Mord auf der »Meta«. Ein Frachtschiff-Krimi - Angelika Singer - E-Book

Mord auf der »Meta«. Ein Frachtschiff-Krimi E-Book

Angelika Singer

0,0

Beschreibung

Der alte Seemannsspruch »Weiberrock an Bord bringt nur Streit und Mord« ist auf dem Containerfrachtschiff »Meta« zur Realität geworden. Jan Magnusson glaubt der jungen Frau, die beteuert, dass ihr Bruder – der verhaftete Bootsmann der »Meta« – nicht der Täter sei. Kurzentschlossen geht Magnusson an Bord des Frachters. Er erlebt die ewig währende Verzauberung durch die See, die Mentalität der Seeleute und die harte Realität der modernen Seefahrt. Und er will beweisen, dass Bootsmann Sergey kein Mörder ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 195

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Angelika Singer

Mord auf der »Meta«

++ 53 ° 51 ' N ++ 8 ° 42 ' E ++

Ein Frachtschiff-Krimi

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2012

Das vorliegende Buch ist ein fiktives Werk. Alle Namen, Figuren und Vorkommnisse entspringen der Phantasie der Autorin. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Für Heino

Titel-Fotografien:

Heino Sönnichsen/Angelika Singer

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2012) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Noch an Land
Hamburg – Hafen
An Bord
1. Seetag
2. Seetag
3. Seetag
Göteborg
4. Seetag
5. Seetag
Seemannsbraut
6. Seetag
Kurs Hamburg

Noch an Land

Jan Magnusson schloss die Augen. Irinas Hände glitten in sanften Bewegungen über ihn hinweg. Wie immer, hatte er sich bereits Tage vorher darauf gefreut. Er bestand stets auf Irina, auch wenn sie hin und wieder versuchten, ihm eines der anderen Mädchen unterzujubeln. Dann disponierte er lieber um und verschob den Termin einfach, bis Irina wieder frei war.

Das Mädchen war vor einigen Jahren mit ihren Eltern aus Russland gekommen. Da sie von vor Jahrhunderten nach Russland eingewanderten Deutschen abstammte, beherrschte sie die Sprache, behielt aber ihren entzückenden russischen Akzent. Magnusson durchlief stets ein wohliger Schauer, wenn sie mit ihrer tiefen, kehligen Stimme zu ihm sprach: »Muoskau im Winterr, das ist ein Määrrchen . . .«

Entzückend, dieses »Muoskau« aus ihrem hübschen Mund. Irina war ein graziles Mädchen, welches doch über die erfreulichen Rundungen an den richtigen Stellen verfügte. Ihr Haar trug sie mal rot getönt, mal strohblond und auch tiefschwarz sah er es schon an ihr, aber wenn er sich an der Farbe ihrer Augenbrauen orientierte, musste Irinas natürliche Haarfarbe ein dunkles Honigblond sein. Heute glänzte es rötlich wie ein Fuchsfell. Ihre Augen waren bemerkenswert. Über den hohen Wangenknochen, welche ihre slawische Herkunft verrieten, waren sie mandelförmig geschnitten, als ob sich der Orient einen Übergriff in die russische Steppe erlaubt habe. Jedoch ging dieser genetische Vorstoß nicht soweit, ihr ein paar dunkel glühende Augen zu verpassen. Ihre Iris zeigte einen sehr hellen, Bernstein ähnlichen Farbton, wie Magnusson ihn zuvor noch nie bei einem Menschen gesehen hatte und der entzückend mit ihrer natürlichen Haarfarbe wirken musste. Hellgelbe Augen mit winzigen grünen Einsprengseln. Das Mädchen war eine große Katze und er hätte schwören können, dass sie, wenn sie sich wohl fühlte, schnurrte. Sie war eines jener weiblichen Wesen, von denen ganz stark eine zwingende und quälende, stille und doch leidenschaftliche Verführung ausging, durch die einzig und allein Frauen eines gewissen, nicht ganz reinblütigen slawischen Typs, den schwachen Mann zum Äußersten trieben. Selbst Magnusson, der reinen Herzens seine Liebe zu Marlene beschworen hätte, konnte sich ihrer Ausstrahlung nicht entziehen und genoss ihre Nähe alle vier Wochen einmal.

