Mord im Nordwind - Angelika Singer - E-Book

Mord im Nordwind E-Book

Angelika Singer

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Beschreibung

Für Polizeihauptkommissar Jan Magnusson bleibt nur noch eine Gnadenfrist bis zur gefürchteten Pensionierung. Sein letztes Berufsjahr als Dienststellenleiter in St. Peter-Ording ist angebrochen. Was soll der geschiedene Magnusson, dessen erwachsene Kinder weit entfernt leben, mit dem Rest seines Lebens anfangen? Was ihm bleibt, ist sein Hund und das Regime seiner resoluten Haushälterin. Er resigniert, macht sein Testament und kauft sich eine Grabstelle. Da geschieht in dem ruhigen Nordseeheilbad ein Mord. Seine Intuition sagt ihm, dass die Kollegen der Mordkommission eine falsche Spur verfolgen.

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Angelika Singer

MORD IM NORDWIND

Engelsdorfer Verlag 2008

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eISBN: 978-3-86901-109-7

Copyright (2008) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Jan Magnusson erhob sich ächzend. Die Narbe schmerzte mehr, als er es sich und seinen Kollegen eingestehen wollte. Zum Glück gab es in der Polizeidienststelle von St. Peter-Ording nur wenig zu tun. Die Routineaufgaben übernahmen seine beiden jungen Mitarbeiter, Wencke und Sören. Die könnten seine Kinder sein. Und genau so behandelte er sie - wie zwei unvernünftige Teenager. Sie ließen sich sein patriarchenähnliches Gehabe widerspruchslos gefallen. Er war sich nur nicht sicher, ob sie hinter seinem Rücken über ihn lachten. Sören nahm ihn wohl so, wie er war, weil er sein Nachfolger wurde und Wencke war froh, nicht in einer Großstadt mit ständig wechselnden Kollegen arbeiten zu müssen. Bei aller Emanzipation gab es für eine junge Frau im Polizeidienst oft genug unangenehme Situationen. Zu allem Übel machten sich manche Kollegen das Leben gegenseitig schwer. Mobbing. Er konnte sich nicht erinnern, daß in seinen ersten Berufsjahren ein Polizist zur Dienstwaffe gegriffen hatte, um sich selbst wegen irgendwelchen beruflichen Probleme umzubringen. Wenn die Statistiken stimmten, betraf dieser Suizid wegen Mobbing gerade junge Frauen.

Überhaupt, er hätte seiner Tochter so eine Berufswahl vehement ausgeredet. Zum Glück war Jasmin auf einer ganz anderen Schiene und wollte damals unbedingt Theaterwissenschaften studieren. Jetzt arbeitete sie schon einige Jahre an dem kleinen Provinztheater im Schwäbischen. Immer, wenn er sie besuchte, nötigte sie ihn auch zu einem Theaterabend. Dabei hatte er seine Mühe, nicht einzuschlafen. Diese ganze Kunst- und Kulturszene war ihm zuwider. Was für eine Euphorie und Begeisterung, wenn einer in einem klassischen Stück mit Motorradkleidung herumsprang. So ein Schwachsinn. Er verstand ihre Erläuterungen der modernen Stücke nicht und behauptete, das Ganze sei wie das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Von wahrer Kunst nichts zu sehen, aber jeder meinte steif und fest, soeben einen herausragenden Kunstgenuß erlebt zu haben.

Irgendwie verstand er Jens. Sein Sohn hängte nach drei Semestern sein Psychologiestudium an den Nagel und begann eine Tischlerlehre mit der Begründung, er wolle etwas Greifbares mit seinen Händen schaffen. Mittlerweile führt er als Meister den Betrieb seines ehemaligen Lehrausbilders und schien seinen Platz im Leben auszufüllen. Er war verheiratet und hatte Jan zum Großvater einer entzückenden Enkeltochter gemacht. Sabine – Jans geschiedene Frau – ließ sich damals extra an eine Schule in die Nähe von Jens versetzen. Sie wollte ihr Enkelkind aufwachsen sehen und den Kontakt nicht auf Ostern und Weihnachten beschränken. Sabine war eine geduldige Lehrerin, die mit den schwierigsten Schülern zurechtkam. Nur bei ihm biß sie immer auf Granit. Er wollte nach Dienstschluß einfach nicht mehr reden. Diese ganzen Belanglosigkeiten, das Alltagsgewäsch über die Nachbarn, die Bekannten und die ausufernden Diskussionen über Urlaubsziele, Autoreparaturen, ... zieh doch die braune Hose an..., ... die Waschmaschine ist kaputt..., magst du Müsli oder Brötchen... . Er konnte es einfach nicht mehr hören. Er fühlte sich beruflich ausgelaugt, alles ging ihm auf die Nerven. Im Scheidungsverfahren war er froh, als Sabine lapidar feststellte, sie hatten sich auseinandergelebt.

