion beginnen? Alexym sagen, dass seine Hoffnungen und Ideale ihm nichts bringen würden?
Er entschied sich dagegen. Mehr als diese wenigen Tage Normalität hier würde er schließlich nicht haben. Also holte er Schwung und sprang auf die Beine. Er schnappte sich seine türkis-silbern akzentuierte Uniformjacke vom Schreibtischstuhl und zog sie sich über. »Lass uns essen gehen.«
Alexym warf einen Blick auf sein Smartphone. »Aber Essen ist erst um zwölf. Wir haben noch eine Stunde.«
»Ich meine in die Stadt«, erwiderte Jin. »Den Magen will ich mir erst heut Abend verderben, damit ich morgen nicht zum Unterricht muss.«
»Wir können doch am ersten Tag nicht einfach gehen!«, wandte Alexym ein, als Jin bereits in der Tür stand und sich noch einmal umdrehte.
»Wieso?«
»Wieso?«, wiederholte er und lachte ungläubig. »Na weil wir einen Zeitplan für heute bekommen haben.«
Jin griff nach seinem Smartphone. »Hier steht nichts davon, dass der Kram verpflichtend wäre. Und zu der Führung um dreizehn Uhr sind wir schließlich wieder hier.« Er grinste. »Komm schon! Du warst doch auch noch nie in Seoul, oder?«
Alexym zögerte. Er blickte zur Seite, sichtlich hin- und hergerissen. »Das geht nicht«, murmelte er. »Ich bin nicht wie du. Ich kann nicht einfach tun, wonach mir der Sinn steht.«
Jin spielte mit der Zunge an seinem Lippenpiercing herum. Alexym noch einmal einzuladen, würde vielleicht seinen Stolz verletzen oder so, was wusste er schon? »Wenn du knapp bei Kasse bist, ist das egal«, sagte er daher direkt heraus. »Meine Eltern bezahlen all das hier. Sieh das Mittagessen auf ihre Kosten als Wiedergutmachung für jeden blöden Spruch an, den du dir von mir anhören darfst.«
Alexym schien sich seine Worte einen Moment lang durch den Kopf gehen zu lassen, schüttelte diesen jedoch letzten Endes. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Dann gib’s mir halt irgendwann wieder. Oder lass mich deine Hausaufgaben abschreiben. Spätestens in zwei Wochen mach ich die eh nicht mehr.« Jin drehte sich um, ehe er Alexym bedeutete, ihm zu folgen. »Komm schon, lass uns den erstbesten Laden suchen und was essen.« Er warf einen Blick zurück über seine Schulter und grinste. »Vielleicht beantworte ich dir dann ein paar deiner anderen Fragen.«
Abwehrend verschränkte Alexym die Arme, als wollte er erneut protestieren.
In dem Moment erregte eine Bewegung hinter ihm Jins Aufmerksamkeit.
»Oh, Speckdose!«, sagte er und lief auf seinen Kater zu, der sich endlich unter dem Bett hervorgeschoben hatte. »Ich hätte dich nicht vergessen, versprochen.«
Sprachlos starrte Alexym die beiden an. Sein Mund stand offen, doch kein Wort kam ihm über die Lippen.
»Glotz Speckdose nicht so an«, sagte Jin und hob den wuchtigen Kater auf seinen Arm. »Männliche Calicos sind eine Rarität! Die gibt es erst seit zehn Jahren oder so.« Er kraulte dem Tier den Kopf. »Und schließ die Tür, ja?«
Tausend Fragen standen Alexym ins Gesicht geschrieben, vermutlich eine absurder als die andere. Doch vielleicht veranlasste ihn genau das schließlich dazu, seine Prinzipien über Bord zu werfen und Jin zu begleiten.
Nanobots
Nanobots sind mikroskopisch kleine Roboter, die Aufgaben auf kleinster Ebene erfüllen können - sei es in menschlichen Zellen, Materialien oder der Umwelt. Sie bestehen aus speziell entwickelten Materialien, die sie extrem widerstandsfähig, flexibel und biologisch abbaubar machen. Trotz ihrer winzigen Größe verfügen sie über Sensoren, Aktoren und manchmal sogar über winzige Recheneinheiten, wodurch sie ihre Umgebung erkennen, sich gezielt bewegen und präzise Aufgaben ausführen können; überall dort, wo höchste Präzision erforderlich ist.
Während in den ersten Jahren ihrer Verwendung jede einzelne Aktion programmiert werden musste, arbeiten inzwischen Begabte mit den Nanobots, die ihre Fähigkeiten flexibel steuern können.
