Eiderstedt und Erzgebirge. Ein Liebesroman - Angelika Singer - E-Book

Eiderstedt und Erzgebirge. Ein Liebesroman E-Book

Angelika Singer

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Beschreibung

Angelika Singer erzählt unterhaltsam eine heitere Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann von der Nordseeküste und einem Mädchen aus dem Erzgebirge.

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Seitenzahl: 204

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Inhalt

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Impressum

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Angelika Singer

EIDERSTEDT UND ERZGEBIRGE

Ein Liebesroman

für Rosa

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright (2008) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

www.engelsdorfer-verlag.de

eISBN: 978-3-86901-110-3

Die Großbäckerei in Garding liegt etwas außerhalb des Ortes und ist für Fremde nur schwer zu finden. Auf dem Firmenparkplatz stand Auto an Auto. Der Betrieb hatte gut zu tun und Arbeitsplätze waren hier im Norden so wertvoll wie anderswo auch. Die Produktion von Brot, Brötchen und Feingebäck lief auf Hochtouren.

Zwischen den weißbekittelten und bemützten Arbeiterinnen und Arbeitern an der Backstrecke wuselte ein junger Mann hin und her. Er nahm Qualitätsproben und scherzte zwischendurch mit den Kollegen.

„Lars, gib mir doch mal ein büschen Teig“, bat er einen etwa gleichaltrigen Mitarbeiter.

„Was willst Du denn damit, die Kontrolle ist hier schon durch, Ole!“

„Wirst schon sehen“, antwortete der und ließ ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht gleiten. Gleichzeitig griff er nach dem gereichten Teigklumpen und formte geschickt ein Herz daraus, welches er zwischen die auf dem Band laufenden Rundstücke platzierte. Kurz vor dem Backofen wurden die Teigstücke von einer jungen Frau überwacht. Fehlerhaftes sortierte sie aus. Als sie zwischen all dem vorschriftsmäßigen Backwerk das Herz entdeckte, lächelte sie und schaute sich suchend um.

„Hab’ ich doch geahnt, dass Du hier bist, Ole!“

Ole Nissen lachte, schob seine Hygienehaube aus der Stirn und küsste sie von hinten auf den Hals.

„Ich muss noch durch die Brotabteilung und das Ersatzteil für den Teigkneter bestellten, aber dann ist Feierabend für heute. Treffen wir uns wie immer am Strand, Ida?“, bat er sie.

„Schiet, jetzt ist das Herz durch den Backofen gelaufen“, lachte Ida und gab ihm einen Klaps auf den Po.

„Wir treffen uns wie immer. Vergiss Deine Badesachen nicht.“

Sie wandte sich wieder konzentriert ihrer Arbeit zu. Bei der Geschwindigkeit, mit der das Band lief, waren längere Gesprächspausen unmöglich.

Lars hatte während dessen auf der anderen Seite grinsend weiter gearbeitet. Als Ole zu ihm wechselte, konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen.

„Rüm Hart und klar Kimming – so warst Du immer schon, Ole“, warf er seinem Freund über die Schulter zu.

„Hättest Du denn nicht mal Lust, so richtig über die Strenge zu schlagen? Ida kennst Du seit der Schulzeit. Ich vermute, ihr habt euch bereits im Kindergarten ewige Treue geschworen.“

Ole wischte sich seine bemehlten Hände am Kittel ab. Er sprach langsam und bedächtig.

„Was meinst Du mit ‘über die Strenge schlagen’? Reeperbahn? Swingerclub oder was? Ida ist genau richtig für mich. Das kannst Du gar nicht beurteilen, mit Deinem ständigen ...“

Er suchte nach einem nicht all zu deftigem Ausdruck für Lars lockeren Lebenswandel.

„Unsere bayerischen Badegäste sagen ‘Gespusi’ dazu. Hat was von Spuk und Gespenst und genauso schnell, nach Mitternacht, ist es bei Dir wieder vorüber. Nee, für mich passt das nicht. Ich will klare Verhältnisse.“

Lars legte ihm versöhnlich die Hand auf die Schulter.

