Eichholz & Söhne - Bruno Hampel - E-Book

Eichholz & Söhne E-Book

Bruno Hampel

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In diesem heiteren Unterhaltungsroman geht es um die Probleme einer Familie. Der Großvater, ein echter Patriarch, träumt noch von den guten alten Zeiten, in denen die Großfamilie die Zelle des Lebens war. Er leitet den Familienbetrieb, eine Kunsttischlerei, und denkt nicht daran, den beiden Söhnen von sehr unterschiedlichem Temperament den Betrieb zu übergeben. So kommt es zu einem unaufhörlichen Kleinkrieg. Der eigensinnige Patriarch Robert Eichholz, seine beiden ungeduldigen Söhne, deren reizvoller »weiblicher Anhang«, die lebenskluge Haushälterin Tante Charlotte, der unberechenbare Enkelsohn Martin und nicht zuletzt dessen zweitbester Freund, der rotweißgefleckte, freiheitsdurstige Familienkater Hannibal – sie alle sorgen dafür, daß in dem alten Landhaus am Stadtrand mit der angebauten Werkstatt und dem romantischen Obstgarten niemals eine Ruhepause, geschweige denn Langeweile entsteht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 377

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bruno Hampel

Eichholz & Söhne

Ein humorvoller Familienroman

FISCHER E-Books

Inhalt

1 Wenn Regenwürmer schreien könnten2 Vater fängt einen fetten Fisch3 Opa verbrennt lieber sein Werkzeug4 Zwischen Sandra und Belinda5 Der Patriarch hat Geburtstag6 Verwundete brauchen Hilfe7 Ein Feuerchen wie gerufen8 Der Zeitzünder tickt9 Eine Überraschung für die Frau Gemahlin10 Dieser schreckliche Montag11 Grand Hand mit Kontra und Re12 Da ist der Wurm drin13 Mit neuen Kräften14 Himmelfahrt mit Hexenschuß15 Letzte Rettung Tante Lotte16 Hauskrawall um Hannibal17 Ein Silberling von Judas18 Alles nur für die Karriere19 Hundert russische Ikonen20 Eine Rose aus Tölz21 Zimmertausch in London22 Sturzflug mit der Bienenkönigin23 Ein Handel mit dem lieben Gott24 Gegenwind vorm Ehehafen25 Landung auf der Insel Mahagoni

1 Wenn Regenwürmer schreien könnten

Als der Nachbar am Zaun sein Gewehr durchlud und mit wilder Stimme Drohungen ausstieß, saß Martin im alten Apfelbaum auf seiner Insel Mahagoni, ein dickes Buch im Schoß.

Das Buch hieß »Kampf um Troja« und war schon sehr alt und zerlesen. Es hatte tolle Bilder mit tausend Einzelheiten. Opa hatte es ihm gegeben: »Damit du endlich mal von deinen dämlichen Comics wegkommst, Junge!«

»Ich knall dich ab, du Miststück!« schrie der Nachbar. Und wahrhaftig, er schob den Lauf seines Gewehrs durch den Maschendraht, preßte den Kolben gegen die rechte Schulter und zielte.

Eine heiße Welle von Angst durchflutete Martin. Er ließ das Troja-Buch fallen, kletterte wie ein Eichkater vom Baum herunter, rannte zum Zaun hinüber und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Gewehrmündung.

»Sie dürfen ihm nichts tun, Herr Möller!«

»Geh weg, du rote Laus!«

»Ich sag’s meinem Opa!« rief Martin zurück, doppelt empört wegen der kränkenden Anspielung auf seinen rotblonden Haarschopf.

»Dein Opa kann mich mal!«

»Bitte nicht, Herr Möller! Hannibal kann doch nichts dafür!«

»Er ist ein gottverdammter Vogelmörder! Ich knall ihn ab! Geh zur Seite – ich zähle bis drei!«

»Nein!« schrie Martin. »Und wenn Sie bis hundert zählen!« Todesmutig ging er noch zwei Schritte näher an die Mündung heran. Wenn seine Mutter ihn jetzt gesehen hätte, wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen.

Das Streitobjekt hockte dreißig Schritte entfernt unter einem Johannisbeerstrauch. Sein rotgeschecktes Fell leuchtete in der Maisonne. Der hellgraue Vogel in seiner Schnauze bewegte die Flügel und stieß klägliche Laute aus, die den Zorn des Nachbarn aufs neue entfachten.

»Mach Platz, verdammter Lümmel!«

»Nein, Herr Möller, ich bleib stehen!«

Von der Werkstatt kam Opa herübergelaufen. Bei den Tomatenstöcken geriet er ins Stolpern und wäre beinahe der Länge nach hingefallen. Seine alte Mütze und seine Schreinerschürze waren voller Sägemehl.

»Was ist denn hier wieder los? Sind Sie verrückt geworden, Möller? Tun Sie das Ding weg!«

»Ich hab Sie oft genug gewarnt, Eichholz! Wenn ich das Miststück mal auf frischer Tat in meinem Garten erwische, dann knallt’s, hab ich gesagt!«

»Er sitzt nicht in Ihrem Garten, sondern in meinem!«

»Er hat den Vogel bei mir gefangen! Direkt an der Regentonne! Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen! Danach ist er rüber zu Ihnen! Das Maß ist voll! Jetzt knall ich ihn ab!«

»Sie alter Narr!« sagte Opa, griff ruhig nach dem Gewehrlauf und bog ihn hoch zum Himmel. »Ein pensionierter Forstmeister! Ausgerechnet Sie wollen die Naturgesetze ändern?«

»Die Naturgesetze sind mir schnuppe! Ich dulde nicht, daß Ihr Dreckskater meine Singvögel frißt!«

Opa schwieg eine Weile. Dann fragte er mit einem listigen Unterton: »Wo waren Sie denn gestern mittag?«

»Sparen Sie sich Ihre Ablenkungsmanöver!«

»Ich weiß«, beharrte Opa, »wo Sie gestern mittag waren! Ich hab Sie gesehen! Sie waren im Wienerwald und haben ein gegrilltes Hendl gefressen!«

»Ich fresse nicht! Bin immer noch ein Mensch!«

»Pardon – verspeist! Unser Hannibal speist eben auch mal gern ein Stück Geflügel! Jeden Tag Mäuse, das würde Ihnen doch auch nicht schmecken!«

»Wollen Sie mich mit Ihrem Kater vergleichen?«

»Warum denn nicht?«

»Weil ich ein Mensch bin!«

»Die Krone der Schöpfung!«

»Bin kein Vieh! Verstanden?«

»Und ich bin nicht taub!«

Während die beiden alten Männer am Zaun diskutierten und allmählich ruhiger wurden, versuchte Martin eine Überrumpelung, die ihm schon mehrmals gelungen war. In einem großen Bogen schlich er sich von rückwärts an den Johannisbeerstrauch heran, unter dem Hannibal mit seiner flatternden Beute saß.

Die letzten drei Meter legte er, lautlos kriechend und dabei an Winnetou denkend, auf dem Bauch zurück.

Das Manöver glückte. Als Hannibal plötzlich die feste Jungenhand im Nacken spürte, ließ er vor Schreck die Beute los und fuhr herum. Er erkannte seinen Freund Martin, der ihn schnell zu sich heranzog, an seine Brust preßte und dabei auf die Füße sprang.

Der Vogel war unterdessen zum Zaun geflattert und dort hängengeblieben. Opa pflückte ihn behutsam aus den Maschen. Er hielt ihn in der Höhlung beider Hände, hauchte in seine Gefieder und untersuchte ihn.

Der Nachbar kam näher.

»Unverletzt«, stellte Opa sachlich fest. »Eine Wildtaube. Allerdings – vergreist und krank. Sehen Sie den kahlen Kopf, den nackten Rücken? Sehen Sie die verkrüppelten Krallen?«

Der Nachbar schwieg verdrossen.