Wo sollte Alexym nur anfangen, aufzuzählen, was an dieser Situation alles falsch auf ihn wirkte? Sein Kopf schwirrte, weshalb er widerspruchslos tat, was Jin ihm sagte. Er schloss dessen Zimmertür und holte ihn am Fahrstuhl ein. Überraschenderweise wartete der seltsame Zimmernachbar auf ihn. Erwartet hatte Alexym das nicht. Jin erweckte in ihm den Eindruck, als scherte er sich nicht allzu sehr um andere.
»Willst du nicht abschließen?«, fragte Alexym im Fahrstuhl angekommen.
»Hä? Wieso?«
»Na, was ist, wenn jemand dein Zeug klaut?«
Jin sah ihn an wie eine Formel, zu der ihm der Lösungsweg fehlte. »Dann kaufe ich neues«, sagte er, als wäre die Antwort selbsterklärend, und wählte auf dem holografischen Panel das Erdgeschoss aus.
Alexym fand erst auf dem Schulgelände seine Stimme wieder. »Bist du dir wirklich sicher, dass du abhauen willst?«, fragte er und warf wiederholt Blicke über die Schulter, doch niemand in Sichtweite schenkte ihnen Beachtung.
Jin antwortete nicht, er schien ihn gar nicht gehört zu haben. Völlig in seine Recherchen – oder was auch immer – vertieft, tippte er mit gesenktem Kopf auf seinem Smartphone rum und kaute auf der Unterlippe. Dabei bewegte er den türkisen Piercingstecker mehrfach auf und ab. Lediglich der voluminöse dreifarbige Kater auf Jins Armen ließ Alexym nicht aus den Augen, als würde er ihn einer eingehenden Musterung unterziehen.
Am Schultor blieb sein Zimmernachbar stehen, blickte die Straße hinauf und hinunter. »Die bezeichnen die Schule als Seoul III, aber haben sie echt in die Pampa gebaut«, schimpfte er.
Alexym folgte Jins Blickrichtung. Vor ihnen erstreckten sich Wäldchen und einige Hänge, zwischen denen eine einsame Straße in Schlangenlinien den Berg hinab zur eigentlichen Megacity Seoul führte.
Die NeuroTech Society war die größte unabhängige Organisation innerhalb der Weltordnung der Megakonzerne und da Vorsicht in ihren Augen besser war als Nachsicht, wurden die Standorte der Schulen für Begabte zwar nicht direkt geheimgehalten – denn das wäre unmöglich – jedoch auch nicht frei veröffentlicht. Also hockten sie hier in Abgeschiedenheit auf dem Yongmunsan20-Berg herum, mehrere Kilometer außerhalb der Stadtgrenze.
Unsicher deutete Alexym nach links. »Wir können doch die U-Bahn nehmen.«
Die NeuroTech Society war nicht nur weitestgehend unabhängig, sondern außerdem stinkreich. Und so saßen sie zwar in dieser altertümlichen Schule auf einem Berg im Nirgendwo, aber dafür hatten sie eine eigene Highspeed-Anbindung an das beste U-Bahn-Netz der Welt.
Jin schnaubte. »Diese Bakterienschleuder? Nein, danke! Damit können wir uns wann anders rumschlagen, aber ich muss morgen nicht krank rumliegen. Schließlich habe ich gerade die Zeit meines Lebens!«
Alexym runzelte die Stirn. Was sollte das bitte heißen? Aber er kam nicht zum Nachhaken. Denn in diesem Augenblick landete ein Flugtaxi21 nahezu geräuschlos auf der anderen Straßenseite und Jin marschierte zielsicher darauf zu.
»Das ist für uns!«, rief er Alexym auf halbem Weg zu. Wahrscheinlich, weil der sich nicht rührte.
Das schlanke, blau lackierte Gefährt trug die Aufschrift »Citycopter«22. Seine Kabine wurde von einem weiten Panoramafenster umschlossen und mehrere leise Elektrorotoren an Streben auf dem Dach sorgten dafür, dass bei der Landung nur ein leichter Windstoß durch Alexyms und Jins Haare fegte. Automatisch öffnete sich die Tür und eine kurze Treppe wurde ausgefahren.
Wieso schleppte sein Zimmernachbar ihn mit sich? Sie kannten sich kaum und schienen auf den ersten Blick auch nichts gemein zu haben. Weshalb lud Jin ihn also ein? Das war doch absurd. Alexym sollte zurückgehen, seine Essenspräferenzen in das Schulsystem eintragen und brav zum Mittagessen im Speisesaal sitzen. Und dennoch gehorchten seine Beine ihm nicht.
Wie in Trance beobachtete Alexym, wie Jin den großen Kater auf einen eigenen Platz im Flugtaxi bettete, bevor er selbst einstieg.
Vermutlich hatte Jin jetzt sowieso die Schnauze voll von Alexyms Zögern. So einer, der offensichtlich alles bekam, was er wollte, machte sich doch für einen wie ihn keine Mühe: einen mittellosen, zurückhaltenden Mitschüler aus Moskaus Slums.