„Na, jeder nach seiner Fasson, wie schon der alte Fritz sagte. Übrigens, zur Feuerwehrübung kann ich morgen nicht kommen. Du weißt doch, unsere neuen Feriengäste: Die attraktive Kölnerin ...“

Er zwinkerte vertraulich, musste sich aber schnell wieder seiner Aufgabe zuwenden, weil einige Teigklumpen sich ineinander verkeilten und damit den Produktionsablauf behinderten.

Ole wollte etwas erwidern, hob dann aber nur hilflos die Hände und schlug den Weg zum Meisterbüro ein.

*

Ole Nissen saß im Meisterbüro der Bäckerei und schrieb die Bestellung für das defekte Teil der Teigknetmaschine. Seine Hygienemütze hatte er abgenommen und neben sich auf den Schreibtisch gelegt, so dass sein dichter blonder Haarschopf sichtbar war. Genau der gleiche Blondton wie bei Ida, nur mit dem Unterschied, dass sie ihre Haare als langen blonden Zopf trug. Man könnte sie fast für Geschwister halten, dabei sind sie ein Liebespaar und sparen auf ihre Hochzeit.

Ruhig und zuverlässig, war Ole schon in der Ausbildung zum Bäckergesellen positiv aufgefallen. Zum Meisterlehrgang musste ihn allerdings der alte Söllring – sein Lehrausbilder – mit einer List überreden. Ole traute sich nicht zu, eine Abteilung zu leiten. Vor allem das viele Hin- und Hergerede mit den Leuten fürchtete er. Wo er doch am liebsten still vor sich hin arbeitete. Zurückhaltend und schweigsam wie er war, lehnte er das Angebot ab.

Der alte Söllring hielt ihn aber gerade deshalb für den richtigen Mann.

„Lackaffen und Maulupreeser haben wir genug – in der Ruhe liegt die Kraft.“

In einer ruhigen Stunde nahm er ihn beiseite.

„Weeßt Du, min Jung, die Frauen wollen stolz auf ihre Männer sein, das kannst Du mir ruhig glooben, denn ich habe schon über vierzig Jahre Eheerfahrung. Na, und Geld kann es in einer jungen Familie gar nicht genug geben. Wollt ihr nicht Idas Elternhaus ausbauen? Hebb ick nu recht, oder hebb ick nich?“

Dann drückte er ihm das Anmeldeformular für die Meisterschule in die Hand.

Ole verbrachte damals eine schlaflose Nacht, in der er keine Ruhe fand und in der Dunkelheit schließlich an den Strand lief. Das murmelnde Geräusch der auflaufenden Flut beruhigte ihn. Und als im Morgengrauen unter Vogelrufen die Umrisse der Strandbauten deutlich hervortraten, hatte er sich entschieden.

Die Meisterschule in Husum absolvierte er als einer der Besten seines Jahrganges. Na ja, und die Sache mit dem Reden stellte sich dann doch nicht als so schlimm heraus. Die Leute seiner Abteilung kannten ihn ja, da wusste jeder von sich aus was zu tun ist. In den Quartalsberichten erreichte seine Abteilung immer ordentliche Zahlen.

Die Mitarbeiter mochten ihn, weil er auch auf ihre Sorgen und Probleme einging und Kritik nur hinter verschlossenen Türen übte. Trotz seiner Jugend besprachen sie auch Privates mit ihm. Er galt als verschwiegen und hilfsbereit.

Die Firmenleitung bemängelte nur, dass es ihm gelegentlich an Härte fehlte, aber wenn er Produktionsziele auf seine Weise erreichte, entstand daraus für ihn kein Nachteil.

Die Tür des Meisterbüros ging auf und ein Auszubildender steckte seinen Kopf herein:

„Moin, Moin Meister. Einen schönen Gruß vom Ewald, ob Sie gleich mal mit ins Betriebsratszimmer kommen können, dort ist eine Sondersitzung anberaumt. Ich bin der Azubi-Vertreter.“

Der schlaksige Lehrling stand wartend zwischen Tür und Angel.