Zu dieser Zeit war er bei der Drogenfahndung Hamburg eingesetzt. Sein Leben bestand nur noch aus unregelmäßigen Diensten, Streß bei gefährlichen Einsätzen, schlechtem Essen und zu wenig Schlaf. Er wurde zunehmend unkonzentrierter und gereizter. Um sich zu beruhigen, rauchte er immer mehr und trank zu viel. Zeitweise begannen seine Hände unkontrolliert zu zittern. Er saß manchmal eine Stunde völlig bewegungslos im Sessel, konnte aber keine Kaffeetasse mehr ruhig halten.

Bei der Festnahme eines Dealerringes stach ihm einer der Täter ein Messer in die linke Niere. Das Organ war nicht mehr zu retten. Der Klinikaufenthalt brachte den Nikotinentzug mit sich. Er nutzte die Gunst der Stunde und hörte mit dem Trinken auf. Seine verbliebene Niere war ihm wichtiger. Sein Vorgesetzter leitete die Frühpensionierung ein. Magnusson sollte ehrenvoll und abgesichert aus dem Polizeidienst entlassen werden. Er weigerte sich verbissen. Jan wußte, wenn er keine Aufgabe mehr hatte und sein Tag keine Struktur, würde es nicht mehr lange mit ihm gehen. Auf seine ausdrückliche Bitte hin versetzte man ihn schließlich auf diese kleine Dienststelle in St. Peter-Ording. Hier war er nicht überfordert und konnte regulär aus dem Dienst ausscheiden. Es kam ihm vor wie eine Galgenfrist.

Jasmin kam vorbei und brachte ihm einen kleinen Hund. Sie meinte, er brauche jemand, um den er sich kümmern müsse, sonst würde er verwahrlosen. Der Hund war ein Beagle. Nicht zu groß, aber auch kein Schoßhund. Er nannte ihn „Moppel“ weil der Welpe so rund und wohlgenährt aussah. Ganz im Gegensatz zu ihm. Jasmin führte – anders als ihre Mutter -, keine endlosen Diskussionen, sondern stellte ihn vor vollendete Tatsachen. Eines Morgens klingelte eine resolute ältere Frau an seiner Wohnungstür. Sie sei von seiner Tochter engagiert und werde ab jetzt jeden Tag kommen. Frau Kiesewetter übernahm mit erfahrener Hand das Regiment. Sie führte Moppel aus, reinigte die Zwei-Zimmer-Wohnung und stellte ihn für abends etwas Warmes in den Backofen. Tagsüber versorgten ihn seine Kollegen mit Pizza, einem Krabbenbrötchen oder Döner. Wenn Frau Kiesewetter sich auf den Heimweg machte, brachte sie Moppel auf der Wache vorbei. Hier verschlief er die restlichen Dienststunden seines Herrn unter dessen Schreibtisch. Gelegentlich neigte Moppel zum ausbüxen, wenn er sich langweilte. In einem unbeobachteten Augenblick entwich er aus der Polizeidienststelle und stromerte eine Weile durch den Ort. Die Einwohner wußten, daß er zu Polizeihauptkommissar Magnusson gehörte und gaben bereitwillig Auskünfte zum jeweiligen Aufenthaltsort. In der Saison bevorzugte er die Strände und Dünenwege. Wegen der vielen anderen Hunde dort. In der ruhigeren Jahreszeit belagerte er die Eingangstür des kleinen Lebensmittelgeschäftes im Dorf. Besonders die verlockenden Düfte aus der Wurst- und Fleischabteilung führten dazu, daß Jan ihn mit einer Bockwurst dort weglocken mußte. Meist waren ihm solche Aktionen zu peinlich und er beauftragte einfach Wencke und Sören. Die Polizei - Dein Freund und Helfer beim Einfangen entlaufener Hunde!