Martin ließ Hannibal laufen und kam zu den beiden alten Männern an den Zaun.

»Wenn eine Katze«, fuhr Opa milde fort, »tatsächlich mal einen Vogel erwischt, dann ist er fast immer alt oder krank. Ich wundere mich, daß Sie als ehemaliger Forstmeister …«

Der Nachbar fiel Opa giftig ins Wort: »Ich verzichte auf Ihren Naturkundeunterricht!«

»Soll ich Ihnen was sagen, Möller? Bei Ihnen ist das nichts anderes als der uralte Haß, den alle Jäger auf Katzen haben! Ihr seid eifersüchtig auf die Konkurrenz! Ihr seid neidisch, weil eine Katze genau dasselbe tut wie ihr, nur braucht sie dazu kein Pulver und kein Blei!«

Martin blickte bewundernd zu seinem Großvater auf. Wie er immer die richtigen Worte fand! Wie er aus den richtigen Gedanken die richtigen Sätze zusammenbaute – genau wie seine alten englischen Möbel! Da stand nun der Nachbar mit seinem Gewehr und wußte nicht mehr, was er antworten sollte. Oder doch?

»Ich kann nun mal«, sagte Möller flau, »diese jämmerlichen Schreie nicht hören. Ein Jäger ist immer bemüht, sein Wild mit dem ersten Schuß zu töten. Katzen spielen mit ihrer Beute. Ich krieg zuviel, wenn so ein unschuldiger Vogel schreit und schreit!«

Opa schwieg. Er hob die Hände mit der Wildtaube hoch über seinen Kopf und spreizte die Finger. Sie flog über den Zaun und dann in einem flachen Bogen zur Regentonne des Nachbarn hinüber. Sie landete schwerfällig auf dem Bauch, fiel zur Seite, rappelte sich wieder auf und verschwand hinkend hinter dem Geräteschuppen.

Martin wartete gespannt auf Opas Antwort. Was der Nachbar da zuletzt gesagt hatte, war leider nicht wegzuleugnen. Auch er hatte einen Rochus auf seinen Freund Hannibal, sobald der einen Vogel fing. Martin hatte alle Tiere gern, auch die Vögel. Im Winter fütterte er sie mit Getreidekugeln, die er selbst aus Talg und Mais und Reis und Sonnenblumenkernen herstellte und im Garten an Zweigen befestigte. Was würde Opa jetzt sagen? Warum schwieg er immer noch?

»Da drüben!« sagte Opa plötzlich und streckte die Hand nach rechts, wo der Nachbar seinen Zierrasen hatte, den er wöchentlich zweimal mähte und wässerte. »Sehen Sie genau hin, Möller!«

In der Mitte des Rasens bemühte sich eine kräftige Schwarzdrosselmutter mit Fleiß und Leidenschaft, das Abendessen für ihre Brut aus der Erde zu reißen. Ihr glänzendes Gefieder mit der hellgestreiften Kehle war gesträubt, ihre Knopfaugen funkelten, ihr harter, gelber Schnabel drosch immer wieder in den gespannten Leib des Regenwurms hinein, den sie bereits zu zwei Dritteln aus seinem Versteck herausgezerrt hatte. Während sie noch arbeitete, landeten rechts und links von ihr zwei Artgenossen, die ebenfalls rasch fündig wurden. Erbarmungslos zerhackten sie ihre stumme Beute.

»Tja, Möller«, sagte Opa, »so ist das auf dieser Welt! Wenn Regenwürmer schreien könnten … stellen Sie sich den Lärm in Ihrem Garten vor!«

Damit war das Streitgespräch beendet.

Opa tippte an seinen Mützenschirm, gab Martin einen Klaps auf die Schulter und ging zurück zur Werkstatt.

Der Nachbar schüttelte den Kopf, wandte sich wortlos ab und trottete mit seinem Gewehr zum Gartenhaus hinüber.

Martin freute sich, daß Opa doch wieder das letzte Wort behalten hatte. Er ging zum alten Apfelbaum zurück, kletterte hinauf und schwang sich auf die hölzerne Plattform, die er seine Insel Mahagoni nannte. Sie war tatsächlich aus echtem Mahagoniholz gebaut, Abfälle vom gebräuchlichsten Werkstoff, den die Firma Eichholz und Söhne verarbeitete.

Auf der Plattform stand eine alte Autositzbank. Martin streckte sich lang aus, nahm das Troja-Buch auf den Bauch und wollte wissen, wie das mit dem hölzernen Pferd vor der Stadtmauer weiterging. Dieser Odysseus imponierte ihm sehr. Er war tapfer, stark und schlau. Wußte immer einen Rat und eine Antwort. Genau wie Opa …

2 Vater fängt einen fetten Fisch

In der Nacht kam ein Gewitter. Genauer gesagt, es brach herein ohne Vorwarnung. Nur eine halbe Sekunde zwischen dem ersten Blitz und seinem Donnerschlag. Da wurde selbst das Murmeltier Martin für Augenblicke aus dem Schlaf gerissen.

Der zweite Blitz tauchte die Dachkammer in grelles Licht. An der Wand das Poster von Beckenbauer, Lebensgröße. Elegant und schwerelos jongliert er den Ball, aber dann trifft ihn die Stiefelspitze der bösen Sieben … Schrei der Empörung von den Rängen, schriller Pfiff des Schiedsrichters, gelbe Karte energisch geschüttelt … Beckenbauer schon wieder auf den Beinen, will den Freistoß selber schießen, legt sich den Ball zurecht, visiert den feindlichen Torraum an …

Am Spielfeldrand Martin, einer der vielbeneideten Balljungen im roten Trainingsanzug, jetzt oder nie, Baron von Münchhausen … Martin rennt aufs Feld, der Linienrichter will ihn festhalten, Martin reißt sich los, setzt sich auf den Ball, zwinkert Beckenbauer zu, der versteht ihn sofort, zwinkert zurück und lächelt, nimmt doppelten Anlauf und drischt den Ball, nein, nicht aufs Tor, hoch hinauf zur Anzeigentafel …

Der Ball steigt und steigt, Martin beugt sich vor und reitet, Winnetous Abschied, nein, nein, Baron von Münchhausen, der Ritt auf der Kanonenkugel, da unten die grüne Isar, das Deutsche Museum, Tierpark Hellabrunn, hallo Grünwald, Grüß Gott Starnberger See, Sturzflug auf die Roseninsel, Robinson am Lagerfeuer … Martin beißt die Zähne zusammen und versucht zu steuern, links, mehr nach links, dicht neben der Insel Einschlag ins kristallklare Wasser, festhalten und tauchen, immer schneller, immer tiefer …

Ein versunkener Marmorpalast, Odysseus hinter einer Säule, neben ihm Achill in goldener Rüstung, sie winken Martin zu und zeigen nach rechts, rechts, Martin rennt hinüber, auf dem großen Platz vor dem Tempel werden elf Taschendiebe geköpft, die Menge jubelt, weicht langsam zurück, ein rechteckiges Spielfeld wird frei, drei weißgekleidete Frauen mit Draculazähnen, eine davon die schöne Helena, sie fangen an Boccia zu spielen mit den abgeschlagenen Köpfen …

Der Gewittersturm tobte so heftig, daß zwei Dachpfannen losgerissen wurden und ins Rutschen kamen. Dieses nervtötende Geräusch rüttelte Martin zum zweiten Mal wach.

Hoch aufgerichtet saß er im Bett und graulte sich, bis Hannibal oben auf dem schrägen Dachfenster erschien und an der Scheibe kratzte.

Martin sprang hoch, entriegelte das Dachfenster, öffnete es spaltbreit, schluckte eine gehörige Portion Wind und Regen, während Hannibal wie ein roter Kugelblitz hereinwischte und sich sofort in Martins Bett breitmachte.