Ole räumte die Bestellformulare beiseite und griff nach seiner Mütze.

„Betriebsrat? Jetzt? Was soll denn das, ich habe gleich Feierabend. Die planen ihre Termine sonst auch Monate im Voraus. Aber keine Sorge, ich komme.“

Nachdem der Azubi ihm vorausgeeilt war, ordnete Ole noch seinen Schreibtisch. Alles musste bei ihm seinen Platz haben. Die Mehlbestellungen, die Übersicht der Ersatzteilfirmen, alles Computerzubehör und auch die Regale mit der noch verpackten Hygienekleidung. Er war der Meinung, dass der Zustand des Arbeitsplatzes Rückschlüsse auf die Lebensführung eines Mitarbeiters ermöglichte. Wenn alles durcheinander lag, konnte das kein anständiger Kerl sein. Er betrieb sozusagen Charakterstudien auf diese Weise.

Die Treppen zum Büro des Betriebsrates nahm er in großen Sätzen, immer gleich drei Stufen auf einmal. Da freut man sich auf den Feierabend und jetzt kommen die mit ihrem Verwaltungskram. Ob sich jemand wegen des Scherzes mit dem Teigherz beschwert hat?

*

Im Beratungszimmer des Betriebsrates waren fünf Leute versammelt. Die meisten trugen Bäckerei-Berufskleidung, nur Ewald, der Vorsitzende, ein bulliger Mann kurz vor dem Rentenalter, saß in seiner üblichen Zivilkleidung an der Stirnseite des Konferenztisches. Er wischte sich in kurzen Abständen mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn.

„Leute, ich habe euch rufen lassen, weil die Lage ernst ist. Die Firmenleitung hat uns heute mitgeteilt, dass die Produktion teilweise ausgelagert und die Belegschaft reduziert wird. Genaue Zahlen folgen. Offizielle Begründung: Absatzprobleme.“

Eine couragierte Frau mittleren Alters sprang von ihrem Stuhl auf und lachte höhnisch:

„Absatzprobleme – von wegen. Die lassen sonstwo produzieren, natürlich für viel geringerem Lohn!“

Hans Hansen, welcher seit ewiger Zeit im Vertrieb saß, betrachtete gedankenverloren seine Hände.

„In Wismar wird nächste Woche eine nagelneue Großbäckerei übergeben. Produktionskapazität etwa dreimal so hoch wie unser Betrieb. Glauben die wirklich, wir können nicht eins und eins zusammenzählen? Die da drüben bekommen die Hälfte von unserem Lohn und sind trotzdem zufrieden überhaupt Arbeit zu haben. Jetzt wissen wir wenigstens, wofür wir all die Jahre Solidaritätszuschlag gezahlt haben. Freut einem doch, wenn man weiß, wo das Geld bleibt.“

Verbittert stand er auf, zog seinen Kittel aus, warf ihn auf den Tisch und ging grußlos.

Ewald hob hilflos die Hände.

„Ich kann Euch nur sagen, was mir mitgeteilt wurde. Alles andere ist reine Spekulation. Wir werden in den nächsten Tagen einen Sozialplan ausarbeiten. Ole, Du informierst die Leute in der Produktion und versuchst, erst einmal für Ruhe zu sorgen. Morgen um die gleiche Zeit treffen wir uns wieder hier.“

Als die anderen den Raum mit hängenden Köpfen verließen, blieb Ole zurück.

Ewald Piepenbrock war auf seinem Stuhl zusammengesunken und hielt das Taschentuch, mit dem er sich die ganze Zeit immer wieder die Stirn abwischte, in der geballten Faust.

„Mensch Ole, so hebb ick mir meinen Abgang aus der Firma nicht vorgestellt. Da ist man fast ein halbes Jahrhundert in einem Unternehmen und bereitet schon die Rede für die Pensionsfeier vor und jetzt das.“

„Ja“, nickte Ole, „aber Du gehst schlimmstenfalls in den vorgezogenen Ruhestand, die anderen finden in unserer Branche hier in der Gegend kaum etwas.“

Ewald Piepenbrock schaute durch ihn hindurch und starrte ins Leere.

