Ein Blutmondbiss zur Ewigkeit
Schauernovelle
Kathryna Kaa
edition horAObscura
Copyright © 2024 Kathryna Kaa
© 2024 Kathryna Kaac/o Block ServicesStuttgarter Str. 10670736 Fellbachwww.kathrynakaa.demailto: kathryna@kathrynakaa.deAlle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.Die automatisierte Analyse des Werkes zur Gewinnung von Informationen, insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen (§44b UrhG Text und Data Mining) ist untersagt.
Inhalt
Titelseite
Copyright
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Über die Autorin
Schlangenpost
Weitere Veröffentlichungen
Kapitel 1
Acht Tage vor Blutmond
»Ist das etwa ein Sarg?«
Schon bei dem Gedanken daran, der mysteriöse Fremde da unten auf der Straße könnte ihr neuer Nachbar im Haus nebenan sein, schlug Agnes’ Herz einen Takt schneller. Die Legenden um die unheimlichen Wesen, die in dieser Gegend nachts ihr Unwesen treiben sollten, waren damals einer der Gründe gewesen, in diesen abgeschiedenen Ort zu ziehen. Ein anderer war ihre Tochter Charlotte, die jetzt allerdings weit entfernt studierte. Schon immer fühlte sich Agnes von der rätselhaften Seite der Welt angezogen, von Magie und Dunkelheit, die die meisten Menschen gar nicht bemerkten.
Klick. Mist! Warum nur hatte sie vergessen, das Blitzlicht am Handy auszustellen, bevor sie das Foto schoss? Dadurch hatte sie die Aufmerksamkeit des Mannes erregt, der da unten ganz allein Kartons ins Haus trug und jetzt durch seine Sonnenbrille nach oben zu ihrem Fenster blickte. Agnes ließ den Vorhang aus den Fingern gleiten und versteckte sich hinter dem dicken Stoff. Trotzdem spürte sie den Blick des Mannes, der sich durch den Vorhangstoff in ihren Geist bohrte. Sie massierte ihre Schläfen, um den leichten Druck im Schädel zu mildern, der ganz eindeutig durch ihn ausgelöst worden war. Sie vertraute ihrem Gespür für die feinstofflichen Dinge zwischen Himmel und Erde. Den meisten blieben sie verborgen und auch Rupert, der eine Zeit nach der Trennung von ihrem Mann Ben hier eingezogen war, entlockten sie nur ein müdes Lächeln. Deshalb hatte sie sich angewöhnt, diese Erfahrungen für sich zu behalten.
Nachdem der Druck nachgelassen hatte und sie vermutete, dass sich der seltsame Fremde wieder den Möbeln und Umzugskisten zugewandt hatte, wagte Agnes einen erneuten Versuch. Klick. Diesmal schaffte sie es, mit ausgeschaltetem Blitzlicht ein halbwegs vernünftiges Foto zu schießen, ohne dabei bemerkt zu werden. Sie beobachtete den Mann unten auf der Straße, in dessen Natur etwas lag, das über das rein Menschliche hinausging. Das spürte Agnes und das sagte sein eindringlicher Blick vorhin ebenso wie seine Sonnenbrille. Wer sonst trug im Herbst eine, noch dazu, da die Sonne bereits am Horizont verschwand? Agnes konnte sich nicht vorstellen, dass sie in dem einsetzenden Zwielicht damit überhaupt etwas erkennen würde.
Fasziniert beobachtete sie den Mann, der mit erstaunlicher Geschwindigkeit sogar schwere Möbelstücke mühelos aus dem Kleintransporter trug. Gerade lud er sich ein kleines Sofa auf den Rücken, das normalerweise zwei Leute getragen hätten, und schaffte es ohne sichtbare Anstrengung ins Haus. Aus den zusammengebundenen, hellbraunen Haaren hatten sich einige Strähnen gelöst, die sein Gesicht umspielten und ihm etwas Wildes und Verwegenes verliehen. Seine Größe gab ihr Übriges dazu, und diese Arme … sie wirkten zwar nicht übermäßig muskulös, besaßen jedoch eine seltsam anmutige Stärke. Trotz des kühlen Oktobers trug der neue Nachbar nur ein schwarzes T-Shirt, das seine stattliche Figur kaum verbarg.
