Ein Earl auf Brautschau - Ann Elizabeth Cree - E-Book

Ein Earl auf Brautschau E-Book

Ann Elizabeth Cree

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Beschreibung

Als Claire auf dem Ball den Earl of Rotham wiedersieht, steigt ihr das Blut in die Wangen: Er ist so arrogant und gefährlich attraktiv wie damals! Sie ahnt nicht, dass Jack von ihr bald weit mehr einen Tanz verlangt: Der Earl sucht eine Braut - Liebe sucht er nicht …

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IMPRESSUM

Ein Earl auf Brautschau erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2000 by Annemarie Hasnain Originaltitel: „Lord Rotham’s Wager“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISONBand 10 - 2000 by CORA Verlag GmbH, Hamburg Übersetzung: Corinna Wieja

Umschlagsmotive: Novel Expression, JayKay57 / iStock

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733769864

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

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PROLOG

John Alexander Grenville, genannt Jack, seines Zeichens sechster Earl of Rotham, warf die Karten auf den Tisch. „Dein Spiel.“ Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln schob er seinen Einsatz seinem Großcousin Sir Frederick Brenton zu und lehnte sich im Stuhl zurück.

Frederick starrte die Chips an, als befürchte er, sie würden ihn beißen. „Verflixt, Jack. Du bist wohl betrunkener, als ich dachte. Sonst verlierst du nie!“

„Entweder das oder er ist verliebt“, sagte Harry Devlin scherzend. Er hob die Augenbrauen und musterte Jack amüsiert. „Ich habe dich noch nie so schlecht spielen sehen.“

„Von verliebt kann wohl keine Rede sein“, erwiderte Jack. Eine steile Falte bildete sich zwischen seine schwarzen Augenbrauen. Er winkte dem Kellner und bestellte eine weitere Flasche des hervorragenden Rotweins.

Die drei Männer befanden sich in einem Privatsalon des Weston’s – einem exklusiven Klub in London. Seit dem frühen Abend spielten sie bereits. Inzwischen war es drei Uhr morgens, und mehrere geleerte Flaschen standen auf dem Tisch, doch immer noch dachte keiner daran, den Abend zu beenden. Alle drei hatten mittlerweile ihre Gehröcke abgelegt, und Frederick machte einen reichlich zerzausten Eindruck. Harry hingegen hatte nichts von seiner blendenden Eleganz eingebüßt. Auch Jack wirkte, als hätte ihm der Alkoholgenuss nichts anhaben können. Lediglich der feurige Ausdruck in seinen gewöhnlich so kühl blickenden grauen Augen verriet, dass er nicht mehr ganz so nüchtern war, wie es den Anschein hatte.

„Nun, ich werde mein Glück nicht hinterfragen“, sagte Harry. Er war groß, breitschultrig, mit blondem Haar und verträumt blickenden blauen Augen. „Allerdings frage ich mich sehr wohl, ob es weise ist, eine vierte Flasche Wein zu genießen. Ihr habt morgen wohl nichts vor, nehme ich an.“

„Nein“, sagte Jack. Wenn man einmal davon absah, dass seine Stiefmutter und Lady Arundel, seine Großmutter mütterlicherseits, ihren Besuch angekündigt hatten, die sich gegenseitig nicht ausstehen konnten und daher natürlich nicht gemeinsam kamen. Der Gedanke an die bevorstehende doppelte Heimsuchung weckte in Jack den Wunsch, sich einen Rausch anzutrinken. Allerdings befürchtete er, die beiden Damen würden in diesem Fall seinen verkaterten Zustand zu ihren Gunsten ausnutzen.

Unvermittelt setzte er sich auf. Jegliche Gleichgültigkeit in seiner Miene war einem ungehaltenen Ausdruck gewichen. „Dieses verfluchte Testament. Es ist heute eröffnet worden.“

„Welches Testament?“, fragte Frederick.

„Das meines Großonkels“, antwortete Jack. Er sah zu, wie der Kellner die Flasche auf den Tisch stellte, dann griff er danach und schenkte sich ein.

„Vermutlich willst du dich aus Dankbarkeit ihm zu Ehren bis zur Besinnungslosigkeit betrinken“, sagte Harry.

Jack hob sein Glas. „Ja, Großonkel Hughs Letzter Wille gibt mir reichlich Anlass dazu, aber nicht aus Dankbarkeit.“

„Hat er dir Blydon Castle etwa nicht vermacht?“, erkundigte sich Harry.

Jack lachte bitter auf. „Oh, doch. Es gehört mir. Vorausgesetzt, ich erfülle die Bedingungen.“ Es überraschte ihn, dass seine Stimme trotz des vielen Weines so klar wie immer klang.