„Manchmal frag’ ich mich, wo das enden wird. Gewinnmaximierung um jeden Preis. Für uns ging’s früher immer nur voran. Jedes Jahr ein bisschen mehr Wohlstand. Neue Autos, neue Einrichtung, Urlaubsreisen ... Wir dachten, für euere Generation wird’s noch leichter, so ne Art goldenes Zeitalter ...“

Ole Nissen spürte, dass Ewald nicht mehr ansprechbar war und schloss leise die Tür hinter sich.

Während er im Umkleideraum seine Berufskleidung verstaute, kam Lars aus der Dusche.

„So ein Schiet aber auch! Weißt Du schon Genaues oder kommst Du gar ungeschoren davon?“

Hilflos ließ sich Ole auf die Bank neben ihm fallen.

„Keine Ahnung. Namen sind noch nicht genannt worden. An so etwas war doch überhaupt nicht zu denken, wir hatten immer ordentlich zu tun und die Zahlen stimmten auch.“

Lars warf wütend seine Badeschlappen in den Spind.

„Deine vielleicht. Heutzutage versucht jedes Unternehmen auf Teufel komm raus höhere Gewinne zu erzielen. Egal wie. Und wir sind dabei die Dummen.“

Tief Luft holend, stand Ole auf.

„Uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, was die aushecken. Kein schönes Gefühl.“

Die beiden Männer verabschiedeten sich mit einem Schlag auf die Schulter.

Ole nahm wenig später den längeren Weg durch die Salzwiesen. Er wollte in Ruhe nachdenken. Sein Auto parkte nahe am Golfplatz in Böhl. Hier hatten er und Ida seit sie denken konnten, ihren geheimen Treffpunkt. Als Jugendliche waren sie immer mit den Fahrrädern hierhin geradelt, inzwischen verfügten beide über ein Auto. Trotzdem nutzte Ole noch gern sein Rad. Von seinem Elternhaus in Tating waren die fünf Kilometer leicht zu bewältigen. Ida suchte damals diesen Küstenabschnitt für ihre Rendezvous aus. Sie wollte einen großen Sicherheitsabstand zur elterlichen Kontrolle schaffen. Ida wohnte in Ording. Am anderen Ende von St. Peter. Das große Reetdachhaus hinter der Ordinger Kirche vermietete die Familie Claasen in dieser Saison letztmalig an Touristen. Es galt als abgemacht, im nächsten Frühjahr mit dem Umbau zu beginnen. Sobald die Handwerker fertig waren, sollte Hochzeit gehalten werden. Natürlich in der Ordinger Kirche. Wo sonst? St. Nikolai in der Utholmer Straße war ihre Kirche. Die im Stil des zurückhaltenden norddeutschen Barocks erhaltene Ausstattung mit dem hölzernen Tonnengewölbe und dem darauf gemalten Sternenhimmel war der einzig denkbare Ort für ihre Eheschließung. Sie haben seit langem für die Hochzeit und den Hausumbau gespart.

Für die Schönheit der Küstenlandschaft, das Lerchenjubilieren und Möwengeschrei, das Glitzern der See gegen die Sonne und das sanfte Wiegen der Salzweiden hat Ole heute keinen Blick. So genussvoll er sich sonst dem Meer näherte, heute schwirrten tausend Gedanken durch seinen Kopf. Er fühlte sich, als würde er auf Treibsand gehen. Kein fester Boden mehr, alles gab nach. Was, wenn er auch unter den Entlassenen war?

Auf einer Weide setzten sich wie auf Kommando einige Schafe mit ihren Lämmern in Bewegung und folgten Ole neben dem Weg. Er nahm sie nicht war. Als er Sandboden unter seinen Füßen spürte, kam ihm Ida schon entgegengelaufen.

Sie legte ihren Zeigefinger auf seinen Mund.