Der Anblick löste in Agnes ein Frösteln aus. Gedankenverloren strich sie sich über die Unterarme, während sie den Fremden dabei beobachtete, wie er das Sofa ins Haus brachte. Wahrscheinlich schwitzt er wirklich, ging es ihr durch den Kopf. Schließlich ist das Ausladen von Umzugskartons und Möbeln eine schweißtreibende Angelegenheit. Sie leckte sich die Lippen und ertappte sich bei der Idee, dass die Gänsehaut auf ihrem Arm möglicherweise nicht nur von dem Gedanken an die draußen herrschende Kälte herrührte.
Jetzt kam der Mann zurück und wuchtete sich die Kiste auf die Schulter, die aussah wie ein Sarg. Vielleicht ist er ein Vampir, dachte Agnes und ein dünnes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Sonnenbrille, die außergewöhnliche Stärke, der Sarg … Meine Güte!
Mit einem Mal war sie wieder da, die »Legende der untoten Wanderer«, die dazu verdammt waren, nicht tot und nicht lebend zwischen den Welten umherzuirren und Trost im warmen Blut der Menschen zu suchen. Diese Kreaturen sollten sich hier in der Gegend angeblich schon seit Jahrhunderten herumtreiben. Magisch und dunkel kroch die Geschichte in Agnes’ Gedanken. Die Erinnerung holte sie zurück in ihren Geist, wo sie sich in voller Pracht entfaltete.
Hier in dieser abgeschiedenen Ecke der Welt, am Rand dieses Waldes, gab es von jeher Legenden über Wesen, die des Nachts ihr Unwesen trieben. Die Einheimischen nannten ihn den »Wald der Verlorenen«, denn er soll schon den ein oder anderen Wanderer verschluckt haben, ohne ihn wieder preiszugeben. Zumindest nicht lebend. Und nicht umsonst wurden hier auf dem winzigen Friedhof des Ortes Menschen, die unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen waren, noch immer mit abgetrenntem Kopf beerdigt. Agnes hatte schon viele Gräber gesehen, die von eisernen Zäunen umschlossen waren. Das sollte die Toten davon abhalten, wieder aus den Tiefen der Erde zurückzukehren.
Wer einmal tot ist, soll es bleiben, und nicht aus dem Grabe steigen. Denn wer aus seiner Grube steigt, ist bar von jeder Menschlichkeit.
Dieser Spruch stand an einer alten, gerade noch lesbaren Gedenktafel am Eingang des kleinen Friedhofs, der Agnes beim Betreten ein ums andere Mal Schauer über den Rücken jagte. Trotzdem zog es sie immer wieder zu den Gräbern, denn dort spürte sie die Magie und das Zwiegespräch der Welten so deutlich, dass an ihrer Echtheit kein Zweifel bestand.
Wenn Agnes Dinge wahrnahm, die anderen verborgen blieben, fühlte sie sich immer ein Stückchen einsam. Sie seufzte und lenkte ihre Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Einen untoten Wanderer, einen Vampir als Nachbarn zu haben, wäre das nicht reizvoll?
Ein Kribbeln durchfuhr ihre Glieder, doch es war keine Angst, die sie zum Beben brachte. Innere Aufregung sorgte dafür, dass ihr Blut heiß in den Wangen zirkulierte und das Handy in ihren zittrigen Fingern wackelte. Sie wollte nur schnell das Bild mit dem Sarg an ihre beste Freundin Lisbeth schicken, die mit ihr gemeinsam bei Herbsthain & Co. im Büro arbeitete. Schau mal! Ich bekomme einen Vampir zum Nachbarn!, schrieb sie darunter.
Zusammen mit Lisbeth hatte sie jeden Vampirfilm der letzten Jahre geschaut, während Ben damals noch in der Garage verbannt an seinen Malereien arbeiten musste. Aber er hatte gern und mit Leidenschaft gemalt und dabei immer so attraktiv ausgesehen, wenn er sein Werk mit zusammengekniffenen Augen kritisch beäugte: in der einen Hand den Pinsel und in der anderen die Mischpalette.
Agnes entwich ein tiefer Seufzer. Sie sollte nicht so oft an Ben denken. Ihre Ehe war vorbei. Zuerst hatte ihre gemeinsame Tochter Charlotte das Haus verlassen, dann Ben. Er hatte ihr Leben gegen das mit einer Jüngeren eingetauscht. Das war für Agnes besonders bitter, schließlich legte sie immer viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Aber gegen die Zeit hatte sie nun mal keine Chance. Tja, dachte sie, Vampir müsste man sein. Dann wäre auch die Zeit dein Freund.