Harry beugte sich vor. „Und die wären?“

„Ich muss mich innerhalb der nächsten sechs Wochen vermählen und mit meiner Gemahlin die darauffolgenden sechs Monate in Blydon Castle verbringen.“

Frederick stand vor Erstaunen der Mund offen. „Donnerwetter!“

„Du sagst es!“ Jack lächelte freudlos.

Auch Harry sah ihn verblüfft an. „Faszinierend. Also hat dein Großonkel Hugh doch noch einen Weg gefunden, dir seinen Willen aufzuzwingen. Liegt dir denn so viel an dem Anwesen?“

Jack senkte den Blick. „Ja.“ Er hatte sich als kleiner Junge auf den ersten Blick in Blydon Castle verliebt. Es war das Inbild seiner Kindheitsträume von Rittern und Drachen und schönen Maiden. Grau und vom Wind umtost, lag die Burg in der Grafschaft Kent in der Nähe des Meeres. Zwar mangelte es dem Anwesen an vielen der modernen Annehmlichkeiten, aber das war Jack einerlei. In Blydon Castle fühlte er sich zu Hause. Er betrachtete es weit mehr als sein Heim als Grenville Hall, den biederen, gediegenen Landsitz seiner Familie.

„Du willst dir die Fesseln der Ehe anlegen lassen?!“, rief Frederick. „Lieber Himmel, doch nicht du!“

„Und wer wird die Glückliche sein? Sylvia?“, fragte Harry.

„Unmöglich. Sie ist die Witwe eines Bürgerlichen“, warf Frederick ein.

Jack betrachtete ihn verärgert. „Das wäre mir gleich. Allerdings wird sie unsere Freundschaft gewiss nicht durch eine Ehe ruinieren wollen.“ Seine ehemalige Mätresse war klug und liebreizend, doch sie verspürte nicht den geringsten Wunsch, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Außerdem trauerte sie immer noch um ihren verstorbenen Gatten, der die Liebe ihres Lebens gewesen war.

„Gewiss wird es keinen Mangel an Bewerberinnen geben, wenn erst bekannt wird, dass du eine dauerhaftere Verbindung anstrebst“, meinte Harry.

„Ja, sicher wird jede Dame entzückt darüber sein, ein halbes Jahr in einer zugigen Burg verbringen zu müssen“, erwiderte Jack spöttisch. Ebenso wenig entzückte ihn die Aussicht, sechs Monate mit einer Gemahlin zu leben.

„Der Titel und dein beträchtliches Vermögen werden den Verzicht auf Komfort sicherlich mehr als wettmachen.“

Jack lachte sarkastisch. „Du hast solch eine charmante Art und Weise, dich auszudrücken.“

„Lady Arundel wird dir vermutlich keine Ruhe lassen, bis du dir eine Braut gewählt hast.“ Schaudernd trank Frederick einen Schluck aus Jacks Glas.

Jack nahm ihm das Glas aus der Hand. „Zweifellos.“

„Dir bleibt nicht viel Zeit.“ Harry amüsierte sich ganz eindeutig über seine missliche Lage. Am liebsten wäre Jack aufgesprungen, hätte ihn am Kragen gepackt und geschüttelt, bis Harry das unverschämte Grinsen vergangen wäre.

„Und welche Prioritäten willst du bei der Wahl deiner Braut setzen? Schönheit? Verstand? Vermögen? Figur?“

„Woher zum Teufel soll ich das wissen? Vielleicht sollte mir jede Bewerberin schriftlich ihre Qualitäten darlegen. Genauso gut könnte ich mir meine Braut bei einer von Großmutters Fächerlotterien auslosen lassen.“

Lady Arundel liebte es, bei Bällen eine sogenannte Fächerlotterie zu veranstalten. Dabei wurden die Damen eingeladen, ihre Fächer auf einen Tisch zu legen. Anschließend wurden die Herren gebeten, einen Fächer auszuwählen, um so ihre Partnerin für den nächsten Tanz zu bestimmen. Beim letzten Ball hatte Jack von mehreren Damen Hinweise erhalten, welchen Fächer er wählen solle.

Ein kühles Lächeln umspielte seine Lippen. Warum eigentlich nicht? Letztendlich würde es kaum einen Unterschied machen, welche Dame er zur Braut wählte. Die Ehen seines Vaters – zuerst eine Vernunftehe, mit Jacks Mutter, mit der ihn kaum gemeinsame Interessen verbunden hatten, und danach eine Liebesheirat mit einer hübschen, aber selbstsüchtigen Frau, die halb so alt war wie er – hatten Jack dies gelehrt.