„Brauchst gar nichts sagen – ich weiß schon Bescheid.“ Wortlos schlang er seine Arme um sie.

*

Ole Nissen saß Tage später in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer und surfte auf der Suche nach interessanten Stellenangeboten durchs Internet. Nichts. Jedenfalls nichts in seiner Nähe. Auf Sylt suchte ein renommiertes Hotel einen Konditor. Sylt. Wäre kein Problem für ihn. Langer Arbeitsweg, das stimmt, aber darüber brauchte er nicht weiter nachzudenken. Ole war eben kein Konditor.

Seine Mutter, eine kleine energische Frau, klopfte an die Tür. In der einen Hand das Geschirrtuch, in der anderen einen Briefumschlag. Der Postbote hatte ihr, wie üblich, die Post mit einem freundlichen Gruß durch das Küchenfenster gereicht. Herr Olaf Jensen war nicht einfach nur ein Postbote. Das mochte anderswo so sein, hier nicht. Der Mann war eine Institution. Ein Tausendsassa. Abends hielt er vor den Feriengästen fesselnde heimatkundliche Vorträge, denen auch Universitätsprofessoren auf Nordseeurlaub ge-bannt lauschten. Nebenher war er noch Schauspieler. In der Speeldeel von St. Peter. Gerade studierte er die Hauptrolle in dem Stück „Willy, de Fruchtboare“ ein. Mudder Nissen hätte doch zu gern gewusst, was es damit auf sich hatte. Bei diesem vielversprechendem Titel! Nur der Stempel auf dem Briefumschlag ließ ihr keine Ruhe für einen Schnack.

Großbäckerei Garding. Oles Arbeitgeber. Nach dem, was der Junge in knappen Worten angedeutet hatte, befürchtete sie das Schlimmste.

Sie ließ Olaf Jensen für heute unbehelligt ziehen und stemmte sich die steile Stiege zu Oles Zimmer hinauf.

„Ole, hier ist ein Brief für Dich von Deiner Firma. Das kann nichts Gutes bedeuten.“

Er schaltete den Rechner aus und dreht sich langsam um.

„Den möchte ich gar nicht aufmachen. Kann mir schon denken, was da drinsteht.“

Mudder Nissen schaute ihm tief in die Augen. Mochte der Junge auch erwachsen sein, so blieb er doch, so lange sie lebte, ‘mien leeve Jung’. Sie musste an sich halten, ihm nicht wie früher über den Kopf zu streichen. Da war er eigen. Einen ausgewachsenen Mann streichelte man nicht mehr wie einen Dreijährigen, was sollten denn die Leute denken! Also hielt sie ihre Hand im Zaum und holte tief Luft.

„Mien leeve Jung, nu steck man nich den Kopp in Sand! Du büst jung un sitt’s full Mumm. Ok wenn se Di opkünnigt hebbt, dorvun geiht de Welt nich ünner, Du fangst annerwegens nied an!“

„Woanders! Auf Eiderstedt ist das fast unmöglich. Nicht mal im Internet habe ich etwas in Nordfriesland gefunden.“

Er nahm ihr den Brief aus der Hand und riss ihn auf. Schnell waren die wenigen Zeilen überflogen.

„Da: Kündigung – wie befürchtet. Betriebsbedingt und fristgerecht. Wenigstens eine Abfindung gestehen sie mir zu.“

Mudder Nissen wand ihr Geschirrtuch zwischen den Händen. Auch wenn es schwerfiel, sie musste es ihm sagen.

„Ida wollen sie behalten. Ich habe ihre Mutter heute Morgen beim Einkaufen getroffen. Weil Ida keinen Meisterbrief hat, kostet sie dem Unternehmen weniger.“

Ole schaute seine Mutter entgeistert an.

„Das auch noch. Und wir haben gedacht, immer zusammen arbeiten zu können.“

Mit einer schnellen und wütenden Handbewegung zerriss er den Brief.

„Morgen gehe ich ins Arbeitsamt.“

*

Die Flure des Arbeitsamtes der Kreisstadt Husum waren voller Menschen.

