Rubinhochzeit - eine Liebesgeschichte - Angelika Singer - E-Book

Rubinhochzeit - eine Liebesgeschichte E-Book

Angelika Singer

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Beschreibung

Der Krebs kann ein Leben vernichten, aber nicht die Liebe. Vierzig gemeinsame Jahre sind nur so verflogen und doch ist in ihnen viel geschehen. Geopolitische Veränderungen ebenso wie persönliche Neuanfänge und Entwicklungen. Dieses Buch legt Zeugnis davon ab, dass auch in unserer, von häufigen Partnerwechseln in Beziehungen geprägten Zeit, lebenslange Liebe und Treue möglich ist.

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Seitenzahl: 140

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Rubinhochzeit – eine Liebesgeschichte

Angelika Singer

RUBINHOCHZEIT – EINE LIEBESGESCHICHTE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Was man tief in seinem Herzen besitzt,

kann man nicht durch den Tod verlieren.

Goethe

„Bitte legen Sie Ihren Sicherheitsgurt an. Wir durchfliegen eine Zone mit Turbulenzen.“ Eine kurze Durchsage des Flugkapitäns.

Auch nach zehn Minuten ist von Turbulenzen nichts zu spüren. Ich tippe auf den Bildschirm vor mir und suche nach Fluginformationen.

Auf der Landkarte erscheint die Flugroute. Wir sind gerade in den Luftraum des Iran eingedrungen und nehmen Kurs auf den Irak. Deshalb also die Durchsage. Die Gegend ist dem Piloten nicht geheuer. Die Flugroute über Ägypten wird nach dem Absturz einer Zivilmaschine sowieso gemieden. Ein russischer Ferienflieger war über der Sinai-Halbinsel abgestürzt. Ein Bombenanschlag. 224 Passagiere tot. Die Russen fliegen gerne ans Rote Meer in die Sonne. Die Briten sowieso. Nun sind die Touristen vorsichtig geworden. Auch schon vorgekommen: Abschüsse durch Militärmaschinen oder vom Boden aus. Keine Chance. Was soll eine Zivilmaschine wie die unsere gegen den Angriff von Boden-Luft-Raketen schon ausrichten? Wir verfügen weder über Bordwaffen noch über die Wendigkeit einer Militärmaschine. Das einzige, was den Piloten im Notfall bleibt, ist ein schneller Wechsel der Flughöhe. Für solche Manöver wurde er nicht ausgebildet. In unserer Jugend sind wir öfters mit Aeroflot-Maschinen geflogen. Die Piloten wurden auf Jagdmaschinen, meistens vom Typ MIG, trainiert. Entsprechend unerschrocken und routiniert reagierten sie auf Zwischenfälle. Juri Gagarin war auch einer von ihnen. Der erste Mensch im Weltall und ein bewundernswerter, ruhiger und bescheidener Mann.

Eine Etage tiefer also bei einem Angriff. Oder zwei. Oder drei. Oder gar eine Notlandung wagen? Die Chancen sind in jedem Fall gleich Null. Wie die letzten Ereignisse zeigten, bleibt nicht einmal Zeit, eine Nachricht abzusetzen. Das Aufzeichnungsgerät ist der einzige Zeuge solcher Geschehnisse. Wenn es denn je gefunden wird.

Keine angenehmen Gedanken in zehntausend Meter Höhe. Die Maschine zieht weiter ruhig ihre Bahn durch den Himmel. Es ist Nacht und die meisten Passagiere dösen oder schlafen. An der Kabinendecke leuchten nur die winzigen Lampen, welche wie ein Sternenhimmel angeordnet sind.

Neben mir sitzt M. Er hat die Augen geschlossen, aber ich weiß, dass er nicht schläft. Seine Wangen sind eingefallen, sein ganzer Körper ist von der schweren Krankheit gezeichnet. Er muss meinen Blick gespürt haben, denn er greift, ohne die Augen zu öffnen, nach meiner Hand.