Für Jan gab es in diesem hübschen Nordseeheilbad nicht viel zu tun. Hier wohnte eine überschaubare Einwohnerzahl, welche kaum kriminelle Neigungen besaß. Lediglich in der Saison gab es kleinere Delikte zu klären. Der Fahrrad-Diebstahl bei „Zweirad-Hamsen“ beschäftigte gerade Wencke und Sören. Entgegen des sonst gelegentlich vorkommenden Diebstahls von einzelnen Fahrrädern, waren hier ein Dutzend hochwertiger Räder gleich nach der Lieferung abhanden gekommen.

Für gewöhnlich ging es ruhig zu. Ein paar kleine Ladendiebstähle von Jugendlichen, Randalierer am nächtlichen Strand, Verkehrsunfälle, falschparkende Touristen, ab und zu eine Rauferei vor der Disko. Provinz eben. Beschaulich.

Für Jan Magnusson war sein letztes Jahr im Polizeidienst angebrochen. Sören kam eigentlich jetzt schon ohne ihn zurecht. Er und Wencke würden dann allein arbeiten, die dritte Stelle wurde eingespart. Die Abschiebung in eine Erwerbsunfähigkeitsrente hatte er umgehen können, aber weiter ließen die vom Polizeipräsidium nicht mit sich reden, mit Sechzig war für ihn endgültig Schluß. Vor diesem letzten Tag fürchtete er sich jetzt schon. Nicht das ganze Brimborium mit Präsentkorb und Händeschütteln. Es war die Leere danach. Was nur sollte er dann den ganzen Tag machen? Mit Moppel den Strand auf- und abwandern? Frau Kiesewetter Anweisungen geben? Die würde sich schön bedanken und ihm den Marsch blasen.

Er lief ein bißchen unschlüssig in seinem Dienstzimmer hin und her, dabei rieb er sich die schmerzende Seite. Mit einer Niere kann man prima leben, hatten die Ärzte gesagt, nur dürfe dieser einen nichts passieren, sonst müsse er an die Dialyse. Ein furchtbarer Gedanke. Für den Rest seines Lebens von einer Maschine abhängig sein. Ein Spenderorgan wäre eine Alternative, aber woher nehmen, darauf warteten schon genug andere.

Er warf einen prüfenden Blick auf die Armbanduhr, schüttelte den Kopf und wanderte weiter ruhelos wie ein gefangenes Raubtier im Zimmer umher. Gleich Mittag und die beiden trödelten immer noch irgendwo herum. Fahrraddiebstahl, Herrgott, das ist doch eine Aufgabe, die jeder Hilfspolizist klären kann. Er schaute mit grimmigem Blick das Telefon an. Wenn wenigstens mal einer anrufen würde. Irgend etwas mußte doch auch in diesem beschaulichen Urlaubsort mal passieren. Er zwang sich zur Ruhe und griff nach dem Ordner mit den aktuellen Dienstanweisungen. Wenigstens sah es jetzt so aus, als sei er mit wichtigen Angelegenheiten beschäftigt. Als sein Magen knurrte, wurde ihm bewußt, daß er seit dem halben Brötchen heute morgen nichts mehr gegessen hatte.

Hoffentlich brachten die beiden ihm etwas mit.

Wencke und Sören wußten auch nicht weiter. Das Kind war schätzungsweise drei Jahre alt. Es zeigte immer wieder auf den Strand „Mama ist dort“. Sören nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Na fein. Dort sind zur Zeit etwa fünfhundert Mamas. Wie sieht denn Deine aus?“ Das Mädchen erzählte von langen Haaren und einem roten Badeanzug. Keine wirklich hilfreichen Details. Es half nichts, sie mußten an den Strand und über das Megaphon der Rettungsschwimmer die Mutter ausrufen lassen. Als diese völlig aufgelöst ihr Kind wieder in Empfang nahm, machte Wencke sie eindringlich darauf aufmerksam, dem kleinen Mädchen immer wieder einzuschärfen, daß sie – wenn sie sich verlaufen habe, zur Strandaufsicht gehen soll. Es war gefährlich, wenn solche kleinen Kinder einfach landeinwärts marschierten.