Die Frau am Empfang bat ihn, eine Nummer zu ziehen. Ole Nissen war noch nie im Arbeitsamt gewesen. In der Großbäckerei Garding hatte er seine Lehre absolviert, war übernommen worden, anschließend den Meisterlehrgang besucht und seit drei Jahren führte er die Abteilung. Arbeitslosigkeit – das war für ihn kein Thema. Bis jetzt.

„Sie müssen Geduld haben. Sie sehen doch selbst, was hier los ist.“

Antwortete die Dame an der Rezeption, als er nach einer Stunde nachfragte.

Endlich, nachdem seine Nummer aufblinkte, saß er einer ältlichen Sachbearbeiterin gegenüber, deren Gesicht von Sorgenfalten durchzogen war. Sie wirkte erschöpft.

„Moin, Herr ..., Herr Nissen. Bäckermeister sind sie, sehe ich in ihren Unterlagen. Das ist gut. Bei Handwerksberufen ist die Lage nicht ganz so dramatisch. Da kann ich Ihnen Hoffnung machen. Einen Moment bitte.“

Sie rief verschiedene Dateien auf und kurz darauf begann der Drucker zu schnarren.

„Hier, bitte. Die aktuellen Stellenangebote in ihrem Beruf. Sobald sie sich entschieden haben, nehmen Sie Kontakt mit dem Arbeitgeber auf und kommen wieder bei uns vorbei. Arbeitslosengeld steht Ihnen für zwölf Monate zu, aber wir wollen hoffen, Sie schnell wieder in Arbeit zu bringen.“

Ole nahm lächelnd und dankend den Computerausdruck entgegen. Ging besser als gedacht.

Auf dem Weg zur Tür überflog er schnell die Liste. Er war fassungslos.

„Ja, aber ... das sind alles Stellenangebote aus dem Ausland. Was soll ich denn in Norwegen oder in der Schweiz? Meine zukünftige Frau arbeitet hier, wir wollen das Haus ihrer Eltern ausbauen. Haben Sie denn nichts in der Nähe, oder wenigstens in Hamburg, Kiel oder meinetwegen auch Bremen?“

Die Sachbearbeiterin schaute ihn traurig an.

„Tut mir leid. Der Arbeitsmarkt ist immer noch problematisch. Deshalb wandern ja so viele aus. Zum Beispiel nach Norwegen. Wir haben Anweisung, vor allem jungen Leuten diese Möglichkeit aufzuzeigen. Sie bekommen auch den Umzug bezahlt.“

„Nee. Trotzdem nicht.“

Sie stöhnte kurz auf und blickte vorwurfsvoll auf ihre Uhr. Dann griff sie nach einem Faltblatt auf dem Aktenstapel hinter sich.

„Ein Arbeitgeber in Wismar stellt ein. Großbäckerei in bisher ungewohnter Dimension. Die Bezahlung ist allerdings gewöhnungsbedürftig ...“

Ole reichte es. Er ging grußlos und ließ die Frau mit ihrem zweifelhaften Angebot allein. Ziemlich dreist von der Firma, hier die Leute vor die Tür zu setzen und sie dann für einen Hungerlohn einzukaufen.

Nee. Nicht mit Ole Nissen.

Auf der Rückfahrt machte er unkonzentriert Fehler und verursachte bei der Abzweigung nach Koldenbüttel fast einen Unfall. Zum Glück reagierte der andere noch geistesgegenwärtig. Im Rückspiegel sah er die drohende Faust des Traktorfahrers.

In Tating angekommen, legte er seiner in der Küche wirtschaftenden Mutter wortlos die Stellenangebote auf den mit Einkochgläsern voller Erdbeeren bedeckten Küchentisch.

*

Am Abend begab er sich auf die Suche nach Lars. Er wusste, dass er ihn im alten Dorfkrug, im Olsdorfer Krug, treffen würde. Falls Lars nicht gerade wieder weibliche Gäste „betreute“.