Mit einem weiteren Seufzer stieß sie die schmerzlichen Erinnerungen zurück. Immerhin war sie nicht allein. Sie hatte Rupert kennengelernt, der zwar noch eine eigene Wohnung besaß, aber mittlerweile schon vorwiegend hier bei ihr wohnte. Apropos. »Rupert!«
Aus der hinteren Zimmerecke, in der der Fernseher flimmerte, drang ein Brummen.
»Der neue Nachbar … also, ich glaube, er ist der neue Nachbar, bringt tatsächlich einen … Sarg ins Haus! Wer bitte hat einen Sarg im Wohnzimmer?«
»Ist bestimmt nur eine Kiste, die so ähnlich aussieht. Außerdem weißt du gar nicht, ob die ins Wohnzimmer gehört.« Ein angestrengtes Seufzen mischte sich unter das Sesselknarzen. »Und hör endlich auf, die Nachbarschaft auszukundschaften.«
»Aber es gibt doch Leute, die sich Särge in die Wohnung stellen. Solche …«, sie schnippte mit den Fingern, »na, wie nennt man die?«
»Gothics, meinst du? Gruftis? Menschen mit Hang zu düsteren Sachen. So in der Art, vielleicht?«
»Ja, genau.« Sie mochte die Anhänger der Gothic-Kultur. Die waren immer so hübsch gekleidet, umgeben von diesem Hauch aus Rätsel, Dunkelheit und Magie. Und sie erinnerten Agnes an … »Vampire.«
Rupert lachte auf. »Oder das.«
Rupert hatte bereits die eine oder andere Geschichte rund um den kleinen Ort gehört. Trotz oder gerade wegen der Schauer, die diese hervorriefen, wurden sie oft erzählt. Bei jeder Festlichkeit gab es eine Vorführung, eine Erzählung aus den alten Mythen, der die Zuschauer nur zu gern folgten.
Doch Rupert war zu sehr Realist, um ernsthaft daran zu glauben. Wie die meisten Menschen fühlte er sich von den Legenden zwar gut unterhalten, aber für ihn gab es immer eine logische, wissenschaftliche Erklärung. Selbst für die elternlosen Wolfskinder, die man vor achtzehn Jahren am Waldrand gefunden hatte, besaß er eine einleuchtende Antwort. Agnes hatte die Fotos von den beiden nackten, schmutzigen Wesen, die kurz nach ihrem Fund in der Zeitung abgebildet worden waren, aufgehoben und ihm gezeigt. Mit gefletschten Zähnen und wilden Haarmähnen, die bis auf den Rücken gewachsen waren, starrten sie in die Kamera. Deutlich waren dabei die unnatürlich großen, kräftigen Eckzähne zu erkennen, die mehr an Reißzähne erinnerten. Zusätzlich bedeckte ein zarter, dunkelbrauner Flaum jeden Zentimeter ihrer Haut, sodass sie eher einem Tier glichen denn einem Menschen.
Eine Spielart der Natur, hatte Rupert gesagt und ihr mithilfe des Internets Beispiele von Kindern gezeigt, die mit einer genetischen Veranlagung für verstärkten Haarwuchs geboren worden waren. Wahrscheinlich hat man sie aufgrund ihres Aussehens ausgesetzt.
Wie langweilig. Selbst, falls er recht hatte. Diese Weltanschauung war langweilig. Ruperts ständige Kreuzworträtsel waren langweilig, ebenso wie sein Schnurrbart, den er einfach nicht abrasieren wollte. Aber immerhin fühlte sie sich nicht allein. Nie in ihrem Leben war Agnes allein gewesen, und so fand sie es tröstlich, mit einem neuen Mann zusammen zu sein, selbst wenn sie ihn nicht wirklich liebte. Rupert war nett. Sie mochte ihn.
Doch für Agnes reichte Ruperts rationale Begründung nicht. Sie zog es vor, die Welt auf ihre eigene, spirituelle Weise zu sehen, mit all der Magie und den Geheimnissen, die sich in ihr versteckten. Die Wolfskinder wiesen neben dem seltsam muskulösen Kiefer und den starken Eckzähnen fast krallenwüchsige Finger auf, deren Verbindung zu der bekannten Vererbungstheorie nirgends zu finden war. Für Agnes waren sie eindeutig Mischwesen gewesen, unglückliche Zeugnisse einer Liebe zwischen Menschen und dem, was in einigen Legenden Werwolf genannt wurde. Leider waren diese Kinder wenige Monate später gestorben, und niemand wusste genau, woran. Agnes vermutete ein gebrochenes Herz als Ursache. Schließlich hatte man sie ihrer Waldheimat beraubt und in Räume gesperrt, die einem Käfig gleichkamen. Ihrer Meinung nach waren diese wilden Geschöpfe an ihrer Gefangenschaft zugrunde gegangen.