Martin schloß und verriegelte das Fenster, rieb sich mit dem Pyjamaärmel das Gesicht trocken und hüpfte in sein Bett zurück. Er war dem Himmel so dankbar für Hannibals tröstliche Anwesenheit, daß ihn dessen klatschnasses Fell nicht im mindesten störte. Er nahm den Kater in beide Arme, legte sein Ohr seitlich an die haarige Kehle und lauschte begeistert dem dröhnenden Schnurren. So schlief er wieder ein.

Auch Hannibal war zufrieden. Er hatte mit Kindern im allgemeinen nicht viel im Sinn, aber diesen sommersprossigen, rothaarigen Jungen mochte er gut leiden, vielleicht deshalb, weil er selbst rothaarig und sommersprossig war, eigentlich rot-weiß-gelb-gescheckt, mit einem buschigen Angoraschweif, der überhaupt nicht zu seinem rauhen Kurzhaarfell paßte. Er war vier Jahre und zehn Monate alt, sehr freiheitsliebend, sehr an Jagd und Fortpflanzung interessiert und dabei überhaupt nicht wählerisch.

Martins Eltern durften nicht wissen, daß Hannibal bei Gewitter und im Winter halbe Nächte in Martins Bett verschlief. Vater hatte ihm mehrmals genau erklärt, wie unhygienisch solche Bettgemeinschaft mit einem Tier sei, noch dazu mit einem zwölfpfündigen Kater, der überall herumstreune, Zecken und Flöhe in seinem Fell beherberge wie ein Flugzeugträger seine Jagdbomber, und der sich mit seinem Speichel nur oberflächlich reinige.

Martin hatte zwar ernsthaft genickt bei diesen Lektionen, dabei aber an einen von Opas Aussprüchen gedacht: »Es gibt kein Tier, das sauberer ist als eine Katze!«

Eine von Martins besonderen Fähigkeiten war diese: Wenn ein Traum ihm gefiel, konnte er ihn trotz Unterbrechung weiterträumen. Er war wieder in dem Marmorpalast. Mit Beckenbauers Fußball unterm Arm schlendert er durch die großen, leeren Säle. Im fünften Saal steht das hölzerne Pferd, riesengroß, sein Kopf stößt fast an die Decke, unter seinem hölzernen Bauch zankt sich Opa mit Odysseus. Opa meint, dieses Pferd sei Pfuscharbeit, die Bretter nicht sauber gehobelt und nicht ordentlich verleimt, Odysseus will sich rechtfertigen, aber da läßt das Pferd etwas fallen, ebenfalls riesengroß, und dann kommen durch die Marmorfenster drei Schwarzdrosseln geflogen, so dick wie junge Schweine, die fressen im Nu alles auf …

Martins Träume kannten keine Grenzen. Hinter seiner sommersprossigen Stirn wohnte eine hemmungslose Phantasie.

Hemmungslos war auch sein Drang, am nächsten Morgen das Geträumte brühwarm und ausführlich zu schildern. Weh dem, der ihm als erster über den Weg lief. Alle Mitglieder der Familie Eichholz kannten diese Gefahr, die spätestens am Frühstückstisch akut wurde. Jeder hatte seine eigene Technik entwickelt, der Gefahr zu begegnen.

Sein Vater, der Kunstschreinermeister Konrad Eichholz, verschanzte sich hinter der Morgenzeitung, der Fachzeitschrift oder hinter einem der Lehrbücher, die sein Leben auch im dreiunddreißigsten Jahr immer noch begleiteten. Er blätterte und stellte sich taub. Er biß in sein Leberwurstbrötchen und tat einfach so, als höre er nichts.

Seine Mutter, die sanftmütige Karla Eichholz, machte ängstliche Augen, wenn Martins Traumberichte allzu gräßliche Details ans Tageslicht brachten. »Das ist ja zum Fürchten! Hör doch auf, Martin!« Oder sie versuchte, ihm mit einem Honigbrötchen den Mund zu stopfen. Weil weder das eine noch das andere half, hielt sie sich schließlich die Ohren zu.

Sein Onkel Manfred, ebenfalls Kunstschreinermeister, drei Jahre älter als Vater, aber immer noch ledig und ein elendes Sumpfhuhn, wie Opa sagte – Onkel Manfred war ein zwar zerstreuter, aber doch dankbarer Zuhörer. Seine kurzen Zwischenfragen waren gezielt und verständnisvoll, rissen oft neue Perspektiven auf und brachten Martin, wenn seine Erzählkraft schon zu erlahmen drohte, immer wieder in Schwung.

Tante Lotte, die eigentlich Martins Großtante war, Opas Schwägerin und Hüterin des Hauses, lebensklug und listenreich, wortgewandt und willensstark – Tante Lotte bremste behutsam und steuerte geschickt gegen, wenn Martins Phantasie allzu heftig auswucherte. Sie war aber doch stark interessiert an den Traumberichten des Jungen, denn vor über vierzig Jahren hatte sie als junges Mädchen in Berlin drei Semester Psychologie studiert und war noch heute eingeschworen auf den Professor Sigmund Freud und seine Theorien.

Martins liebster Zuhörer und Traumdeuter war und blieb Opa. Seine Freundschaft mit Opa war zur Zeit überhaupt das Zentrum seines Lebens. Martin konnte es nicht begreifen, daß sein Vater und Onkel Manfred dauernd Krach mit Opa hatten. Manchmal hörte er die drei in der Werkstatt brüllen, obwohl die Bandsäge oder die Hobelmaschine lief. Übermorgen wurde Opa neunundsechzig, aber er war immer noch der Chef der Firma Eichholz und Söhne, Oberhaupt der Familie, Patriarch im gemeinsam bewohnten Haus.

Alle wußten das, auch Martins Vater. Weil er aber ehrgeizig war und immer darauf versessen, aus der Firma Eichholz und Söhne etwas Größeres zu machen als diesen bescheidenen Dreimannbetrieb, ging er heute nach dem Frühstück nicht mit in die Werkstatt, sondern fuhr mit seinem Wagen in die Stadt zu Möbel-Horster.

Vor drei Jahren hatte Christian Horster das Möbelhaus Kagel & Horster in Alleinregie übernommen, nachdem sein Schwiegervater Friedrich Kagel an einem Herzinfarkt verstorben war. Mit Energie und Arbeitswut hatte Horster die etwas schläfrige Firma aus dem Mittelfeld der Branche in die Spitzengruppe hochgeboxt.

Konrad Eichholz hatte Horster vor neun Jahren kennengelernt. Er war damals, kurz nach seiner Meisterprüfung und einem handfesten Krach mit Vater, zwei Jahre lang Verkäufer bei Kagel & Horster gewesen, bis er dann doch wieder in die väterliche Firma zurückgekehrt war.

Vorige Woche hatte er Horster auf einer Londoner Möbelmesse zufällig wiedergetroffen. Horster war sehr nett zu ihm gewesen und hatte ihn ermuntert, ihm zu Hause gelegentlich einen Besuch zu machen: »Vielleicht kommen wir ins Geschäft? Falls Sie was Ordentliches zu bieten haben …«

Horsters Sekretärin schickte Konrad in den Ladehof hinunter. »Wir kriegen heute Küchen aus Skandinavien und Schrankwände aus Flandern! Sie finden den Chef irgendwo an der Rampe!«

Es war nicht sonderlich schwer, Horster in dem hektischen Getriebe zu entdecken. Seine markige Stimme übertönte alle Geräusche, sogar die Dieselmotoren der Lastzüge aus Stockholm, Brügge und Antwerpen, die an den Rampen manövrierten und von Horsters Leuten entladen wurden.

