Eichmann in Jerusalem - Hannah Arendt - E-Book

Eichmann in Jerusalem E-Book

Hannah Arendt

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Beschreibung

»Das Erschreckende war seine Normalität« Der Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der in der internationalen Öffentlichkeit als einer der Hauptverantwortlichen für die »Endlösung der Judenfrage« in Europa war, fand 1961 in Jerusalem statt. Unter den zahlreichen Prozessbeobachtern aus aller Welt war auch Hannah Arendt. Ihr Prozessbericht – zunächst in mehreren Folgen im New Yorker veröffentlicht – wurde von ihr 1964 als Buch publiziert und brachte eine Lawine ins Rollen: Es stieß bei seinem Erscheinen auf heftige Ablehung in Israel, Deutschland und in den USA – und wurde zu einem Klassiker wie kaum ein anderes vergleichbares Werk zur Zeitgeschichte und ihrer Deutung.   

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Zu diesem Band

I.

II.

Literatur

Zitat

Vorrede

I Der Gerichtshof

II Der Angeklagte

III Fachmann in der Judenfrage

IV Lösung der Judenfrage:

Erste Phase – Vertreibung

V Lösung der Judenfrage:

Zweite Phase – Konzentration

VI Die Endlösung

VII Die Wannsee-Konferenz oder Pontius Pilatus

VIII Von den Pflichten eines gesetzestreuen Bürgers

IX Die Deportation aus dem Reich: Deutschland, Österreich und das Protektorat

X Die Deportation aus Westeuropa: Frankreich, Holland, Dänemark und Italien

XI Die Deportation aus den Balkanstaaten: Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland und Rumänien

XII Die Deportation aus Mitteleuropa:Ungarn und die Slowakei

XIII Die Mordzentralen im Osten

XIV Beweismittel und Zeugen

XV Das Urteil, die Berufung und die Hinrichtung

Epilog

Bibliographie

Namen- und Sachregister

A

B

C

D

E

F

G

H

I

J

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

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U

V

W

Y

Z

Ein faszinierendes Buch und zählebige Missverständnisse.Hannah Arendt über Eichmann, das Verbrechen gegen die Menschheit und die Gerechtigkeit – Nachwort

I. Die Kontroverse

II. Arendts Provokationen

III. Deutsche Zustände

IV. Revision des Gerichtsverfahrens

V. Ironie, Empörung und die Frage der Größe

VI. Rädchen, Todesfabriken, Täter

VII. Antisemitismus oder die Unfähigkeit zu denken

IX. Verbrechen gegen die Menschheit

X. Von der Weigerung, eine Person zu sein

Anmerkungen Nachwort

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Was Hannah Arendt dazu bewegte, der politischen Wirklichkeit so genau ins Gesicht zu sehen, waren die Kraft der Vernunft und die Verachtung der Illusion. Anderen schlüssig und verständlich zu machen, was sie sah, war ein großer geistiger Triumph – für sie persönlich, aber auch für die Tradition des offenen politischen Diskurses.

Judith Shklar (1975)

Die Studienausgabe in Einzelbänden von Hannah Arendts Schriften möchte dazu einladen, eine der bedeutenden Denkerinnen des 20. Jahrhunderts kennenzulernen oder erneut zu lesen. Ausgewiesene Experten untersuchen in ihren exklusiv für die Edition verfassten Nachworten die jeweiligen Werke. Die Autoren werden darin je eigene Schwerpunkte setzen, die Interessierten Hannah Arendts Gedankenwelt erschließen helfen, während sich die Spezialisten mit markanten Positionen auseinandersetzen können. Bewusst wurde darauf verzichtet, eine wie auch immer geartete Einheitlichkeit vorzugeben. Die Offenheit und die Vielfalt von Arendts Überlegungen werden sich folglich in den verschiedenen Positionen der Beiträger spiegeln, die innerhalb der Studienausgabe zu Wort kommen.

Die Ausgabe kann und will keine Konkurrenz zur kritischen, im Göttinger Wallstein Verlag erscheinenden Edition von Arendts Schriften sein. Die in Arendts Münchner Stammverlag Piper vorgelegten Bände bieten Texte, die auf der jeweils letzten, von ihr selbst noch überprüften Fassung beruhen. Druckfehler und andere offensichtliche Versehen sind korrigiert, die Zitate wurden überprüft, die bibliografischen Angaben und Register durchgesehen. Für all das trägt der Herausgeber die Verantwortung. Ziel war es, zitierfähige Ausgaben zu schaffen, die sowohl eine breite Leserschaft ansprechen als auch für Wissenschaftler eine verlässliche Textgrundlage bieten.

Die erste Lieferung der Edition wird jene Werke umfassen, die Arendts Ruf in Deutschland zu ihren Lebzeiten begründeten. In chronologischer Reihenfolge sind dies folgende Schriften: Die 1929 veröffentlichte Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, die erstmals 1955 vorgelegte Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus und der zwei Jahre später veröffentlichte Band Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays. Ebenso enthalten sind die 1959 publizierte Biografie Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik und die im Jahr darauf erschienene Monografie Vita activa oder Vom tätigen Leben. Es folgen die Reportage Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen von 1964 und schließlich die ein Jahr später zugänglich gemachte Abhandlung Über die Revolution. Damit liegen im Piper Verlag erstmals die Augustin-Studie und die in dieser Form und unter dem Titel nie wieder aufgelegte, dem engen Freund Walter Benjamin gewidmete Aufsatzsammlung Fragwürdige Traditionsbestände vor.

Zu einem späteren Zeitpunkt werden unter anderem die zu Lebzeiten in deutscher Sprache veröffentlichten Zeitungsartikel, Aufsätze und Essays Arendts in chronologischer Reihenfolge neu herausgegeben werden. Das unvollendete Nachlass-Werk Life of the Mind, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Vom Leben des Geistes erstmals 1979 in zwei Bänden erschienen, wird die Ausgabe ergänzen, sobald eine verlässliche Textgrundlage verfügbar ist.

Hannah Arendts Werke sprechen für sich und die beigefügten Nachworte benötigen keinerlei Rechtfertigungen. Bleibt also der aufrichtige Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die sich der Aufgabe unterzogen haben, mit ihren Beiträgen die Schriften Hannah Arendts für hoffentlich viele Leserinnen und Leser zu öffnen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Piper Verlag gilt der Dank für die Zusammenarbeit und die Courage, das Werk Hannah Arendts in der vorliegenden Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Berlin, im Januar 2022

Thomas Meyer

Zu diesem Band

Die Zeitschrift The American Archivist bestätigte in ihrer Oktober-Ausgabe des Jahres 1965 sozusagen offiziell, was die amerikanische Presse zuvor schon über Hannah Arendts Besuch in der Library of Congress in Washington, D. C., berichtet hatte: nämlich die Übergabe von Briefen, die im Zusammenhang mit Diskussionen über die Staatsgründung Israels standen, Manuskripte gedruckter und ungedruckter Vorträge und Aufsätze sowie die Typoskripte zweier Bücher, der Aufsatzsammlung Between Past and Future von 1961 und der zwei Jahre später erschienenen Studie On Revolution. Der Anlass für das öffentliche Interesse ging allerdings nicht in erster Linie von diesen Materialien aus, sondern von dem, was die für »News« zuständige Archivarin Dorothy Hill Gersack in der Fachzeitschrift ganz nüchtern so aufführte: »The papers also include five separate volumes of Dr. Arendt’s Eichmann in Jerusalem.«[1] 1967 wird Arendt der Library of Congress eine weitere Lieferung von Materialien zu dem Buch übergeben.[2]

Hannah Arendt schien klar zu sein, dass die beiden mit weitem Abstand heftigsten Diskussionen, die ihr Werk ausgelöst hatte, über ihr eigenes Leben hinaus andauern würden. Und falls es so käme, sollten jede und jeder nachlesen können, wie sie ihre Positionen entwickelt hatte und in welchen Zusammenhängen sie entstanden waren. Offensichtlich verfügte Hannah Arendt über ein ausgeprägtes »Nachlassbewusstsein« (Lothar Müller).

Dass die Kritik an der Gründung Israels und die Kritik in ihrem Buch »Eichmann in Jerusalem« auf das Engste miteinander zusammenhingen, davon waren und sind seit dem Erscheinen der fünf Artikel in der Wochenzeitschrift The New Yorker im Februar und März 1963 nicht wenige der weit über eintausend Interpreten überzeugt, die sich seither dem Werk gewidmet haben. Ob das stimmt und ob es sogar Hannah Arendts eigener Position entspricht, darüber wird bis heute weltweit engagiert diskutiert. Der Titel eines Sammelbandes über Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem bringt diesen weithin geteilten Eindruck auf den Punkt: The trial that never ends.[3]

 

Die vorliegende Edition bietet dreierlei: Auf eine Skizze der Entstehung von Eichmann in Jerusalem und der Publikationsgeschichte folgen der Text der deutschen Ausgabe und schließlich ein umfassendes »Nachwort« des Aachener Politikwissenschaftlers Helmut König. Das Ziel der Edition lässt sich knapp so zusammenfassen: die Aufmerksamkeit auf das Werk Hannah Arendts zurückzulenken.

I.

