Ehrensachen - Louis Begley - E-Book

Ehrensachen E-Book

Louis Begley

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Beschreibung

Harvard, Anfang der fünfziger Jahre: Wo die Sprößlinge der Ostküstenelite ihre soziale Stellung einüben, zählen vor allem Stil, Prestige und die Einladungslisten der wichtigen Partys. Herkunft ist alles, doch Henry, ein rothaariger und obendrein schlecht angezogener Schlaks aus jüdischer Familie, hat nur Talent vorzuweisen, anders als seine Zimmergenossen Sam und Archie, die aus reichen Elternhäusern stammen. Der Außenseiter will seine Herkunft abschütteln und sich Zutritt zur mondänen Jeunesse dorée verschaffen, doch der Preis des amerikanischen Traums ist hoch – und die Frau, die er liebt, scheint unerreichbar zu bleiben. Neben Lügen in Zeiten des Krieges ist Ehrensachen das persönlichste Buch, das Louis Begley geschrieben hat. Bis in die Gegenwart hinein folgt er dem Schicksal seiner Protagonisten und erzählt eine Geschichte von Selbsterfindung, Liebe und großer Freundschaft.

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Seitenzahl: 616

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Harvard, Anfang der fünfziger Jahre: Wo die Sprößlinge der Ostküstenelite ihre soziale Stellung einüben, zählen vor allem Stil, Prestige und die Einladungslisten der wichtigen Partys. Herkunft ist alles, doch Henry, ein rothaariger und obendrein schlechtangezogener Schlaks aus jüdischer Familie, hat nur Talent vorzuweisen, anders als seine Zimmergenossen Sam und Archie, die aus reichen Elternhäusern stammen. Der Außenseiter will seine Herkunft abschütteln und sich Zutritt zur mondänen Jeunesse dorée verschaffen, doch der Preis des amerikanischen Traumes ist hoch – und die Frau, die er liebt, scheint unerreichbar zu bleiben. Neben Lügen in Zeiten des Krieges ist Ehrensachen das persönlichste Buch, das Louis Begley geschrieben hat. Bis in die Gegenwart hinein folgt er dem Schicksal seiner Protagonisten und erzählt eine Geschichte von Selbsterfindung, Liebe und großer Freundschaft.

Louis Begley, 1933 in Polen geboren, studierte Literaturwissenschaft und Jura in Harvard und arbeitete von 1959 bis 2004 als Anwalt in New York. Als Schriftsteller wurde er mit seinem ersten Roman Lügen in Zeiten des Krieges auf Anhieb international bekannt. Louis Begley lebt in New York.

Louis Begley

Ehrensachen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Hinweise zur Textgrundlage:

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3998.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Matters of Honor bei Alfred A. Knopf (Random House), New York

© 2007 Louis Begley

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: Jamie Hankin, Beach Quartet, 1989

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-75435-1

www.suhrkamp.de

In memoriam F. B. und D. B.

Les morts, les pauvres morts ontde grandes douleurs …

Baudelaire, Les fleurs du mal

I

Dies ist meine erste Erinnerung an Henry: Ich stehe an der Tür zu einem der drei Schlafzimmer in der Erdgeschoßwohnung des Harvard-College-Studentenheims, meiner neuen Unterkunft. Ein langer, schlanker, rothaariger Junge, den ich nur von hinten sehe, lehnt sich aus dem geöffneten Fenster und winkt jemandem zu. Er hat meine Schritte gehört, dreht den Kopf und sagt, komm, schau dir das an. Das Mädchen, diese Schöne, wirft mir Kußhände zu. Ich habe sie noch nie gesehen. Sie muß verrückt sein.

Ich ging zum Fenster. Und richtig, kaum drei Meter weiter stand ein Mädchen auf dem Rasen, winkte und warf Kußhände in Richtung unseres Fensters. Zwischendurch verzog sie den breit und rot geschminkten Mund und lachte übers ganze Gesicht. Sie trug ein helles Tweedkostüm, dunkelgrüne Strümpfe und ein Tirolerhütchen mit einer kleinen Fasanenfeder. Ein paar Schritte entfernt von ihr sah ich eine Dame in mittleren Jahren mit dunklerem Tweedkostüm und einem breitkrempigen braunen Hut. Irgend etwas an ihrem Aussehen – der Hut? der Hauch von Hochmut und Vornehmheit, der sie umgab? – ließ mich an Ingrid Bergman in Casablanca vor der abflugbereiten Maschine nach Lissabon denken. Auch wegen der Kleidung der beiden nahm ich an, die Dame müsse die Mutter des Mädchens sein.

Mehrere Studenten blieben auf dem Gehweg stehen, der diagonal zur entfernten Ecke der Widener-Bibliothek führte, und gafften. Weder der Zirkus, den ihre Tochter aufführte, noch das Publikum, das sie damit anzog, schienen die Mutter zu stören. Aber nach ein paar Minuten sagte sie doch etwas, so leise, daß wir es nicht hören konnten. Das Mädchen schickte noch eine Kußhand und warf die Arme in gespielter Verzweiflung hoch. Dann schlenderten sie weiter.

Ich bin verliebt, rief der rothaarige Junge. Ich möchte mich ihr zu Füßen werfen.

Tu’s doch, erwiderte ich, nur halb im Scherz. Es ist noch nicht zu spät. Wenn du jetzt sofort aus dem Fenster springst, kannst du sie einholen, du mußt nicht mal rennen.

O nein, jammerte er, das kann ich nicht. Warum muß das heute passieren, ich bin doch gar nicht vorbereitet.

Keine Spur von Ironie schwang in seiner Stimme mit. Ich hätte das Thema nicht weiter verfolgen sollen. Statt dessen erklärte ich ihm, eine förmliche Liebeserklärung würde vielleicht verfrüht erscheinen, aber das Mädchen auf eine Tasse Kaffee am Square einzuladen, könne nicht schaden.

Er schüttelte unglücklich den Kopf. Das wage ich nicht, sagte er. Siehst du nicht, wie fabelhaft sie ist? Penthesilea in Tweed! Nur der Sohn des Peleus kann sie zähmen, sonst keiner. Ich bin nicht mal ihres Hohns würdig.

Sein Gesicht war eine Maske der Mutlosigkeit.

Vielleicht habe ich die Achseln gezuckt. Diese Geste oder mein Gesichtsausdruck müssen ihm klargemacht haben, daß ich ihn für übergeschnappt hielt. Er zwang sich zu einem unbestimmten Lächeln und sagte, du mußt einer von meinen Mitbewohnern sein. Ich bin Henry White … aus New York.

Ich hatte schon mit New Yorkern zu tun gehabt, vor allem in der Schule, obwohl auch eine ganze Reihe von New Yorker Familien Sommerhäuser in den Berkshires hatten, in und um Lenox, wo meine Eltern und ich wohnten, oder in den Nachbarorten Stockbridge, Great Barrington und Tyringham. Aber keiner von ihnen klang wie dieser Kerl. Er sprach nichts falsch aus. Auffallend war etwas anderes: Wenn er sich nicht gerade aufregte, wie bei seiner Peleus-Geschichte, redete er ungewöhnlich langsam, sehr deutlich und an den Worträndern schwerfällig, so als ob er einen trockenen Mund hätte. Ich überlegte, ob er vielleicht Ausländer sei, aber falls er einen Akzent hatte, konnte ich ihn nicht identifizieren. Wie Ausländer sprechen, wußte ich damals nur aus dem Kino und durch die französische Familie in der kleinen Stadt nördlich von Paris, bei der ich gerade den Sommer über gewesen war. Daß Henry White aus New York keinen französischen Akzent hatte, war ganz klar.

Ja, ich sei sein Mitbewohner, Sam Standish, sagte ich und betrachtete Henry genauer. Seine Kleidung war ein Fehlgriff; sie schien nagelneu zu sein, und Jacke und Hose hatten eine merkwürdige Farbe. Davon abgesehen sah er gut aus.

Ist Sam die Kurzform von Samuel? fragte er mich ernsthaft. Als ich bestätigte, daß es sich so verhalte, nickte er.

Da ich noch nicht zu Mittag gegessen hatte, fragte ich ihn, ob er mit mir am Square ein Sandwich essen würde. Er sagte, er sei schon in der Mensa gewesen. Ich ging allein.

Die Kurse sollten erst ein paar Tage später beginnen, aber die Wohnheime waren geöffnet, und es gab Informationsveranstaltungen für Erstsemester. Ich hatte meiner Mutter versichert, ich könne samt Kabinenkoffer mit dem Bus nach Cambridge fahren; sie brauche mich nicht hinzubringen. Zu meiner Überraschung hatte sie jedoch darauf bestanden. Da sie aber am Abend mit meinem Vater zum Essen ausgehen würde, wollte sie nicht mit mir zu Mittag essen. Statt dessen drückte sie mir ein paar Scheine in die Hand, ungefähr so viel, wie das Mittagessen zu zweit sie nach ihrer Schätzung gekostet hätte, und fuhr dann ab, sobald ich mein Gepäck aus dem Kofferraum geholt hatte. Ich schaffte alles ins Wohnzimmer des Apartments, für das ich eingeteilt war, und merkte, daß ich nicht der erste Ankömmling war. Irgend jemand hatte sein Gepäck schon mitten ins Zimmer gestellt. Als ich dann den Kopf in eines der Schlafzimmer steckte, sah ich Henry.