Unter Irinas kundigen Händen schloss Magnusson die Augen und driftete in nur ihm zugängliche Gefühlswelten ab. Aus diesen holte ihn jäh der melodische Klingelton eines Telefons zurück. Auf hohen Absätzen stöckelte eine Kollegin heran und hielt es Irina ans Ohr.

Irina löste ihre schaumbedeckten Hände von seinem Kopf und hielt sie tropfend über das Waschbecken.

Das Mädchen lauschte eine Weile, dann stöhnte sie auf.

»Warum? Warum denn nur? Sergey hat nichts getan! Er ist unschuldig! Können Sie ihm denn gar nicht helfen?«

Die Antwort musste höchst betrüblich ausgefallen sein, denn Irina schüttelte abwehrend den Kopf, drehte ihn weg vom Telefon und begann zu schluchzen. Die mit den hohen Absätzen gab ihr wortlos ein Taschentuch und stöckelte mit dem Telefon wieder davon.

Wer ist Sergey?, dachte Magnusson. Ihr Ehemann? Er richtete sich auf. Shampoo lief in kleinen schäumenden Bächen von seinem Kopf.

Das Mädchen wischte die Tränen ab, schnäuzte einmal kräftig und wandte sich wieder ihrem Kunden zu.

»Wer ist Sergey?«, fragte Magnusson.

»Sergey ist mein Brruuder. Mein großerr Brruder. Bitte entschuldigen Sie, Herr Magnusson. Meine privaten Sorgen gehören nicht hierher. – Waren Sie denn schon im Urlaub?« Mühsam versuchte Sie, ihre Beherrschung und jenen Plauderton wieder zu finden, wie er in den Friseurgeschäften üblich ist.

»Mein Urlaub interessiert mich im Moment überhaupt nicht. Ich möchte wissen, was Sie so aus der Fassung gebracht hat. Das da, eben am Telefon, war ein Rechtsanwalt. Stimmt’s?«

Irina schaute in den Spiegel als schaue sie ins Nichts, dann traf ihr trauriger Blick seine Augen.

»Bitte, Herr Magnusson – ich muss den Schaum abspülen …«

Er blieb stur aufrecht sitzen.

»Sagen Sie mir, was Sie bedrückt. Na, los – Mädchen! Ich war Polizist, mich kann so leicht nichts erschrecken. Hat er Dummheiten gemacht, Ihr Brüderchen?«

Ihr hübsches Gesicht wurde ausdruckslos. Wie versteinert.

»Sergey sitzt in Hamburg in Untersuchungshaft. Er soll auf der ›Meta‹ eine Frau getötet haben.«

»Die ›Meta‹ ist ein Schiff, nehme ich an?« Er hatte sein Genick an den Rand des Waschbeckens gelegt und starrte an die Decke.

»Ja.«

Irina spülte den Schaum aus seinen Haaren, wand ein flauschiges Handtuch darum, trocknete seinen Kopf ab und griff nach der Schere. Magnusson entwendete diese ihren zitternden Händen, zog den nebenstehenden, gepolsterten Hocker näher heran und drückte das Mädchen mit sanfter Gewalt darauf.

»Sie sind mir ein bisschen zu aufgeregt, als dass ich die Schere heute in der Nähe meiner Ohren wissen möchte. Erzählen Sie mir mal genau, was da passiert ist. Ihr Bruder hatte eine Schiffsreise unternommen?«

»Nein. Sergey ist Bootsmann auf der ›Meta‹. Einem Frachtschiff. Containerschiff. So ein mittelgroßer Zubringer, der meist zwischen Skandinavien, Russland und Hamburg unterwegs ist. Sie bringen Container zu den großen Übersee-Schiffen.«

Das Brüderchen ist also Seemann, dachte Magnusson. Nur, wie soll er da eine Frau getötet haben – auf einem Frachtschiff? Vielleicht eine Prostituierte. Oder fahren Frauen neuerdings zur See?

»Wieso war eine Frau an Bord? Gibt es weibliche Matrosen?«

Irina schüttelte den Kopf. »Nein – keine weiblichen Matrosen. Die Frau hatte die Eigner-Kabine gebucht. So etwas geht. Die Frachtschiffe nehmen gegen Bezahlung Passagiere mit.«

Allmählich begann das Mädchen, Vertrauen zu ihm zu fassen. Vielleicht glaubte sie auch, er als ehemaliger Polizeibeamter könne etwas für den Bruder tun, jedenfalls fasste sie plötzlich nach seiner Hand und drückte sie heftig.