Sie unterhielten sich noch eine Weile mit den Rettungsschwimmern und stiegen dann wieder ins Auto. Sören warf die Mütze auf die Hutablage und öffnete die oberen Hemdknöpfe. Er stöhnte demonstrativ, aber Wencke schien keine Lust zu haben, in zu bedauern. Schließlich litt sie genau so unter der späten Hitze. Dabei ging es ihnen hier gut. Im Großstadtdienst müßten sie mit stickiger Luft, Abgasen und endlosen Staus zurechtkommen. Hier dagegen war es fast ein bißchen wie Urlaub. Nach Feierabend waren sie mit ein paar Schritten am Meer und konnten sich unter die Feriengäste mischen. Sören trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad „Wir müssen für den Alten etwas zu essen holen. Vorher will ich noch mal schnell bei Malermeister Böhnke vorbei.“ Er war jung verheiratet und erwartete Nachwuchs. Sie hatten gebaut und seit einem halben Jahr nervte er Wencke mit ausführlichen Erwägungen der Art, ob er nicht doch lieber weiße Fliesen hätte nehmen sollen oder ob der Dachdecker zuverlässig seinen Termin einhielt. Wenn es nicht der Dachdecker war, der Probleme machte, dann war es am nächsten Tag der Klempner. Wencke wollte noch lange keine Familie gründen. Erstens fehlte ihr dazu der geeignete Kandidat, zweitens wollte sie nicht schon in jungen Jahren zu so einem Spießer wie Sören mutieren. Sie erfreute sich lieber ihrer Freiheit und genoß die Vorzüge dieser Dienststelle. Wenn Sören heute abend seine Malerkübel sortierte, würde sie noch ein Weilchen am Strand liegen und anschließend einen netten Schwatz mit ihrer Freundin halten.

Ihr Vorgesetzter, Polizeihauptkommissar Magnusson, war zwar die meiste Zeit ein maulfauler Grandler, der sie wie ein unmündiges Kind behandelte, dafür zeigte er sich in der Übernahme ihrer Bereitschaftsdienste bei Bedarf äußerst großzügig.

Während Sören mit dem Malermeister ausgiebig die Vor- und Nachteile verschiedener Farbmuster in Erwägung zog, holte Wencke am Imbißstand drei Fischbrötchen. Bei der Hitze würde der Alte bestimmt nichts Warmes mögen. Sie ließ drei Getränkedosen mit einpacken und drängte ihren Kollegen zum Aufbruch.

Jan hatte seine Wanderungen durch die Wache wieder aufgenommen und atmete erleichtert auf, als die beiden unter seinem Fenster einparkten.

„Na endlich. Was hat denn so lange gedauert?“

Sie waren überein gekommen, daß Jan die jungen Kollegen mit dem „Hamburger Du“, also Vorname plus siezen, anredete, während die beiden ihn „Herr Magnusson“, bzw. wenn sie unter sich waren, einfach „den Alten“ nannten.

Sören öffnete die Tür seines Spindes und entnahm daraus ein frisches Uniformhemd. Die ungewöhnliche Hitze zeichnete unschöne Schweißflecken auf das alte Hemd.

„Wir haben den Fahrraddiebstahl bei Hamsen aufgenommen und dann noch ein Kind am Dünenweg aufgelesen. Das haben wir an den Strand zur Mutter zurück gebracht.“

Wencke ordnete Gläser und Servietten auf dem Schreibtisch. Sie schaltete den Ventilator an und drehte ihn zu sich. „Ende September noch so ein Wetter. Das gab es lange nicht.“

Jan setzte sich wegen der Schmerzen vorsichtig. Diese Hitze würde bald vorbei sein. Den Wetterumschwung konnte er durch seine Narbe zuverlässig voraussagen.

„Und? Was war?“

Die beiden schauten ihn verständnislos an.