Er bemerkte, dass Harry und Frederick ihn fragend anblickten, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. „Ich habe beschlossen, mir meine Braut mithilfe einer Fächerlotterie zu wählen. Meine Großmutter wird eine bei ihrem Ball in der nächsten Woche abhalten. Die Dame, deren Fächer ich ziehe, werde ich ehelichen.“

Frederick schnappte nach Luft. „Das kannst du doch nicht machen! Keine Dame heiratet einen Mann, der sie mithilfe einer Lotterie ausgewählt hat.“

„Das muss sie ja nicht unbedingt erfahren.“

Auch Harry blickte skeptisch. „Wie willst du sicherstellen, nicht an eine ältliche Matrone zu geraten? Ich nehme doch an, du möchtest einen Erben.“

Jack zog die Stirne kraus. Einen Erben? Daran hatte er bislang keinen Gedanken verschwendet. „Ich werde meine Großmutter bitten, nur ledige Damen zwischen achtzehn und dreißig Jahren an der Lotterie teilnehmen zu lassen.“

Harry lachte. „Das lässt immer noch viel zu viele Möglichkeiten offen. Was ist, wenn du den Fächer einer mageren Bohnenstange mit unzähligen Sommersprossen und einem nervenaufreibenden Lachen ziehst? Oder den einer Witwe mit wenig schmeichelhaftem Ruf? Würdest du dich dennoch mit der betreffenden Dame vermählen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Fünftausend Pfund, wenn du tatsächlich die Dame heiratest, deren Fächer du wählst. Und dazu das Fohlen, das du mir neulich abkaufen wolltest.“

„Und wenn ich mich nicht mit ihr vermähle?“

„Dann schuldest du mir fünftausend Pfund und deinen schwarzen Hengst.“

Satan? Einen Augenblick lang zögerte Jack. Er besaß das Pferd, seit es ein Fohlen war. Doch seine Spielernatur gewann schließlich die Oberhand. Es gab zahlreiche Damen und ehestiftende Mütter, die ihm zu verstehen gegeben hatten, dass ein Heiratsantrag von ihm sehr willkommen wäre. Und bisher hatte er die Frauen, an denen er interessiert war, noch immer mühelos erobern können. „Abgemacht.“

Doch als er das Weston’s im frühen Morgenrot verließ, wurde ihm plötzlich bewusst, wie sehr er sich getäuscht hatte. Denn es gab durchaus eine Dame, die seinen Antrag entschlossen abgelehnt hatte. Unerwartet stieg Verbitterung in ihm auf. Sie hatte ihn zurückgewiesen, obwohl sie damit riskierte, ihren guten Ruf zu verlieren.

1. KAPITEL

Claire Ellison lugte in Lady Arundels Salon. Erleichtert stellte sie fest, dass sich niemand in dem Raum aufhielt. Vermutlich genossen die meisten Gäste derzeit im Ballsaal das Souper. Sie selbst hatte sich entschuldigt, in der Hoffnung, ihren Fächer wiederzufinden, bevor der Tanz begann.

Mit raschen Schritten ging Claire zu der gestreiften Chaiselongue, auf der sie vor wenigen Augenblicken gesessen hatte, und ließ suchend den Blick darüber schweifen. Doch ihren alten, ausgeblichenen Fächer entdeckte sie nicht.

Nachdenklich nagte sie an der Unterlippe, noch nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Vielleicht ist er während der Unterhaltung mit Harry heruntergefallen, überlegte sie.

Gewissenhaft darauf achtend, ihr elegantes Ballkleid nicht zu zerknittern, kniete sie sich nieder und blickte unter die Chaiselongue. Doch auch dort lag er nicht. Als sie sich wieder aufsetzte, brannten törichterweise Tränen in ihren Augen. Sie war sich so sicher gewesen, ihn hier zu finden.

Der Fächer war ein Geburtstagsgeschenk ihrer Mutter. Gewöhnlich benutzte Claire ihn nicht, doch heute hatte sie aus einem Impuls heraus in letzter Minute danach gegriffen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in London nahm sie mit ihrer Schwägerin und ihrer Nichte an einem Ball teil, und aus unerfindlichen Gründen benötigte sie zu diesem Anlass die tröstliche Geborgenheit, die er ihr spendete.