Nach einem Sandwich mit Thunfischsalat bei Hayes-Bickford ging ich wieder ins Studentenheim. Vielleicht hatte Henry am Fenster nach mir Ausschau gehalten. Jedenfalls machte er mir die Wohnungstür auf, bevor ich den Schlüssel im Schlüsselloch umdrehen konnte, und sagte, er sei froh, daß ich so bald zurückgekommen sei. Er habe eine praktische Frage: ob es mir egal sei, welches Schlafzimmer er nehme? Die letzte Nacht habe er dort geschlafen, wo ich ihn gefunden hätte, aber damit habe er keine Vorentscheidung treffen wollen, und er sei bereit umzuziehen. Er bat mich, mit ihm in das Schlafzimmer zu kommen, das er sich wünschte, und zeigte nach rechts, in Richtung eines dunklen Backsteingebäudes mit Hörsälen, das aussah wie ein Wal.

Das ist Sever, sagte er, ein H.-H.-Richardson-Entwurf, und hier, genau vor uns, ist die Memorial Church.

Ich sagte, er könne das Zimmer behalten. Die drei Räume waren alle gleich groß, und an der Aussicht lag mir nichts. Damals wußte ich nicht, daß der Sever-Bau ein Meisterwerk amerikanischer Architektur des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts ist, aber selbst wenn ich es gewußt hätte, wäre meine Reaktion nicht anders gewesen. Ich rechnete nicht damit, viel Zeit am Fenster zu verbringen. Henry freute sich und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, während ich auspackte. Als ich fertig war, half er mir beim Bettenmachen.

Ich fand, nun sei das Eis gebrochen, und deshalb fragte ich, warum er nicht wenigstens mit ihr gesprochen habe. Schließlich habe sie ganz offensichtlich versucht, mit ihm anzubändeln. Henry schüttelte den Kopf und sagte, das sei ganz ausgeschlossen. Der Zeitpunkt sei fatal verkehrt. Zwar hätte er ihr folgen können, um wenigstens herauszufinden, ob sie zum Radcliffe ging und in welchem Studentenheim sie wohnte, aber er habe doch diese auffallenden roten Haare. Man würde ihn sofort erkennen. Hätten das Mädchen oder die Mutter sich umgedreht und ihn gesehen, hätten sie gleich gewußt, daß er derjenige war, und dann mußten sie denken, er sei ein Spinner, der keinen Spaß verstehe. Das hätte alles verdorben. Er müsse noch warten.

Du bist ein Spinner, sagte ich. Es kann überhaupt nichts schaden, wenn Mutter und Tochter wissen, daß du dem Mädchen, das sich die Mühe gemacht hat, dir Küsse zuzuwerfen, die Hand geben möchtest.

Wieder schüttelte er den Kopf. Der falsche Zeitpunkt, sagte er, das habe ich doch gesagt. Die Sterne stehen nicht günstig. Ich muß noch warten.

Es ging mich nichts an, und ich hätte wohl nicht bei einem Thema bleiben sollen, das ihm unbehaglich war. Aber da mir blühte, ein Jahr lang mit Henry zusammenzuwohnen, hielt ich es für mein gutes Recht, zu prüfen, ob er ein aufgeblasener Trottel oder wirklich nicht ganz richtig im Kopf war.

Lange beschäftigte mich diese Frage nicht. Schon nach wenigen Wochen hatte Henry entschieden, daß wir enge Freunde waren – zu diesem Schluß war ich noch nicht gekommen –, und weihte mich dermaßen schonungslos offen und ausführlich in seine Gefühle ein, daß ich mir manchmal wünschte, ich hätte es ihm – wodurch auch immer – nicht ganz so leicht gemacht. Unaufgefordert sprach er wieder von dem Mädchen und seinem eigenen, wie er zugab, sonderbaren Benehmen. Nicht Schüchternheit habe ihn gebremst, sondern die Überzeugung, daß er sich erst zu einem passenden Kandidaten machen müsse oder zwangsläufig abgewiesen werde – nicht nur von diesem Mädchen und dessen Mutter, sondern von jedem Mädchen, das er attraktiv fand.

Und nicht nur die Mädchen, sagte er, sondern alle hier würden mich abweisen! Erinnerst du dich an den Mann, den Raymond Massey in Arsen und Spitzenhäubchen gespielt hat, den Mann, den Dr. Einstein – also Peter Lorre – am Gesicht operiert und durch einen Kunstfehler zum Monster gemacht hat? Raymond Massey, das bin ich. Mit mir ist auch ein Kunstfehler passiert. Darum sage ich immerfort: Dr. Einstein, wir müssen noch mal operieren.

Ich sagte, dies sei wieder ein Beweis, daß er spinne.

Er schüttelte den Kopf und sagte, seine Beobachtungen bei zwei Mahlzeiten, als er am Mittag und am Abend allein in der Mensa gegessen habe, vor der Szene am Fenster und vor unserer ersten Begegnung, hätten seinen Verdacht bestätigt: Er sei hoffnungslos fehl am Platz in der Welt, in der Leute wie das Mädchen oder auch ich zu Hause seien. Er habe genau studiert, wie die überall herumschwirrenden Erstsemester aussahen und auftraten, und er habe gemerkt, daß kein einziger war wie er. Jedenfalls war kein einziger so angezogen wie er. Oder anders gesagt, keinen einzigen, der annähernd so aussah oder so scheußliche Kleider hatte wie er, hätte er gern kennengelernt.

Während er diese Beobachtungen von sich gab, lachte er, bis ihm die Tränen kamen. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte, also sagte ich, sein Überblick über die Erstsemester sei vielleicht nicht wissenschaftlich. Das könne schon sein, sagte Henry. Aber wie ich bald merken sollte, entging ihm wenig, und in der Regel erinnerte er sich an alles. Für diesmal ließ er meinen Einwand gelten und schwächte seine Behauptung ab: Seine Beobachtung in der Mensa habe nur bestätigt, was ihm schon zu Hause vor dem Aufbruch nach Cambridge klargeworden sei, als seine Mutter ihm die Klamotten eingepackt habe, die er mitnehmen sollte. Die kannte ich inzwischen auch: Da war ein himmelblauer Anzug, den er zur Abschlußfeier der Highschool getragen hatte, eine hellbraune Flanelljacke und zwei Paar braune Hosen. Seine Mutter hatte jedes Teil ausgesucht, und jedes Teil war zu groß, weil auf Zuwachs berechnet; sie wollte offenbar nicht einsehen, daß er seine endgültige Größe erreicht hatte. Er hätte seine Kleidung sehr gern in Cambridge oder Boston selbst gekauft, nachdem er gesehen hatte, was die anderen trugen, aber auf diesen Wunsch hatte sie sich nicht eingelassen: Er sei zu leichtsinnig und extravagant und wisse Qualität nicht zu schätzen.

Außerdem, sagte er, findet sie, schließlich sei es das Geld meines Vaters, und ihr stehe das Vergnügen zu, dieses Geld auszugeben. Und so hat sie es geschafft, daß ich aussehe wie ein minderjähriger Buchhalter.

Inzwischen hatte ich mich an Henrys Kleidung gewöhnt, aber wenn ich an unsere erste Begegnung und meinen ersten Eindruck von ihm zurückdachte, konnte ich nicht leugnen, daß er gute Gründe hatte, warum er dem Mädchen nicht in diesem Aufzug unter die Augen treten wollte. Nicht, wenn es ihm darauf ankam, einen möglichst guten Eindruck zu machen. Aber zurück zu dem Nachmittag: Wir bauten mein Bett und sahen uns dann im Wohnzimmer das Gepäck unseres fehlenden Mitbewohners an. Es bestand aus einem Überseekoffer und einem großen schweinsledernen Kleidersack, beide so abgewetzt, daß sie wohl auch ohne die Aufkleber mit den Namen »Normandie«, »Queen Mary« und verschiedener berühmter Hotels Beweisstücke für exotische Reisen gewesen wären. Wie ich auf dem am Koffergriff befestigten Namensschild las, hieß der Eigentümer Archibald P. Palmer III. Unter dem Namen stand eine A.P.O.-Adresse. Mein Vater war während des Krieges beim Militär gewesen, und die Abkürzung A.P.O. für Feldpost war mir vertraut. Ich erklärte Henry, daß wir einen Army-Sprößling zum Mitbewohner haben würden. Aber nicht die Feldpost machte Henry neugierig. Er wollte wissen, ob wir aus der römischen Zahl schließen sollten, daß unser Zimmergenosse zur High-Society gehörte. Er hielt es für möglich, aufgrund der Verlobungs- und Heiratsanzeigen, die er in der New York Times gelesen hatte. Zum Beispiel sei es nicht ungewöhnlich, sagte er, dort angezeigt zu finden, daß Mr. Ebenezer Witherspoon III., der ältere Sohn des Ebenezer Witherspoon II., ein Americana-Sammler und Yachtsegler mit Wohnsitzen in Cold Spring, Long Island, Manhattan und Palm Beach, Florida, Urenkel des Ebenezer Witherspoon, eines Geschäftspartners von Commodore Vanderbilt, die Tochter von Mr. und Mrs. Sperry Rand IV., mit Wohnsitzen in Oyster Bay, Long Island und ebenfalls Manhattan, heiraten werde.