Der vorliegenden Ausgabe von Hannah Arendts erstmals im September 1964 im Münchner Piper Verlag erschienenem Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen liegt die letzte zu ihren Lebzeiten erschienene Ausgabe von 1965 zugrunde. Für diese Edition stand das im Archiv des Piper Verlages aufbewahrte Exemplar der Erstauflage zur Verfügung. Die darin befindlichen Korrekturen wurden ebenso eingearbeitet wie jene, die Arendt von einem Leser erhalten und an den Verlag weitergeleitet hatte. Darüber hinaus wurden die Fehlerhinweise des Frankfurter Germanisten und Historikers Werner Renz berücksichtigt, die er freundlicherweise dem Verlag und dem Herausgeber zukommen ließ. Schließlich fand durch den Herausgeber ein Abgleich zwischen den erhaltenen Fahnenkorrekturen und den drei Druckausgaben statt, die zu Hannah Arendts Lebzeiten erschienen sind, woraufhin sich weitere Änderungen ergaben. Die insgesamt wenigen Eingriffe beziehen sich auf Druckfehler, drucktechnische Details und Falschschreibungen von Eigennamen.[4] In einem Fall wurde ein Übersetzungsfehler korrigiert, da er einen Sachverhalt verfälschte: Statt von »Belastungszeugen« muss von »Entlastungszeugen« gesprochen werden (432). Zahlreiche weitere, zum Teil schon von zeitgenössischen Kritikern benannte sachliche Fehler wurden natürlich nicht korrigiert.

Die von Hannah Arendt in ihrem Text aufgeführte, aber seinerzeit nicht in die Bibliografie übernommene Literatur wurde jetzt in eine gesondert ausgewiesene Bibliografie aufgenommen.

Die Erstauflage wird in den Verlagsunterlagen mit 10 000 Exemplaren angegeben. Noch im Oktober des gleichen Jahres erschien eine weitere Auflage, die mit 11. – 16. Tausend ausgewiesen wurde. In dieser »Zwischenauflage« (Klaus Piper) wurden Korrekturen vorgenommen, die Hannah Arendt bei einem Besuch in München übermittelt hatte. Die vermeintlich zweite Auflage von 1965 war mit der Auflagenhöhe »17. – 20. Tausend« angegeben. »Gut 10 500« Exemplare seien bis zum 31. Dezember 1964 verkauft worden, gibt der Verleger an. Die Zahlen bezogen sich auf die Standard-Ausgabe, die als »piper paperback«[5] in den Handel kam. Zugleich wurde eine Hardcover-Ausgabe in sehr geringer Auflage herausgebracht. Davon waren zum 31. Dezember 1964 laut Verlag etwa 600 Exemplare abgesetzt worden. Die Ausgaben waren druck- und seitengleich, sogar der Hinweis »piper paperback« blieb im Hardcover erhalten.[6] Arendt hatte sich zuvor enttäuscht darüber geäußert, dass Piper ihr Buch nur als kartonierte Ausgabe herausbringen wolle, und so geht es vermutlich auf ihre Initiative zurück, dass ein Hardcover aufgelegt und gelegentlich auch beworben wurde.

Markante Unterschiede gibt es dennoch: Während man bei der Standard-Ausgabe auf eine Vorstellung Hannah Arendts verzichtete, enthielt das Hardcover ausführliche Texte zu Autorin und Buch sowie Hinweise auf ihre bei Piper verlegten Schriften Rahel Varnhagen, Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten und schließlich die Ankündigung von »Krieg und Revolution«, wie Über die Revolution zunächst heißen sollte.

Die beiden Texte der Hardcover-Ausgabe sind hier erstmals seit 1964 wiedergegeben. Auf der Umschlagrückseite findet sich folgende Biografie:

Hannah Arendt wurde 1906 in Hannover geboren und wuchs in Königsberg auf. Sie studierte Philosophie, Theologie und Griechisch bei Heidegger, Bultmann und vor allem bei Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. In den folgenden Jahren arbeitete sie als Stipendiatin der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft an ihrer Biographie über Rahel Varnhagen. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1940/41 weiter nach New York, wo sie seither lebt. Nachdem sie vorher eine leitende Tätigkeit bei der Jewish Cultural Reconstruction ausgeübt hatte, dann Cheflektor des Verlags Schocken Books war, arbeitet sie seit 1951 als freie Schriftstellerin. Jedoch wurde sie immer wieder von führenden amerikanischen Universitäten als Gastprofessorin und für Einzelvorlesungen eingeladen, die sich ebenso wie die meisten ihrer Bücher und Zeitschriften-Beiträge mit der philosophisch vertieften Analyse politisch-zeitgeschichtlicher Phänomene befaßten. 1961/62 wohnte sie als Beobachterin dem Eichmann-Prozeß in Jerusalem bei. Ihr analysierender Bericht über den Prozeß erschien zuerst in fünf Fortsetzungen in der Zeitschrift »The New Yorker«, dann, überarbeitet, als Buch in Amerika und wurde zum Gegenstand einer weltweiten Diskussion.

 

Der Klappentext lautet:

Indem Hannah Arendt über den Eichmann-Prozeß und seinen Verlauf referiert, werden nicht nur die Fakten rekapituliert, sondern auch die rechtliche Problematik von Anklageerhebung und Urteil erörtert. Im Zusammenhang mit der Analyse der Anklage wird Eichmanns Funktion innerhalb des nationalsozialistischen Staatsapparats untersucht. Die Aussagen der Zeugen sowie des Angeklagten werden mit den ausführlich zitierten historischen Dokumenten verglichen, und Hannah Arendt rekonstruiert das Bild der planvollen Deportation, die die jüdische Bevölkerung aus dem Reich, aus Westeuropa, aus den Balkanländern und der Tschechoslowakei in die Vernichtungslager führte. Der Bericht ist zugleich kritische Analyse – Hannah Arendt bringt dabei auch die soziologischen und psychologischen Gesichtspunkte ins Bild. Die Hauptbedeutung aber liegt in den philosophisch-moralischen Folgerungen. Der deutschen Ausgabe ihres Buches, in der einige Stellen gegenüber der amerikanischen Ausgabe noch verdeutlicht und die Ergebnisse der Autorin durch Zusätze erhärtet wurden, hat die Autorin eine ausführliche Einleitung vorangestellt.

Die Figur Adolf Eichmanns, in der die grauenvollsten Geschehnisse der neueren Geschichte wieder repräsentiert wurden, gibt dem psychologischen Verständnis und der moralischen Wertung ganz neue Probleme auf. Hannah Arendts Buch, aus der Unabhängigkeit und Konsequenz ihres politisch-philosophischen Denkens erwachsen, zielt über die Ergebnisse des Prozesses in Jerusalem hinaus auf ein Grundproblem politisch-moralischen Begreifens der Gegenwart: auf die Erkenntnis von der Banalität des Bösen, der Durchschnittlichkeit der Schuldigen, der Rolle des anonymen Machtapparats.[7] Schwierigste Probleme der Zeitgeschichte, deren Erörterung sich von tabuierten Vorstellungen nicht beeinflussen lassen darf, sind hier in klarer Analyse freigelegt und zur Diskussion gestellt.

 

 

II.

Da es sich bei der deutschen Ausgabe von Eichmann in Jerusalem um eine von »der Autorin durchgesehene und ergänzte deutsche Ausgabe« handelt, die aus »dem Amerikanischen von Brigitte Granzow«[8] übersetzt wurde, so die Angaben im Buch, muss zunächst auf die Entstehungsgeschichte des Originals eingegangen werden. Das kann hier nur sehr kursorisch geschehen.[9]

Die Initiative, den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem zu beobachten, ging von Hannah Arendt selbst aus. Nachdem der israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion am 23. Mai 1960 in der Knesset die Inhaftierung Eichmanns bekannt gegeben hatte, teilte Arendt verschiedenen Freundinnen und Freunden mit, dass sie plane, für das 1925 gegründete Wochenmagazin The New Yorker über das Verfahren zu schreiben. In Absprache mit dem seit Januar 1952 als »editor« der Zeitschrift fungierenden und längst legendären William Shawn reiste sie im Auftrag des New Yorker nach Jerusalem.[10] Aus Hannah Arendts engstem Umfeld hatten unter anderem die Schriftstellerin Mary McCarthy und der Journalist Dwight Macdonald für das Magazin geschrieben, Letzterer war von 1951 an für einige Jahre dort fest angestellt. Zudem war Hannah Arendt seit dem Erscheinen der Studie Origins of Totalitarianism im Jahr 1951 einem größeren Publikum bekannt und spätestens seitdem in verschiedenen intellektuellen Szenen New Yorks bestens vernetzt. Es war also für Hannah Arendt leicht, mit dem stets als sehr scheu und distanziert charakterisierten William Shawn in Kontakt zu treten und ihn von ihrem Ansinnen zu überzeugen.

Eichmann in Jerusalem war in den Jahren von 1960 bis 1965 keineswegs ihr einziges Projekt: 1960 kam im Piper Verlag ihr philosophisches Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben[11] heraus. Im gleichen Jahr begann die Ausarbeitung der als Gastprofessorin an der Princeton University im Frühjahr 1959 gehaltenen Vorlesungen »The United States and the Revolutionary Spirit«. Vier Jahre später erschien dann die Studie On Revolution, an der Hannah Arendt zeitweise parallel zu Eichmann in Jerusalem schrieb. Ein Werk, das sie während der Auseinandersetzungen zu ihrem Bericht von der Banalität des Bösen im Rahmen der selbst vorgenommenen Übersetzung um gut ein Viertel grundlegend veränderte und das Piper 1965 als Über die Revolution veröffentlichte.[12] Zudem schrieb Hannah Arendt an einer »Introduction to Politics«, deren Vorarbeiten postum unter dem Titel Was ist Politik?[13] publiziert wurden. Daneben veröffentlichte sie während der Zeit Aufsätze, hielt Vorträge und machte ausgedehnte Reisen nach Europa, darunter zu dem mit ihr eng befreundeten Paar Gertrud und Karl Jaspers in Basel.