Zugegeben, ein Teil von Alexym hoffte vielleicht im Stillen, dass Jin naserümpfend die Tür des Flugtaxis zuwarf und ihn mit einem Schulterzucken und einem »Pech gehabt!« zurückließ. Das dürfte ihm zumindest jede Menge Ärger mit der Schule ersparen. Generell war der scheinbar größte Delinquent des Jahrgangs nicht die Art von Freund, die sich Alexym erhofft hatte.
Vor dem Hintergrund war sein Schock nicht verwunderlich, als nichts dergleichen geschah. Ja, Jin wirkte genervt, aber er stieg wieder aus, kam über die Straße auf ihn zumarschiert, hakte sich bei ihm unter und schleifte ihn energisch mit sich.
»Du brauchst Skates oder ein T-Board und ein Halsband, dann kann ich dich hinter mir herziehen. Du bist ja fast genauso schwerfällig wie Speckdose, aber dich krieg ich nicht getragen.«
Aus dem Mund seines Zimmernachbarn klangen die Worte realistischer, als Alexym lieb war. Er hegte außerdem gemischte Gefühlte darüber, mit dem Kater verglichen zu werden, der entspannt auf einem der Sitze thronte und in seine Richtung gähnte, während Alexym von Jin durch die Tür des Flugtaxis geschoben wurde. Der wünschte sich, er hätte nur halb so viel Vertrauen in die Situation wie das souverän dreinschauende Tier.
In Anbetracht seiner dahinschrumpfenden Fluchtmöglichkeiten setzte er sich zögerlich hin und griff nach dem Gurt. Wenn er diesen Wahnsinn schon mitmachte, sollte er wenigstens sicher angeschnallt sein.
Jin ließ sich mit einem Seufzen, als hätte er soeben schwere körperliche Arbeit verrichtet, neben ihn auf die Sitzbank fallen. Er tippte auf ein Holo-Display, das dafür sorgte, dass die Einstiegstreppe eingefahren wurde und sich die Tür zischend schloss.
Eine angenehme künstliche Stimme bat sie darum, sich anzuschnallen und das Reiseziel auf dem Smartphone zu bestätigen, damit der Flug beginnen konnte.
Alexym hatte von diesen autonomen Flugtaxis bisher nur im Internet gelesen. In Moskau kamen sie nicht zum Einsatz, und selbst wenn, hätte er sie sich wohl kaum je leisten können. Ihr Tarif lag um das Zehnfache höher als der von Menschen gesteuerten Flugtaxis.
Alexym traute diesen Dingern nicht recht. Entsprechend tief versenkte er seine Fingernägel in die Sitzpolster, als der Citycopter sich mit einem Ruck senkrecht in die Luft erhob.
Jins Blick blieb an den verkrampften Fingern hängen. »Sag nicht, du hast auch noch Flugangst.«
»Ich bin nie zuvor mit so etwas geflogen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Relax, Lex!«
»Alexym.«
»Wie uncool wäre das denn? ›Entspann dich, Alexym‹, vielleicht?« Jin schüttelte sich, als liefe eine kalte Flüssigkeit sein Rückgrat entlang. »Jedenfalls sind Multikopter praktisch und sicher.«
»Wohin fliegen wir überhaupt?«, fragte Alexym, der ein paar konzentrierte Atemzüge nahm und versuchte, nicht darauf zu achten, wie sie sich dem überaus dichten Personenflugverkehr von Seoul näherten.
Jin spielte schon wieder auf seinem Smartphone herum und antwortete, ohne aufzusehen: »Ich schau gerade, wo wir essen gehen könnten. Aber das Taxi bringt uns erstmal nach Apujeong.«
»Wohin?«, fragte Alexym verständnislos.
Der Kater starrte ihn an. Die leicht grünlichen Augen mit den senkrechten Pupillen schienen sein Unwissen zu verurteilen.
»T-Maps23 meint, das sei eine Einkaufsgegend. Ich kenne mich hier auch nicht aus.«
Da Jin sich weiterhin in das vertiefte, was ihm auf seinem Smartphone an Informationen angezeigt wurde und nicht ansprechbar wirkte, sah Alexym entgegen besseren Wissens aus dem Fenster. Seouls Wolkenkratzer strahlten um die Wette und je näher sie kamen, desto greller funkelten auch all die Neon-Leuchtreklamen und Holo-Panels.
Ihr Flugtaxi surrte auf einer der für ihn kaum zu durchschauenden Flugstraßen zwischen den Gebäuden hindurch. Unter und über ihnen bewegten sich weitere Multikopter. Ein gigantischer unablässiger Strom aus Fluggeräten mit Menschen, die irgendwohin wollten. Wie funktionierte das, ohne dass alle miteinander kollidierten?