Wohl wahr, sagte ich, aber da römische Ziffern auch in weniger herausgehobenen Klassen nicht ganz unbekannt seien, sollten wir mit dem Urteil warten, bis wir Mr. Palmer kennengelernt hätten.

Wir gingen zum Abendessen in die Mensa und sahen danach im University Theater einen albernen Film, den ich vollkommen vergessen habe. Als wir zum Studentenheim zurückkamen, schallte uns der Lärm einer lauten Party über den Flur entgegen. Durch eine offene Tür brüllte jemand, wir sollten auf einen Drink reinkommen. Weil ich Henry beim Essen ausgefragt hatte und nun wußte, daß er sein Abschlußexamen in einer staatlichen Highschool in Brooklyn gemacht hatte, nahm ich an, daß er keine Lust hatte, sich in ein Zimmer voller Kraftmeier aus feinen Internaten zu stürzen. Aber er schien gern bereit, sie kennenzulernen, und wir gingen hinein. Ich trank ein Bier, und dann vertrieb mich der Krach. Im Weggehen sah ich mich nach Henry um. Er hatte einen Drink in der Hand und sah aus, als fühle er sich wohl.

Am nächsten Nachmittag kam unser dritter Mitbewohner an. Ich war dabei, als er Henry den Ursprung der römischen Drei erklärte, nicht ohne deutlich zu machen, daß es wichtig sei, solche Dinge richtig zu verstehen. Er habe denselben Vornamen und einen Mittelnamen mit demselben Anfangsbuchstaben wie sein Vater und dessen Vater. Darum sei er selbst der dritte; wäre er aber nur nach seinem Vater genannt, ohne einen Großvater oder Urgroßvater mit dem Namen Archibald P. zu haben, dann würde er Archibald P. Palmer Jr. heißen, wie sein Vater, der Oberst; hieße er aber wie sein Großvater, ohne einen Vater namens Archibald P. zu haben, dann wäre er Archibald P. Palmer II. Sein eigener erstgeborener Sohn werde die Zahl IV im Namen führen, das habe er schon beschlossen, und von der Familie Quartus genannt werden. Ich hatte das Gefühl, Archie (so wollte er von uns genannt werden) merkte wohl, daß Henry mehr erwartete als Ausführungen zur gesellschaftlichen Etikette nach Art von Emily Post oder Erika von Pappritz, sich aber vorläufig bedeckt halten wollte.

Die nächste Entwicklung führte jedoch dazu, daß Henrys erster Eindruck von der herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung Archies sich bestätigen mußte. Archie war dabei, den Inhalt seines Überseekoffers sehr methodisch auf die Kommodenschubladen zu verteilen, blickte dann hoch, streckte sich und fragte, ob es nicht allmählich Zeit für einen Scotch sei. Wir stimmten zu. Er kramte noch etwas in seinem Koffer, holte einige säuberlich zusammengelegte Pullover heraus und brachte ein Lederkästchen mit silbernen Bechern und einem Martini-Shaker zum Vorschein. Der Whiskey befand sich in einer silbernen Taschenflasche, die er aus einer Jackentasche zog. Alle diese Gegenstände, Leder wie Silber, trugen die Buchstaben APP III. Wollt ihr euern Whiskey pur oder mit einem Spritzer Wasser, Leute? fragte er. Ich sagte, ich hätte gern Wasser, worauf er mir den Shaker in die Hand drückte und vorschlug, ich solle welches holen. Als ich mit Wasser aus dem Gemeinschaftsbadezimmer am Ende des Flurs wiederkam, schenkte Archie den Whiskey ein und gab uns die Becher. Wir tranken, während er weiter auspackte. Erstaunliche Sachen kamen zum Vorschein, darunter ein Paar weiche, kniehohe Lederstiefel, die seinem Vater gehört hatten, wie er erklärte, und im Dschungel von entscheidender Bedeutung seien, da sie Knöchel und Waden vor Moskitos schützten; dann ein schwarzer Seidenkimono mit einem auf dem Rücken aufgestickten feuerspeienden Drachen. Auch der habe seinem Vater gehört, der ihn in Hongkong gekauft habe und zu Hause gelegentlich statt Smokingjacke trage.

Mit einem Blick auf seine alltäglicheren Kleidungsstücke sagte er: Ich weiß ja nicht, ob ihr die Klamotten gut findet, die ihr mitgebracht habt, meine sind jedenfalls nicht das Richtige. Mutter hat sie in Panama City billig machen lassen. Feine Wolle und so, aber schlecht geschnitten. Der Schneider ist beschissen.

Henry hatte wie gedankenverloren an seinem Whiskey genippt, aber als er das hörte, brauste er auf.

Scheußlich finde ich mein Zeug, jedes Stück, das ich besitze, schrie er, alles einfach scheußlich.

Henry bemerkte sofort, daß Archie und ich zusammenschraken. Er entschuldigte sich. Es sei das erste Mal, daß er harten Alkohol probiert habe. Er sei ihm zu Kopf gestiegen.

Macht doch nichts, sagte Archie. Er schenkte uns nach und ließ sich dann weiter über den Geiz seiner Mutter aus. Die Sachen, die er seine Don-Ramón-Ausstattung nannte und so schnell wie möglich loswerden wollte, hatte sie bei einem Schneider in Panama City bestellt, weil die Stadt in erreichbarer Nähe des Stützpunkts in der Kanalzone lag, wo sein Vater zur Zeit stationiert war. Archie bezeichnete seine Mutter als Mater. Seinen Vater nannte er Pater. Er hatte zwei Jahre in einem Internat in Schottland zugebracht, gleich nach dem Krieg, als sein Vater zu einem Stabshauptquartier in Deutschland abkommandiert war. Das Internat sei seine einzige Verbindung zu den Britischen Inseln, sagte Archie, abgesehen von den fernen Vorfahren seines Vaters. Der Vater stamme aus Texas, sei dort geboren und aufgewachsen, bis er nach Point West kam. Die Mutter sei Halb-Mexikanerin, Tochter eines amerikanischen Petroleum-Ingenieurs, der sein Glück südlich der Grenze gemacht hatte, und einer Einheimischen. In Maters Familie gibt es einen Tropfen Aztekenblut, ließ er uns wissen, aber nicht soviel, daß man es merken könnte. Ihre Eltern hatten sie aufs College in San Antonio geschickt, und dort hatte ein frisch gebackener Leutnant Palmer auf Weihnachtsurlaub sie kennengelernt und umworben.

Als Archie sich endlich mit der Ordnung in seinem Schrank und den Schubladen zufriedengab, war es Zeit zum Abendessen. Auf dem Weg in die Mensa stellte er Henry eine ganze Reihe Fragen zu Dingen, die mich selbst interessierten.

Übrigens, wo kommst du eigentlich her? sagte er.

Polen.

Oh, und wo in Polen?

Krakau.

Großartiges Land, Polen, bemerkte Archie, und wann bist du hierher gezogen, gerade noch vor dem Krieg?

Nein, siebenundvierzig.

Wirklich, und wo warst du während des Krieges?

In Polen.

Deine Eltern auch?

Ja.

Er hatte diese einsilbigen Antworten ganz freundlich, mit ruhiger Stimme gegeben. Trotzdem hatte Archie offenbar beschlossen, daß die Befragung nun weit genug gegangen sei. Er klopfte Henry auf die Schulter und sagte, eines Tages würde er gern die ganze Geschichte seiner Kriegserfahrungen hören. Dann waren wir in der Mensa angekommen, Henry und ich kannten uns schon aus, holten Besteck, verstauten es in den Brusttaschen unserer Jacken und stellten uns in die Warteschlange für das Hauptgericht.

II

Man sagt, niemand, der nicht im Ancien régime gelebt habe, dürfe behaupten, die Sonnenseite des Lebens zu kennen. Vielleicht sind die hohen Annehmlichkeiten des Studentenlebens am Harvard College um 1950 ebenso unvorstellbar geworden. Es war nichts Besonderes, daß meine beiden Mitbewohner und ich in einem der älteren Studentenheime eine Suite mit drei Schlafzimmern bewohnten, alle so geräumig, daß außer dem Bett noch ein Schreibtisch und ein paar Stühle darin Platz hatten, und dazu ein Wohnzimmer, das mir in der Erinnerung groß vorkommt. In unserem Gebäude gab es in jedem Stockwerk Toiletten und Duschen für alle am Ende des Flurs, aber hätten wir zufällig in einem neueren Studentenheim gewohnt, dann hätte unsere Suite ein eigenes Bad gehabt. Ältere irische Putzfrauen, liebevoll »Muttchen« genannt, kamen täglich außer sonntags zum Reinigen und Bettenmachen. Gegen geringes Entgelt wuschen sie auch Socken und Unterwäsche. Eine von der Universität finanzierte Wäscherei holte Bettlaken und Bezüge ab und brachte sie gewaschen und gebügelt zurück; ich bin fast sicher, daß der Anblick eines Studenten, der einen Waschautomaten füttert, damals weitgehend unbekannt war. Angeblich bedienten sich die Muttchen freizügig, wann immer sie alkoholische Getränke in einem Studentenzimmer fanden. Mir ist so etwas nie passiert. Andererseits versäumte ich nie, meinem Muttchen, wenn es kam, während ich da war, unabhängig von der Tageszeit einen Drink anzubieten. Das Muttchen, das in meinem dritten Collegejahr für mich sorgte, hatte eine ausgesprochene Vorliebe für Curaçao, und ich achtete darauf, daß ich immer eine Flasche zur Hand hatte. Höhere Semester wohnten in Häusern, die vor dem Krieg unter der Ägide von Präsident Lowell nach dem Muster der Colleges von Oxford und Cambridge gebaut worden waren. Eines der Häuser trug seinen Namen. Jedes hatte einen Eßsaal, Aufenthaltsräume und eine Bibliothek, deren Qualität von Haus zu Haus verschieden war, einen Leiter, der im Haus wohnte, sowie innerhalb oder außerhalb des Hauses untergebrachte Tutoren. Erst seit kurzem gab es keine Kellner mehr in den Eßräumen oder der Mensa, sondern Selbstbedienung wie in einer Cafeteria – eine Maßnahme zur Kostendämpfung, über die sehr geklagt wurde.