Wir sind in München gestartet. Vorher waren wir in Venedig. Es war sein Wunsch. Obwohl wir viel gereist sind, haben wir Venedig auf unseren Touren in die Toskana im wahrsten Sinn des Wortes immer links liegen gelassen. Venedig hat uns wegen der Touristenmassen und dem Tumult immer abgeschreckt. Schnell auf der Autostrada weiter in die Toskana. Florenz war zwar nicht weniger überlaufen, aber dort kannten wir uns aus. Das winzige Hotel nicht weit von den Uffizien, die Abende, wenn der Trubel nachlässt und das Pflaster die Hitze des Tages abgibt, unsere Entdeckungen der italienischen Küche, die weit mehr zu bieten hat als Pasta. Der Patron, der uns kannte und mit Verschwörermiene eine staubbedeckte Weinflasche aus dem obersten Regal holte, die italienischen Mamas in den Geschäften, die mich trotz meiner dürftigen Sprachkenntnisse in ihre Küchengeheimnisse einzuweihen versuchten …

Ich denke noch heute schmunzelnd an die Episode in einem winzigen Lebensmittelgeschäft zurück. Es war in Lucca, du hast auf der Piazza einen Espresso genommen und ich wollte nur schnell für unsere abendliche Schlemmerei etwas frisches Basilikum-Pesto holen. Der Ladenbesitzer erklärte mir in einem auch für mich verständlichem Italienisch, welche Pasta ich dazu nehmen solle und welcher Wein der richtige wäre. Offensichtlich führte das zu Meinungsverschiedenheiten mit den hinter mir wartenden italienischen Hausfrauen. Zu jeder Pastasorte gibt es die entsprechende Soße. Alles soll sich harmonisch verbinden und dem Gaumen eine Freude sein. Die handgeformten Nudeln – es gibt für sie zum Beispiel so irritierende Bezeichnungen wie „erwürgte Priester“ –, werden also traditionell hergestellt und jede Familie verfügt über ihr eigenes Rezept. Offensichtlich gehörte die Familie des Ladenbesitzers einer anderen Fraktion an als die hinter mir wartenden Hausfrauen. Es entbrannte eine hitzige, typisch südländische Diskussion in der laut argumentiert und mit weit ausholenden Armbewegungen gestikuliert wurde. Eine der Damen zupfte mich am Ärmel, deutete auf die gerade frisch zubereiteten Nudeln vor uns und erklärte mir wortreich, dass ich dazu auf keinen Fall Basilikumpesto reichen dürfe. Capito? Ich kapierte schon und war auch willig, mich den kulinarischen Gepflogenheiten des Gastlandes anzupassen. Allerdings versuchte eine andere Dame – noch jung und sehr elegant auf hohen Schuhen schreitend, kurz gesagt, eine „Bella Figura“ –, heftig widersprechend meine Aufmerksamkeit auf die Trüffel zu lenken. Was Erstere, eine recht korpulente Dame, derart in Rage versetzte, dass sie mich kurzerhand mit ihrem Gewicht beiseite drängte und auf ihre kulinarische Kontrahentin losging, während der Ladenbesitzer mit zwei Weinflaschen im Arm sich erfolglos Gehör verschaffen wollte. Er wurde von drei aufgebrachten Damen aus dem hinteren Teil der Schlange zum Schweigen gebracht. Worauf er vorsichtshalber den Verkaufstresen wieder zwischen sich und die aufgebrachte Weiblichkeit brachte. Ich schaute dem Palaver eine Weile amüsiert zu. Als ich merkte, dass die hier geführten Grundsatzdiskussionen der italienischen Küche wohl längere Zeit in Anspruch nehmen würden und sich für mich sowieso keiner mehr interessierte, trat ich langsam und unauffällig den Rückzug an. Schade. Nicht nur wegen des fehlenden Abendessens, sondern auch, weil ich die „Bella Figura“ gern noch nach der Geschäftsadresse gefragt hätte, wo man diese eleganten Schuhe kaufen kann. Keiner bemerkte, dass die Deutsche verschwunden war.

Ich führte dich zu dem Geschäft und durch die Schaufensterscheibe sahen wir die immer noch heftig aufwallenden Gefühlsausbrüche. Du konntest gar nicht wieder aufhören zu lachen und lehntest dich nach Luft schnappend an die Hauswand. So etwas kann auch nur dir passieren, sagtest du und dass das Leben mit mir nie langweilig sei und dass du dem Schicksal dankbar bist, dafür, dass ich deine Frau bin. Und dann hast du mich zum Abendessen eben ausgeführt. Dort, in Lucca, haben wir zum ersten Mal in unserem Leben Trüffel gegessen und Vin Santo getrunken. Überhaupt, diese Abende in den italienischen Städten! Wenn Musik erklingt, irgendwo einer dazu singt und die ersten Liebespaare über das uralte Pflaster schlendern … Wie haben wir das genossen und uns gleichsam verjüngt gefühlt, als ewiges Liebespaar im Zauber des Landes, wo die Zitronen blühen.