Der schien bereits längere Zeit dort zu sein und stänkerte – leicht angetrunken –, gerade mit einer Gruppe Jugendlicher herum.

„Pass’ bloß up, du Hering, du ...“, fuhr er bei Oles Eintreten einen schmalbrüstigen Jüngling an, welcher ihm versehentlich auf die Füße trat.

Ole packte Lars am Ellenbogen und zog ihn mit sanfter Gewalt von der Gruppe weg.

„Wenn Du so drauf bist, hast Du bestimmt auch Post bekommen, oder?“

Er drückte seinen Freund auf die Eckbank und warf die Liste des Arbeitsamtes mit den Stellenangeboten auf den Tisch.

Lars beugte sich über sein Schnapsglas und versuchte, das Schreiben zu entziffern.

„Arbeitslos, mittellos, hilflos, alles los ...“

Ole schüttelte ihn.

„Mensch, `n Kerl wie ein Baum und dem fällt beim ersten Problem nichts anderes ein, als sich volllaufen zu lassen. Das hilft uns auch nicht weiter. Hier: jede Menge Stellenangebote. Deren einziger Nachteil – keine in unserer Nähe.“

Lars Kopf näherte sich im Zeitlupentempo der Tischplatte. Er riss ihn hoch und blickte Ole mit glasigen Augen an.

„Ich kann hier nicht weg. Das weißt Du. Vadder sitzt seit dem Schlaganfall im Rollstuhl und Mudder hat mit der Ferienpension genug zu tun. Wer soll sich denn um die Schafe kümmern, he?“

Heute hat das mit dir keinen Zweck mehr, dachte Ole und zahlte. Er half Lars beim Aufstehen und brachte ihn nach Hause. Zu seinen Schafen. Die wohnten mit den Petersens auf einem Hof zwischen St. Peter und Tating.

*

Einige Tage später hatte Lars seinen Katzenjammer überstanden und saß mit Ole in der Kantine.

„Weißt Du, ich habe absolut keinen Bock mehr, hier noch meine Kündigungsfrist abzuarbeiten, morgen lass’ ich mich krankschreiben“, meuterte er.

Ole wog den Kopf hin und her.

„Mir geht’s genauso. Aber ich mach’ das nicht. Die paar Tage steh’ ich auch noch durch. Und dann: nen’ ordentlichen Abgang.“

Lars schob sein Geschirr zusammen.

„Ich hab das mal durchgerechnet. Wenn ich die Schafherde vergrößere und anfange, Käse zu produzieren, könnte das dauerhaft was werden. Die Ferienpension wäre auch erweiterbar, dafür muss ich den Dachboden ausbauen.“

Ole schaute ihn verblüfft an.

„Genau Lars, das ist deine Chance. Dann kannst Du hier bleiben und Dir eine Existenz aufbauen.“

Auf dem Rückweg zu seinem Arbeitsplatz lief Ole zerstreut in die falsche Abteilung. Lars hatte einen Ausweg gefunden. Für ihn selbst war die Zukunft weiterhin unklar.

*

Ida wartete ungeduldig nach Schichtschluss am Ausgang, als Ole endlich auf sie zulief.

„Wird aber auch Zeit, wo bleibst Du denn? Seit der Kündigung bist Du völlig durch den Wind. Wir finden schon was für Dich. Vielleicht nicht gleich hier, aber notfalls musst Du halt pendeln.“

Ole winkte ab.

„Wenn Du gesehen hättest, was im Arbeitsamt los ist, würdest Du nicht so leichtfertig reden. So einfach geht das nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei. Trotzdem brauchen die in Wismar nicht mit mir zu rechnen, ich lass’ mich von denen nicht über den Tisch ziehen.“

Seine Freundin ging nicht weiter darauf ein, sondern wechselte das Thema. Sie musste sich beeilen, in Husum wartete Heike. In der Husumer Innenstadt gab es ein bekanntes Kaufhaus: CJ Schmidt. In regelmäßigen Abständen trafen sie sich dort, stöberten in der Modeabteilung, besuchten den PALMGARTEN und lästerten anschließend im Dachgarten-Cafe über Gott und die Welt. Natürlich kam Ida nach solch einem Ausflug mit etlichen Einkaufstüten nach Hause. Sie sah das entspannt. Wenn auch der Großteil ihres Einkommens in den Bausparvertrag floss, auf ein ganz klein wenig Luxus musste sie deshalb nicht verzichten.