Gesellschaftlich gesehen, galten alle Studentenwohnheime gleich viel; da die Bewohner jedes Jahr wechselten, hatte keines genug Zeit, ein individuelles Profil anzunehmen. Allenfalls konnte man die besseren sanitären Anlagen in den neueren Heimen gegen höhere Decken und größere Zimmer in den älteren abwägen. Anders stand es mit den Häusern. Ihre besonderen Merkmale und ihr Ansehen hingen davon ab, wie geschickt der Hausherr Erstsemester aussieben und profilierte Tutoren anwerben konnte. Zwei Häuser standen nach der gesellschaftlichen und intellektuellen Hackordnung obenan. In einem zählten fast nur Gelehrsamkeit und akademischer Erfolg, so daß ungepflegte oder exzentrische Bewohner geduldet wurden, wenn sie viel leisteten. Talente und Leistungen vieler Tutoren und Kollegiaten im anderen Haus waren genausogroß. Aber daß ein Student brillant war, reichte dort nicht immer. In seiner rastlosen Suche nach Perfektion ließ sich der Hausherr von Instinkten leiten, ungefähr so untrüglich wie die der Oberkellner oder der chefs de salle im Stork Club, dem »21« oder dem Maxim’s, die auf einen Blick erkannten, ob ein essenswilliger Gast zugelassen werden und an welchem Tisch er plaziert werden sollte. Wie seinen Kollegen in der Welt des eleganten Dinierens schwebte dem Hausherrn ein gesellschaftlicher Blütenstrauß vor, der einem großen Salon Ehre gemacht hätte, in seinem Fall allerdings von Jahr zu Jahr frisch gepflückt werden mußte. Er sehnte sich nach Kollegiaten, deren persönliche Eigenschaften und Ahnen ihm erlaubten, sie seine »amerikanischen Orchideen« zu nennen – eine Auszeichnung, die er bereitwillig zum Beispiel jedem Nachkommen von John Adams verlieh, vorausgesetzt, er hatte sich, soweit man wußte, nicht öffentlich mißliebig gemacht. Söhne und Enkel ausländischer Berühmtheiten hatten fast die gleiche Wirkung auf seine Phantasie, vor allem dann, wenn er eine Möglichkeit sah, sie höchst vorteilhaft miteinander zu kombinieren, wenn es ihm etwa gelang, die Enkel des größten lebenden französischen Malers, eines milliardenschweren östlichen Potentaten und des berühmtesten irischen Schriftstellers zu Zimmergenossen zu machen. Wider mein besseres Wissen bewarben Henry, Archie und ich uns im zweiten Semester unseres ersten Studienjahres fristgerecht um Aufnahme in dieses Haus. Mir war nicht wohl bei der Sache, und ich schwankte, ob ich mich dagegen aussprechen solle, aber ich hätte meine Gründe offenlegen müssen, und so machte ich dann doch mit. Mein Ärger wurde zum muffigen Schweigen, und während der Gespräche, erst mit dem leitenden Tutor Thomas Peabody, einem Mediävisten, in dessen Seminar ich war, dann mit dem Hausherrn, machte ich kaum den Mund auf. Als wir in das Büro des Hausherrn gebeten wurden, saß er in einem riesigen Sessel, zappelig, ständig die Beine übereinanderschlagend und wieder nebeneinanderstellend, bis er sie schließlich unter sich zog. Seine Fragen waren ausschließlich an Henry gerichtet. Er gab zu, Henrys Vorgeschichte sei rätselhaft und spannend für ihn – diese Worte wiederholte er mehr als einmal –, sie sei sehr ungewöhnlich, genauso wie seine Freundschaft mit Archie und mir.

White, fragte er zum Schluß, fühlen Sie sich ganz und gar wohl mit Ihren Zimmergenossen?

Henry war darauf vorbereitet.

Ganz und gar wohl habe ich mich noch nie mit jemandem gefühlt, antwortete er. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das wäre.

Wie außerordentlich, rief der Hausherr, genauso empfinde ich auch! Une âme sœur!

Trotz dieses Ausbruchs von Sympathie erhielten Henry und Archie einige Wochen danach einen von Peabody unterschriebenen Brief mit der Nachricht, sie würden in einem Studentenheim für die höheren Semester untergebracht, die keinen Platz in einem der Häuser gefunden hätten. Weiter stand in dem Brief, die Herren White und Palmer dürften sich, davon abgesehen, selbstverständlich als dem Haus assoziiert betrachten, insbesondere an den Mahlzeiten teilnehmen und die Bibliothek benutzen. Falls in ihrem vorletzten Studienjahr oder auch später eine geeignete Wohnung frei werde, würden sie dafür in Frage kommen. Wenn es nur um die Qualität der Unterbringung gegangen wäre, hätte man dieses Ergebnis als Glück bezeichnen können, denn das betreffende Wohnheim war ein luxuriöses Bauwerk aus dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Suiten waren ebenfalls luxuriös. Aber Leute, denen solche Dinge wichtig waren, sahen das Heim als Lagerraum für Abgewiesene. Das war bitter. Es hätte zu Verstimmungen zwischen Henry und Archie führen können, denn Henry glaubte, ohne ihn würde man Archie aufgenommen haben. Archie, der ein Ehrenmann war, hielt dagegen, sie seien beide gleich unerwünscht, und ließ sich davon nicht abbringen.

Am Ende gab es auch zwischen den beiden und mir keine Mißstimmung. Bevor wir alle drei uns um einen Platz in dem Haus bewarben, hatte ich ihnen gesagt, ich würde um eine Wohnung für eine Einzelperson bitten und lieber keine mit ihnen teilen. Als Grund dafür gab ich an, daß wir keine Chance hätten, eine Suite mit drei Schlafzimmern und einem Wohnzimmer zu bekommen, und da ich unbedingt ein Zimmer für mich allein brauchte, könnten wir nicht mehr so wie bisher zusammenwohnen. Ihre prompte Reaktion war das Angebot, ich könne das Einzelzimmer haben, sie würden das Zweibettzimmer nehmen, aber ich blieb fest, obwohl ich gern mit Henry zusammengewohnt hätte. Wohnungen für eine Person waren in den Häusern rar, deshalb hatte ich vermutet, daß wahrscheinlich ich der sein würde, der allein in einem Wohnheim für Abgewiesene landete und lebte. Ich war überrascht, als Peabody mir mitteilte, daß ein Student im dritten Jahr, der in einer solchen Suite gewohnt hatte, das College verlasse und ich seinen Platz gern einnehmen könne.

Die Zwänge unseres verwöhnten College-Lebens kann man sich vielleicht auch nicht mehr vorstellen. Sie beruhten auf der unausgesprochenen Überzeugung, daß es zu den Zielen höherer Erziehung gehöre, die sexuelle Aktivität der Jugendlichen hinauszuzögern, indem man sie zur Teilnahme an anstrengenden sportlichen Übungen ermunterte und die Gelegenheiten zu privaten Kontakten mit dem anderen Geschlecht begrenzte. Deshalb wohnten in den Studentenheimen und Häusern des Harvard College nur männliche Studenten. An sich gab es keine Studentinnen in diesem College, aber eine Formel namens »gemeinsamer Unterricht« brachte eine kleine Minderheit von Radcliffe-Mädchen in alle Kurse außer Astronomie und Leibeserziehung. Das eine Fach erforderte nächtliche Exkursionen zur Sternbeobachtung, die Gelegenheit zu Fehlverhalten bieten mochten. Daß gemeinsamer Turnunterricht ausgeschlossen war, bedurfte keiner Erklärung, die Anwesenheit von Mädchen in einer sportlichen Einrichtung für Männer schien undenkbar. Der Sprachgebrauch, der festlegte, daß die Radcliffe-Studentinnen Mädchen waren, wir dagegen Männer, wurde von niemandem in Frage gestellt. Damenbesuche in Harvards Wohnheimen und Häusern unterlagen strengen Beschränkungen. Der Zutritt zu den Wohnheimen war für Studentinnen verboten; wer mit einem Mädchen verabredet war, durfte jedoch im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoß ihres Heims warten, bis seine Freundin kam; wie mir später klar wurde, hatte dieser Raum eine fatale Ähnlichkeit mit dem Aufenthaltsraum eines besseren Bestattungsunternehmens. In unserem ersten Jahr am College durften Mädchen sich am Nachmittag zwischen vier und sieben Uhr in den Studentenheimen für Männer aufhalten; in den folgenden Semestern wurde die Besuchszeit nach und nach verlängert, bis schließlich in meinem vierten Jahr Mädchen an Samstagen – und vielleicht auch an Freitagen – nicht vor elf Uhr gehen mußten. Schlag elf Uhr strömten aus den Häusern und Heimen Paare, deren abgespannte Gesichter und vom Duschen nasse Haare Zeugnis ihrer Liebesübungen und ihrer sorgsam betriebenen persönlichen Hygiene waren. Die Besuchsregel gebot auch, daß Mädchen auf einer Liste ein- und ausgetragen wurden, die in den Wohnheimen vom Proktor und in den Häusern vom Portier verwaltet wurde. Mit den Besucherinnen durfte man sich im Wohnzimmer der Suite unterhalten, wobei die Tür zum Flur offenstehen mußte, so daß ein Proktor oder Tutor, wenn ihm danach war, nachsehen konnte, ob die Intimitäten auf Gespräche samt dem dazugehörigen Rauchen und Trinken beschränkt blieben.