Anfang 1961 erfolgte die Akkreditierung Hannah Arendts am Bezirksgericht in Jerusalem, die es ihr erlaubte, im Auftrag des New Yorker als Prozessbeobachterin teilzunehmen. Zum Prozessbeginn am 11. April 1961 war sie in Jerusalem und reiste am 5. Mai wieder ab. Vom 20. bis 22. Juni 1961 war sie nochmals im Gerichtssaal. Am Ende wird Hannah Arendt an 29 von insgesamt 121 Sitzungen teilgenommen haben.[14] Schon am 21. Juli 1961 berichtete sie erstmals über die beim Eichmann-Prozess gewonnenen Eindrücke im Kolloquium ihres Freundes, des Ordinarius für Politikwissenschaft Dolf Sternberger an der Heidelberger Universität.[15] Zu diesem Zeitpunkt hatte Hannah Arendt sich bereits für mehrere Veröffentlichungen zum Prozess entschieden. Nicht nur für den New Yorker, der das ausdrückliche Erstveröffentlichungsrecht hatte und der mit der Berichterstattung beginnen wollte, nachdem das Urteil gesprochen worden war, sondern auch mit den von ihr geschätzten deutschen Zeitschriften Merkur und Hochland, mit denen sie seit Langem in Verbindung stand, hatte sie Vereinbarungen über Beiträge getroffen. Zu dieser Zeit war mit dem Piper Verlag der Plan abgesprochen, eine Broschüre zu veröffentlichen, der man in Ankündigungen den vorläufigen Titel »Der Eichmann-Prozeß« gab. Vorgesehen waren dafür drei Kapitel: Einer Biografie Eichmanns sollten »das von Hausner entworfene geschichtliche Panorama« und »der Prozess selbst« folgen. In der Broschüre solle vor allem Eichmann selbst zu Wort kommen, so Hannah Arendt. Ob sie zu der Zeit noch mit dem dann im Buch scharf kritisierten Generalstaatsanwalt und Ankläger Gideon Hausner übereinstimmte, muss offenbleiben.

Vom 11. bis 15. Dezember 1961 wurde das Urteil gegen Eichmann verlesen, das auf Tod durch den Strang lautete. Zwei Tage später beantragte die Verteidigung Revision, die vom obersten israelischen Gericht am 29. Mai 1962 abgelehnt wurde. Die Urteilsvollstreckung fand schließlich in der Nacht zum 1. Juni 1962 statt. Nun war es an Hannah Arendt, ihren Bericht über Eichmann in Jerusalem zu verfassen und dann zu veröffentlichen.

Hannah Arendt hatte seit der Verbringung Eichmanns nach Israel mit ihrem Lektor beim Verlag The Viking Press, ihrem Freund Denver Lindley, über den Fall gesprochen. Im Juli 1962 einigte man sich auf eine Buchpublikation, wobei auch hier dem New Yorker das Erstzugriffsrecht auf ein anzufertigendes Manuskript eingeräumt wurde. Zu dieser Zeit ging an den Piper Verlag die Mitteilung, dass sie am Eichmann schreibe. Tatsächlich befand sich Hannah Arendt längst mitten in der Arbeit, unterbrochen von Verletzungen bei einem Autounfall während einer Taxifahrt, und kündigte dem Verlag die Abgabe des Manuskripts zum 1. Oktober 1962 an – falls man es dort überhaupt wolle. Tatsächlich sprachen sich Viking Press und New Yorker in der Folgezeit ab und tauschten die Texte aus – ein äußerst komplizierter Prozess begann.

Hannah Arendt hatte im Laufe des Jahres 1962 ein Manuskript getippt, das Prozessmaterial war ihr Ende 1961 zugegangen, dem im späteren Buch die Kapitel eins bis sieben entsprechen. Doch weder dem New Yorker noch Viking Press wurde diese Version geschickt. Mitte September 1962 meldete Hannah Arendt dem Piper Verlag, dass das (neue) Manuskript bis auf einen von William Shawn erbetenen »Epilog« fertig sei und es der New Yorker nahezu ungekürzt bringen wolle, die Buchfassung erscheine bei Viking Press. Und für die Übersetzung hatte sie eine »wilde Idee«: Ob wohl die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, eine Piper-Autorin, die Hannah Arendt Monate zuvor kennengelernt hatte, nicht die richtige Kandidatin sei? Als Titel für das Buch schwebte ihr nun entweder »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht« oder als Untertitel »Ein Bericht von der Banalität des Bösen« vor. Das gedruckte Brecht-Motto stand ebenfalls schon fest.

Danach folgte eine wahre Flut von Manuskripten und Typoskripten, die teils im New Yorker wieder abgetippt wurden, um der berühmten »fact checking«-Abteilung und Hannah Arendt Möglichkeiten zu Änderungen zu geben, und teils von dort an Viking Press gingen. Alles lief über die Autorin, die wiederum ein vom Verlagshaus penibel redigiertes Typoskript, dem eine Version des New Yorker zugrunde lag, aus dem Verkehr zog, weil ihr die Korrektorin angeblich zu viel angemerkt, nachgebessert und verändert hatte. William Shawns redigierte Version ist eine in jeder Hinsicht beeindruckende Arbeit am Text, die diverse Farbsysteme nutzt, wie überhaupt in der Manuskript- und Typoskriptüberlieferung, zu denen einzuarbeitende Zitate aus den Verhörprotokollen Eichmanns und andere Quellen gehören, komplexe Anweisungen und Farbkataloge Anwendung fanden. Zwischendurch schickte Hannah Arendt erst ein Manuskript, später dann die Viking Press-Fahnen an den Piper Verlag.[16]

Während in den USA Ende 1962 die Vorbereitungen für die geplante Veröffentlichung im Januar im New Yorker und im April bei Viking Press auf Hochtouren laufen, Hannah Arendt stets mittendrin, liest man bei Piper die neueste übermittelte Fassung. Zunächst der Verleger, dann der Lektor Hans Rößner.[17] Dass die Autorin gern Ingeborg Bachmann als Übersetzerin hätte – »ich brauche jemanden der schreiben kann«, zudem sei »für diese Art der Reportage den geeigneten Ton zu finden« die eigentliche Herausforderung –, wird vom Verlag unterstützt. Auf die ausdrücklichen Warnungen Hannah Arendts zu diesem Zeitpunkt, dass das Buch in den für New York wichtigen »jüdischen Kreisen« möglicherweise »Anstoß« oder sogar »Entrüstung« auslösen werde, obwohl es »keineswegs deutschfreundlich« sei, wird nicht weiter reagiert. Gegen Ende 1962 bekommt das Vorhaben neuen Schwung: Nachdem Ingeborg Bachmann abgesagt hat, wird neben vielen anderen renommierten Übersetzerinnen und Übersetzern der 1914 in München geborene, 1933 nach Palästina emigrierte und zwanzig Jahre später nach Frankfurt zurückgekehrte Soziologe und sehr erfahrene Übersetzer aus dem Englischen, Hebräischen, Jiddischen und weiteren Sprachen Harry Maòr vorgeschlagen. Er hatte einen Auszug des Urteils gegen Eichmann aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen.[18] Zugleich habe man Kontakt mit dem Institut für Zeitgeschichte in München, namentlich: Dr. Martin Broszat, aufgenommen, der »größte Bereitschaft zur Mitarbeit, was die Dokumente und alle sonstigen sachlichen Fragen anbetrifft«, signalisierte.[19]

Doch Hannah Arendt wird Anfang 1963 Positionen formulieren, die sie in der Folge immer wieder hervorhebt: Sie möchte, dass möglichst eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller das Buch übersetzt, auf keinen Fall möchte sie einen »Emigranten« oder einen »Juden« in die deutsche Publikation involviert sehen. Für sie sei das eine »politische Frage«. Mögliche Änderungen lehnt sie kategorisch ab, das Buch müsse auf Deutsch als genaue Übertragung des amerikanischen Originals erscheinen.

Zu einer ersten sehr ernsthaften Krise kommt es, nachdem Klaus Piper im Januar 1963 einen achtseitigen Brief mit zahlreichen Hinweisen, Bedenken und von Hannah Arendts Urteilen und Wahrnehmungen abweichenden Einschätzungen nach New York geschickt hat. Ihre Antwort lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sie beruft sich auf ihre Sachkompetenz, indem sie etwa auf eine unveröffentlichte Dissertation zum deutschen Widerstand im »Dritten Reich« verweist und die »fact checking«-Abteilung des New Yorker als Rückhalt hinter sich weiß. Mindestens ebenso deutlich ist Hannah Arendt, wenn sie den Eindruck hat, in den Briefen des Verlegers zwischen den Zeilen Entlastungsversuche aus deutscher Perspektive zu lesen.[20] Immer wieder kommt es zu der Situation, dass Hannah Arendt am Willen des Verlegers zweifelt, das Buch tatsächlich zu veröffentlichen. Wobei der Verlag, namentlich Klaus Piper und Hans Rößner, sich gegenüber den Kritiken aus den USA, Israel und Deutschland unempfindlich zeigen. Ihrerseits beginnen sie bereits 1963 mit einer umfangreichen Pressekampagne für das Buch. Die großen Fernseh- und Radiosender werden ebenso informiert, wie man bei den wichtigen Zeitungen und Zeitschriften Interviews zu lancieren versucht oder herausfinden möchte, wer das Buch besprechen soll, um gegebenenfalls Einfluss zu nehmen.[21]

Bis Ende März 1963 ist auch die Frage nach der Übersetzerin oder dem Übersetzer weiterhin ungeklärt. Es werden von Seiten des Verlags und Hannah Arendts zahlreiche Vorschläge unterbreitet, darunter Heinrich Böll, Günter Grass und Dieter E. Zimmer. Aber entweder kommt es zu keiner Einigung oder Piper erhält Absagen. Schließlich verweist die Piper-Mitarbeiterin Christa Dericum auf ihre frühere Heidelberger Kommilitonin Dr. Brigitte Granzow. Hannah Arendt lässt sich trotz Bedenken auf die gänzlich unerfahrene Übersetzerin ein.