»Argh!«
Alexym sah zu Jin. Der hielt die Augen zusammengekniffen und massierte seine Schläfe.
»Tut dir etwas weh?«
Sein Zimmernachbar legte das Smartphone weg und holte irgendeinen kleinen Gegenstand aus der Hosentasche. Erst als er die Finger in Richtung seiner Ohren bewegte, verstand Alexym, dass er sich Ohrstöpsel einsetzte.
»Scheiße. Bloß keine Migräne riskieren!«, fluchte Jin. »Aber in der Stadt brummt es echt heftig.«
»Vielleicht sollten wir zurück und …«
Sein Zimmernachbar winkte energisch ab. »Ach, crash nicht gleich dramatisch! Das geht jetzt schon wieder, ich hab nur die Stöpsel vergessen.«
Alexym warf ihm einen skeptischen Blick zu, doch entschied letztendlich, dass Jin alt genug war, um zu wissen, was er sich zumuten konnte.
Außerdem wurde er von der plötzlichen Flugrichtungsänderung ihres Multicopters abgelenkt, der in einen steilen Sinkflug überging, durch den beinahe sein Herz zum Stillstand kam. Glücklicherweise landeten sie sicher auf einem leeren Parkplatz für Flugtaxis, aber Alexym hatte trotzdem Mühe, das heftige Pochen in seiner Brust zu beruhigen.
»Los geht’s!«, rief Jin, als sich die Tür öffnete und er den bunten Kater hinausschleppte.
Alexym folgte ihm auf wackeligen Beinen. Auf dem Bordstein blieb er stehen und starrte mit offenem Mund gen Himmel, den er zwischen all den Wolkenkratzern kaum erkannte. Von hier unten sah alles so gigantisch aus. Der Flugverkehr sorgte außerdem dafür, dass nur gedimmtes, flackerndes Tageslicht auf den Straßen ankam. Der Parkplatz nannte sich offenbar »Vertiport«, zumindest stand das in riesigen Neonlettern auf einem überdimensionierten Schild wenige Meter entfernt.
Überall blinkte und summte es. Die ganze Stadt lebte wie ein Ameisennest aus Stahl, Glas, Holos und Leuchtstoffröhren.
»Lex, ich schwöre, ich kaufe dir so ein Board und ziehe dich dann nur noch an einer Leine hinterher, wenn du ständig überall stehen bleibst«, rief Jin, der etwa zehn Meter weiter auf ihn wartete.
Alexym schimpfte sich selbst gedankenlos und trabte seinem Zimmernachbarn hinterher.
»Tut mir leid«, sagte er, sobald er Jin eingeholt hatte.
Der warf ihm einen Seitenblick zu, den Alexym irgendwo zwischen der Hä?-Grimasse und aufrichtiger Verwirrung einordnete. Doch so schnell diese übertriebene Mimik erschienen war, so schnell verschwand sie auch wieder.
Abrupt stoppte Jin und deutete vor Alexyms Nase auf ein Gebäude: »Das da!«, rief er so laut, als gelte es, auf diese Weise Punkte für irgendetwas zu sammeln.
Verwirrt sah sich Alexym um. Gochu Nook stand in pinker Leuchtreklame über dem Eingang, wobei eines der O‘s nicht leuchtete und die übrigen Buchstaben unheilvoll flackerten.
Jin war längst hinter der Tür verschwunden und Alexym spornte sich an, um nicht erneut wegen Trödelei negativ aufzufallen.
Sie betraten ein Restaurant, das nur schwerlich als eines durchging, wenn Alexym von der Einrichtung auf die Karte schloss, denn die mutete wie eine Mischung aus Imbiss, Diner und Bar an. Es gab keine Fenster, stattdessen schmückten zahllose Holos und Leuchtstoffreklamen die Wände und verliehen dem Laden eine gemütliche, wenn auch etwas heruntergekommene Atmosphäre.
Nach allem, was Alexym bisher über Jin wusste, nahm er an, dass so ein Laden keinesfalls seinem Geschmack entsprach. Ein Blick in dessen Gesicht verriet ihm jedoch das Gegenteil.
»Ist das nicht fabelhaft?« Mit leuchtenden Augen drehte Jin sich im Kreis, als hätte er in seinem Leben nie ein normales Restaurant gesehen.
»Ähm«, machte Alexym und fügte gerade noch rechtzeitig »Was genau?« hinzu, bevor sein Mitschüler schon wieder davonrannte.
Kurz hielt Jin inne, grübelte einen Moment, zuckte mit den Schultern und rief zurück: »Na alles.« Bevor er sich an einen Vierertisch setzte.