»Oh, Herr Magnusson, der Anwalt sagt, alle Indizien sprechen dafür, dass Sergey ein Mörder ist! Doch das ist er nicht! Mein Bruder kann keiner Fliege etwas zu leide tun. Ich schwöre Ihnen beim Leben unserer Eltern, dass Sergey niemals einen Menschen töten würde. Gibt es denn gar keine Möglichkeit, ihm zu helfen?«

Völlig verzweifelt blickten die hellen Augen hoffnungsvoll zu ihm auf.

Wenn dieser Sergey im Suff die Frau umgebracht hat, dachte Magnusson, kann er bei einem geschickten Verteidiger allenfalls auf mildernde Umstände hoffen, die Haftstrafe bleibt ihm nicht erspart. Seeleute sind keine Musterknaben. Dass die gerne mal einen zur Brust nehmen und hinterher manchmal nicht wissen, was los war, ist kein Geheimnis. Sofort tauchten vor seinem inneren Auge die Bilder einer verräucherten Hafenkneipe auf, in deren von schwachem Lichtschein erhelltem Halbdunkel eine wüste Schlägerei im Gange war. Na, und wenn dann zu diesen rauen Burschen eine Frau an Bord kam, war das Unheil praktisch vorprogrammiert. Von dieser dunklen Seite ihres Bruders wird Irina keinen blassen Schimmer haben.

»Erklären Sie mir, weshalb Sie so sicher sind, dass Ihr Bruder dazu nicht fähig ist.«

Statt ihm zu antworten, zog sie einen Schubkasten heraus, griff in ihre Handtasche und drückte ihm ein Foto in die Hand. Es war die Nahaufnahme eines jungen Paares mit einem Säugling. Die Frau auf dem Foto – eine Schönheit. Tiefschwarzes Haar umrahmte ein rassig geschnittenes Gesicht, in dem fast schwarze Augen glühten. Eine Tscherkessin. Das Kind in ihren Armen schlief. Der Mann daneben erinnerte Magnusson an einen Helden aus den russischen Märchen. Einer von denen, die der Sage nach von der Mutter zwölf Jahre lang gestillt wurden und daher ihre bärenstarken Kräfte entwickelten. Eine blonder Hüne mit breiten Schultern und unter dem Hemdenstoff sich abzeichnenden Muskelpaketen. Das Gesicht ein Gegensatz zu dem Bärenkörper. Magnusson blickten aus dem Foto zwei sanftmütige, honiggelbe Augen an. Er hatte im Polizeidienst gelernt, in Menschengesichtern zu lesen. Ein kaltblütiger Mörder war der hier jedenfalls nicht.

»Sergey liebt seine Frau und seinen Sohn über alles. Er trinkt nicht, weil er nur noch ein paar Jahre zur See fahren will und jeden Cent spart. Ich bin nicht so naiv wie sie vielleicht meinen, Herr Magnusson. Auf See kann alles mögliche passieren. Gerade wenn eine Frau an Bord ist.« Sie nahm ihm die Fotografie wieder aus den Händen und betrachtete sie liebevoll. »Aber ich lasse mir nicht einreden, dass er leichtfertig seine große Liebe und seine Freiheit aufs Spiel setzt. Sergey betet Jadwiga an. Ihn interessieren keine anderen Frauen.«

Jan presste die Lippen fest aufeinander. Dann sagte er mit gepresster Stimme:

»Helfen kann man ihm nur, indem man beweist, dass er es nicht war. Damit meine ich keine Unschuldsbeteuerungen seiner Schwester, die ihn als Seemann wohl in den letzten Jahren ohnehin nur für ein paar Tage gesehen hat, sondern unwiderlegbare Beweise seiner Unschuld. Oder man findet den tatsächlichen Mörder – dann wäre ihr Bruder auch frei.«

Irina sank völlig in sich zusammen. »Wie soll das gehen? Die Staatsanwaltschaft scheint völlig davon überzeugt zu sein, dass Sergey ein Mörder ist.«

Statt eine Antwort zu geben, griff Magnusson nach dem Fön, schaltete ihn ein und trocknete sein Haar selbst. Während dieser paar Minuten, in denen sie beide schwiegen, fasste er einen Entschluss.