Das noch vor dem Erscheinen von Eichmann in Jerusalem in der Nymphenburger Verlagsanstalt von dem Neue Politische Literatur-Redakteur, Historiker und FDP-Funktionär Friedrich Arnold Krummacher herausgegebene und vom Cheflektor des Verlages, Martin Gregor-Dellin, betreute Buch Die Kontroverse spielte in der Kommunikation keine sonderliche Rolle. Die darin enthaltenen Kritiken und Polemiken waren zum großen Teil schon zuvor publiziert worden.[22]

Der geplante Erscheinungstermin im September 1964 schien mehr als einmal gefährdet. Immer wieder schoben sich Schwierigkeiten bei der Übersetzung dazwischen – Arendt wird schreiben, dass sie ein »re-writing« von Brigitte Granzows Arbeit vorgenommen habe –, bei der Umsetzung von Korrekturwünschen tauchten eklatante Nachlässigkeiten auf, schließlich wurden rechtliche Bedenken durch ein dubioses Gutachten, den Verleger Klaus Piper und den Lektor Hans Rößner zu Aussagen im Buch gegen noch lebende Personen ins Feld geführt, sodass sich die Drucklegung immer wieder zu verzögern drohte. Schließlich konnte der Termin doch gehalten werden: Am 14. September 1964 kam Eichmann in Jerusalem in die deutschen Buchhandlungen. Die bis zum heutigen Tag anhaltende Diskussion um das Buch begann nun auch in Deutschland.

 

Berlin, im Januar 2022

Thomas Meyer

Literatur

Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. Hg. v. Ursula Ludz, München 2003.

Arendt, Hannah: Über die Revolution. Mit einem Nachwort von Jürgen Förster, München 2020.

Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Mit einem Nachwort von Hans-Jörg Sigwart, München 22021.

Arendt, Hannah/Sternberger, Dolf: »Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär«. Briefwechsel 1946 bis 1975. Hg. v. Udo Bermbach, Berlin 2019.

Gersack, Dorothy Hill/Gingerich, Melvin: »News Notes«, in: The American Archivist 28 (1965), 589 – 607.

Golsan Richard J./Misemer, Sarah M. (Hg.): The trial that never ends. Hannah Arendt’s Eichmann in Jerusalem in Retrospect, Toronto 2017.

Granzow, Joachim: Die Löwengrube. Als Arzt in DDR-Haftanstalten Mitte der fünfziger Jahre. Ein Erlebnisbericht. Hg. v. Siegfried Suckut, Berlin 2006.

Mehta, Ved: Remembering Mr. Shawn’s New Yorker. The Invisible Art of Editing, New York 1998.

Nellessen, Bernd: Der Prozess von Jerusalem. Ein Dokument, Düsseldorf 1964.

Renz, Werner: ad Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Die Kontroverse um den »Bericht von der Banalität des Bösen«, Hamburg 2021.

Voegelin, Eric: Hitler und die Deutschen. Hg. v. Manfred Henningsen, München 2006.

O Deutschland, bleiche Mutter!

Wie sitzest du besudelt

Unter den Völkern.

Unter den Befleckten

Fällst du auf.

Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man.

Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer.

Bertolt Brecht (1933)

Vorrede

Dies Buch erschien ursprünglich mit unwesentlichen Kürzungen in fünf Fortsetzungen in der amerikanischen Zeitschrift The New Yorker und wurde kurz darauf im Mai 1963 unter dem gleichen Titel in Amerika in Buchform veröffentlicht. Die von Frau Brigitte Granzow hergestellte deutsche Übersetzung ist von mir durchgesehen; bei der nochmaligen Durchsicht des gesamten Textes habe ich einige unwesentliche Irrtümer beseitigen und eine ganze Reihe von Ergänzungen anbringen können, von denen die wichtigste die von mir ursprünglich nur nebenbei erwähnte Verschwörung vom 20. Juli 1944 betrifft. Der Gesamtcharakter des Buches ist völlig unverändert.

Das Buch ist ein Bericht, und seine Hauptquelle besteht in dem Prozeßmaterial, das in Jerusalem an die Presse ausgehändigt wurde, aber leider bis auf die einleitende Gesamtdarstellung der Anklage und das Plädoyer der Verteidigung nicht veröffentlicht und nur schwer zugänglich ist. Die Verhandlungen wurden auf hebräisch geführt; was die Presse erhielt, sind »wörtliche, unkorrigierte und unredigierte Niederschriften der Simultanübersetzung«, die »keinerlei Anspruch auf fehlerfreie und stilistisch richtige Form erheben« können. Da die deutsche Simultanübersetzung sehr schlecht war, habe ich die englische Fassung benutzt, wenn die Verhandlungen nicht gerade auf deutsch geführt wurden, in welchem Fall die deutsche Niederschrift den getreuen Wortlaut enthält. Für die einleitende Rede des Generalstaatsanwalts und die abschließende Urteilsbegründung habe ich ebenfalls nach Möglichkeit die deutsche Fassung eingesetzt, da diese außerhalb des Gerichtssaals und unabhängig von der Simultanübersetzung angefertigt wurde und durchaus adäquat ist. Keines dieser Protokolle außer der von mir nicht benutzten »offiziellen Niederschrift in hebräischer Sprache« kann als absolut zuverlässig gelten. Immerhin wurde dies ganze Material der Presse offiziell zur Benutzung übergeben, und m. W. sind bisher etwaige wichtige Divergenzen zwischen dem offiziellen hebräischen Gerichtsprotokoll und den Übersetzungen nicht namhaft gemacht worden. Es ist anzunehmen, daß die englischen und französischen Übersetzungen durchaus zuverlässig sind.

Ganz frei von quellenkritischen Bedenken sind die folgenden Prozeßmaterialien, die ebenfalls – mit einer Ausnahme – alle von den Jerusalemer Behörden der Presse übergeben wurden: 1. Das polizeiliche Protokoll des Verhörs, das auf Band aufgenommen und dann Eichmann zur handschriftlichen Korrektur der Maschinenabschrift vorgelegt worden ist. Dies ist neben den Gerichtsprotokollen das wichtigste Dokument. 2. Die von der Anklage eingereichten Dokumente und das ebenfalls von der Staatsanwaltschaft zugänglich gemachte juristische Material. 3. Die sechzehn eidesstattlichen Erklärungen der ursprünglich von der Verteidigung angeforderten Entlastungszeugen, deren Aussagen dann allerdings teilweise auch von der Anklage benutzt wurden: Erich von dem Bach-Zelewski, Richard Baer, Kurt Becher, Horst Grell, Dr. Wilhelm Höttl, Walter Huppenkothen, Hans Jüttner, Herbert Kappler, Hermann Krumey, Franz Novak, Alfred Josef Slawik, Dr. Max Merten, Professor Franz Alfred Six, Dr. Eberhard von Thadden, Dr. Edmund Veesenmayer, Otto Winkelmann. 4. Schließlich habe ich noch ein Manuskript von 70 Schreibmaschinenseiten von Eichmann zur Hand gehabt, das von der Anklage als Beweisstück angeboten und von dem Gerichtshof als solches akzeptiert, aber nicht der Presse zugänglich gemacht wurde. Sein Titel lautet: »Betrifft: Meine Feststellungen zur Angelegenheit ›Judenfragen und Maßnahmen der nationalsozialistischen deutschen Reichsregierung zur Lösung dieses Komplexes in den Jahren 1933 bis 1945‹.« Es handelt sich um Notizen, die sich Eichmann in Argentinien zur Vorbereitung des Sassen-Interviews (s. Bibliographie) gemacht hat.

Die am Ende des Buches angeführte Bibliographie enthält nur, was ich wirklich benutzt habe, nicht aber die unzähligen Bücher, Artikel und vor allem das umfangreiche Zeitungsmaterial, das ich im Laufe der zwei Jahre zwischen der Entführung Eichmanns bis zur Vollstreckung des Urteils gelesen und gesammelt habe. Ich bedauere diese Unvollständigkeit nur in bezug auf die Berichte der Korrespondenten in der deutschen, schweizerischen, französischen, englischen und amerikanischen Presse, da sie oft auf einem erheblich höheren Niveau standen als die später erschienenen, so viel anspruchsvolleren Gesamtdarstellungen in Büchern und Zeitschriften. Aber gerade diese Lücke zu schließen hätte eine unverhältnismäßig große Arbeit erfordert. Daher habe ich mich damit begnügt, die wesentlicheren Bücher und Zeitschriftenartikel, die nach Erscheinen meines Buches herauskamen, einzufügen, jedenfalls soweit sie mir zugänglich waren. Dabei habe ich mit einiger Genugtuung festgestellt, daß in Deutschland zwei Darstellungen des Falles Eichmann erschienen sind, die sich von den üblichen schematischen Gesamtdarstellungen wohltuend unterscheiden und zu oft verblüffend gleichen Resultaten kommen wie ich. Dies gilt für Robert Pendorfs »Mörder und Ermordete. Eichmann und die Judenpolitik des Dritten Reiches«, der vor allem auch die Rolle der Judenräte in der »Endlösung« berücksichtigt, und für den holländischen Berichterstatter Harry Mulisch, dessen »Strafsache 40/61« nahezu der einzige Bericht ist, der sich über die Person des Angeklagten Gedanken macht und dessen Eindruck sich in wesentlichen Zügen mit meinem Eindruck deckt.