Seit meiner ersten Begegnung mit Henry und Archie hatte ich, wahrscheinlich nicht weniger als der schwer einzuschätzende Hausherr, darüber nachgedacht, welcher administrative Vorgang uns aus gut tausend Studienanfängern herausgepickt und zu Zimmergenossen gemacht habe. Waren wir die letzten drei aus unserem Jahrgang, für die eine Unterkunft gefunden werden mußte, oder waren die Zimmer, die man uns zuwies, die einzigen noch übrigen? Wurden solche Fragen durch Würfeln auf dem purpurroten Teppichboden im Büro eines Verwaltungsangestellten entschieden? Wie meine Zimmergenossen sagten, hatte keiner von ihnen den College-Fragebogen eingeschickt, der nach Wünschen bezüglich ihrer Mitbewohner gefragt hatte. Ich hatte einen ausgefüllt und rechtzeitig im beigelegten Briefumschlag zur Post gebracht, aber ich hatte nur einen Wunsch geäußert: nicht mit Absolventen einer der neuenglischen Prepschools zusammenzuwohnen, sondern mit Männern aus anderen Teilen des Landes. Mindestens die Hälfte unseres Jahrgangs muß diesem Kriterium entsprochen haben. Als Grund für meinen Wunsch gab ich an, daß ich gern Leute von unterschiedlicher Herkunft kennenlernen würde. Das war nicht falsch. Aber ich hatte noch ein stärkeres, unausgesprochenes Motiv: Ich wollte allen Studenten aus dem Weg gehen, die wie ich aus den Berkshires stammten oder meine Eltern und deren Ruf aus anderen Quellen kannten. Ich muß gewußt haben, daß die Schranke, die ich zu errichten hoffte, durchlässig war. Wäre ich entschlossener gewesen, hätte ich mir sogar ein College ausgesucht, das weit weg war, an der Westküste zum Beispiel. Meine Eltern hätten mich nicht ernsthaft daran gehindert, obwohl sie es schmeichelhaft fanden, daß ich in Harvard studierte. Und mit Sicherheit hätte ich mich nicht auf die Diskretion von George Standish verlassen, dem einzigen aus meinem Jahrgang, der vermutlich alles wußte, was ich verbergen wollte, denn sein Vater war der Cousin meines Vaters. Meine Eltern hatten mir erzählt, daß George sich um die Zulassung zum Harvard College beworben hatte; von ihnen erfuhr ich dann auch, daß er angenommen worden war. Mein Vater hatte sogar schüchtern angeregt, daß ich George doch eventuell fragen könnte, ob er mit mir zusammenwohnen wolle. Ich warf ihm einen abschätzigen Blick zu und sagte, ich hätte keine Lust, mir eine Abfuhr zu holen. Außerdem, fügte ich hinzu, hätte George sich längst anders verabredet. Im zweiten Punkt hatte ich recht: Georges drei Mitbewohner im ersten Jahr waren alle mit ihm in die Schule gegangen und alle aus demselben teuren Holz geschnitzt wie er.

Wie diskret George war, konnte ich nicht wissen, dafür hatte ich keinen Anhaltspunkt. Wir kannten uns zuwenig. Wäre ich älter und erfahrener gewesen, hätte mich vielleicht der Gedanke an die Gleichgültigkeit der meisten Menschen und ihren elementaren Mangel an Neugier auf das Leben anderer beruhigt. Ich hätte auch begriffen, daß der Klatsch über meine Eltern banal war und höchstwahrscheinlich niemanden interessierte, abgesehen von einigen Bekannten, denen ihre trübselige Geschichte ohnehin nicht neu war. Sonst würde niemand in unserem Alter den Tratsch über so einen wie meinen Vater hören wollen, einen ganz netten Kerl aus guter Familie, der fast all sein Geld verloren oder verplempert hatte, als Angestellter in der Treuhandabteilung einer kleinen Bank in einem häßlichen Städtchen arbeitete, in dem es nur eine einzige Fabrik gab, der mit Ehefrau und Sohn ein für seine Verhältnisse zu üppiges Haus seiner Vorfahren bewohnte, mit einem Oldsmobile zur Arbeit fuhr und im Country Club mittelmäßig Golf spielte. War sein Fall pikanter, weil die Bank, die sein reicher kluger Cousin ersten Grades leitete, eine Gründung der Familie und noch immer in deren Besitz war? Angestellter dieses jüngeren Cousins zu sein war eine Qual für meinen Vater, der es weiter gebracht hätte, wäre er stärker und weniger träge gewesen. Das war ihm nicht gegeben; er war steckengeblieben. Der Rest war abgeschmackt und trivial, bestand nur in Details über den Martinikonsum meines Vaters und meiner Mutter vor dem Mittag- und Abendessen; über die sogar für ihre trinkfesten Kumpane auffallend großen Scotch- und Soda-Mengen, die sie danach zu sich nahmen, und außerdem über die heftigen Flirts – oder auch mehr – meiner Mutter mit dem Versicherungskaufmann Gus Williams und dem im Krieg hoch dekorierten Grundstücksmakler Tim Clark, zwei Säufern, die für ihren ausschweifenden Lebenswandel berüchtigt waren. Daß es in den Berkshires andere Paare mit ähnlich schlecht gehüteten Geheimnissen geben mochte, von denen ich zwei oder drei zu kennen glaubte, machte es nicht besser, und die Vorstellung, daß ein bloßer Zufall bei der Wohnungsverteilung – so wie der, dem ich das gemeinsame Quartier mit Henry und Archie verdankte – mich auch mit jemandem hätte zusammenspannen können, dessen Verachtung oder Mitleid ich spüren würde, diese Vorstellung war mir entsetzlich, verständlicherweise, wie ich finde. Außerdem hatte sich noch etwas Neues und für mich sehr Verwirrendes herausgestellt. Als ich in den Osterferien meines letzten Schuljahrs nach Hause kam – meine Zulassung zum Harvard College hatte sich schon herumgesprochen –, sagten mir meine Eltern, daß Mr. Hibble, der Anwalt, der die meisten juristischen Belange der Bank handhabte, mich in sein Büro gebeten habe, mich allein sprechen wollte und daß ich hingehen solle. Ich kannte Mr. Hibble aus dem Club als einen cholerischen Tennisspieler. Mein Vater, mit dem er natürlich oft zu tun hatte, bezeichnete ihn regelmäßig als einen langweiligen Schwachkopf, aber das war mir nicht weiter wichtig. Ich rechnete damit, daß mein Vater abschätzig über alle Leute redete, die erfolgreicher und besser bezahlt waren als er, besonders dann, wenn ihm die wirklichen oder eingebildeten beruflichen Leistungen des betreffenden Schwachkopfs mit einer gewissen Penetranz unter die Nase gerieben wurden. Ich war sehr neugierig, was diese von meinen Eltern so nachdrücklich unterstützte Einbestellung bedeuten mochte. Obwohl ich in der Schule nichts verbrochen hatte und auch mit der Polizei unserer Stadt nicht so aneinandergeraten war, daß ich einen Rechtsbeistand gebraucht hätte, konnte ich mir doch nicht denken, daß die Besprechung mit Mr. Hibble etwas Gutes ergeben würde.