Doch der neue Nachbar erinnerte Agnes nicht an die Mythen über Werwölfe. Er rief die Geschichten über anmutige Wesen in menschlicher Gestalt wach, die im Dunkel der Nacht zwischen den Häusern entlanghuschten und sich angeblich am Blut der Lebenden labten. Vor einigen Monaten erst hatte es einen mysteriösen Todesfall im Nachbarort gegeben, der an die Legende der nächtlichen Blutsauger erinnerte. Der Mann wurde morgens tot aufgefunden, mit auffälligen Einstichstellen am Hals, wie es öffentlich hieß. Einstichstellen. Agnes grinste. Natürlich, was sonst. Aber bei dem Toten handelte es sich um einen bekannten Trunkenbold, der jeglicher Art von Drogen aufgeschlossen gegenübergestanden hatte. Daher wurden die merkwürdigen Wunden als Ergebnis seiner Drogenexperimente gedeutet und der Fall zu den Akten gelegt.
Pling. Eine Nachricht von Lisbeth: Wow! Den Nachbarn musst du unbedingt im Auge behalten! Vielleicht kann er uns verwandeln.Zwinker-Smiley.
Agnes’ Herz schlug plötzlich einen Takt schneller. Ach, falls es doch so wäre! Einen wahren Kern hatten die alten Überlieferungen jedenfalls, daran glaubte sie fest.
»Nettie.« Mit einem Ächzen erhob sich Rupert aus seinem Sessel, kam zum Fenster und streichelte Agnes’ Schulter. »Jetzt komm endlich und lass die Nachbarn in Ruhe!« Trotzdem warf er selbst einen kurzen, neugierigen Blick aus dem Fenster, bevor er sich abwandte und die Zeitung in seiner Hand gegen einen Werbeprospekt tauschte, der auf dem Tisch lag.
Agnes hingegen blieb festgewachsen am Fenster stehen, geschützt durch den Vorhang, der ihr Gesicht hoffentlich gut genug verbarg, solange sie die große Wohnzimmerlampe nicht einschaltete. Noch reichte das kleine Licht auf dem Beistelltisch neben dem Sessel, in dem Rupert so gerne saß.
Lange hatte sich kein Käufer für das Nachbarhaus gefunden. Für eine Familie bot es zu wenig Platz, und kinderlose Paare verirrten sich selten in diese ruhige, abgelegene Wohngegend. Die schmale Straße, in der sich zusammen mit dem eigenen Haus die letzten Gebäude des abgeschiedenen Ortes aneinanderreihten, schlängelte sich direkt am Waldrand entlang. Noch dazu hatten die unheimlichen Geschichten rund um den »Wald der Verlorenen« nicht auf jeden die anziehende Wirkung, die sie auf Agnes besaßen. Die vordere Haustür des in die Jahre gekommenen Hauses führte gleich auf die Straße hinaus, sodass die Mülltonnen seitlich am Rand stehen mussten. Die kleinen Fenster verdunkelten die inneren Räume auch bei gutem Wetter und wirkten schon deshalb nicht besonders einladend. An der Fassade fehlten bereits größere Stücke Putz und das Dach hatte seine besten Jahre hinter sich. Trotzdem war das Verkaufsschild seit einigen Wochen verschwunden.
Vom Schlafzimmerfenster im Obergeschoss aus konnte Agnes in den verwilderten Garten auf der Rückseite des Hauses sehen. Zwar verwehrte die große, alte Eiche im Sommer genauere Einblicke, aber jetzt, da der Herbst die meisten Blätter vom Baum gefegt hatte, konnte Agnes das gesamte Grundstück überblicken. Breit gewachsene Büsche säumten den kleinen Flecken hochgewachsener Gräser, die den einstigen Rasen in ein Insektenparadies verwandelt hatten.
Aufgrund ihrer abgeschiedenen Wohnlage arbeitete Agnes oft von zu Hause aus. Nie hatte sie beobachtet, dass sich Leute dieses verlassene Anwesen angesehen hatten. Doch wer um alles in der Welt kaufte ein Haus, ohne es zuvor in Augenschein genommen zu haben?
Es sei denn …, überlegte Agnes, … es sei denn, man besichtigt es zu einer unmöglichen Zeit. Zum Beispiel nachts. Weil man am Tag … nun … verhindert ist.