Von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen habe ich für den historischen Hintergrund der in Jerusalem verhandelten Tatbestände selbstverständlich keine Quellen und kein Dokumentenmaterial mehr benutzt; auch bei den von mir zitierten Dokumenten handelt es sich in nahezu allen Fällen um solche, die im Prozeß als Beweisstücke vorgelegt wurden. Ich habe durchgängig »Die Endlösung« von Reitlinger herangezogen, vor allem aber mich auf das Werk von Raul Hilberg »The Destruction of the European Jews«, die ausführlichste und auch fundierteste quellenmäßige Darstellung der Judenpolitik des Dritten Reichs, verlassen. Für diese revidierte Fassung habe ich außerdem die erst kürzlich erschienenen ganz ausgezeichneten Personenstudien in J. C. Fest »Das Gesicht des Dritten Reiches« mit großem Gewinn gelesen, da sie urteilsmäßig auf einem selten hohen Niveau stehen. Die Darstellungsprobleme eines Berichts wie des vorliegenden lassen sich am besten mit denen einer geschichtlichen Monographie vergleichen. Nichts dergleichen könnte je zustande kommen, wenn der Historiker bzw. der Berichterstatter sich nicht auf die Arbeiten anderer stützen würde für all das, was außerhalb seines Spezialthemas steht.

Gegen dieses Buch ist noch vor seinem Erscheinen eine organisierte Kampagne in die Wege geleitet worden, die mit identischer Phraseologie von Amerika nach England getragen wurde, um schließlich auf den europäischen Kontinent überzugreifen, lange bevor das Buch dort auch nur zugänglich war. Diese Angriffe beschäftigten sich im wesentlichen damit, ein Propaganda-Phantom, ein sogenanntes »image« zu kreieren, und das Resultat war, daß sich ein Streit um ein Buch erhob, das niemals geschrieben worden ist, wie es in einer Version ja auch in einem »Witzblatt« zuerst publiziert worden sein soll, das es in Amerika nicht gibt. (Das angebliche Witzblatt, The New Yorker, ist eine in Amerika sehr angesehene Zeitschrift, deren Spezialität die ausführliche und ungewöhnlich gründliche, kritische Berichterstattung über Dinge ist, die im allgemeinen öffentlichen Interesse liegen. Hier konnte man vor Jahren die ersten ausführlichen Berichte über den Aufstand im Warschauer Getto oder den Bombenabwurf auf Hiroshima lesen; in jüngerer Zeit hat das Blatt zuerst von der neu entdeckten Armut im Lande, von der bedrohlichen Stimmung unter den Negern und ähnlich aktuellen Dingen berichtet.) Denkwürdig bleibt, daß eine solche bewußte Meinungsmanipulation Resultate zeitigen kann, die sie selbst weder vorausgesehen hat noch zu kontrollieren imstande ist. Wenn also auch der Streit, was das Buch selbst betrifft, weitgehend gegenstandslos ist, so hat das doch nicht gehindert, daß in ihm vieles zur Sprache gekommen ist, was das Denken heutiger Menschen beschäftigt und ihr Gemüt beschwert, wobei sich gezeigt hat, daß die »unbewältigte Vergangenheit« nicht nur ein deutsches und nicht nur ein jüdisches Phänomen ist, sondern daß gerade dieser Teil der Vergangenheit auch heute noch in weitesten Kreisen unvergessen und unbewältigt ist.

Der Streit dreht sich z. B. um das Verhalten des jüdischen Volkes in der Katastrophe der »Endlösung«. Die Frage, ob die Juden sich hätten wehren können oder müssen, die zuerst von dem israelischen Staatsanwalt erhoben und von mir als töricht und grausam bezeichnet wurde, da sie von einer fatalen Unkenntnis der Verhältnisse zeugte, ist bis in die erstaunlichsten Konsequenzen diskutiert worden: die alte historisch-soziologische Konstruktion der »Getto-Psychologie«, die in Israel Eingang in die Geschichtslehrbücher gefunden hat und in Amerika vor allem von dem Psychologen Bruno Bettelheim, allerdings gegen den enragierten Widerspruch des offiziellen amerikanischen Judentums vertreten wird, wurde immer wieder zur Erklärung für ein Verhalten herangezogen, das keineswegs auf das jüdische Volk beschränkt war und also auch nicht aus spezifisch jüdischen Faktoren erklärt werden kann. Bis schließlich jemand, dem das offenbar zu langweilig wurde, auf den genialen Einfall kam, Freudsche Theorien anzuwenden und den Juden einen natürlich unbewußten »Todeswunsch« anzudichten. Der Streit dreht sich ferner um das Verhalten der jüdischen Führung, die man nicht nur kurzerhand mit dem jüdischen Volk identifiziert – sehr im Unterschied zu der klaren Kontrastierung, die in fast allen Berichten von Überlebenden zum Ausdruck kommt und die sich in den Worten eines ehemaligen Theresienstädters zusammenfassen läßt: »Das jüdische Volk in seiner Gesamtheit hat sich fabelhaft benommen. Versagt hat nur die Führung« –, sondern deren Leistungen vor Ausbruch des Krieges und vor allem vor dem Zeitraum der »Endlösung« man aufzählt und in Anspruch nimmt, um die späteren ganz anders gearteten Funktionen zu rechtfertigen.

Aber der Streit dreht sich auch um die deutsche Widerstandsbewegung seit Beginn des Hitler-Regimes, von der bei mir natürlich gar nicht die Rede ist, da es sich bei der Frage von Eichmanns Schuldbewußtsein und dem Bewußtsein seiner Umgebung nur um die Zeit der »Endlösung« handelt oder um die phantastische Frage, ob in Zeiten der Verfolgung die Opfer nicht vielleicht immer »häßlicher« sind als die Mörder oder ob man überhaupt über Vergangenes zu Gericht sitzen dürfe, da man doch nicht dabei gewesen war, oder ob in einem Prozeß der Angeklagte oder die Opfer im Mittelpunkt stehen – wobei einige so weit gehen zu meinen, Eichmann hätte gar nicht zu Wort kommen, also vermutlich auch nicht verteidigt werden dürfen – und ähnliches mehr. Wie es in solchen mit einem großen Aufwand von Unsachlichkeit geführten Diskussionen zu gehen pflegt, mischen sich hier in die Erörterung ernster Sachverhalte nicht nur die deutlichen Absichten bestimmter Interessengruppen, die versuchen, die Tatbestände zu fälschen, sondern in ihrem Gefolge erscheint zumeist das Heer jener mehr oder minder »freischwebenden« Intellektuellen, für die umgekehrt die Tatbestände selbst nur ein Anlaß sind, Einfälle zu produzieren. Aber selbst in diesen Spiegelfechtereien ist manchmal ein gewisser Ernst, ein gewisses Betroffensein zu spüren, wenn sie natürlich auch mit dem Buch als solchem nichts zu tun haben, ja ihre Wortführer sich oft rühmen, das Buch gar nicht gelesen zu haben.

Dies ist auch für eine Diskussion dieser Fragen ganz überflüssig, denn das hier vorliegende Buch hat ein sehr begrenztes Thema, wie bereits sein Titel anzeigt. Im Bericht eines Prozesses kann nur das zur Sprache kommen, was im Prozeß verhandelt wurde oder im Interesse der Gerechtigkeit hätte verhandelt werden müssen. Sind die allgemeinen Umstände des Landes, in dem der Prozeß stattfindet, von Bedeutung für die Prozeßführung, so müssen auch sie in Rechnung gestellt werden. Es handelt sich hier also nicht etwa um die Geschichte der größten Katastrophe, die das jüdische Volk je betroffen hat, noch um die Darstellung des totalen Herrschaftssystems oder um eine Geschichte des deutschen Volkes im Dritten Reich, noch schließlich gar um eine theoretische Abhandlung vom Wesen des Bösen. Im Mittelpunkt jedes Prozesses steht die Person des Angeklagten, ein Mensch aus Fleisch und Blut mit einer individuellen Geschichte, einem immer einmaligen Gemisch von Eigenschaften, Besonderheiten, Verhaltensweisen und Lebensumständen. Alles, was darüber hinausgeht, wie etwa die Geschichte des jüdischen Volkes in der Zerstreuung und der Antisemitismus oder das Verhalten des deutschen Volkes und anderer Völker oder die Ideologien der Zeit und der Herrschaftsapparat des Dritten Reiches, spielt in den Prozeß nur insofern herein, als es den Hintergrund und die Umstände abgibt, unter denen der Angeklagte seine Handlungen begangen hat. Womit er nicht in Berührung gekommen oder was auf ihn ohne Einfluß geblieben ist, muß in der Gerichtsverhandlung und mithin für den Bericht außer Betracht bleiben.