Ich erschien zur verabredeten Stunde in seinem Büro und erfuhr von ihm, nach ein paar einleitenden Floskeln über meine harte Arbeit und meinen schönen Erfolg, daß er der Treuhänder eines vom verstorbenen Mr. Horace Standish, dem Familienoberhaupt und Bruder meines Großvaters, eingerichteten Trusts war und daß er beschlossen habe, es sei an der Zeit, mich davon in Kenntnis zu setzen, daß meine Studiengebühren und meine Ausgaben im College aus diesem Treuhandvermögen bezahlt würden, aus dem auch mein Internatsaufenthalt finanziert worden sei. Er hatte mir noch mehr mitzuteilen. Ich sei berechtigt, Ausschüttungen aus den Erträgen des Trusts zu beziehen – ansehnliche Beträge, die mich aber nicht der Notwendigkeit entheben würden, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Beschränkung sei nach seiner Einschätzung nur zu meinem Besten. In Notlagen und in gut begründeten Ausnahmefällen könne ich sogar auf das Kapital zugreifen. Man habe mich nicht früher von der Existenz und Funktion des Trusts in Kenntnis gesetzt, fuhr Mr. Hibble fort, weil ich zu jung gewesen sei. Dann ließ er die Bombe platzen: Zweck des Trusts und Grund für Mr. Standishs Großzügigkeit sei es gewesen, meinen Eltern, als klar wurde, daß sie keine eigenen Kinder bekommen konnten, finanzielle Anreize oder auch Möglichkeiten für meine Adoption zu bieten. Das Wort »Prasser« im Zusammenhang mit meinem Vater und dem Geld hatte Mr. Hibble nicht ausdrücklich gesagt, aber auch unausgesprochen stand der Tadel im Raum wie die Qualmwolken aus seiner Zigarre. Die Adoption habe bei meiner Geburt stattgefunden, fügte er hinzu, und sie sei ein Segen für meine Eltern wie auch für mich gewesen. Als ich wieder Luft holen konnte, fragte ich, ob er wisse, wessen Kind ich sei. Er erwiderte, das wisse niemand. Damals habe man derartige Angelegenheiten unter absoluter Verschwiegenheit geregelt. Für alle Zeiten.

Ich fuhr sehr langsam nach Hause. Es war spät am Nachmittag, und ich wußte, daß meine Eltern beide mit Drinks in der Hand auf mich warteten. Mein Vater bot mir auch einen an, einen Gin Tonic, den ich nahm. Mutter weinte, natürlich. Beide boten mir zudem Versicherungen ihrer Liebe an; die, sagte ich ihnen, seien unnötig. Das stimmte. Selbst wenn ich mich noch so sehr ihretwegen schämte, verstand ich doch, daß sie irgendwie vom anderen Ufer des Alkoholflusses aus versuchten, gut zu mir zu sein, meine Mutter in ihrer dümmlichen, wimpernklimpernden Art, mein Vater so träge und steif, wie er eben war. Womöglich hatte man ihm irgendwann in seiner sehr frühen Jugend eine Novocain-Injektion verpaßt, die ein Leben lang betäubend wirkte. Dann sagte er, wir sollten weitermachen wie bisher; über die Adoption müßten wir nie wieder reden. Nur Mr. Hibble sei eingeweiht; niemand wisse, wer meine anderen Eltern – das Wort blieb ihm etwas in der Kehle stecken – wären, und deine Mutter, sagte er, mit dem Finger auf sie zeigend, damit ich nicht in Verwirrung geriet, deine Mutter hatte dafür gesorgt, daß alle, einschließlich der Familie, hinters Licht geführt wurden. Wieviel davon sie selbst glaubten, wußte ich nicht. Der alte Mr. Standish, mein Wohltäter, hatte alle Drähte gezogen. Wo waren die Grenzen seiner Diskretion? Oder der Diskretion meiner wirklichen Eltern, falls sie informiert wurden oder herausgefunden hatten, wem sie ihr Kind aushändigten?

Mr. Hibbles Enthüllungen hatten mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Aber auf den ersten Schock folgte eine verdächtige Hochstimmung: Ich sagte mir, das Wissen, daß keine biologische Verbindung zwischen mir und diesen beiden bestand, sei ein Grund zur Freude. Ich ließ mich auf wilde Spekulationen ein, wessen Kind ich wirklich sein mochte. Es mußte jemand sein, für den der alte Mr. Standish sich verantwortlich gefühlt hatte. Wer das sein sollte, konnte ich mir nicht ausmalen; meine Kenntnis der Familie reichte nicht weit genug, aber es gab verschiedene denkbare Gründe für die Ähnlichkeit zwischen mir und meinem Vater und den anderen Standishs: meinem Großvater Standish, der starb, als ich noch klein war, dessen Fotos ich aber studiert hatte; meinem Wohltäter Horace Standish, der ein paar Jahre später gestorben war; seinem Sohn Jack, der die Bank leitete; und schließlich dessen einzigem Sohn, meinem Vetter George, der in meinem Jahrgang am Harvard College war. Außerdem konnte in dieser Ähnlichkeit eine zusätzliche Erklärung dafür liegen, daß man in der Bank durch dick und dünn zu meinem Vater gehalten hatte; allerdings gebot das schon der kategorische Standish-Imperativ: Kein Standish wird je ein Mitglied seiner Familie feuern oder öffentlich demütigen. Die nächste Frage war: Wer wußte Bescheid, und wieviel wußte man? Je mehr ich nachdachte, um so weniger konnte ich glauben, daß es kein Gerede über meine Herkunft gegeben hatte. Innerhalb der Familie mußte jemand etwas gesagt haben, denn, so spekulierte ich ohne Grundlage, der Trust konnte nicht ganz verborgen geblieben sein, als der alte Mr. Standish gestorben war und die Erben sein Testament lasen. Schlimmer noch: Ich hatte gehört, wie Mr. Hibble im Umkleideraum des Clubs Fälle erörterte, an denen er arbeitete. Er war kein unbedingt verschwiegener Mann. Niemand hatte mir je angedeutet, daß ich eine Art Findelkind sei. Das konnte allerdings am durchweg guten Benehmen der Familie Standish und der meisten unserer Bekannten liegen. Ich wußte nicht recht, wie wichtig es mir war. In dem Jahr hatten wir in meinem Englisch-Kurs für Fortgeschrittene den Sturm und auch König Lear gelesen. Verworrene Vorstellungen vom Segen und Fluch der Natur im Gegensatz zur Umwelt und von unehelicher Geburt schwirrten mir im Kopf herum, ohne daß ich zu einer Lösung kam. Zeitweilig romantisierte ich meine neue Lage. Aber vor allem wünschte ich mir Distanz und Anonymität. Ich fand heraus, daß es nicht zu spät war, mich für einen Fremdsprachenkurs anzumelden, dessen Teilnehmer den Sommer über nach Frankreich geschickt wurden. Meine Eltern hatten keine Einwände, auch Mr. Hibble stimmte zu, als ich ihn anrief und fragte, ob der Trust für die Finanzierung aufkommen werde. Anschließend, sobald ich im College sein würde, wollte ich mich bemühen, die Berkshire-Furien von mir fernzuhalten.

III

Regelmäßig dreimal pro Woche telefonierte Henry mit seiner Mutter. Er mußte anrufen und ein R-Gespräch anmelden. Wenn sie ungeduldig wurde, griff sie selbst zum Hörer. All das wußte ich, weil ich fast immer in meinem Zimmer arbeitete, lieber als in der Bibliothek, und folglich, wenn das Radio im Wohnzimmer nicht alles übertönte, notgedrungen Gesprächsfetzen ihrer Unterhaltung mit anhörte. Einzelheiten erfuhr ich später von Mrs. White im Zuge vieler Plaudereien, die sich ergaben, wenn ich das Gespräch annahm und sagen mußte, daß Henry nicht da war. Am Ende erzählte mir Henry selbst, was es damit auf sich hatte.

Den Grund für seine Abwesenheit gab ich je nach Tageszeit an: Er ist in der Bibliothek, oder: er ist früh zum Abendessen gegangen, denn ich hatte gemerkt, daß dies die Auskünfte waren, die sie mit der größten Wahrscheinlichkeit einigermaßen gutwillig akzeptierte. Wenn ich Pech hatte und zugeben mußte, daß ich nicht wußte, wo er steckte, oder daß er ins Kino gegangen oder mit einem Mädchen verabredet war, dann nahm sie mich ins Verhör. Einmal, im Lauf einer besonders peinlichen Befragung, hörte ich mich sagen, ich sei Henrys Zimmergenosse, nicht sein Hüter. Zu meiner Überraschung wirkte diese Grobheit, die ich sofort bereute, nicht als Bremse. Vielleicht verstand sie die Anspielung nicht. Wenn ich aber aufpaßte und die richtige Antwort gab, folgte die Unterhaltung einem zwar langweiligen, aber nicht bedrohlichen Muster. Sie erzählte mir dann jedesmal, wie viele Stunden oder Tage vergangen seien, seit sie zum letzen Mal von ihrem einzigen Sohn gehört habe, sie flehte mich an, Henry daran zu erinnern, daß er noch immer Eltern habe, die ihn liebten und sich Sorgen um ihn machten. Sie beendete das Gespräch meist mit einer Wendung wie: »Sterben Ihre Eltern nicht vor Sorge, wenn Sie nicht anrufen?« Ich gab nie zu, daß das Gegenteil der Fall war: daß meine Mutter und mein Vater – angenommen, ich erreichte sie an einem Abend zu Hause, an dem sie nüchtern waren – allenfalls in Panik gerieten, wenn sie meine Stimme hörten und ich nicht sofort klarmachte, daß ich nicht anrief, um eine Katastrophe zu melden. Wenn ich dann erklärt hätte, daß ich nur Hallo sagen wollte, würden sie entweder ungläubig lachen oder mir raten, in die Krankenstation zu gehen und mir Fieber messen zu lassen.