»Wo liegt die ‚Meta’ jetzt?«

Irina überlegte kurz. »Sie ist wieder auf See. Übermorgen laufen sie Bremerhaven an und danach Hamburg.«

»Gut. Haben Sie die Nummer der Reederei? Ich muss telefonieren.«

Er trat mit diesem komischen, weiten Friseurumhang vor die Tür. Sein Telefonat dauerte nicht lange.

Nach dem Gespräch packte Magnusson das Mädchen bei den Schultern.

»Wissen Sie was? Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern. Mal schauen, ob ich etwas herausfinden kann, was Sergey nützt. Wenn ich etwas weiß, rufe ich Sie hier im Salon an. Und Sie«, er hob ihr Kinn leicht an und blickte väterlich auf sie herab, »werden Ihren Bruder besuchen, ihm Mut machen und sich von ihm seine Version der Geschichte erzählen lassen. Das können Sie mir dann alles am Telefon berichten. Na??«

Irina senkte beschämt die Augen.

»Das kann ich doch nicht zulassen. Herr Magnusson! Sie wollen Zeit und Geld für mich und meinen Bruder investieren? Warum tun Sie das? Außerdem hat es eine kriminalpolizeiliche Untersuchung gegeben, die haben auf dem Frachtschiff alle vernommen, da werden Sie nichts Neues heraus bekommen.«

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Stellen Sie sich einfach vor, Mordfälle sind so etwas wie ein Hobby von mir!«

Eine Sorge beschäftigte Magnusson, auch wenn er sich bei Irina nichts anmerken ließ. Wie nur sollte er Marlene beibringen, dass er kurz entschlossen übermorgen in Hamburg an Bord eines Frachtschiffes gehen würde und sie damit die nächsten Tage sich selbst überlassen bliebe? Etwas zögerlicher als gewöhnlich öffnete er die Wohnungstür.

Moppel, sein Beagle, umkreiste ihn sofort, misstrauisch das aus dem Friseursalon mitgebrachte Duftgemisch erschnuppernd.

»Also wie frisch geschnitten sieht das nicht gerade aus.« Kritisch fuhr Marlene durch seinen Schopf.

Jan beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.

»Nein, ist es auch nicht. Irina konnte nicht. Ich muss sowieso auf See und da trägt man meist Pudelmützen.«

Marlene sagte eine Weile gar nichts und schlug nur verwundert mit den Lidern.

»Aha – auf See musst Du?«, meinte Sie dann, jedes Wort betonend.

»Ich will mal mit so einem Frachtschiff fahren. Das habe ich noch nie gemacht.«

Marlene bedachte ihn mit einem Psychiaterblick. »Das ist Dir heute beim Friseur plötzlich bewusst geworden?«

»Setzen wir uns.« Er legte seinen Arm um sie und führte sie zur Couch.

Er schilderte ihr Irinas Nöte und seine Absicht, an Bord der »Meta« mit Hilfe seiner Berufserfahrung vielleicht irgend etwas Entlastendes für ihren Bruder heraus zu bekommen.

Marlene nickte schließlich. »Gut. Aber es ist nicht nur der pure Altruismus der Dich treibt, Jan. Du bist wie ein alter Jagdhund, der sein Leben lang Fährten nachgespürt hat und dessen alte Knochen sich automatisch in Bewegung setzen, wenn er Witterung aufnimmt.«

Jan musste nichts mehr erklären. Marlene kannte ihn besser, als er sich selber.

Hamburg – Hafen

Jan Magnusson war mit dem Zug nach Hamburg gekommen. Einmal, weil er die Fahrt für seine Überlegungen zu dem Fall nutzen wollte, außerdem war es wesentlich entspannender, auf diese Art zu reisen. Er stieg in St. Peter-Ording in die Bahn, kam kurze Zeit später in Husum an, wo der Zug nach Hamburg auf dem Nebengleis bereit stand und schon fuhr er, bequem sitzend, seinem Ziel entgegen. Kein mühsames Gekurve durch die Hamburger Innenstadt. Das überließ er gerne den Taxifahrern.

In Altona angekommen, winkte er nach einem Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse des Seemannheimes. Wie vorausgesehen, quälten sie sich durch einen streckenweise stockendem Verkehr.