»Ich komme wohl ungelegen«, wollte Konrad sich entschuldigen, aber Horster fiel ihm gleich ins Wort. »Was heißt ungelegen? Der Wirbel hier ist ganz normal. Schießen Sie los! Was haben Sie anzubieten?«

Konrad zog seine Brieftasche und nahm eine Werkzeichnung heraus. Es war sein eigener Entwurf eines altenglischen Bücherschrankes im Regency-Stil aus Mahagoni mit Rosenholzeinlagen.

Horster bewies seine Fähigkeit, dreierlei auf einmal zu tun: Während er seinen Lademeister anfeuerte und einen belgischen LKW-Fahrer zur benachbarten Rampe umdirigierte, verhandelte er mit Konrad im Eiltempo über Herstellung, Lieferung und Preis von zehn dieser Bücherschränke. »Oder sagen wir lieber gleich zwanzig!«

»Bis wann hab ich Zeit, Herr Horster?«

»Ich geb Ihnen zehn Wochen insgesamt – he, was soll denn das werden? Seid nicht so umständlich! Stellt das Zeug doch gleich in Halle vier!«

»Die ist noch blockiert, Chef!« rief der Lademeister.

»Dann räumt sie frei, zum Donnerwetter! Muß ich hier alles selber machen?«

Horster wandte sich wieder seinem Besucher zu. »Alles klar, Herr Eichholz? Zwanzig Stück bis Ende Juli, Auftragsbestätigung kriegen Sie schriftlich, Preis wie vereinbart, wenn Sie gute Arbeit leisten, reden wir weiter! Der altenglische Trend ist immer stärker im Kommen, wenn Ihre Firma clever ist und die Kapazität ausweitet – he, paßt doch auf!«

Horster ließ seinen Besucher endgültig stehen und ging schimpfend zur Halle drei, wo ein schwerer Eichenschrank beim Entladen abgerutscht und an der Rampenkante beschädigt worden war. Eine lautstarke Auseinandersetzung begann, bei der Horsters Stimme alle anderen wieder mühelos übertönte.

Konrad setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Die Freude und der Stolz über den lukrativen Serienauftrag ließen sein Herz höher schlagen. Am liebsten hätte er gesungen, aber der geballte Verkehr in der Münchener Innenstadt forderte seine volle Aufmerksamkeit.

Später, auf der südlichen Ausfallstraße, wurde es erträglicher. Und in der stillen Seitenallee, an deren Ende das Eichholz-Grundstück lag, umfing ihn wieder die gewohnte Idylle. Er lenkte seinen Wagen durch die geöffnete Toreinfahrt in den Hof und parkte ihn zwischen Wohnhaus und Werkstatt an der Grenzmauer, wo schon Manfreds offener Sportflitzer und Vaters alter VW-Transporter standen. Er stieg aus und ging ins Haus.

Charlotte hatte den großen Eßtisch für vier Personen gedeckt, das Mittagessen aber noch nicht aufgetragen. Sie ging zur Anrichte und gönnte sich ein Gläschen Portwein. Weil aber der Mensch auf einem Bein nicht gut stehen kann, goß sie sich noch ein zweites ein.

»Prost, Lottchen!« sagte Konrad. Als die von allen Familienmitgliedern heißgeliebte Tante Lotte erschrocken herumfuhr, fügte er lächelnd hinzu: »Vor mir brauchst du doch die Flasche nicht zu verstecken!«

»Warum sollte ich? Ich tu doch nur was für meine Gesundheit!«

Die beiden blickten sich an und lachten.

»Du, Lottchen! Ich hab eben einen fetten Fisch gefangen! Weißt du, was auf Eichholz und Söhne zukommt?«

»Nein, aber du wirst es mir gleich sagen.«

»Hab ich dir erzählt, wen ich in London auf der Möbelmesse wiedergetroffen habe? Rein zufällig? Meinen ehemaligen Juniorchef, den großen Möbel-Horster! Inzwischen ist er Alleinherrscher geworden! Ich soll ihn mal besuchen bei Gelegenheit, hat er in London zu mir gesagt – das hab ich heute getan!«

»Ja und? Mach’s nicht so spannend!«

Konrad hob Lottchen ein Stück hoch, was bei ihren hundert Pfund kein Kunststück war. Er drehte sich ein paar mal mit ihr im Kreise und setzte sie wieder ab.

»Zwanzig altenglische Bücherschränke! Hier, dieses eigene Modell nach Regency hab ich ihm vorgeschlagen, und er war begeistert!«

Konrad zog die Zeichnung aus der Tasche, entfaltete sie und gab sie Charlotte.

»Gefällt’s dir?«

»Nicht schlecht.«

»Das ist erst der Anfang, sagt Horster! Wenn Eichholz und Söhne clever sind …«

Charlotte gab ihm die Zeichnung mit gemischten Gefühlen zurück. »Ich kann nur hoffen, daß dein Vater auch so begeistert ist.«

»Das werden wir gleich wissen!« Konrad ging zur Diele.

Charlotte rief ihm nach: »Kommt dann zum Essen!«

Sie nahm ihr Glas und setzte sich. Sie dachte an das Gewitter in der vergangenen Nacht. Der Sturm hatte nicht nur ein halbes Dutzend Dachpfannen losgerissen und im Garten einige Äste abgebrochen, er hatte auch das Firmenschild an der Toreinfahrt beschädigt:

Eichholz & Söhne

Kunstschreinerei

Restaurieren und Kopieren antiker Möbel

Ein diagonaler Riß hatte das Schild gespalten und auf einer Seite aus seiner Verankerung gelöst. Der Alte war heute morgen noch vor dem Frühstück mit seinem Werkzeugkasten auf die Leiter gestiegen und hatte den Schaden behoben.

Das Schild ist wieder heil, dachte Charlotte, aber der Riß ist noch deutlich zu sehen.

3 Opa verbrennt lieber sein Werkzeug

Wo beinahe täglich gestritten wird, glaubt niemand mehr so recht an den endgültigen Bruch. Nur Konrad wußte: Wenn er jetzt wieder nein sagt, ist es aus!

Sein Bruder Manfred stand im Hintergrund an der Hobelbank und blickte aufmerksam herüber, ohne die Politurarbeit an seinem viktorianischen Nähtisch zu unterbrechen.

Endlich reagierte der Alte. Er nickte anerkennend und ließ Konrads Zeichnung sinken. »Hübsches Stück. Ein sehr hübsches Stück sogar.«

Konrad und Manfred trauten ihren Ohren nicht. Ist Vater etwa krank? fragte sich Manfred. Und Konrad fühlte sich zurückversetzt in sein erstes Schuljahr, als er nach dem allerersten Klassenaufsatz mit einem Einser nach Hause gekommen und von seinem Vater dafür gelobt worden war. Freudenröte überzog sein Gesicht.

Doch die kalte Dusche folgte rasch: »Hübsches Stück. Aber zwanzig Mal? Unmöglich!«

»Wir haben zehn Wochen Zeit, Vater!«

»Es geht hier nicht um Zeit. Es geht ums Prinzip. Eichholz und Söhne restaurieren antike Einzelstücke. Seit über hundert Jahren. Fließbandarbeit lehne ich ab, das solltet ihr doch allmählich begriffen haben!« Und mit Nachdruck fügte er hinzu: »Lieber verbrenn ich mein Werkzeug!«

Manfred grinste sich eins und wandte sich ab. »Na also.«

Konrad wurde blaß und wieder rot. »Die Zeiten haben sich geändert, Vater! Wir leben nicht mehr im Biedermeier!«

»Leider! Aber das gilt Gott sei Dank nicht für uns! Hier bleibt alles beim alten! Jeder von uns hat reichlich zu tun, auch ohne diesen größenwahnsinnigen Möbel-Horster!«

»Kleckerkram!« stieß Konrad hervor, und er fühlte seinen beschleunigten Puls in der Kehle klopfen.