Man kann der Meinung sein, daß alle die allgemeinen Fragen, die wir unwillkürlich aufwerfen, sobald wir auf diese Dinge zu sprechen kommen: Warum gerade die Deutschen? Warum gerade die Juden? Was ist das Wesen der totalen Herrschaft?, viel wesentlicher sind als die Frage nach der Art des Verbrechens, das zur Verhandlung kommt, und nach dem Wesen des Angeklagten, über den Recht gesprochen werden muß, wesentlicher auch als die Sorge darum, in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen unser gegenwärtiges Rechtssystem angesichts dieser besonderen Art von Verbrechen, mit denen es sich seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder konfrontiert sieht, der Gerechtigkeit überhaupt fähig ist. Man kann denken, daß es hier gar nicht mehr um einen bestimmten Menschen geht, der in seiner unverwechselbaren Gestalt auf der Anklagebank sitzt, sondern um das deutsche Volk überhaupt oder den Antisemitismus in allen seinen Gestalten oder um die ganze neuzeitliche Geschichte oder um die Natur des Menschen und die Erbsünde, so daß schließlich das gesamte Menschengeschlecht gleichsam unsichtbar mit auf der Anklagebank sitzt. All dies ist oft geltend gemacht worden, nicht zuletzt von denjenigen, die nicht ruhen und rasten, bis sie nicht »den Eichmann in jedem von uns« entdeckt haben. Versteht man den Angeklagten als ein Symbol und den Prozeß als einen Vorwand, um über Angelegenheiten ins Gespräch zu kommen, die anscheinend interessanter sind als die Schuld oder Unschuld eines Menschen, dann muß man auch die Konsequenzen ziehen und zugeben, daß Eichmann und sein Verteidiger zu Recht behaupteten, er habe nur herhalten müssen, weil man einen Sündenbock gebraucht habe, nicht nur für die Deutsche Bundesrepublik, sondern für das Geschehen im ganzen und für das, was es ermöglicht habe, also für den Antisemitismus und den totalen Herrschaftsapparat sowohl wie für das Menschengeschlecht und die Erbsünde. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß ich niemals nach Jerusalem gegangen wäre, wenn ich diese Meinungen teilte. Ich war und bin der Meinung, daß dieser Prozeß im Interesse der Gerechtigkeit und von nichts sonst stattfinden mußte, und ich denke auch, daß die Richter, als sie in der Urteilsbegründung betonten, daß der »Staat Israel als Judenstaat gegründet und als solcher anerkannt« ist und daß ihm daher Strafhoheit für ein am jüdischen Volk begangenes Verbrechen zusteht, sich mit vollem Recht auf Grotius beriefen, der, seinerseits einen älteren Autor zitierend, dargelegt hat, wie die Würde und Ehre des Verletzten es erfordere, daß Straftaten nicht frei ausgehen.

Nun ist es keine Frage, daß sowohl die Person und die Tatumstände als auch das Gerichtsverfahren selbst Probleme allgemeiner Natur aufgeworfen haben, die weit über das in Jerusalem Verhandelte hinausgehen, und ich habe versucht, auf einige dieser Probleme in dem Epilog dieses Buches, der nicht mehr einfache Berichterstattung ist, einzugehen. Sicher ist das sehr unzulänglich geschehen, und ich könnte mir gut vorstellen, daß nach Einsicht in die Tatbestände eine Diskussion ihrer allgemeinen Bedeutung entsteht, die um so sinnvoller sein könnte, je unmittelbarer sie den konkreten Bezug wahrt. In diesem Sinne könnte ein echter Streit sich auch über den Untertitel des Buches erheben; denn in dem Bericht selbst kommt die mögliche Banalität des Bösen nur auf der Ebene des Tatsächlichen zur Sprache, als ein Phänomen, das zu übersehen unmöglich war. Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, »ein Bösewicht zu werden«. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive; und auch diese Beflissenheit war an sich keineswegs kriminell, er hätte bestimmt niemals seinen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stelle zu rücken. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte. Es war genau das gleiche mangelnde Vorstellungsvermögen, das es ihm ermöglichte, viele Monate hindurch einem deutschen Juden im Polizeiverhör gegenüberzusitzen, ihm sein Herz auszuschütten und ihm wieder und wieder zu erklären, wie es kam, daß er es in der SS nur bis zum Obersturmbannführer gebracht hat, und daß es nicht an ihm gelegen habe, daß er nicht vorankam. Er hat prinzipiell ganz gut gewußt, worum es ging, und in seinem Schlußwort vor Gericht von der »staatlicherseits vorgeschriebenen Umwertung der Werte« gesprochen; er war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist –, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. Und wenn dies »banal« ist und sogar komisch, wenn man ihm nämlich beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann, so ist es darum doch noch lange nicht alltäglich. Es dürfte gar nicht so oft vorkommen, daß einem Menschen im Angesicht des Todes und noch dazu unter dem Galgen nichts anderes einfällt, als was er bei Beerdigungen sein Leben lang zu hören bekommen hat, und daß er über diesen »erhebenden Worten« die Wirklichkeit des eigenen Todes unschwer vergessen kann. Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammen genommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. Aber es war eine Lektion und weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie darüber.

Nicht weniger beunruhigend als dieser bisher unbekannte Verbrechertypus ist die Art des Verbrechens, das hier zur Verhandlung stand. Zwar ist sich alle Welt nachgerade darüber einig, daß das, was in Auschwitz geschah, beispiellos ist; aber die Kategorien, mit denen dies Beispiellose nun politisch und juristisch erfaßbar ist, sind immer noch gänzlich ungeklärt. Denn der hierfür neuerdings eingeführte Begriff des Völkermords (Genocid) ist zwar in gewissem Sinne zutreffend, aber nicht ausreichend, schon weil Völkermorde nicht beispiellos sind – sie waren in der Antike an der Tagesordnung, und die Jahrhunderte der Kolonisation und des Imperialismus kennen mehr oder minder geglückte Versuche in dieser Richtung zur Genüge. Der aus dem englischen Imperialismus stammende Ausdruck »Verwaltungsmassenmord« (administrative massacres, den die Engländer bewußt ablehnten als ein Mittel, die Herrschaft über Indien aufrechtzuerhalten) dürfte der Sache erheblich angemessener sein und zudem den Vorteil haben, mit dem Vorurteil, daß solche Ungeheuerlichkeiten nur einem fremden Volk oder einer andersgearteten Rasse gegenüber möglich sind, aufzuräumen. Ganz abgesehen davon, daß Hitler seine Massenmorde bekanntlich mit dem »Gnadentod« der »unheilbar Kranken« begann und die Absicht hatte, sie mit »erbgeschädigten« Deutschen (Herz- und Lungenkranken) zu enden, liegt es auf der Hand, daß das Ordnungsprinzip, nach dem gemordet wird, beliebig bzw. nur von historischen Faktoren abhängig ist. Es ist sehr gut denkbar, daß in einer absehbaren Zukunft automatisierter Wirtschaft Menschen in die Versuchung kommen, alle diejenigen auszurotten, deren Intelligenzquotient unter einem bestimmten Niveau liegt.

In Jerusalem kam diese Sache ungenügend zur Sprache, weil sie juristisch in der Tat sehr schwer faßbar ist. Wir hörten die Beteuerungen der Verteidigung, Eichmann sei doch nur ein »winziges Rädchen« im Getriebe der »Endlösung« gewesen, und die Meinung der Staatsanwaltschaft, die in Eichmann den eigentlichen Motor entdecken zu können glaubte. Ich selbst habe diesen Theorien ebensowenig Bedeutung beigemessen wie das Jerusalemer Gericht der ersten Instanz, da die ganze Rad-Theorie juristisch belanglos ist und es daher ganz gleichgültig war, in welcher Größenordnung man das »Rädchen« Eichmann unterbringen wollte. Das Gericht gab in seiner Urteilsfindung natürlich zu, daß ein solches Verbrechen nur von einer Riesenbürokratie mit staatlichen Mitteln ausgeführt werden kann; sofern es aber ein Verbrechen bleibt – und dies ist ja die Voraussetzung für die Gerichtsverhandlung –, werden alle Räder und Rädchen im Getriebe vor Gericht automatisch wieder in Täter, also in Menschen zurückverwandelt. Wenn der Angeklagte sich damit entschuldigt, er habe nicht als Mensch, sondern als bloßer Funktionär gehandelt, dessen Funktionen von jedem anderen ebenso hätten ausgeführt werden können, so ist es, als ob ein Verbrecher sich auf die Kriminalstatistik beruft, derzufolge soundso viele Verbrechen pro Tag an dem und dem Orte begangen werden, er also nur das getan habe, was die Statistik von ihm verlangt habe – denn einer muß es dann doch schließlich machen.

Daß es im Wesen des totalen Herrschaftsapparates und vielleicht in der Natur jeder Bürokratie liegt, aus Menschen Funktionäre und bloße Räder im Verwaltungsbetrieb zu machen und sie damit zu entmenschlichen, ist von Bedeutung für die Politik- und Sozialwissenschaften, und über die Herrschaft des Niemand, die eigentliche Staatsform der Büro-kratie, kann man sich lange und mit Gewinn streiten. Nur muß man sich darüber im klaren sein, daß die Rechtsprechung diese Faktoren nur insoweit in Betracht ziehen kann, als sie Umstände der Tat sind – genauso wie bei einem Diebstahl die ökonomischen Verhältnisse des Diebes mit in Rechnung gestellt werden, ohne damit jedoch den Diebstahl zu entschuldigen oder gar aus der Welt zu schaffen. Es trifft zu, daß wir durch die moderne Psychologie und Soziologie und nicht zuletzt durch die moderne Bürokratie weitgehend daran gewöhnt sind, die Verantwortung des Täters für seine Tat im Sinne des einen oder anderen Determinismus hinwegzueskamotieren, und ob diese scheinbar tieferen Erklärungen menschlichen Handelns zu Recht oder zu Unrecht bestehen, ist strittig. Nicht strittig aber ist, daß kein Gerichtsverfahren auf ihrem Grunde möglich wäre und daß die Rechtsprechung, an diesen Theorien gemessen, eine höchst unmoderne, um nicht zu sagen: veraltete Institution ist. Wenn Hitler von dem Tage sprach, an dem es in Deutschland als eine »Schande« gelten werde, Jurist zu sein, sprach er ganz konsequent von dem Tage der vollendeten Bürokratie.