Das Seemannsheim befand sich direkt am Hafen und praktischer Weise nur ein paar Schritte von der »Haifischbar« entfernt. Die Seeleute konnten also beides vor Augen haben: Ihr Vergnügen und ihren Arbeitsplatz. Aus den Fenstern des Seemannsheimes sah man, wann einer der großen Pötte mit Containern voll beladen war. Die Männer konnten ihre Rückkehr an Bord genau planen.

Magnusson buchte bei dem jungen Mann an der Rezeption eine Übernachtung und trug seine Reisetasche die Treppe hinauf. Er hätte auch den Fahrstuhl nehmen können, hielt es aber für ratsam, sich bereits jetzt an die Treppensteigerei zu gewöhnen. Auf dem Schiff würde er ständig von einem Deck zum anderen steigen müssen. Frachtschiffe waren keine Luxusdampfer – es gab keine Fahrstühle.

Er holte die Reiseunterlagen aus seiner Tasche und studierte die Hinweise.

Sie hatten ihm die Handy-Nummer des Kapitäns beigelegt. Bei dem solle er sich umgehend melden. So erführe er den Liegeplatz des Schiffes. Der Hamburger Hafen war einer der größten der Welt. Für einen mit der Seefahrt nicht Vertrautem stellten die Hafenanlagen ein unübersichtliches Wirrwarr von Terminals, Containern, Schiffen, Ladekränen und dazwischen pausenlos hin- und herfahrenden Fahrzeugen dar. Er fragte sich, warum er nie von sich aus auf die Idee gekommen war, so eine Reise zu buchen. Es ging ja völlig problemlos. Er hatte die Reederei angerufen und die hatten ihm sofort bestätigt, dass auf der »Meta« die Eignerkabine frei sei. Einen Tag später kam von einem darauf spezialisierten Reiseunternehmen die Buchungsbestätigung.

Magnusson war an der Küste zu Hause, das Vorbeiziehen der großen Pötte am Horizont ein gewohntes Bild. Nur der Wunsch einzusteigen, einmal um die Welt zu reisen, war nie bei ihm aufgetaucht. Kein Fernweh? Vielleicht lag es daran, dass er sich frühzeitig beruflich festgelegt hatte und sein erklärtes Ziel die Polizeiausbildung war. Oder lag es an Sabine? Der wäre ein Seemann mehr als ungelegen gekommen, zumal sich schon bald Nachwuchs ankündigte. Nun saß er hier im Seemannsheim und wartete auf das Auslaufen seines Schiffes. Sechzig Jahre alt musste er werden, um das erste Mal wirklich – also nicht mit den üblichen Touristendampfern -, zur See zu fahren. Eigentlich ein kleines Abenteuer, was ihm der Zufall da bescherte. Was heißt Zufall – Marlene würde das ganz anders interpretieren. Er schloss die Augen und konnte Marlenes Stimme hören, ganz so, als wäre sie hier wirklich bei ihm: »Die Götter erfüllen kein Träume, Jan. Aber sie schenken uns Unerwartetes. Freue Dich an dem Unerwarteten!«

Ob das nun göttlicher Gnade zu verdanken war, dass er nun doch noch ein bisschen Seefahrerromantik kombiniert mit kriminalistischer Ermittlungsarbeit erleben durfte, sei dahingestellt, dachte Jan. Er, mit seiner nüchternen Sicht der Dinge, wollte es lieber weiter Zufall nennen. Eben jener Zufall hatte ihm vor einem Jahr diese schöne, warmherzige und kluge Frau in den Weg gestellt. Als sie ihn heiratete, nahm sein Leben eine Wendung zum Glück, mit dem er nicht mehr gerechnet hatte, ja, von dem er vorher nicht einmal wusste, dass es so ein gehobenes Lebensgefühl überhaupt gab. Das Merkwürdigste daran – von den anderen nicht mehr für möglich gehaltenen Freuden einmal abgesehen -, war die plötzliche Furchtlosigkeit vor dem Tod. Selbst wenn er morgen sterben würde, er wusste, es gab nichts, was er verpasst haben könnte. Er hatte die Liebe seines Lebens gefunden. Sein Leben war vollkommen, da gab es nichts mehr hinzuzufügen. Der Zufall war sein Freund.