»Kleckerkram? Es ist eine künstlerische Arbeit, die noch Freude macht! Weil sie menschlich ist! Keine seelenlose Fließbandhetzerei!«

Noch war die Stimmlage der beiden normal, aber Manfred wußte, daß in spätestens einer Minute hier so laut gebrüllt werden würde, daß man es bis auf die Straße hören könnte. Er schaltete die Bandsäge ein.

»Ich wundere mich«, sagte Konrad hitzig, »daß du gelegentlich Auto fährst, Vater!«

»Was heißt das?«

»Du solltest die Postkutsche benutzen!«

»Sag mal – willst du Streit?«

»Den haben wir schon! Und diese Fummelei hier hab ich satt bis oben hin!«

Jetzt schwoll auch dem Alten die Zornesader. »Weil du nie im Leben zufrieden sein kannst! Das ist dein Charakter! Immer ruhelos! Von Ehrgeiz zerfressen! Immer wild auf was Neues!«

»Und dein Charakter? Wie würdest du den beschreiben? Du klebst an der Vergangenheit! Du bist die Sturheit in Person! Stur und engstirnig! Jede neue Idee wird von dir grundsätzlich verteufelt!«

»Schrei mich nicht so an!«

»Ist es wirklich eine solche Schande, wenn wir ein schönes klassisches Modell zwanzigmal kopieren und damit Freude in zwanzig Familien …«

»Schluß! Aus! Hör auf, sag ich dir! Noch bin ich hier der Chef! Wenn ich im Sarg liege, könnt ihr von mir aus alles auf den Kopf stellen!«

Die Bandsäge lief zwar, aber das Geschrei drang trotzdem bis zu Charlotte ans offene Küchenfenster. »Wenn ich im Sarg liege!« war für sie das Stichwort, hinüberzulaufen und dem Streit ein Ende zu machen.

»Ruhe! Mach die Maschine aus, Manfred!«

Charlottes Stimme wirkte Wunder. In die plötzliche Stille hinein sagte sie: »Ich habe Achtung vor eurer Arbeit, verlange aber, daß ihr meine Arbeit ebenso respektiert! Seit zehn Minuten warte ich mit dem Essen!«

Kein Widerspruch. Stummes Händewaschen am Wasserbecken. Die Seife wanderte von Hand zu Hand. Folgsam gingen die drei Schreinermeister mit Charlotte ins Wohnhaus hinüber, setzten sich an den großen Tisch, aßen schweigend mit verschlossenen Mienen.

»Schmecken euch meine Rouladen nicht?«

Manfred nickte eifrig. »Doch, Lottchen! Prima!«

»Dann nimm noch eine!« Sie hob den Deckel, langte in den Topf und legte Manfred eine Roulade auf den Teller. Zwei Löffel Sauce hinzufügend fragte sie: »Konrad, du auch?«

»Danke, mir ist der Appetit vergangen.«

»Wo ist denn Karla?« wollte der Alte wissen.

»Sie hat Martin von der Schule abgeholt«, sagte Charlotte. »Sie geht mit ihm neue Schuhe kaufen. Sie essen heute in der Stadt.«

Wieder folgte ein langes Schweigen. Nur das Klappern der Bestecke war zu hören. Schließlich Manfreds Frage: »Was gibt es zum Nachtisch, Lottchen?«

»Apfelmus mit Preiselbeeren.«

Sie stand auf und ging zum Sideboard, auf dem die Dessertschüssel stand. Nicht nur in der Werkstatt, auch in den Wohnräumen der Familie Eichholz dominierte der rötliche Mattglanz altenglischer Möbel.

Konrad hielt schützend die Hand über seine leere Glasschale. »Für mich bitte nicht, Lottchen! Ich muß gleich gehen!« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

»Kannst du nicht warten, bis wir alle fertig sind?«

Konrad setzte sich wieder, kochend vor Wut und Enttäuschung. »Kannst du mir sagen, ob das dein letztes Wort war?«

»Dein Fließband-Tick? Dumme Frage!«

»Vater!« Konrads Stimme bebte. »Ich stehe da wie ein Vollidiot! Möbel-Horster hat mein Wort! Wie soll ich da wieder rauskommen?«

»Dein Problem. Hättest du dir vorher überlegen müssen. Unsere Firma heißt immer noch Eichholz und Söhne, nicht Konrad Eichholz! Hast du verstanden?«

»Es war deutlich genug! Mir reicht es jetzt!«

Konrad stand auf und verließ den Raum. Charlotte blickte ihm nach, während der Alte seinen Zorn nun auf Manfred lenkte.

»Und du? Warum sagst du kein Wort? Er verplant uns beide, ohne vorher zu fragen! Du bist der Ältere! Warum rufst du ihn nicht zur Ordnung?«

»Wozu soll ich mich aufregen, Vater? Du bist der Boß.« Er löffelte seinen Nachtisch.

»Was ist das für eine Einstellung?«

»Die allerbeste, wenn man seine Ruhe haben will.«

»Ruhe!« Eichholz schnaufte verächtlich. »Was er zuviel an Ehrgeiz hat, hast du leider zu wenig. Ich hätte längst an dich übergeben, Junge. Wenn ich nur wüßte …«

»Was?«

»Deine Auftraggeber gefallen mir nicht. Besonders diese Frau Sandra Steuben. Wie sie manchmal mit dir umspringt! Als wenn du ihr Leibeigener wärst!«

Charlotte sah ein neues Unwetter heraufziehen. Ohne große Hoffnung versuchte sie, etwas dagegen zu tun: »Robert, übertreib nicht so! Und vergiß nicht deinen Nachtisch!«

»Warst du denn schon mal dabei, wenn die beiden verhandeln? Ich hab Augen im Kopf! Mir gefällt diese … diese geschniegelte Dame nicht, und es ärgert mich maßlos, wenn mein Ältester sich von so einem Weibsbild herumkommandieren läßt!«

»Stop, Vater!« Manfred schob seinen Teller zurück und stand auf. »Fang nicht auch noch mit mir an! Wir haben eine feste Abmachung getroffen: Jeder hat seine eigenen Kunden, jeder arbeitet selbständig. Wir helfen uns schon mal gegenseitig, aber – keine Einmischung! Keine Bevormundung!«

Eichholz schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Wenn es um den guten Ruf meiner Firma geht, dann werde ich wohl noch das Recht haben …«

»Schluß der Debatte!« rief Manfred. Und auf ein besänftigendes Zeichen von Charlotte fügte er mit normaler Lautstärke hinzu: »Ich muß jetzt gehen.« Er steuerte die Tür zur Diele an.

»Was denn – und mein großer Chippendale? Du wolltest mir helfen!«

»Morgen ist auch noch ein Tag«, erwiderte Manfred, die Klinke schon in der Hand. »Heute bin ich mit der geschniegelten Dame verabredet. Mahlzeit!«

Manfred verschwand. Sein Vater blickte ihm wütend nach. Charlotte räumte das Geschirr zusammen.

»Das sind nun meine Söhne!«

»Die sind schon in Ordnung.«

»Natürlich! Fall du mir auch noch in den Rücken!«

»Wenn du eine Jasagerin brauchst, mußt du umdisponieren. Haushälterinnen kann man ja kündigen.«

Er beugte sich vor und hielt ihre Hand fest. »Na, na, Tante Lotte! Du weißt genau, daß du hier nicht nur Haushälterin bist!«

»Richtig! Außerdem bin ich die Bürotante, die wegen jeder Rechnung und jeder Quittung und jedem Materialzettel tagelang hinter euch herlaufen muß! Seit gestern ist übrigens die Umsatzsteuererklärung fällig!«

Papierkrieg war Robert Eichholz ein Greuel. Er zog den Kopf ein und winkte ab. »Komm, laß uns einen Kognak trinken!«

Dazu brauchte er Charlotte nicht zweimal aufzufordern. Sie holte sofort Gläser und die Flasche herbei, setzte sich zu ihm und goß ein.