Soweit ich sehen kann, stehen der Rechtswissenschaft für die Erörterung dieses ganzen Fragenkomplexes nur zwei Kategorien zur Verfügung, die m. E. beide in diesem Zusammenhang ganz unzulänglich sind. Es sind dies die Begriffe des »gerichtsfreien Hoheitsaktes« und des Handelns »auf höheren Befehl«. Jedenfalls sind dies die einzigen Kategorien, in denen diese Sachen zumeist auf Antrag der Verteidigung verhandelt werden. Die Theorie des Hoheitsakts stützt sich darauf, daß ein souveräner Staat nicht über einen anderen zu Gericht sitzen kann: par in parem non habet jurisdictionem; praktisch war dies Argument bereits in Nürnberg aussichtslos, weil man ihm zufolge auch Hitler, den einzigen, der ja wirklich im vollen Sinne verantwortlich war, nicht hätte vor Gericht ziehen können, was wiederum dem elementarsten Rechtsgefühl widersprach. Was praktisch aussichtslos ist, ist darum theoretisch noch nicht erledigt, und die üblichen Ausflüchte, daß Deutschland eben zur Zeit des Dritten Reichs von einer Verbrecherbande beherrscht worden sei, der man nicht gut Souveränität und Parität zusichern kann, haben auch nicht viel geholfen, weil ja einerseits jedermann weiß, daß die Analogie mit der Verbrecherbande nur in einem so begrenzten Sinn zutrifft, daß sie eigentlich gar nicht zutrifft, und weil andererseits nicht zu leugnen ist, daß diese Verbrechen sich innerhalb einer »legalen« Ordnung vollzogen, ja, daß dies ihr eigentliches Kennzeichen ist.

Man kann vielleicht der Sache um einiges näherkommen, wenn man sich klarmacht, daß hinter dem Begriff der Staatshandlung die Theorie von der Staatsraison steht. Ihr zufolge können für das Handeln des Staates, der die Verantwortung für die Existenz des Landes und damit auch für die in ihm geltenden Gesetze trägt, nicht die gleichen Regeln gelten wie für die Einwohner. So wie ein gewisses Ausmaß an Gewalt, deren absolute Herrschaft das Gesetz ja gerade ablöst, immer nötig bleibt, um die Existenz des Gesetzes zu sichern, so mag ein Staat, um seinen Bestand zu sichern, sich gezwungen sehen, Handlungen zu begehen, die gemeinhin als Verbrechen gelten, und zwar nicht nur im Kriegsfall und nicht nur in zwischenstaatlichen Verhältnissen. Solche verbrecherischen Staatsaktionen sind bekanntlich in der Geschichte auch zivilisierter Staaten häufig vorgekommen, man denke an die Ermordung des Herzogs d’Enghien durch Napoleon oder die Ermordung des Sozialistenführers Matteotti, die vermutlich auf Mussolini selbst zurückging. Die Staatsraison beruft sich – je nachdem zu Recht oder zu Unrecht – auf die Notwendigkeit, und die in ihrem Namen begangenen Staatsverbrechen, die auch im Sinne des jeweils herrschenden Rechtssystems durchaus kriminell sind, gelten als Notmaßnahmen, die von realpolitischen Erwägungen erzwungen sind, als Zugeständnisse, um sich an der Macht zu halten und damit das bestehende Rechtssystem im ganzen zu sichern. Wenn aber in einer normalen staatlichen und gesetzlichen Ordnung das Verbrechen als Ausnahme von der Regel auftritt und »gerichtsfrei« bleibt, weil die Existenz des Staates selbst auf dem Spiel steht und kein Staat dem anderen entweder die Existenz abstreiten oder ihm vorschreiben kann, wie er seine Existenz bewahren soll, so tritt – wie wir gerade aus der Geschichte der Judenpolitik im Dritten Reich lernen können – in dem prinzipiell verbrecherischen Staatsverband umgekehrt die nichtverbrecherische Handlung (also z. B. der Himmler-Befehl im Spätsommer 1944, die Judendeportationen zu stoppen) als ein von der Realität, nämlich der drohenden Niederlage, erzwungenes Zugeständnis an die Notwendigkeit auf. Hier erhebt sich die Frage, wie es um die Souveränität eines solchen Gebildes steht. Hat es nicht die völkerrechtlich vorausgesetzte Parität (par in parem non habet iurisdictionem) aus eigener Machtvollkommenheit gebrochen? Ist das »par in parem« wirklich nur formal gemeint oder liegt ihm nicht vielmehr auch eine substantielle Gleichheit oder Gleichartigkeit zugrunde? Oder anders gewendet: Kann für eine staatliche Ordnung, in der das Verbrechen legal und die Regel ist, der gleiche Grundsatz gelten wie für einen Staatsapparat, in dem das Verbrechen und die Gewalt als Ausnahmen und Grenzfälle erscheinen?

Wie ungenügend die juristischen Begriffe in Wahrheit auf den wirklich vorliegenden verbrecherischen Tatbestand, der in all diesen Prozessen verhandelt wird, vorbereitet sind, kommt vielleicht noch eklatanter in dem Begriff des Handelns auf höheren Befehl zum Ausdruck. Das Jerusalemer Gericht begegnete dem von der Verteidigung vorgebrachten Argument mit ausführlichen Zitaten aus den Straf- und Militärgesetzbüchern zivilisierter Länder, vor allem auch Deutschlands, das die einschlägigen Paragraphen unter Hitler keineswegs außer Kraft gesetzt hatte; sie alle stimmen darin überein, daß offensichtlich verbrecherische Befehle nicht befolgt werden dürfen. Der Gerichtshof berief sich außerdem auf ein vor einigen Jahren in Israel stattgefundenes Verfahren, in dem Soldaten vor Gericht gestellt wurden, die kurz vor Beginn der Sinaikampagne die zivile Bevölkerung eines an der Grenze gelegenen arabischen Dorfes niedergemetzelt hatten, weil sie während einer militärisch verhängten Ausgehsperre, von der sie offenbar nichts wußte, außerhalb ihrer Wohnungen angetroffen worden war. Leider hinkt bei näherem Zusehen der Vergleich, auf den das Gericht sich in seiner Gegenargumentation stützte, gleichsam auf beiden Beinen. Vorerst ist auch hier zu berücksichtigen, daß das Verhältnis von Ausnahme und Regel, das für das Erkennen des verbrecherischen Befehls von seiten des Befehlsempfängers von ausschlaggebender Bedeutung ist, sich im Falle der Handlungen Eichmanns in einer Weise verkehrt hatte, daß man mit diesem Argument gerade verteidigen könnte, daß Eichmann bestimmte Himmler-Befehle nicht oder nur zögernd befolgte, was die Urteilsfindung in einem anderen Zusammenhang als besonders belastend für den Angeklagten erkannte. Denn wenn die einschlägige, im Prozeß zitierte Argumentation israelischer Militärgerichte verlangt, daß »das Kennzeichen eines augenscheinlich unrechtmäßigen Befehls […] wie eine schwarze Fahne über dem erteilten Befehl wehen muß, wie ein Warnungszeichen, welches besagt ›Verboten!‹«, so ist offenbar vorausgesetzt, daß der Befehl, um für den Soldaten »augenscheinlich unrechtmäßig« zu sein, den Rahmen des ihm gewohnten Rechtssystems durch seine Ungewöhnlichkeit sprengt. Die israelische Rechtsprechung in diesen Dingen stimmt mit der anderer Länder durchaus überein; zweifellos schweben den Gesetzgebern bei der Formulierung dieser Paragraphen Fälle vor Augen, in denen etwa ein Offizier, der plötzlich verrückt geworden ist, seinen Untergebenen befiehlt, einen anderen Offizier zu töten. Jede normale Gerichtsverhandlung in dieser Sache dürfte wohl sofort an den Tag bringen, daß man sich für die dem Soldaten zugemutete Erkenntnis keineswegs auf die Stimme des Gewissens bzw. ein »Rechtsgefühl« verläßt, »das in den Tiefen jedes Menschen, solange er ein Mensch ist, verankert ist, auch wenn er mit den Gesetzbüchern nicht vertraut ist«, sondern vielmehr darauf, daß ein jeder Regel und auffällige Ausnahme von der Regel zu unterscheiden befähigt ist. Daß das Gewissen nicht genügt, ist zudem ausdrücklich zumindest im § 48 des deutschen Militärgesetzbuches festgelegt: »Die Strafbarkeit einer Handlung oder Unterlassung ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß der Täter nach seinem Gewissen oder den Vorschriften seiner Religion sein Verhalten für geboten hält.« Auffallend in der Argumentation des israelischen Gerichtshofs ist, daß die Vorstellung von dem in den Tiefen jedes Menschen verankerten Rechtsgefühl lediglich als ein Ersatz für die Vertrautheit mit dem Gesetz auftritt, daß also vorausgesetzt ist, daß das Gesetz nur ausspricht, was die Stimme des Gewissens jedem Menschen ohnehin sagt. Will man diese ganze Konstruktion sinngemäß auf den Fall Eichmann anwenden, so kann man nur zu dem Schluß kommen, daß Eichmann sich durchaus im Rahmen der hier geforderten Urteilsfähigkeit gehalten hat: er hat im Sinne der Regel gehandelt und die an ihn ergangenen Befehle auf ihre »offensichtliche« Rechtmäßigkeit, nämlich Regularität hin geprüft; auf sein »Rechtsgefühl« brauchte er sich nicht zu verlassen, da er nicht zu denen gehörte, die mit den Gesetzen des Landes nicht vertraut waren; das genaue Gegenteil war der Fall.