Mrs. Whites gelegentliche Versuche, sich mädchenhaft zu geben – sie machte es ganz anders als meine Mutter –, fand ich bezaubernd, vielleicht wegen gewisser Eigenarten ihrer Aussprache und Diktion, vielleicht auch, weil sie voraussetzte, daß wir mit vereinten Kräften um die Fortdauer der Zuneigung ihres Sohnes kämpften. Sie flirtete mit mir, und nach und nach wurden wir Telefonfreunde. Sie fragte nach meinen Eltern und meinem Studium, manchmal erkundigte sie sich auch nach Archie, mit dem sie wenig Kontakt hatte, weil er sich selten im Zimmer aufhielt, wenn sie anrief, und, falls er zufällig einmal da war, kaum je den Hörer abnahm. Er behauptete, er könne sich nicht merken, was er ausrichten solle. Seine Eltern riefen nie an, genau wie meine, und andere Anrufe ließ er lieber von mir filtern. Manchmal flocht Mrs. White ein kleines Kompliment ein. Zum Beispiel sagte sie, es sei wunderbar, daß ich die ganze Zeit am Schreibtisch säße und meine Aufgaben machte. Sie redete mich mit Herr Mitbewohner an und blieb dabei, obwohl ich sie bat, mich beim Vornamen zu nennen.

Ich fragte mich, was Henry wohl von dem spärlichen Tröpfeln der Kommunikation zwischen seinen Mitbewohnern und deren Eltern hielt. Daß er bemerkt hatte, wie sehr sich unsere Gewohnheiten von den seinen unterschieden, stand fest; er merkte alles, davor hatte er mich gewarnt. Aber hielt er es für einen Mangel? Verstand er es als Zeichen dafür, daß unsere Eltern wenig Interesse an uns hatten oder daß wir herzlos unsere Kindespflicht versäumten? Offene Mißbilligung erwartete ich nicht von ihm, dazu war er zu höflich. Eines Abends nach einem Kinobesuch kam das Thema jedoch zur Sprache. Er fragte ganz direkt, ob ich meine Eltern anriefe, wenn er nicht im Zimmer sei, oder von einem öffentlichen Telefon aus. Wenn nicht, würde man denken, meine Eltern und ich hätten kaum Kontakt. Ob es mit Archie und seinen Eltern genauso sei, habe er sich auch gefragt. Die komplizierten Probleme meiner Familie waren nicht zu ändern, und ich war nicht bereit, sie Henry auseinanderzusetzen. Also redete ich mich mit einer halben Wahrheit heraus. Ich sagte, ich sei als Dreizehnjähriger ins Internat geschickt worden, und meine Eltern und ich hätten uns wahrscheinlich allmählich daran gewöhnt, daß ich fern von zu Hause war. Sie machten sich keine Sorgen um mich.

Er unterbrach: Ich war nie von meiner Mutter getrennt, bis ich hierher gekommen bin.

Ich sagte: Ich hab’s anders getroffen als du, das ist alles. Ich rufe auch zu Hause an, aber nur, wenn es etwas Wichtiges gibt.

Aber das heißt, daß du die Verbindung mit deinen Eltern verloren hast.

Ich erwiderte, daß ich ihnen von Zeit zu Zeit schrieb und daß meine Mutter mir ziemlich oft einen Brief mit Neuigkeiten aus den Berkshires schickte. Henry sagte, ja, er habe die lavendelblauen Umschläge mit meiner Adresse in der Schulmädchenschrift meiner Mutter und ihrem Absender, immer in der linken oberen Ecke, gesehen. Und ich telefoniere auch, fuhr ich fort, zu ihrem Geburtstag, letzte Woche erst, habe ich sie angerufen.

Am nächsten Tag fing er übergangslos wieder von den Beziehungen zwischen Eltern und Söhnen an: Die seinen erwarteten zweimal pro Woche einen Brief von ihm und jeden zweiten Tag einen Anruf. Ich gab zu, daß seine Mutter mir die Sache mit den Anrufen schon erzählt hatte. Das schien er zu überhören.

Wenn ich nicht anrufe oder den Brief nicht schreibe, fuhr er fort, dann macht sie eine Szene. Sie schreit mich an, sie schreit meinen Vater an, weil sie behauptet, daß er nicht streng genug mit mir ist. Dann bekommt er Schmerzen in der Brust und sagt, sie wird ihn ins Grab bringen; dann ruft sie mich an und macht wieder eine Szene, weil ich meinen Vater krank mache, Unfrieden zwischen ihnen stifte und ihre Ehe zerstöre. Die Angina pectoris ist das Schlimmste. Ich will nicht schuld an einem Herzinfarkt sein. Also schreibe ich und telefoniere, ganz egal ob mir danach ist, egal, ob ich was zu sagen habe oder nicht.

Das sind schwierige Unterhaltungen, fügte er nach einer Pause hinzu, sie verleiden dir das Telefonieren.

Ich konnte ihm nicht widersprechen, da ich als Lauscher wider Willen viel von diesen Telefonaten mitangehört hatte. In einem Anfall von ungeschminkter Ehrlichkeit sagte ich ihm, manchmal klängen sie wie Zank. Henry war nicht gekränkt; er lachte.

Was hilft’s, sagte er, ich muß es tun.

Ich überlegte, ob die drei Whites sich vielleicht gegenseitig in Angst versetzten, und fragte ihn, ob er sich Sorgen um seine Eltern mache, wenn er mit einem dieser Anrufe unpünktlich sei.

Nein, erwiderte er, eigentlich nicht, obwohl ich es vielleicht sollte, wegen meines Vaters. Aber das Problem ist meine Mutter. Mein Vater denkt unter der Woche wahrscheinlich gar nicht an mich oder höchstens, wenn ich als Fahrer oder Laufbursche erwünscht wäre. Und natürlich, wenn meine Mutter meinetwegen eine Szene macht und ihm wieder mal erklärt, daß sie nach dem Krieg nur bei ihm geblieben ist, weil sie mich nicht verlieren wollte, und daß sie mich jetzt trotzdem verloren hat und daß selbst das allein seine Schuld ist.

Er lachte wieder. Ich wette, mein Vater wünscht sich: Hätte ich ihr doch gesagt, sie soll verschwinden und ihren kostbaren Sohn mitnehmen! Nein, das ist unfair. Ich weiß, er liebt mich auf seine Art, was immer das heißt, doch er hat andere Dinge im Kopf. Sein Geschäft und das Geld und wie er Ärger mit meiner Mutter vermeiden kann. Aber er regt sich nicht über mich auf. Das ist ihr Spezialgebiet. Sie glaubt wohl im Ernst, daß man Liebe nur auf eine Weise zeigen kann: indem man sich Katastrophen ausmalt. Sie wird sagen: Ich sehe es schon vor mir: Ein Bus hat dich überfahren, du bist die Treppe runtergefallen und hast dir das Genick gebrochen, dein Blinddarm ist geplatzt, und deine Schmerzen sind nicht zum Aushalten. Ich sehe es schon vor mir, wie sie dich wegtragen … Für mich ist das keine Liebe; es ist eine katastrophale Mutation, die übelste Form von Selbstsucht.

Daß meine Mutter sich immer Sorgen macht, muß man ganz nüchtern sehen, fuhr er fort, von meinem Schweigen unbeirrt. Zum Teil hat sie wirklich Angst um mich, aber meistens will sie nur, daß ich nach ihrer Pfeife tanze. Meinen Vater manipuliert sie mit derselben Technik, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Wenn ich zum Beispiel nicht anrufe, weil ich es vergessen oder nicht über mich gebracht habe – was vorkommt –, dann kann sie mir die Schuld an allem zuschieben, was bei ihnen in Brooklyn schiefgegangen ist. Sie konnte kein Essen kochen, weil sie sich solche Sorgen gemacht hat; sie hat die Rosenthal-Schale auf den Küchenfußboden fallen lassen, weil sie so nervös war; mein Vater mußte sein Nitroglyzerin einnehmen, weil er sofort gemerkt hatte, in welchem Zustand sie war; sie hat ihre ganze Zeit und Kraft für mich gebraucht, deshalb hat sie sich keine Freunde suchen können. Das kann endlos so weitergehen. Meine Mutter sagt, sie macht sich Sorgen um seine Angina pectoris und sein schwaches Herz, aber so groß sind die Sorgen nicht, daß sie ihn schonen würde. Irgendwie bin ich anders als die beiden: Ich mache mir Sorgen, wenn ich ein Problem habe. Dann nehme ich es in Angriff. Meine Mutter behauptet, ich sei herzlos. Manchmal, wenn ich sie ärgern will, sage ich, sie hätten recht, ich habe kein Herz und deshalb keine Schmerzen in der Brust. Dann solltest du sie hören. Die erste Strafmaßnahme ist, daß sie mir den Geldhahn zudrehen. Damit das leichter geht, schicken sie die Überweisungen wöchentlich, obwohl der vorgeschobene Grund dafür ist, daß sie mir mein Geld nicht im voraus, zum Beispiel monatlich, überweisen, weil ich es ja in zwei Tagen durchbringen würde. Natürlich setzt irgendwann nach einem großen Krach mein schlechtes Gewissen ein. Ich möchte es wiedergutmachen. Das bedeutet, ich muß mich entschuldigen, mindestens zehnmal in immer anderen Worten. Wenn das Vergehen groß ist, muß ich schriftlich um Verzeihung bitten. Daß man den verlorenen Sohn ohne weiteres wieder aufnimmt, gibt’s nicht; erst muß er in Sack und Asche gehen.