»Das war dein erstes vernünftiges Wort heute, liebster Schwager!«

»Sag mal, bin ich wirklich so ein sturer alter Bock?«

Charlotte hob ihr Glas, kniff ein Auge zu und visierte den Patriarchen durch die goldgelbe Flüssigkeit an: »Stur? Ja! Alt? Ja! Bock? Das Tier ist mir ein bißchen zu niedlich!«

Sein Lachen klang etwas gequält. »Prost, Lottchen! Wenn wir dich nicht hätten …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, aber beide wußten, wie die zweite Hälfte lautete: »… dann wäre die Familie Eichholz längst in alle Winde zerstreut!«

 

Die Sekretärin wunderte sich: »Sie sind noch da, Herr Eichholz?«

»Schon wieder«, sagte Konrad. »Kann ich Herrn Horster nochmal sprechen? Es dauert nicht lange.«

»Herr Fabian ist noch bei ihm. Wenn Sie etwas warten wollen?«

Horsters großräumiges Büro, sachlich und hypermodern eingerichtet, war die Kommandozentrale des Möbelhauses. An den Wänden Schautafeln mit farbigen Umsatzkurven, auf dem mächtigen Schreibtisch Telefone, Akten, Berichte, Werkfotos, Zeichnungen, Prospekte.

Horster gehörte zu der Sorte Chef, die am liebsten alles selber macht. Deshalb hatte er sogar den Fernschreiber in sein Büro stellen lassen. Auf der anderen Seite vor der breiten Fensterfront ein ovaler Zwölf-Plätze-Tisch für Besprechungen mit den Führungskräften der Firma.

Zigarrenraucher Horster stritt sich gerade per Telefon mit einem westfälischen Küchenfabrikanten. Auf dem Besucherstuhl saß sein Einkaufsdirektor Fabian, ein streßgeplagter, magenkranker Endfünfziger, der seit dreißig Jahren zur Firma gehörte.

»Was heißt hier Engpaß?« blaffte Horster. »Engpässe haben wir am laufenden Band, da muß man eben durch! … Kommen Sie mir nicht damit! Die Termine waren fest vereinbart! … Nicht doch, Herr Coesfeld! Nicht mit mir! Andere Fabrikanten bauen auch schöne Küchen!«

Der Fernschreiber ratterte los.

»Moment, sagen Sie das mal meinem Einkaufsleiter!« Er warf Fabian den Hörer zu und ging zum Fernschreiber hinüber. Er las eine Weile mit und riß das Blatt dann ab. Nach kurzer Pause ratterte der Fernschreiber von neuem los. Horster blieb vorgebeugt stehen, während Fabian halblaut telefonierte.

»Tut mir leid, Herr Coesfeld, aber … nein, Herr Coesfeld, Sie selbst hatten den Termin vorgeschlagen, und nun muß ich Ihre Fehler hier ausbaden … Unsere Kunden sind mit Recht verärgert, Herr Coesfeld … Sechzig neue Wohnungen ohne Küchen! Man kann sich wohl mal ein paar Tage mit dem Elektrokocher über die Runden helfen, aber …«

Ein anderes Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Horster kam mit den abgerissenen Fernschreiben zum Schreibtisch zurück und hob ab: »Horster! Was ist? … Soll später nochmal anrufen! Halt, Sigrid! Den Tisch für heute abend können Sie wieder abbestellen! … Nein, keine Zeit! Bringen Sie mir Tee und einen Camembert! Scheibe Schwarzbrot dazu!«

Horster legte auf, nahm eine Akte zur Hand, blätterte darin und war gleichzeitig mit einem Ohr bei Fabians Ferngespräch.

»Tut mir sehr leid, Herr Coesfeld, aber darauf kann ich mich nicht länger einlassen! … Tut mir leid, das geht nicht! Ich muß Sie bitten, mir jetzt einen verbindlichen Termin …«

Horster verlor die Geduld. Er warf die Akte auf den Schreibtisch, ging zu Fabian und nahm ihm den Hörer unsanft aus der Hand.

»Hier nochmal Horster! Heute ist Dienstag! Wenn ich bis Montag die Kisten nicht hier habe, sind wir geschiedene Leute! Ende!«

Horster warf den Hörer auf die Gabel und rüffelte seinen Einkaufsleiter: »Sie sind viel zu ängstlich, Herr Fabian! Dreimal haben Sie sich bei dem Kerl entschuldigt! Tut mir leid, Herr Coesfeld, tut mir leid, tut mir leid! Wenn Sie so pflaumenweich mit den Brüdern umspringen, werden die immer dreister!«

»Herr Coesfeld war immer ein zuverlässiger Lieferant. Wir arbeiten mit ihm seit dreißig Jahren. Ihr Herr Schwiegervater …«

»Mein Herr Schwiegervater ist tot! Jetzt bin ich hier der Chef!«

Fabian wollte etwas erwidern, zog es dann aber vor zu schweigen.

»Ich kann einen Vertragsbruch nicht einfach schlucken, nur weil der Herr Coesfeld mit meinem Schwiegervater mal befreundet war! Oder wollten Sie mir das empfehlen?«

»Natürlich nicht. Es gibt aber Fälle …«

»Sie sind hier der Einkaufsdirektor! Es ist also Ihr Bier und nicht meins! Ihre Panne und nicht meine! Ich rate Ihnen dringend, bringen Sie das bis nächste Woche in Ordnung! Danke!«

Fabian deutete eine Verbeugung an und verließ das Chefbüro. Über die Sprechanlage meldete sich die Sekretärin.

»Herr Eichholz möchte Sie sprechen.«

»Soll reinkommen!«

Konrad betrat die Kommandozentrale, ging bis zur Mitte des Raumes und wartete.

»Herr Eichholz! Was bringen Sie Schönes? Nehmen Sie doch Platz!«

Konrad setzte sich. Horster musterte ihn. »Was für’n Gesicht! Probleme?«

»Tut mir wahnsinnig leid, Herr Horster. Ich kann die zwanzig Bookcases nicht liefern. Vater legt sich quer.«

»Wieso quer?«

»Er lehnt Serienarbeit ab. Lieber will er sein Werkzeug verbrennen.«

Horster war verblüfft. Ein kurzer Lachanfall schüttelte ihn, wobei er sich am Zigarrenrauch verschluckte.

»Das ist gut! Werkzeug verbrennen! Der Alte gefällt mir!«

Die Sekretärin brachte ein Tablett mit Tee, Camembert, Schwarzbrot und Tomatencatchup. Sie wollte den Imbiß herrichten, Horster wehrte ab.

»Laß, Sigrid! Mach ich selbst! Sie können dann gehen!«

»Morgen früh Industrie- und Handelskammer!«

»Jaja.«

Die Sekretärin verließ den Raum. Horster aß und trank mit Heißhunger, während er das Gespräch fortsetzte.

»Werkzeug verbrennen. Möcht ich auch manchmal. Geht leider nicht. Wie alt sind Sie jetzt?«

»Zweiunddreißig«, sagte Konrad.

»Sie waren mal zwei Jahre Verkäufer bei uns. Ein guter Verkäufer. Was können Sie noch außer Kunstschreinerei und Verkauf?«

»Eine ganze Menge. Ich hab’s Ihnen mal aufgeschrieben.« Konrad zog seine Brieftasche, nahm einen Bogen heraus, entfaltete ihn und reichte ihn über den Schreibtisch. Horster überflog den tabellarischen Lebenslauf und war sichtlich beeindruckt.