„Hamsen!!“

„Ach so.“ Sören knöpfte sich beim Reden das frische Hemd zu. „Keiner hat was bemerkt. Die Räder wurden gestern abend angeliefert und ordnungsgemäß angeschlossen. Heute früh waren dann alle weg. Hamsen hatte die Lieferung eigentlich vor Saisonbeginn erwartet, aber auf Grund der großen Nachfrage...“

Jan winkte ab. Er mußte eine Meldung herausgeben. Falls irgendwo hochwertige Fahrräder unter der Hand angeboten wurden. Meistens wurde solches Diebesgut über das Internet verscherbelt. In der übergeordneten Dienststelle beschäftigte sich ein Kollege den ganzen Tag mit Internetrecherchen. Für ihn wäre das nichts. Dieser ganze elektronische Hokuspokus blieb ihm suspekt. Wenn irgendwo ein Server abstürzte oder der Strom wegblieb, ging nichts mehr. Er verließ sich lieber auf sein Gedächtnis und seinen Instinkt. Am Computer waren Sören und Wencke besser ausgebildet. Dabei meinte er, die beiden merkten nichts von seinen Wissenslücken auf diesem Gebiet. Wenn er Wencke seine Meldungen diktierte, war das schließlich sein gutes Recht als ihr Vorgesetzter. Er konnte schon damit umgehen, mußte es aber nicht.

Seine ihm unterstellten Mitarbeiter nahmen es gelassen. Es gab üblere Chefs als Magnusson. Wencke erinnerte sich ungern an ihre Ausbildungszeit in Bremen. Ihr damaliger Dienststellenleiter war der reinste Chauvinist. Mit den Kollegen kam sie klar, aber die anzüglichen und oft beleidigenden Bemerkungen des Vorgesetzten belasteten sie sehr. Mit der Bewerbung für diesen Posten wußte sie, was sie erwartete. Steile Karriere im Polizeidienst ausgeschlossen. Sie besaß nur wenig Ehrgeiz. Es war ihr lieber, in Ruhe zu arbeiten und abends keine Probleme mit nach Hause zu nehmen. Es befriedigte sie mehr, so wie heute, ein Kind wieder der glücklichen Mutter zu übergeben, als schwere Verbrecher zu jagen und in der Hierarchie verheizt zu werden. Ihre Energie steckte sie lieber in diverse Freizeitvergnügen und davon gab es in dem kleinen Nordseeheilbad erstaunlich viele.

Sören fühlte sich ebenfalls wohl. Nächstes Jahr sollte er Dienststellenleiter werden. Die Beförderung bedeutete eine höhere Gehaltsstufe. Die konnte er bei den ausufernden Kosten, welche sein Hausbau mit sich brachte, auch dringend gebrauchen. Seine Frau blieb die nächsten drei Jahre zu Hause. Der Kaufpreis für das Haus war zwar fest, trotzdem waren ständig neue zusätzliche Kosten fällig. Grunderwerbssteuer, Notargebühren, Anschlußkosten, Straßenausbaugebühr... Jeden Tag flatterte eine neue Rechnung ins Haus.

Der Alte kannte solche Probleme nicht. Lebte mit dem Hund wie ein Einsiedler. Was der wohl mit seinem Einkommen anstellte? Über sein Privatleben erzählte er nichts. Sie wußten, daß er geschieden war und seine Kinder weit entfernt wohnten. Mehr nicht. Ob er eine heimliche Freundin hatte? Sören war unsicher, ob ein Mann dieses Alters überhaupt noch eine Frau brauchte. Fast sechzig Jahre. Das erschien ihm unvorstellbar alt. Obwohl, schlecht sah der Alte eigentlich nicht aus. Soweit Sören als Mann darüber urteilen konnte. Magnusson war groß und hager. Ein Profil wie ein Indianer. Unter den dichten Augenbrauen die hellgrauen Augen fast unsichtbar. Wenn er nachdachte, kniff er die Augen noch mehr zusammen, so daß sich eine Menge Falten herum gebildet hatten. Seine Haare müssen früher dunkel gewesen sein, jetzt waren sie silbergrau. Die Lippen eigentlich schön gezeichnet, aber er preßte sie so sehr aufeinander, daß sie eine dünne Linie bildeten. Er redete nicht viel. Gelegentlich genügte ein Knurrlaut und die beiden begriffen, was er meinte. Diese Art der Kommunikation schätzen Frauen nicht besonders, wie Sören aus eigener Erfahrung wußte.