Ole reagierte auf solche Exzesse mit Verständnis. Was soll’s, Ida war ein hübsches Mädchen und wenn sie sich schick gekleidet präsentierte, genoss er schließlich auch die neidischen Blicke anderer Männer. Denn Ida gehörte zu ihm, darüber ließ sie ihm nie im Zweifel.

Am Abend wollte Ida dann zu Familie Nissen kommen. Sie fühlte sich im Nissen-Haus in Tating wie zu Hause. Auch Mudder und Vadder Nissen mochten sie gern und behandelten sie wie eine eigene Tochter.

Nächstes Jahr war der Bausparvertrag zuteilungsreif. Dann wurden Nägel mit Köpfen gemacht.

*

Am abendlichen Küchentisch saßen Mudder und Vadder Nissen, Ole und Ida beisammen. Vadder Nissen goss sich bedächtig sein Bier ein.

„Tja, min leewe Jung – die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Wenn Du nun absolut nicht in den Schweizer Bergen oder am Hardangerfjord backen willst ... Übrigens, ich war als junger Mann mal in der Schweiz, Davos, um genau zu sein. Hebb ick Euch schon erzählt, wie ich mir damals Ski ausgeliehen habe und dann diese teufliche Abfahrt ... oh haua ...

Mudder Nissen verdrehte genervt die Augen.

„Wissen wir, Vadder, wissen wir. Das erzählst Du regelmäßig bei jeder Geburtstagsfeier. Spätestens nach dem dritten Köm. Nun komm’ aber mal zur Sache.“

„Ja, ja. Iss ja gut.“ Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.

„Wo war ich? Ach so, also: Wenn Du nun partout nicht ins Ausland willst, dann musst Du Dir etwas anderes überlegen. Mudder hat mich da auf eine Idee gebracht, nicht wahr Mudder?

Du hast Deinen Meister und kannst selbstständig arbeiten, Erfahrung hast Du auch. Vielleicht findet sich hier in der Nähe eine kleine Bäckerei, die Du übernehmen könntest.“

Er grinste verschmitzt und lehnte sich zufrieden zurück. Die Kinder waren sprachlos.

„Warum sagt ihr denn nichts, Kinners? Ich wäre als Bootsbauer damals gern mein eigener Herr gewesen – nur leider hat das Geld gefehlt. Heute könnte ich Dir unter die Arme greifen, dass heißt, wenn Du es Dir zutraust.“

Er prostete seinem Jungen zu. Ida schubste Ole in die Seite.

„Wieso sind wir nicht auf diese Idee gekommen? Das wäre die Lösung, genau.“

Ole verzog keine Miene. Er schaute seinen Vater nachdenklich an.

„Du würdest wirklich alle Ersparnisse in mich investieren, ohne zu wissen, ob das gut geht?“

Vadder Nissen stützte beide Hände auf die Tischplatte und blies die Wangen auf.

„Also: Erstens bist Du mein Sohn und wie heißt es so schön, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und zweitens, wenn Du Dich nicht anstrengst, dann Gnade Dir Gott und drittens haben wir Deine Schwester auch unterstützt, als sie sich in Tönning das Haus gekauft haben. Damit Butter bei die Fische kommt, habe ich Dir die Innungszeitung aus der Handwerkskammer geholt. Stehen jede Menge Verkaufsanzeigen drin.“

Er hob sein Sitzkissen an, zog das Blatt hervor und warf es triumphierend auf den Küchentisch. Zufrieden grinsend blickte er seine Familie an.

„Jetzt seid ihr platt!“

*

Zur gleichen Zeit in Sachsen, im kleinen Erzgebirgsort „Hirschau“.