»Fehlt ja wirklich nichts. Innenarchitektur, Betriebswirtschaft, Verkaufstraining. Und alles in Abendseminaren. Sie sind ein Streber, wie?«

»Möglich. Ich will weiterkommen.«

»Ich habe nichts gegen Streber. Im Gegenteil. Tja … Soll das hier eine Bewerbung sein?«

»Neulich auf der Messe in London, da sagten Sie zu mir …«

»Ich weiß, ich weiß. Gilt auch heute noch. In diesem Haus muß nämlich radikal verjüngt werden. Radikal!«

Horster blickte noch einmal auf den Lebenslauf. Er nickte bedächtig und klopfte dann gegen das Papier. »Eins versteh ich nicht. Mit diesem Fundament hätten Sie doch längst Karriere machen können. Warum sind Sie immer wieder in Vaters Liliput-Werkstatt zurückgekehrt?«

Konrad atmete tief ein und aus. »Weil ein Abteilungsleiter bei Möbel-Horster genau wissen muß, wie seine Ware von innen aussieht. Weil er gründlich wissen muß, wie die alten Kunstschreiner in früheren Jahrhunderten gearbeitet haben.«

Horster blies amüsiert eine dicke Rauchwolke von sich.

»Sagten Sie Abteilungsleiter?«

»Sie haben richtig gehört. Ich will mich zwar verändern, aber nicht verschlechtern.«

Horster lachte. »Okay, Herr Eichholz! Ich mag selbstbewußte Mitarbeiter! Bevor wir weitersprechen, eine letzte Warnung: Die Firma Möbel-Horster ist kein Sanatorium!«

»Ich bin nicht kränklich, Herr Horster.«

»Na, prima. Dann laßt uns mal über Zahlen reden.« Er zog Schreibzeug heran und zeigte auf die Zigarrenkiste zwischen den Telefonen. »Zigarre?«

»Danke, ich bin Nichtraucher.«

»Auch gut. Wann können Sie bei uns anfangen? Was wollen Sie verdienen?«

 

Martin schluckte die letzte Erdbeere. Dann ließ er den Eislöffel sinken und verzog sein Gesicht.

»Ich muß dir was sagen, Mam.«

»Was denn?«

»Ich glaube, sie drücken doch.«

»Nein«, rief Karla. »Tu mir das nicht wieder an! Vorhin im Laden hast du doch gesagt, sie passen!«

»Jetzt drücken sie aber! Und wie!«

»Wo?«

Er hob den linken Fuß mit dem neuen hellbraunen Schuh, dessen Sohle bereits zerschrammt und schmutzig war. An Umtausch war also nicht mehr zu denken. Er zeigte auf die Spitze und strich dann über den Spann.

»Hier, Mam! Und vor allem – hier!«

»Und der rechte?«

»Genau dasselbe. Au!«

Karla war sich nicht ganz sicher, ob Martins Beschwerden echt waren. Es gab da nämlich einen ständigen Grabenkrieg zwischen Opa und Charlotte in Bekleidungsfragen. Opa verabscheute alles Neue, ob es ein Hemd, ein Anzug, ein Wintermantel, eine Mütze oder Schuhe waren. Mit Klauen und Zähnen verteidigte er zum Beispiel seit Jahren eine ausgebeulte, graugrüne Strickjacke mit rehbraunen Lederherzen auf den Ellbogen gegen die Angriffe der modebewußten Charlotte.

Da alles, was Opa dachte und sagte und machte, für Martin vorbildlich war, hegte auch er eine tiefe Abneigung gegen neue Sachen. Seine Klagen über die angeblich zu engen Schuhe konnten also durchaus Theater sein.

»Gut«, sagte Karla und winkte der Bedienung. »Dann gehen wir jetzt zurück ins Schuhgeschäft und lassen sie weiten!«

»Das wird nicht viel nützen.«

»Woher willst du das wissen? Dein Opa sagt immer, probieren geht über studieren!«

Den Hinweis auf Opa überhörte er. »Am besten, ich zieh die alten wieder an! Die sind doch noch prima!« Und da seine Mutter nicht reagierte, griff er jammernd an seine Ferse. »Jetzt drücken sie hinten auch, Mam!«

Karla war sich ihrer Sache jetzt ziemlich sicher. Sie bezahlte die beiden Wiener Schnitzel, eine Limo, einen Schoppen Gumpoldskirchner und zwei Eisbecher mit Früchten.

»Hat es Ihnen geschmeckt?«

»Danke, ausgezeichnet.«

Die Kellnerin strich dankend ihr Trinkgeld ein und blickte dabei auf Martin, dessen schmerzliche Miene sie irritierte. »Und du?

Etwa nicht zufrieden? War das Schnitzel zu klein oder der Eisbecher?«

»Alles bestens!« versicherte Martin. »Ich hab bloß leider zu enge Schuhe an!«

Jetzt wußte Karla endgültig Bescheid. Sie nahm ihre Handtasche und diverse Einkaufstüten vom Stuhl, stand auf und ging zum Ausgang. Martin folgte ihr hinkend.

Auf der Straße schritt sie kräftig aus. Martin hatte Mühe, ihr zu folgen.

Am Lenbachplatz stand ein Müllauto vor einer Hauseinfahrt. Zwei dunkelhaarige, drahtige Männer kippten den Inhalt mehrerer Tonnen in den kreisenden Schlund an der Rückseite ihres Fahrzeuges. Sie trugen die leeren Gefäße auf den Hof zurück.

Martin traute seinen Augen nicht: Mutter blieb plötzlich stehen und warf eine ihrer Einkaufstüten in das Mahlwerk des Müllautos. Dann ging sie weiter, als ob nichts geschehen wäre.

»Was hast du weggeworfen, Mam?«

»Rate mal.«

»Hab keine Lust. Sag schon!«

»Deine alten Schuhe hab ich weggeworfen.«

Martin ging schweigend neben ihr her. Er war wütend auf sie, aber er bewunderte sie auch. Man konnte ihr so leicht nichts vormachen. Sie war im allgemeinen eher weich und nachgiebig, aber dann gab es wieder Situationen, in denen sie handfest und energisch reagierte.

Am Eingang zur Stachusgarage brach sie das Schweigen: »Du meinst also, wir brauchen sie nicht mehr weiten zu lassen?«

»Ich hab nichts gesagt.«

»Nein, aber du hinkst überhaupt nicht mehr.«

Martin gab sich geschlagen. »Ich glaube, sie laufen sich ein.« Und er beschloß, noch heute nachmittag für ein, zwei Stunden mit den neuen Schuhen auf die Fußballwiese zu gehen.

4 Zwischen Sandra und Belinda

Das einzige, was Manfred Eichholz noch mehr schätzte als den Umgang mit schönen Antiquitäten, war die Begegnung mit schönen Frauen. Dabei hatte er keine besondere Vorliebe, weder in bezug auf die Haarfarbe noch auf den Jahrgang.

Obwohl drei Jahre älter als sein strebsamer Bruder Konrad, fühlte er sich immer noch als Twen, freiheitsliebend wie der Familienkater Hannibal, bisher ohne die geringste Neigung, eine der zahlreichen Damen seiner Wahl zum Traualtar zu führen.

Sein Vater war höchst unzufrieden mit solcher Lebensauffassung. Das Familientier in ihm sehnte sich nach Vergrößerung der Sippe, nach weiteren Enkelkindern, nach noch mehr Lärm und Leben im Haus und im Garten.

Mit seinem Bruder vertrug Manfred sich in letzter Zeit recht gut. Es gab ja auch, seit jeder der drei Meister seine eigene Kundschaft hatte, nicht mehr viel Konfliktstoff zwischen ihnen.

Seine Schwägerin Karla liebte er mit ähnlichen Gefühlen, wie er sie für seine Schwester Viola hegte, den dritten und jüngsten Sprößling des alten Eichholz. Viola flog als Stewardeß mit der Lufthansa, zur Zeit auf der Südamerikaroute. Sie hatte, außer einem Appartement in Frankfurt, noch ihr Zimmer im Dachgeschoß des Eichholz-Hauses, kam aber jeden Monat nur zweimal für ein paar Tage herüber.