Magnusson lächelte mit geschlossenen Augen. Er war sich dessen nicht bewusst. Solcherart Gefühlsduseleien, wie er es nannte, waren seine Sache nicht. Ich bin eben ein ruhiger, norddeutscher Typ, sagte er gelegentlich zu Marlene, wenn sie seine Beherrschung in innigen Momenten belächelte. Nur manchmal, wenn ihm ganz plötzlich die Angst beschlich, dieses Glück könne sich verflüchtigen, zog er sie heftig an sich, legte seine Hand an Marlenes Wange und sie strich beruhigend über diese Männerhand, deren Zittern ihr mehr von seinen Gefühlen für sie verriet, als wortreiche Liebeserklärungen.

Draußen, im Hafen, tutete ein Schiff. Magnusson trat an die große Fensterfront. Vor ihm lag der Terminal CTT Tollerort, daneben der Burchardkai. Dahinter eine unüberschaubare, verwirrende Anzahl von Hafenanlagen. Eurogate, Hansaport, Altenwerder, Waltershof und, und, und … Darüber hinweg die Köhlbrandbrücke. Fast schwebend. Ein grandioser Blick. Gegenüber ein Kreuzfahrer im Trockendock von Blohm und Voss. Einmal mit so einem Dampfer über den Atlantik nach New York, wünschte er sich plötzlich. Er war noch niemals in New York, auch die Westküste der USA sah er leider nicht. Überhaupt – wenn er es recht bedachte, was hatte er denn schon groß von der Welt gesehen? Außer den alljährlichen Familienflugreisen zu einem südlichen Strand kannte er fast nichts. In Paris war er einmal, vor der Zeit mit Sabine. Aber sonst? Die Verantwortung für die Familie, der Beruf, hatten immer Priorität. Wäre es nicht an der Zeit, sich diese Welt, die er in unbestimmter, aber nicht mehr allzu ferner Zeit wieder würde verlassen müssen, etwas genauer anzuschauen?

Der von ihm eben noch gerühmte Zufall eine Aufforderung des Lebens an ihn? So nach dem Motto: Mensch, leb’ noch mal richtig, bevor es in die Grube geht!

Schweißbrenner blitzten auf. Nachts musste der Blick auf den Hafen noch überwältigender sein. Der pausenlose Betrieb, die vielen Lichter . . . Er wählte die Nummer des Kapitäns der »Meta«. Von ihm sollte er Liegeplatz und Einschiffungszeit erfahren.

»Pavel Korygin«, meldete sich eine Männerstimme mit unverkennbar russischem Akzent.

»My name is Magnusson. Jan Magnusson«, stellte er sich vor. »I’m the new passenger.«

«Do you speak german?«, fragte die Männerstimme zurück. Magnusson stellte sich hinter dieser Stimme einen Mann vor, der so etwa um die Vierzig sein musste. Ein schwarzhaariger Russe mit drahtigem Körperbau.

»Yes, Sir.«

»Sie können deutsch mit mir sprechen. Wir löschen zurzeit in Bremerhaven. Die ›Meta‹ macht voraussichtlich morgen Nachmittag gegen 14.00 Uhr am Containerterminal CTA Hamburg fest. Das ist Altenwerder. Sie müssen spätestens …«, Magnusson hörte ihn in Papieren blättern, » … spätestens 17.00 Uhr hier an Bord sein. Verstanden?«

»Verstanden. Ich werde pünktlich sein.«

Vor Magnusson lag eine Nacht im Seemannsheim und ein halber Tag in Hamburg.

Der nächste Morgen weckte ihn mit strahlendem Sonnenschein. Das große Containerschiff am Burchardkai war über Nacht in sieben Lagen hoch mit Containern beladen worden. Bereit zum Auslaufen. Die Handelsschifffahrt erholte sich langsam von der Wirtschaftskrise. Der Hafen schlief nie. Betrieb rund um die Uhr. Jeder Reeder war aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, die Liegezeiten so kurz wie nur irgend möglich zu halten. Bedauerlich für die Seeleute. Niemals mehr würde es so wie früher sein, als tollkühne Matrosen die Vergnügungsviertel der Hafenstädte stürmten. Heutzutage sahen die Seeleute kaum etwas von den Ländern, die sie anliefen. Die gigantischen Cargo-Schiffe verlangten nach tiefen Häfen und diese entstanden meist weit entfernt von den Städten. Für die paar Stunden, die Laden und Löschen heute noch dauerten, lohnte sich nicht mal der Ruf nach einem Taxi.