Jetzt betrachtete der Alte kritisch das ausgewickelte Fischbrötchen. Er hatte mit Döner gerechnet. Wieso fragten die beiden ihn eigentlich nie. Jeden Tag dieses Überraschungspaket. Auf den Gedanken, seine Wünsche deutlich zu äußern, kam er nicht.

Sein Selbstbild war das des genügsamen, mit jeder Situation klarkommenden Polizisten.

Aber auf die von Frau Kiesewetter zubereitete warme Mahlzeit freute er sich jetzt schon.

Frau Kiesewetter versuchte mit dem Wischmob einen Angriff auf Moppel, der sich mit Jans Schlafanzughose unter dem Sofa verschanzte und drohend die Zähne fletschte.

So ein Saubär aber auch, dachte die ältere Frau. Herr Magnusson ging in ihrer Gegenwart sehr streng mit dem Hund um, aber sie war davon überzeugt, sobald sie die Wohnung verließ, änderte sich das. Der Polizeikommissar wollte sich nur in ihrer Gegenwart keine Blöße geben. Umsonst war der kleine Kerl nicht so selbstbewußt. Sie stemmte sich stöhnend wieder hoch. Die Arthrose wurde auch jedes Jahr schlimmer! Für das Problem mit dem Hund gab es eine einfache Lösung. Schon als sie Richtung Kühlschrank ging, steckt Moppel interessiert seine Schnauze hervor. Sie hielt ihm ein Stück Leber hin und er rückte dafür die Schlafanzughose seines Herrchens heraus. Während er genüßlich fraß, betrachtete sie seufzend das Nachtgewand. Von einem Hosenbein war nur ein durchgekauter Rest übrig. Als sie ihre üblichen Hausarbeiten verrichtete, lag Moppel friedlich in seinem Körbchen. Nur als sie den Staubsauger holte, betrachtete er den alten Feind mit einem verächtlichen Stirnrunzeln und gab einen kurzen Knurrlaut von sich.

Frau Kiesewetter briet noch die Leber, stampfte den Kartoffelbrei und stellte auch eine Schüssel mit Salat in den Kühlschrank. Herrn Magnusson betreute sie gern. Er bezahlte ihre Hauswirtschaftsdienste ordentlich, ließ sie schalten und walten und hielt das von ihr aufgestellte Ordnungssystem ein. Nur ein einziges Mal mußte sie ihn streng drauf hinweisen, daß die Straßenschuhe in das Schuhregal neben der Wohnungstür gehörten und in der Wohnung Pantoffeln zu tragen sind. Seitdem klappte das.

Ohne ihre Unterstützung würde der Mann geradezu verwahrlosen. Zumindest nicht richtig essen. Gerade bei seiner fehlenden Niere war eine gesunde Ernährung enorm wichtig. Sie kochte, was sie auch für ihren Mann Zuhause zubereitete und nutzte dafür die Sonderangebote des Supermarktes. Wenn ihre Bekannten im Geschäft waren, fragte sie schon mal laut, ob nicht ein extra schönes Stück Rinderlende für ihren Polizeikommissar vorrätig war. Ihr Polizeikommissar! Das machte schon was her. Sollten ihre Freundinnen ruhig neidisch werden.

Sie schob den angerichteten Teller in die Backröhre, damit Herr Magnusson ihn nur aufwärmen mußte. Dann rief sie Moppel und legte ihm seine Leine an. Den zerfetzten Schlafanzug hatte sie in ihre Tasche gepackt.

Auf der Polizeiwache führte Jan Magnusson gerade eine Diskussion mit einem Touristen. Der Mann hatte vor der Ausfahrt der Freiwilligen Feuerwehr St. Peter-Ording geparkt und wollte partout seinen Strafzettel nicht bezahlen.

„Fünf Minuten. Ich war nur fünf Minuten weg. In der Zeit ist überhaupt keine Feuerwehr ausgerückt. Also muß ich auch nichts bezahlen. Wie kommt die dazu“ er zeigte auf Wencke,

„mir einen Strafzettel an die Windschutzscheibe zu klemmen!“

Er stand in Badeschlappen und Shorts im Dienstraum der Wache und starrte Jan wütend an.