Wir haben viel zusammen erlebt. Länder und Kontinente entdeckt und uns als Paar nie aus den Augen verloren. Mochten wir auch beruflich bedingten Stress aushalten müssen, unsere innere Verbindung brach nie ab. Vierzig gemeinsame Jahre. Rubinhochzeit! Wie sie verflogen sind! Bei unserer Silberhochzeit im Schloß Blankenhain hattest du eine kurze, aber mir schmeichelnde Rede gehalten. Du sagtest, dass Albert Einstein völlig recht habe mit seiner Relativitätstheorie. Wenn man eine Ehefrau wie mich habe, vergehe Zeit relativ schnell. Man wolle sie am liebsten anhalten. Wenn man dagegen mit einer Megäre zusammen sei, könne Zeit genau so lang werden, wie wenn man auf einer heißen Herdplatte sitze.

Ich weiß, dass du Durst hast, so wie auch du immer weißt, wenn es mir an irgendetwas mangelt. Also erhebe ich mich und gehe durch die Maschine. Man kann sich Getränke von vorbereiteten Tabletts nehmen. Wasser und Saft stehen immer bereit. Du trinkst und schließt wieder die Augen. Es gilt Kraft zu sammeln für diese unsere letzte große Reise. Ich schaue ein wenig aus dem Fenster. Unter uns der Iran. Nachtschwarz, nur die Städte gleißende Lichtinseln auf dem Planeten. Wir sind schon oft in der Dunkelheit über die Erde geflogen. Man erkennt die dicht besiedelten Regionen am hellen Leuchten. London: ein Lichtermeer. Paris, Madrid – nicht zu verfehlen. In Skandinavien bildet Oslo ebenso ein Leuchtfeuer wie Kopenhagen und Stockholm. Oberitalien südlich der Alpen: ein Glitzerband, als seien die Alpen mit einer Weihnachtsbaumlichterkette geschmückt.

Ich suche nach klassischer Musik. Klavierkonzert. Mozart. Gut. Erinnerungen.

Ich sehe uns über einen weiten, frisch verschneiten Platz laufen. Eine dicke Schneeschicht liegt auf dem Platz vor der Oper. Vor uns das hell erleuchtete Chemnitzer Opernhaus, der Platz dunkel, nur der Schnee reflektiert das Licht. Wir haben den Wagen in der Tiefgarage geparkt und schauen uns in die Augen. Wortlos sind wir uns einig. Wir werden nicht wie die anderen den unterirdischen Gang zum Foyer nehmen. Hand in Hand laufen wir über die unberührte Schneedecke, kein Mensch weit und breit. Es ist still, der Verkehr der Großstadt verstummt. Ich trage das enge Abendkleid mit der geschnürten Korsage, kann nicht tief atmen und keine großen Schritte machen. Die langen blonden Haare bedecken meine nackten Schultern. Du ziehst dein Jackett aus und hängst es mir um. Meine Absätze versinken im Schnee. Ein Zauber liegt über uns. Trotz der Kälte frieren wir nicht. An der Freitreppe angekommen drehen wir uns um, schauen zurück auf unsere Spuren und lächeln einander an. Du ziehst mich in deine Arme und küsst mich. Das strahlend helle Opernhaus vor uns und hinter uns nur unsere beiden Spuren im Schnee. Kein Mensch zu sehen. Nur wir Zwei. Wie immer nah beieinander. Und nun erwartet uns ein Fest: Don Giovanni.

Gegenwart: Mozart über den Wolken. Es gibt da einen Witz unter Musikern und Opernliebhabern: Ein alter Mann wird gefragt, ob er Angst vorm Sterben habe. Woher denn, sagt der. Wenn ich dort ankomme werden die sagen: „Gut dass sie da sind, heute Abend gibt es „Die Zauberflöte“ und Mozart dirigiert!“

Während du dich ausruhst, will ich die Zeit nutzen und schreiben. Kommunikation ist heute von jedem Punkt der Welt in Echtzeit möglich. Trotzdem schreibe ich persönliche Briefe an Menschen die mir wichtig sind, immer noch mit der Hand. Ganz altmodisch mit Tinte auf Papier. Ein handgeschriebener Brief zeugt von Wertschätzung, geschäftliches kann man elektronisch erledigen. Wobei in manchen Kreisen auch (oder gerade) im geschäftlichen Bereich ein handgeschriebener Brief mehr Wirkung zeigt als zehn Emails.