Das andere Bein, auf dem der Vergleich hinkt, ist die übliche Praxis, den Einwand des Handelns auf höheren Befehl als Strafmilderungsgrund zuzulassen. Der Einwand des höheren Befehls, so heißt es in der Jerusalemer Urteilsfindung, kann nicht von der Verantwortlichkeit befreien, aber er »ermächtigt die Gerichte, solch einen Befehl als Strafmilderungsgrund in Erwägung zu ziehen«. In dem von mir erwähnten Fall der Niedermetzelung arabischer Einwohner des Dorfes Kfar Kassem wurden die Soldaten zwar unter Anklage auf Mord gestellt, dann aber auf Grund des Strafmilderungsgrundes zu verhältnismäßig geringfügigen Freiheitsstrafen verurteilt. Gewiß, hier handelte es sich um einen einzelnen Akt und nicht wie bei Eichmann um eine jahrelang ausgedehnte Tätigkeit, in der sich Verbrechen an Verbrechen reihte. Hätte man aber auf ihn die Bestimmungen für Handeln auf höheren Befehl im Sinne der israelischen Praxis angewandt, so hätte man schwerlich zum Aussprechen der Höchststrafe kommen können. Daß der »höhere Befehl«, selbst wenn seine Unrechtmäßigkeit augenscheinlich ist, das Funktionieren des »Rechtsgefühls« erheblich stören kann, gibt auch die israelische Rechtspraxis ohne weiteres zu.

Dies ist nur ein Beispiel unter vielen, an dem man die offenbare Unzulänglichkeit des herrschenden Rechtssystems und der gängigen juristischen Begriffssprache angesichts der Tatbestände des staatlich organisierten Verwaltungsmassenmords aufzeigen und diskutieren kann. Sieht man genauer zu, so wird man unschwer feststellen, daß die Richter in all diesen Prozessen eigentlich nur auf Grund der ungeheuerlichen Tatbestände, also gewissermaßen frei urteilten, ohne Zuhilfenahme der Normen und rechtlich festgesetzten Maßstäbe, mit denen sie mehr oder minder überzeugend ihre Urteilsfindung dann zu begründen suchten. Dies war schon in Nürnberg evident, wo die Richter einerseits erklärten, daß das »Verbrechen gegen den Frieden« das schwerste der vor ihnen verhandelten Verbrechen sei, da es alle anderen Verbrechen in sich trage, dann aber die Todesstrafe nur gegen diejenigen aussprachen, die an dem neuen Verbrechen des Verwaltungsmassenmords beteiligt gewesen waren, also an einem angeblich weniger schweren Delikt als dem Friedensbruch. Es wäre in der Tat lohnend, diesen und ähnlichen Inkonsequenzen auf einem so auf Konsequenz versessenen Gebiet wie der Rechtsprechung nachzugehen, was hier natürlich nicht geschehen kann.

Damit kommen wir zu einer anderen der grundsätzlichen Fragen, die in allen diesen Nachkriegsprozessen und natürlich auch im Eichmann-Prozeß berührt wurde und um die sich zu streiten in der Tat lohnen würde. Sie betrifft das Wesen und das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft. Was wir in diesen Prozessen fordern, ist, daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen. Und diese Frage ist um so ernster, als wir wissen, daß die wenigen, die unbescheiden genug nur ihrem eigenen Urteil trauten, keineswegs identisch mit denjenigen waren, für die die alten Wertmaßstäbe maßgebend blieben oder die sich von einem kirchlichen Glauben leiten ließen. Da die gesamte tonangebende Gesellschaft auf die eine oder andere Weise Hitler zum Opfer gefallen war, waren auch diese gesellschaftsbildenden moralischen Maximen und die gemeinschaftsbildenden religiösen Gebote gleichsam verschwunden. Diejenigen, die urteilten, urteilten frei; sie hielten sich an keine Regel, um unter sie Einzelfälle zu subsumieren, sie entschieden vielmehr jeden einzelnen Fall, wie er sich ihnen darbot, als ob es allgemeine Regeln für ihn nicht gäbe.

Wie tief diese Frage des Urteilens und, wie man oft meint, des Aburteilens Menschen unserer Zeit beunruhigt, hat sich auch in dem Streit um das vorliegende Buch wie in dem in vielem ähnlich gelagerten Streit um Hochhuths »Stellvertreter« gezeigt. Weder Nihilismus noch Zynismus, wie man vielleicht hätte erwarten dürfen, aber eine ganz außerordentliche Verwirrung in den Elementarfragen des Moralischen ist zutage getreten, als sei das Moralische nun wahrlich das letzte, was sich in unserer Zeit von selbst versteht. Hierfür sind die zahlreichen Kuriosa, die in diesen Streitigkeiten aufgetaucht sind, vielleicht besonders bezeichnend. So meinte man in amerikanischen Literatenkreisen ganz naiv, daß Versuchung und Zwang eigentlich dasselbe sind, daß man von niemandem verlangen kann, daß er der Versuchung widerstehe. (Wenn jemand dir die Pistole auf die Brust setzt und dir befiehlt, deinen besten Freund zu erschießen, dann mußt du ihn eben erschießen. Oder – vor einigen Jahren anläßlich des Fernsehskandals in dem Quizprogramm, in dem ein Universitätsprofessor geschwindelt hatte – wenn soviel Geld auf dem Spiel steht, wer könnte da widerstehen?) Das Argument, daß man nicht urteilen kann, wenn man nicht dabeigewesen ist, überzeugt jedermann überall, obwohl es doch offenbar sowohl der Rechtsprechung wie der Geschichtsschreibung die Existenzberechtigung abspricht. Im Gegensatz zu diesen Konfusionen ist der Vorwurf der Selbstgerechtigkeit, den man gegen die Urteilenden erhebt, uralt, aber er ist darum nicht begründeter. Auch der Richter, der einen Mörder verurteilt, kann noch sagen, wenn er nach Hause geht: And there, but for the grace of God, go I! Alle deutschen Juden verurteilen einstimmig die Welle der Gleichschaltungen, die 1933 durch das deutsche Volk ging und sie von einem Tag zum anderen isolierte. Sollte sich wirklich keiner von ihnen je gefragt haben, wie viele von ihnen sich wohl gleichgeschaltet hätten, wenn man es ihnen erlaubt hätte? Ist darum ihr Urteil weniger berechtigt?

Die Reflexion auf das eigene mögliche Verhalten kann Anlaß sein, zu verzeihen, aber so meinen es diejenigen, die sich auf christliche Barmherzigkeit berufen, offenbar nicht. So sagt etwa eine Erklärung der »Evangelischen Kirche in Deutschland« nach dem Kriege: »Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist.« (Zitiert nach Pfarrer Aurel von Jüchen in »Summa Iniuria oder Durfte der Papst schweigen?«, rororo 591, S. 195.) Vor dem Gott der Barmherzigkeit wird, wie mir scheint, ein Christ schuldig, wenn er Böses mit Bösem vergilt. Uns Juden aber ist das Böse unbekannt, um dessentwillen man sechs Millionen Menschen ermordet hat. Haben sich aber die Kirchen, wie sie selbst erklären, an einem Frevel mitschuldig gemacht, so dürfte dafür immer noch der Gott der Gerechtigkeit zuständig sein.

Worüber man sich in weiten Kreisen der öffentlichen Meinung einig zu sein scheint, ist, daß man überhaupt nicht urteilen dürfe, jedenfalls nicht, wenn das Urteil Personen betrifft, die Ansehen genießen. Der Weg der Argumentation ist immer der gleiche: er biegt von den verbürgten, belegbaren Einzelheiten ab ins Allgemeine, in dem alle Katzen grau und wir alle gleich schuldig sind. Gegen die Anklage, die Hochhuth gegen einen einzelnen Papst erhoben hat und die man dokumentarisch belegen kann, stellt man die Anklage gegen das Christentum überhaupt, oder man sagt: »Zweifellos gibt es Grund für schwere Beschuldigungen, aber der Angeklagte ist das ganze Menschengeschlecht« (Robert Weltsch). Oder den »Einzelheiten«, die für eine Beurteilung immer entscheidend bleiben, wird ein »Gesamtbild« entgegengestellt, in dem alle Einzelheiten bruchlos aufgehen und demzufolge allerdings niemand hätte anders handeln können, als er eben gehandelt hat. Solch ein Gesamtbild ist die »Gettopsychologie« des jüdischen Volkes, das alles wirklich Geschehene zudeckt. Im Rahmen des Politischen gehören zu diesen zu nichts verpflichtenden, leeren Allgemeinheiten die Vorstellungen von einer Kollektivschuld bzw. Kollektivunschuld der Völker, die automatisch des Urteilens und der damit verbundenen Risiken entheben. Und wenn man auch in den Fällen der von der Katastrophe unmittelbar betroffenen Gruppen – der christlichen Kirchen, der jüdischen Führung zur Zeit der »Endlösung«, der Männer vom 20. Juli – verstehen kann, daß es schwerhält, das herzugeben, woran man sich noch gerade halten zu können hoffte, so ist diese Abneigung zu urteilen und das Ausweichen vor aller Verantwortlichkeit, die man einzelnen zuschreiben und zumuten kann, doch so weit verbreitet, daß es mit dieser Art der Motivation letztlich nicht zu erklären ist.