Magnusson wischte sich den Schlaf aus den Augen und rieb seine schmerzenden Schläfen. Zuviel getrunken gestern Abend. Er war aus Bequemlichkeit im Seemannsclub zum Essen geblieben. Das war gut und günstig. Ihm gegenüber ein hünenhafter Schwede und zwei bärtige Polen. Der Schwede war Steuermann und die beiden Polen Maschinenleute. Ein Trupp Philippinos vertrieb sich die Zeit mit Billard. Dem Schweden war deren Geschwafel wohl zu laut, denn er blickte nach dem Essen seine beiden Maschinen-Piepel fragend an und murmelte etwas von … »… Bar?« Als sie aufstanden, forderte einer der beiden Polen Magnusson mit einladender Kopfbewegung zu Mitkommen auf.

In der Bar stickige Luft. Krachend voll, auf den Holzbänken saßen die Gäste eng zusammengerückt. In der Ecke spielte einer Seemannslieder auf seinem Akkordeon. Ein zahnloser Alter suchte lückenhaft nach dem Text von »La Paloma«.

Die Polen begannen mit Wodka, den sie in Wassergläsern bestellten. Sie luden ihn ein und als Jan sich mit Whisky revanchierte, fragte er sich, wie er wohl von dieser Bank jemals wieder hoch kommen sollte. Einen Schlummertrunk wollte er nehmen, statt dessen schien es auf einen Exzess hinauszulaufen. Auf englisch erzählten seine Begleiter von ihrem Schiff, dass morgen nach Südamerika auslaufen soll. Magnusson vermochte dem Gespräch nur noch lückenhaft zu folgen. Merkwürdigerweise zeigte der Alkohol bei den Seeleuten keine erkennbare Wirkung. Magnusson hätte es zum Abendbrot ihnen gleichtun sollen und statt der Bratheringe ebenfalls Schweinebraten ordern sollen. Der Schwede bestellte nun seinerseits Whisky und Magnusson nutzte einen schwankenden Toilettenbesuch, um sich mit nassen Händen den Kopf zu kühlen. Relativ wirkungslos, denn als er an den Tisch zurückkehrte, nahm er die Seeleute nur noch wie durch einen Nebel wahr. Vor weiterem Unheil schützte ihn nur das Auftauchen einer Dame mit überlangem, bis zum unteren Rücken reichenden schwarzem Haar. Sie legte dem Steuermann vertraulich die Hand auf den Unterarm und flüsterte ihm etwas zu. Diese war nun nicht gerade eine wirkliche Dame, jedoch schien sie dem Schweden recht zu sein. Der vergaß seine beiden Polen samt Magnusson und begann sogleich mit ihr zu palavern. Es dauerte nicht lange, dann waren sie offensichtlich handelseinig. Er stand auf, griff nach seiner Lederjacke und folgte der Bordsteinschwalbe. Jan nutzte die Gunst des Augenblicks und erhob sich ebenfalls. Gerade noch rechtzeitig, wie er bemerkte, denn der eine Maschinenmann hatte aus Frust darüber, von seinem Steuermann der weiblichen Gunst beraubt worden zu sein, wieder Wassergläser voll Wodka geordert, deren Genuss bei Magnusson zu einer mittelschweren Alkoholvergiftung geführt hätte. Mit dem, was er bereits im Blut hatte, hangelte er sich unsicheren Schrittes am Geländer die Stufen zum Seemannsheim hinauf. Dann musste er mit dem Fahrstuhl mehrmals auf und ab fahren, weil er sich nicht an die Etage seines Zimmers erinnern konnte. Glücklich, es schließlich doch noch gefunden zu haben, fiel er, so wie er war, auf sein Bett, streifte die Schuhe ab und lachte. Dann wusste er nichts mehr.

Er schaute an sich herunter, den Kopf schüttelnd über zerknitterte Hosenbeine und verschwitztes Hemd, grinste vergnügt, zog sich alles vom Körper und stellte sich unter die Dusche. Das Dröhnen in seinem Kopf blieb. Eine halbe Stunde später trat er, frische Brötchen und einen extra starken Kaffee im Magen, auf die Straße. Wenn ihm schon ein halber Tag Hamburg geschenkt wurde, wollte er ihn auch für einen Bummel nutzen.