Aber jetzt zog anscheinend dieser interessante, noch dazu gut aussehende Mann ins Nachbarhaus. Schön, jung und stark. Mit einer Kiste, die einem Sarg ähnelte, und einer Sonnenbrille. Ein Vampir …
Herrje. Agnes schüttelte den Kopf und wandte sich vom Fenster ab. Sie sollte aufhören, ständig an Vampire zu denken! Das musste an diesem Sarg liegen. Sie seufzte leise. »Ich frage mich wirklich, wer da einzieht. Hat der Mann das Haus überhaupt vorher besichtigt?«
Ein Mensch mit viel Geld hätte dieses Gebäude sicher nicht gekauft. Niemand zog freiwillig in diese Gegend, in der selbst die nächste Einkaufsmöglichkeit zu Fuß nicht erreichbar war. Es sei denn man hatte Kinder, die am Waldrand aufwachsen sollten, so wie es Ben und Agnes damals für ihre Tochter gewollt hatten.
Manchmal wünschte sich Agnes das Stadtleben zurück, das sie in früheren Jahren geführt hatte. Auch Lisbeth hatte ihr einen Umzug in die Stadt vorgeschlagen, nachdem Ben sie wegen dieser jüngeren Ausgabe hatte sitzen lassen. Doch dieser Wunsch hielt nie lange an. Sobald sie nach einem Bürotag der Hektik auf den belebten Straßen, dem Geheul von Polizei- und Krankenwagen, den vollgestopften Supermärkten und Autohupen entkommen war, empfand sie die Abgeschiedenheit ihres Zuhauses als wahren Segen. Dann öffnete sie Lunge, Geist und Herz, und all die sanften Gerüche nach Laub und Nadeln, das Vogelgezwitscher und Blätterrauschen strömten in sie hinein. Das erfüllte sie mit Glücksmomenten, die nichts weiter wichtig erscheinen ließen. Und Ruperts Anwesenheit half ihr, der Einsamkeit zu entfliehen, die sich breitmachte, sobald die Ruhe zur unerträglichen Stille wuchs.
Aber vielleicht, dachte sie und zog ihre Brauen zusammen, dass eine dicke Falte dazwischen entstand, vielleicht liegt es auch nur an meinem Alter, dass ich lieber abgeschieden wohne. Hier draußen lebten nur wenige junge Menschen, die ihr an den Bürotagen in der Stadt immer häufiger vor Augen führten, dass sie längst nicht mehr zu ihnen gehörte. Doch tief in ihrem Innersten schlummerte die Wahrheit und flüsterte leise von den Ängsten, ihr altes Leben loszulassen und ein neues zu beginnen.
»Bestimmt.« Rupert blätterte durch den Prospekt und legte ihn dann ordentlich auf dem Stapel der gelesenen Zeitungen ab. »Aber selbst, falls du gut informiert bist, wirst du sicher nicht alles mitbekommen haben.« Er gab Agnes einen herzhaften Kuss auf die Wange und ein schmales Lächeln erschien unter seinem Schnauzbart. »Was machen wir uns zum Abendessen?«
Kapitel 2
Sieben Tage vor Blutmond
Pling. Eine Nachricht von Lisbeth. Agnes warf einen Blick auf das Handydisplay, das auf dem Waschbeckenrand lag: Back deinem neuen Nachbarn als Willkommensgruß einen Kuchen! Dann kannst du gleich die Lage checken!
Das war eine ausgezeichnete Idee, fand Agnes. Ein Kuchen stellte einen prima Vorwand dar, um die erste Neugier zu stillen. Falls sie Glück hatte, würde sie sogar einen Blick ins Hausinnere werfen können. Morgen früh würde sie sofort nach ein paar passenden Rezepten suchen.
Sie schickte ein »Daumen hoch« zurück und stieß langsam und geräuschvoll Luft aus der Nase. Seit Charlotte zum Studieren ausgezogen war und Ben sie verlassen hatte, hatte sie viel mehr Zeit. Zeit, mit der sie nichts anzufangen wusste. In früheren Jahren hatten die Pflichten kein Ende genommen: Arbeit, Kind und Schule, Haushalt, Familienorganisation. Doch nun brauchte sie sich nur noch um ihr eigenes Leben zu kümmern. Aber welches Leben war das? Längst hatte sie den Blick für sich selbst verloren, für das, was sie einst ausgemacht hatte.
Rupert hatte seine Kreuzworträtsel. Mehr schien er nicht zu brauchen, um glücklich zu sein. Doch was war mit ihr? Agnes hatte … tja, das musste sie erst wiederfinden.
---ENDE DER LESEPROBE---