Henry lachte wieder einmal über seinen eigenen Witz; dazu neigte er, was mich irritierte. Jedenfalls mißfielen mir seine Tiraden, und ich fragte mich, wieviel von dieser letzten auf seine Dostojewski-Lektüre zurückging. Wir lasen gerade beide Die Brüder Karamasow, und Henry war überzeugt, in dem Buch die Antworten auf alle großen Fragen zu finden, die ihn umtrieben.

Meine Mutter hatte mir ein Sheffield-Teeservice samt Tassen und Untertassen geschenkt, das sie ein paar Jahre zuvor von ihrer Tante Kitty geerbt hatte. Die elektrische Kochplatte und den Wasserkessel hatte ich mir selbst gekauft. Als der Tee fertig war, tranken wir wortlos, bis ich das Schweigen mit der Frage unterbrach, warum er, wenn das Telefonieren eine solche Qual sei, seinen Eltern nicht erklärte, sie könnten eine Menge Kosten sparen, indem sie die Anrufe auf einen pro Woche beschränkten.

Er schüttelte den Kopf. Das würde nichts nützen, sagte er. Mein Vater ist ein Pfennigfuchser, aber meine Mutter muß sich an mich klammern, als ob es um ihr Leben ginge, also betrachten sie die Kosten nur als eine zusätzliche Folge davon, daß sie mir erlaubt haben, in Harvard zu studieren. Verstehst du, sie sitzen in der Falle. Sie sehen ein, daß sie wirklich nicht von mir verlangen konnten, ein Vollstipendium für dieses College abzulehnen. Außerdem ist es etwas, womit sie angeben können. Aber sie können sich nicht damit abfinden, daß ich von zu Hause weggegangen bin. Das sehen sie als eine Übeltat.

Er nahm sich noch eine Tasse Tee und fragte dann: Haben deine Eltern widersprochen, als du sagtest, du wolltest an einem College weit weg von zu Hause studieren?

Ich sagte, nein, sie hätten praktisch keine Wahl gehabt. Wenn ich mir eins der beiden Colleges in relativer Nähe von Lenox ausgesucht hätte, wäre ich immer noch weggegangen.

Er nickte. Was Archie ihm erklärt habe, sei ziemlich das gleiche; nur sei Archie ohnehin ein Sonderfall, da die Palmers auf einem Militärstützpunkt wohnten und jederzeit mit einer Versetzung rechnen mußten. Übrigens: daß meine Eltern es so schwer nehmen, sagte er, liegt daran, daß sie denken, Harvard sei für mich vor allem eine willkommene Gelegenheit gewesen, sie zu verlassen. Wenn ich zum Beispiel an die Columbia Uni gegangen wäre, die in der Stadt ist und einen sehr guten Ruf hat, hätte ich vielleicht zu Hause wohnen können. Selbst wenn ich in einem Studentenheim gewohnt hätte, wäre es mir möglich gewesen, jedes Wochenende mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. Sie hätten mich an der Kette gehabt. Von Harvard aus kann ich unmöglich jedes Wochenende nach Brooklyn kommen. Ergo habe ich sie zurückgestoßen und muß büßen. Aber was büßen und wie denn? Die Frage habe ich nicht gestellt, aber ich weiß, was sie wollen: Gehorsam. Gehorsam in jeder anderen Hinsicht. Darum geht es bei diesem Telefonterror und erst recht bei dem anderen Zeug, von dem du nichts ahnst.

Ich konnte nicht anders; ich setzte Henry auseinander, daß er mit seinem Jammern ein Hollywood-Klischee bediente. Der einzige Sohn packt seine Sachen und macht sich auf zur Staatsuniversität, die sechshundert Kilometer weit entfernt ist, das Mädchen von nebenan wird hysterisch, die Mutter weint, gibt sich aber alle Mühe, tapfer zu sein, der Vater macht ein ernstes Gesicht und wischt sich heimlich eine Träne ab. Dann wird der Junge Kapitän der Footballmannschaft. Nach dem Examen heiratet er das Mädchen, alle Verbindungsbrüder kommen zur Hochzeit, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Deine Geschichte ist nur eine Variante des Grundmusters, sonst nichts, sagte ich, außer daß du keinen langen Paß spielen kannst. Oder überhaupt irgendeinen Paß!

Klar, sagte Henry, alles sehr komisch, aber wir sind keine amerikanische Familie und haben keinen Sinn für amerikanischen Humor. Eins kann ich dir sagen: Meine Mutter mag noch so oft ins Kino gehen und über Klischees von dieser Sorte lachen, aber sie würde nie akzeptieren, daß ihr so etwas unterlaufen könnte. Nicht nach allem, was sie durchgemacht hat, nach allem, was sie gesehen, nach allem, was sie verloren hat. Diese netten Frauen in den Filmen haben noch andere Kinder und eine Familie – du weißt schon, Eltern, Schwestern und Brüder – und Freunde, alte Freunde, mit denen sie zusammensein und reden können. Oder sie haben Jobs. Meine Mutter hat nichts dergleichen. Von ihrer Familie sind alle außer meinem Vater und mir tot. Alle umgebracht. Einen Job hat sie nicht, weil sie nichts kann, sagt sie. Niemand hat je damit gerechnet, daß sie eine Arbeit annehmen wollte, also hat sie keine Ausbildung. Übrigens nehme ich ihr das nicht ab. Wenn sie wirklich lernen wollte, etwas Nützliches zu tun, könnte sie es auch jetzt noch, aber das würde bedeuten, einen Fehlschlag zu riskieren, und dieses Risiko wird sie nicht eingehen. Mein Vater arbeitet den ganzen Tag lang hart, und er ist nicht gerade ein Ausbund von Heiterkeit. Die Folge: Ich bin das einzige Hobby meiner Mutter. Ich bin auch ein willkommener Grund zum Gezänk mit meinem Vater: Deine Schuld, daß er so geworden ist; nein, deine, das hat er von dir gelernt, nein, das kommt von den Jahren, die er nur mit dir zusammen war, nein, tut mir leid, er ist das Abbild deines Vaters, und immer so weiter. Sicher, sie können sich auch über mich streiten, wenn ich in Cambridge bin, aber ohne mich haben sie kein Publikum. Und vergiß nicht, wenn ich die Beherrschung verliere, wird der Krach spannend wie ein Weltmeisterschaftskampf. Als er dann noch hinzufügte, versteh nicht falsch, was ich gesagt habe, sie lieben mich, und ich liebe sie − konnte ich ihm nicht mehr folgen.

Ich unterdrückte ein Lächeln und sagte ihm, daß das ganz sicher richtig sei.

Wieder schwiegen wir längere Zeit, und danach sagte er: Schau mal, das Elternhaus verlassen, heißt das nicht, den Gott der Väter verlassen? Meine Mutter hat sich auf die metaphorische Bedeutung meiner Tat kapriziert. Brillant, oder? Unbegrenzt lange können sie mir nicht vorwerfen, daß ich sie verlassen habe, um aufs beste College im Land zu gehen, das weiß sogar sie, und deshalb hat sie meine Übeltat, das Verlassen der Eltern, auf eine höhere Ebene geschoben. Mein Vater gibt ihr recht. Jetzt sagen sie, in Wahrheit hätte ich mein Elternhaus aufgegeben, um kein Jude mehr sein zu müssen oder um jedenfalls als Nichtjude durchzugehen; und das kann ich nicht schaffen, wenn sie in der Nähe sind. Damit mir diese Verleugnung meiner jüdischen Herkunft gelingt, müsse ich also meine Eltern aus meinem Leben ausschließen. Eine erschreckende Interpretation, aber sie halten sie wirklich für richtig. − Er sah, daß mir die Augen vor Müdigkeit zufielen, und sagte: Es tut mir leid, daß ich dir mit meinem Gerede ein Ohr abgekaut habe. Ehrlich gesagt, habe ich mit dem Thema nur angefangen, um dir erzählen zu können, daß ich dich beneide. Ich wünschte, meine Eltern würden mich in Ruhe lassen. Warum können sie nicht sein wie deine Eltern? Was wäre daran verkehrt? Dir hat es doch nicht geschadet.

Ich gab ihm keine Antwort auf seine Frage. Ich begriff, daß meine Eltern, selbst wenn man ihre Eigenarten beiseite ließ, in seinen Augen eine fremde Spezies sein mußten. Genauso wie mein Verständnis seiner Lebensumstände anscheinend sehr begrenzt war. Es hat keine Eile, dachte ich, er wird noch viel Zeit haben, mich und meinesgleichen kennenzulernen. Besonders, wenn unsere Freundschaft bestehen bleibt. Allmählich meinte ich, dahin könne es kommen. Also sagte ich gute Nacht, und wir gingen schlafen.

Die Frage, ob Henry Jude sei, hatten Archie und ich mehr als einmal erörtert – ohne Ergebnis. Archie meinte wie ich, die Tatsache, daß die Familie während des Krieges in Polen gewesen sei, spreche dagegen. Wir glaubten beide, daß die Deutschen alle polnischen Juden umgebracht hatten. Der Name White gab keinen Anhaltspunkt, er mußte geändert sein. Aber wie hatte er vorher gelautet? Wir waren uns auch einig, daß Henry nicht wie ein Jude aussah. Andererseits kam er aus Brooklyn, und da wohnten alle New Yorker