Liebe Uta,

verzeih’ mir bitte die späte Antwort auf Deine Post. Nun reden wir ja oft genug miteinander, so dass wir immer voneinander wissen, wie es der anderen gerade ergeht, aber die Tradition will gepflegt werden, so, wie wir unsere Freundschaft seit Jahrzehnten pflegen.

Im Moment sitzen wir noch in der Boing 777 Richtung Dubai. Wir haben Venedig erlebt, so, wie es dieser faszinierenden Stadt gebührt: Als innig verbundenes Paar. Italien war immer unser Lieblingsland.

Es geht M deutlich schlechter, als Du ihn vor einigen Wochen erlebtest. Die Krankheit schreitet fort, da gibt es nichts zu beschönigen. Und deshalb – vielleicht gerade deshalb –, sind wir zu dieser Reise aufgebrochen. Wie es war? Nun, jeder kennt die Stadt. Viele haben sie besucht und wenn nicht selbst erblickt, so zumindest Filme oder Abbildungen gesehen. Wir haben sie uns bis zuletzt aufgespart – die Serenissima.

Obwohl M schwach ist, hat er es sich nicht nehmen lassen, Venedig mit mir zu Fuß zu erobern (und mittels Gondel). Die Sehenswürdigkeiten muss ich Dir nicht aufzählen, Du kennst sie besser als ich. Wir haben die Anstrengungen auf drei Tage verteilt. Das verwirrende Netz der alten Gassen hat uns oft in die Irre geführt und manchmal standen wir auch vor einer Mauer. Absicht, sagte man uns. Bei einer Belagerung der Stadt sollte der Feind immer wieder in einer Sackgasse landen. Selbst Italiener fragten uns gelegentlich hilflos: San Marco? San Marco? Den Stilmix, den die Stadt bietet, haben wir staunend gewürdigt. Dieses Konglomerat aus altbyzantinischen, romanischen, gotischen und barocken Elementen überrascht immer wieder neu. Natürlich auch hier an allen Plätzen das allgegenwärtige Telefonino. Venezianer im fortgeschrittenen Alter schmettern auf Grund der Schwerhörigkeit gerne so lautstark hinein, dass die Umgebung rege Anteil an der geführten Unterhaltung nehmen kann. Ich suchte nach dem Teatro Anatomico aus dem Jahr 1607. Einen Hörsaal mit drei Tribünen, in dem Autopsien vor Medizinstudenten durchgeführt wurden hat es damals gegeben. Leider wurde es bereits vor zweihundert Jahren zerstört. Faszinierend war, in einem alten Palazzo zu wohnen, in welchem sich das Hotel befand. Als ob die Mauern zu einem sprächen. Sie flüsterten nachts. Wer weiß, vielleicht hat Casanova hier genächtigt? Du kennst mich, ich hätte gern mitgeschrieben. Welche Geheimnisse und Geschichten der vergangenen Jahrhunderte sie bergen mögen? Aber ich glaube, es ist genau so wie in Florenz. Man muss Monate, ja gar Jahre in diesen Städten zubringen, damit sie sich ein wenig öffnen und auch der Fremde mehr sieht, als das, was sie dem oberflächlichen Touristen offenbaren. Obwohl jährlich zehn Millionen Besucher das historische Venedig besuchen, vermute ich, dass die Stadt besonders verschlossen ist und sich, wenn überhaupt, nur den rund 60 000 Venezianern von ihrer echten Seite zeigt. Die Idee zu einer Geschichte hat sich trotzdem bei mir eingestellt. An Ideen mangelt es mir nie, nur weiß ich manchmal gar nicht, wie ich das alles in den Computer bringen soll, zumal die Betreuung eines kranken Menschen viel Zeit in Anspruch nimmt.