Dessen Miene blieb unbewegt, er hob nur eine Augenbraue etwas.

„Meine Kollegin hat vollkommen korrekt gehandelt. Sie wissen, daß sie dort nicht parken dürfen. Die Zeit spielt keine Rolle. In dieser Hinsicht gibt es keine Ausnahmen.“

Magnusson hatte ruhig und bestimmt gesprochen. Er nickte dem Wüterich kurz zu und ging wieder in sein Dienstzimmer. Durch den offenen Türspalt sah er, wie der Mann noch eine Weile verbissen mit hochrotem Kopf auf Wencke einredete und dann vor ihren Augen den Strafzettel zerriß.

„Wegelagerer!“ Drang es durch die halb geöffnete Tür zu ihm.

Jan schüttelte den Kopf. Zahlen muß er so und so. Warum sich manche Zeitgenossen wegen Nichtigkeiten so in Aufregung stürzten, konnte er nicht begreifen. Völlig sinnlos. Irgendwann ist es dann der letzte Wutanfall, weil ein Infarkt sie dahinrafft. Dabei sind die Leute hier im Urlaub, also eigentlich erholt und entspannt. Wie mochten sich diese Wichtigtuer erst in echten Krisensituationen aufführen.

Während seiner Zeit bei der Drogenfahndung lernte er Ruhe bewahren. Mit seinen Kollegen konnte er sich manchmal nur durch Blicke verständigen. Trotz aller Vorsicht genügte ein unachtsamer Moment, als der Kerl ihn mit dem Messer angriff.

In der Tür prallte der Wüterich bei seinem Abgang mit Frau Kiesewetter zusammen. Die wich nicht zurück, so daß ihm nichts anderes übrigblieb, als der Dame den Vortritt zu lassen, was seinerseits neue Empörung hervorrief. Frau Kiesewetter brachte ein stattliches Gewicht auf die Waage - die genaue Angabe in Kilogramm war ihr unwichtig -, mit ihrem exakten Kurzhaarschnitt der weißen Haare wirkte sie noch energischer und tatkräftiger. Sie steuerte direkt auf Magnussons Zimmer zu, strich im Vorbeigehen der erschöpft wirkenden Wencke wie einem kleinen Kind über den roten Haarschopf und nickte Sören aufmunternd zu.

Vor Jan angekommen, öffnete sie ihre Tasche und hielt demonstrativ ein Stoffstück hoch.

„Ich sage nur eines: Hundeschule!“

Irritiert erkannte Magnusson seine Schlafanzughose. Er nahm ihr schnell das zerstörte Teil aus der Hand und stopfte es in eine Schreibtischschublade. Dann vergewisserte er sich, ob seine beiden Kollegen etwas mitbekommen hatten. Die saßen bereits wieder vor ihren Computerbildschirmen. Er schloß die Tür.

„So geht das nicht weiter, Herr Magnusson. Moppel braucht eine straffe Erziehung. Sie könnten ihn doch mal zu den Polizeihunden stecken, da wird er sich aber umschauen!“

„Ja, Frau Kiesewetter. Wir werden sehen. Also dann, bis morgen.“

Er verabschiedete seine Haushaltshilfe und brachte sie zur Tür. Wencke und Sören saßen mit teilnahmslosen Gesichtern an ihrer Arbeit. Kaum war er wieder in seinem Dienstzimmer verschwunden, konnten sie das Lachen nicht mehr verbeißen und prusteten los.

Die Frau lief auf der Deichkrone. Von der Hitze des Tages nichts mehr zu spüren. Die Nacht war so kühl, wie sie im September zu sein hatte. Das Funkeln der Sterne störte sie nicht. Ein zufälliger Beobachter würde sie für eine schlaflose Touristin halten. Der in ihrem Rücken in regelmäßigen Abständen aufblendende Lichtschein reichte weit auf die See hinaus. Kein Grund zur Beunruhigung – nur der Böhler Leuchtturm. In der Richtung Böhl glomm noch ein Licht am Strand. Das mußte „Die Seekiste“ sein, eines der für den Ort typischen Pfahlbau-Restaurants am weitläufigen Strand. Die Besitzer räumten wohl nach den letzten späten Gästen noch auf.