Mit seinem Neffen Martin war Manfred seit jeher ziemlich dick befreundet. Obwohl selbst kinderlos, konnte er mit dem Jungen besser umgehen und reden als dessen eigener Vater. In letzter Zeit freilich war diese Freundschaft etwas abgeschlafft. Opa war jetzt der Mittelpunkt in Martins Leben.

Auf der Fahrt zur Antiquitätenhandlung fiel Manfred plötzlich ein, daß er dort heute ein neues Gesicht antreffen würde. Eine angenehme Neugier erfaßte ihn. Sandra hatte in einer Zeitungsanzeige nach einer neuen Verkäuferin gesucht und dabei ganz besonderes Glück gehabt, wie sie ihm gestern abend am Telefon versichert hatte.

Auch Sandra hatte sich, dem neuen Trend folgend, auf altenglische Möbel spezialisiert, die deshalb in ihren Verkaufsräumen dominierten. Dazwischen gab es aber auch noch Antiquitäten aus anderen Ländern: Madonnen, Leuchter, Vasen, Lüster, Gemälde.

Sandra Steuben, seit etwa drei Jahren neununddreißig, attraktiv und gepflegt, intelligent und geschäftstüchtig, wies die fünfundzwanzigjährige Kunststudentin Belinda Stone in ihre Aufgaben ein.

Belinda sprach fließend, aber mit hübschem Akzent: »Sie können unbesorgt sein, Frau Steuben. Ich bin mit unsere englische Stilperioden sehr gut vertraut!«

»Schön. Aber darauf kommt es mir gar nicht so sehr an, Fräulein Stone.«

»Nennen Sie mich doch Belinda, ja?«

»Gern – Belinda.«

»Ich habe jetzt sieben Semester Kunstgeschichte hinter mir, und außerdem …«

»Ich weiß. Deshalb habe ich Sie ja aus einem Dutzend Bewerberinnen herausgefischt. Kunstgeschichte ist natürlich sehr nützlich. Aber – noch nützlicher wären sieben Semester Psychologie, wenn ich das mal vorausschicken darf.«

»Psychologie …«

Sandra nahm eine chinesische Vase zur Hand, drehte sie und betrachtete die Ornamente. »Ja, Belinda. Die Psychologie des Verkaufens. Das Hineinschlüpfen in die Seele des Kunden. Man braucht in jeder Branche als Verkäufer ein gewisses Talent, aber …« Sie stellte die Vase wieder hin und griff nach einem sechsarmigen Silberleuchter. »…das Verkaufen von Antiquitäten ist mehr. Eine Kunst. Beinahe Philosophie.«

Belinda war leicht irritiert. »Philosophie – ich – jedenfalls ich werde mir die größte Mühe geben.«

Das Telefon klingelte. Sandra stellte den Leuchter hin und verschwand durch eine Portiere in ihrem angrenzenden Büro.

Belinda blickte ihrer neuen Chefin nach. Dann stand sie etwas verloren in der Mitte ihrer neuen Wirkungsstätte. Psychologie … Philosophie … Sie nahm die chinesische Vase zur Hand, drehte sie und betrachtete sie skeptisch.

Die Ladentürglocke ließ ihren melodischen Dreiklang ertönen. Belinda stellte die Vase hin und wandte sich um. »Guten Tag! Haben Sie einen besonderen Wunsch, mein Herr?«

Manfred kam näher. Ungeniert taxierte er Sandras reizende Neuerwerbung. Sie gefiel ihm sehr. Augenblicklich entschloß er sich zu dem Versuch, dieses aschblonde, kühl wirkende, so typisch englische Rätsel bald zu lösen.

»Besonderen Wunsch? Den hab ich immer!«

»Ich wollte sagen – könnte ich vielleicht irgend etwas für Sie tun?«

»O ja, das könnten Sie … Da bin ich ganz sicher …« Sein Blick verunsicherte sie.

»Well – darf ich fragen, was Sie meinen?«

»Fragen dürfen Sie, aber ich trau mich nicht, ehrlich zu antworten. Noch nicht. Wir kennen uns ja erst eine Minute. Sind Sie Amerikanerin?«

»Engländerin. Ich studiere Kunstgeschichte. Zwei Jahre in London, jetzt hier in Deutschland, und nun …«

»Nun wollen Sie Ihre Schulweisheit hier in der Praxis erproben. Ich finde das sehr vernünftig von Ihnen, Fräulein –«

»Stone. Belinda Stone.«

»Belinda …« Manfred ließ den Namen auf der Zunge zergehen. »Klingt sehr hübsch. Wissen Sie eigentlich, was ich mir schon seit vielen Jahren sehnlichst wünsche, Belinda?«

»Nein?«

»Einmal mit einer Engländerin französisch essen zu gehen! Hätten Sie heut abend Zeit?«

Belinda empfand den Flirt zwar nicht als unangenehm, sie wollte aber doch zum Auftakt ihrer Tätigkeit lieber ein Verkaufsgespräch führen. »Sie haben ein enormes Tempo!«

»Ich war Ralley-Fahrer.«

»Trotzdem, ich schlage vor, daß wir erst einmal über Ihre Wünsche sprechen.«

»Das tu ich doch die ganze Zeit!«

»Ich meine – über Ihre Kaufwünsche!«

»Kaufen wollte ich eigentlich gar nichts.«

»Wie ich sehe«, sagte Sandra, »haben Sie sich schon miteinander bekannt gemacht.«

Belinda und Manfred drehten sich um. Sandra war lautlos in den Laden zurückgekehrt, stand vor der Portiere und musterte das Paar.

Belinda schüttelte den Kopf. »Bekannt gemacht? Sorry, no! Ich weiß nicht, wer der Herr ist!«

»Mein Restaurator. Der Herr Kunstschreinermeister Eichholz junior.«

»Manfred, bitte!« sagte er zu Belinda, der die eigentümliche Schärfe in der Stimme ihrer neuen Chefin nicht entgangen war.

»Kommen Sie, Manfred! Ich hab ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen!« Sandra winkte und ging voraus durch die Portiere zurück ins Büro.

Bevor Manfred ihr folgte, hörte Belinda ihn mit halber Stimme fragen: »Heute abend französisch?«

»Rupfen Sie lieber erst Ihr Hühnchen!«

Im Büro empfing ihn Sandra betont ungnädig. »Du kommst reichlich spät!«

Manfred lächelte. »Tut mir leid. Wie kann ich das wieder gutmachen?«

»Mir ist nicht nach Witzen zumute!«

Manfred trat näher an sie heran und strich ihr eine Locke aus der Stirn. »Sondern?«

Wortlos entzog sie sich seiner Vertraulichkeit, ging an ihren Schreibsekretär und nahm einige Farbfotos aus der Schublade.

»Ich muß mit dir über einen neuen Auftrag reden.«

»Na, dann schieß los!«

»Sieh dir erst mal die Bilder an.«

Die Fotos zeigten Gesamtansicht und Details eines georgianischen Seitentisches, angeblich aus der Meisterwerkstatt des Thomas Thatham. Die halbrunde Mahagoniplatte der fast zweihundert Jahre alten Rarität war mit Bandintarsien aus Sykomorenholz verziert. Stellte man zwei dieser Sidetables aneinander, so ergab das einen runden Tisch für die Mitte des Raumes. Häufiger war jedoch die Verwendung der beiden Hälften als Pendants an der Wand, rechts und links von einem Fenster, einer Tür oder einem Kamin.

Manfreds Herz schlug höher beim Anblick solcher Kostbarkeit. »Wunderschön! Hast du schon gekauft?«

»Ja, in London. Für einen Kunden am Tegernsee. Ich krieg ihn mit der nächsten Lieferung aus England. Das linke vordere Bein muß wahrscheinlich bis zur Krümmung erneuert werden.«

»Kein Problem.«