M hat tapfer durchgehalten, er wollte alles sehen, so viel wie nur möglich aufsaugen. Er bestand sogar darauf, mich beim Einkauf zu begleiten. Wie so oft in der Vergangenheit, sind wir Hand in Hand durch uralte Gassen geschlendert. Man muss ohnehin dicht beieinander bleiben, sonst drängen einen die Menschenmassen auseinander und in dem Gewirr der Gassen geht man schnell verloren, wie Du aus leidvoller Erfahrung weißt (ich sage nur: Pisa!). Hier ein Espresso, dort einige Dolce, nebenher ein paar elegante Schuhe erworben (obwohl ich gar nicht weiß, wo ich diese in meiner nordischen Feldereinsamkeit tragen soll). Venezianische Masken probiert und als untauglich für Nordfriesland verworfen. M lachte wieder ausgelassen, so wie er früher immer gelacht hat: Schuhgeschäfte! Italienische Schuhe stapelweise und meine Frau mittendrin! Übrigens: Danke für Deinen Geheimtipp. Ich habe diese Gasse mit dem Geschäft tatsächlich gefunden. Was gar nicht so einfach war! Und du hattest, wie immer, recht! Solche Qualität gibt es bei uns nicht. Die Muster sind seit Jahrhunderten unverändert. Wir haben gekauft, auch wenn wir uns über die Verwendung (Vorhang? Oder doch lieber Bezugsstoff für ein Möbelstück?) noch nicht im Klaren sind.

M verfolgte alles interessiert, amüsierte sich über meine in spärlichem Italienisch geführten Kaufverhandlungen und in seinem Fall stimmt es offensichtlich nicht, dass kranke Menschen teilnahmsloser werden.

Die Entfernung von zu Hause tat wohl ein Übriges. Er schien die Krankheit zeitweise, wenn schon nicht vergessen, so doch wenigstens verdrängen zu können.

Wir fuhren mit dem Nachtzug über die Alpen. Schlafwagen. Angenehmes Reisen. Man geht zu Bett und wenn man die Augen aufschlägt, ist man in München. Reisen in einem Nachtzug ist etwas mit einer besonderen Atmosphäre. Die Menschen sind offener, man erfährt eine Menge über sie. Man ist gemeinsam durch die Nacht gerattert, hat die Alpen überquert und tauscht sich nun aus.

Als ich die Abteiltür morgens öffnete, stand ein Chinese davor. Wie es so ist, man kommt ins Gespräch und ich erfuhr, dass er seit einigen Jahren in Sydney lebt und zu einem Kongress in München fährt. Er ist Dermatologe, spezialisiert auf Allergien. Vorher hat er sich noch Venedig angeschaut. Unser kleines Europa fasziniert ihn. Ja, das vergessen wir manchmal, wie kommod wir es hier eigentlich haben. Alle paar hundert Kilometer alte Burgen und Schlösser, über Generationen gewachsene Altstädte, Kunstschätze und kulinarische Köstlichkeiten an jeder Ecke. Käse aus der Normandie, Trüffel aus dem Perigord, Schinken aus Spanien, Wein aus Italien, französisches Baguette … Noch. Wenn irgendwann einmal alles genmanipuliert ist (Freihandelsabkommen!) , werden wir mit Wehmut an die guten alten Zeiten denken.

Paris, die Prager Altstadt, London, Budapest … alles relativ leicht zu erreichen und jedes Mal wieder überraschend. Doch langsam schiebt sich ein Schatten über Europa. Die Menschen haben Angst vor Attentaten. Wir stehen an einer Zeitenwende und keiner kann absehen, wo die Reise hingehen wird.

Zurück zum chinesischen Dermatologen. Du weißt, wie sehr ich es genieße, mit interessanten Menschen aus aller Herren Länder in Kontakt zu kommen. Solche Begegnungen haben mich immer bereichert und ich freue mich stets, wenn ich für mein Gegenüber ebenfalls in angenehmer Erinnerung bleibe.

Wir haben herzlich über unsere Erinnerungen an die beiderseitigen Erfahrungen mit dem „real existierenden Sozialismus“ lachen müssen. Er hat sich mit M über dessen Krankheit unterhalten und ich habe ins Englische übersetzt, so gut ich konnte. Chinesisch werde ich wohl nie lernen. Was er mir vor sprach, muss ich so verballhornt wiederholt haben, dass er sich köstlich amüsierte. Und ich mich mit ihm. Herrlich, wenn man in Alltagssituationen über sich selbst lachen kann. Wir haben wertvolle Ratschläge aus seinem Wissensschatz der traditionellen chinesischen Medizin erhalten und standen noch lange auf dem Bahnsteig und redeten. Er schrieb mir seine Telefonnummer in Sydney auf. Besuchen Sie mich! Ich werde Ihr Fremdenführer sein! Ich könne problemlos auch allein reisen, meinte er, Sydney sei eine sichere Stadt. Weiß ich doch. Allein nach Australien? Oder mit meinem Freund? Mal sehen.

Über die Dimensionen des Flughafens München muss ich Dir nichts erzählen. Diese ermüdenden Wanderungen hast Du oft genug selbst absolviert.