Die Frau trug einen weiten Umhang – ein sogenanntes Cape. Die angeknöpfte Kapuze hatte sie etwas über die Stirn gezogen. Sie ging betont langsam. Ob sie jung oder alt war, verriet ihr Gang in der Dunkelheit nicht. Eine einsame Frau, die nicht schlafen konnte und die stille Nacht genoß. Unter der weiten Umhüllung des Capes zeichnete sich keine Figur ab. Sie konnte genausogut gertenschlank oder korpulent sein.

An der Abzweigung zum Dünenweg blieb sie kurz stehen. Sie blickte nochmals auf die See, deren nahendes Rauschen die auflaufende Flut ankündigte. Dann bog sie langsam und bedächtig laufend in den schmalen Fußweg durch die Dünen ein. Vor ihr lagen die ersten Hotels und Pensionen. Alles finster. Selbst die Spätheimkehrer unter den Touristen lagen jetzt in ihren Betten.

Im Hotel „Nordwind“ war ein einziges Fenster schwach erleuchtet. Das war ihr Ziel.

Sie verspürte keine Aufregung, keine Angst. Es galt, zu tun, was zu tun war.

Nur der Gewehrriemen war etwas lästig. Das Gewicht der Waffe unter dem weiten Cape schnitt in ihre Schulter. Unangenehm, aber unverzichtbar.

Die Abende von Jan Magnusson liefen immer gleich ab. Wenn er den Bereitschaftsdienst für den Ort und die umliegenden kleinen Gemeinden hatte, ging er nach dem Abendbrot mit Moppel auf die Wache und schlief dort. Heute war Sören an der Reihe. Er stellte den leeren Teller in die Spülmaschine und legte die Zeitung zusammen. Während er aß, las er in der an der Wasserflasche lehnenden Zeitung. Sehr rationell, wenn diese Methode auch bei Frau Kiesewetter helle Entrüstung hervorrufen mußte.

Magnusson schaltete den Fernseher an und legte sich auf die Couch. Moppel machte es sich auf seinem Bauch bequem. Der Hund hatte instinktsicher erkannt, daß unter der bärbeißigen Schale seines Herrn ein butterweicher Kern steckte. Kaum waren sie allein, brauchte er Jan nur mit seinen großen braunen Augen intensiv anzuschauen und er erreichte, was er wollte. Im Moment wollte er Gummibärchen. Wenn Jan Magnusson eine Schwäche hatte, dann waren es Gummibärchen. Frau Kieswetter tolerierte diese Sucht stillschweigend. In ihrer pragmatischen Art kaufte sie einfach bei Sonderangeboten gleich mehrere von diesen großen, mit Gelantinefiguren gefüllten Plastebehältern.

„Kauen, Moppel, kauen – nicht schlingen.“ Jans Ermahnungen interessierten den Beagle wenig. Hochkonzentriert lauerte er auf das nächste Gummibärchen aus der Hand seines Herrn. Sollte sein treuherziger Blick einmal seine Wirkung verfehlen, genügte ein kurzes aufforderndes Bellen. Die Stimme eines Beagle klingt sehr angenehm, wie ein Glockenton. Geläut sagen die Jäger dazu.

Die Nachbarwohnungen gehörten einer Ferienagentur und wurden mit wechselnden Gästen belegt. Die kamen und gingen. Magnusson sah keine Veranlassung, seinem Hund das Bellen zu verbieten, schließlich wohnte er ständig hier. Bis jetzt hatte sich noch keiner über den Hund des Polizisten beschwert. Das überlegten die sich dreimal. Na also.

Anfangs wußte Jan mit dem kleinen Fellbündel nicht so richtig umzugehen. Der Tierarzt drückte ihm eine Menge Literatur in die Hand und empfahl einen Besuch im Jagdverein, die hielten eine ganze Meute dieser Rasse.

Jan dehnte sich ein wenig und fingerte nach der Fernbedienung auf dem Beistelltisch. Er suchte nach einer Sportsendung. Nur keine Talkshows. Dieses Gelaber über Selbstverständlichkeiten oder, noch schlimmer, Perversitäten, ging ihm auf die Nerven.