Sie erhob sich und versuchte ihr Kleid zu glätten, das nun eine Reihe feiner Fältchen aufwies. Ob jemand den Fächer an sich genommen hat? Doch sie verwarf den Gedanken sogleich, denn wer würde schon einen altmodischen Fächer haben wollen, dessen Elfenbeingriff noch dazu an einer Ecke abgesplittert war. Sie könnte sich bei einem von Lady Arundels Lakaien erkundigen, möglicherweise hatte auch Harry ihn für sie eingesteckt. Er war im Zimmer zurückgeblieben, als sie von der Chaiselongue aufgesprungen und davongeeilt war, nachdem er sie in seiner unverblümten Weise hatte wissen lassen, dass Lord Rotham eingetroffen sei. Plötzlich hatte sie in dem kleinen Raum, der bloß über eine Tür verfügte, keine Luft mehr bekommen. Sie wollte nur noch eines – sich in die Sicherheit des belebten Ballsaales flüchten, wo sie sich in der Menge der Gäste verlieren konnte.

Zwar nahm sie nicht an, dass Lord Rotham sie wiedererkennen würde. Für ihn war sie gewiss nichts weiter als eine unangenehme Erinnerung. Dennoch wünschte sie inständig, sie hätte die Einladung zum Ball ablehnen können. Lady Arundel war Lord Rothams Großmutter, daher war damit zu rechnen gewesen, dass er unter den Gästen weilte. Allerdings war Lady Arundel auch die Patin ihrer Schwägerin Jane und stets sehr freundlich zu Claire gewesen, weshalb sie sich zum Kommen verpflichtet gefühlt hatte.

Ein Seufzer entfuhr ihr. Sie sollte sich auf die Suche nach Harry machen und ihn fragen, ob er ihren Fächer an sich genommen hatte. Danach wollte sie sich den restlichen Abend in einer Ecke verkriechen und darauf hoffen, Lord Rotham nicht zu begegnen.

„Pardon, ich hoffe, ich störe nicht“, erklang in diesem Moment eine kühle männliche Stimme hinter ihr.

Claire gefror das Blut in den Adern, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Oh, nein, das kann nicht sein! dachte sie. Das Schicksal war gewiss nicht so grausam, sie auf diese Weise zusammenzuführen. Doch seine unverwechselbare, kultivierte Stimme erkannte sie selbst nach sechs Jahren auf Anhieb.

„Nun? Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?“

„Nein.“ Langsam drehte sie sich um und zwang sich, Lord Rotham fest in die Augen zu schauen.

Er hatte sich sehr verändert. Natürlich war er älter, reifer geworden. Seine Gesichtszüge wirkten markanter und härter. Die Schultern, betont durch den schwarzen Abendfrack, erschienen ihr noch breiter als früher. Aber am meisten machte sich die Veränderung in seinen Augen bemerkbar. Sein Blick war undurchdringlich und unnahbar. Das Lachen, das ihrer Erinnerung nach immer in seinen Augen gefunkelt hatte, war verschwunden.

Bedächtig ließ er den Blick über ihr Gesicht schweifen. Zuerst schien es, als würde er sich nicht an sie entsinnen, dann aber sah sie den Schrecken der Erkenntnis in seinen Augen aufflackern.

„Claire! Was zum Teufel tust du hier?“

„Ich … man hat mich eingeladen.“

Unverwandt ruhte sein Blick auf ihr. „Ich hätte angenommen, dieses Haus sei der letzte Ort in London, den du betreten würdest. Mein Haus selbstverständlich ausgenommen.“

„Ich wusste nicht, dass Sie zugegen sein würden.“ Ihr Kopf war plötzlich wie leer gefegt, es schien ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.

Seine Miene versteinerte. „Und warum sollte ich nicht zugegen sein? Die Gastgeberin ist meine Großmutter.“

„Natürlich. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden, M… Mylord.“ Die standesgemäße Anrede, die sie so selten benutzt hatte, ließ ihre Zunge stolpern.

Statt jedoch beiseitezutreten, machte er einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück und spürte die Chaiselongue an ihren Beinen.

„Warum bist du hier, Claire?“

„Ich sagte bereits, ich wurde eingeladen.“

„Das war nicht die Frage. Ich möchte wissen, warum du überhaupt in London weilst.“

Sein Tonfall gab zu erkennen, dass er der Ansicht war, sie habe in seiner Nähe nichts verloren. Herausfordernd reckte sie das Kinn. „Ich lebe bei meiner Schwägerin, solange Edward sich in Brüssel aufhält. Ich nehme an, dagegen haben Sie nichts einzuwenden?“

„Nein, ganz und gar nicht. Mir ist gleich, was du tust.“

„Dann werden Sie mich jetzt wohl sicherlich auch vorbeilassen.“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, damit er nicht merkte, wie sehr sie seine Worte kränkten. Sie tat einen Schritt zur Seite und wollte an ihm vorbeigehen.

Unvermittelt schlossen sich seine Finger um ihr Handgelenk. „Nein.“

„Wie bitte?“ Konsterniert blickte sie auf seine schlanken, starken Finger, und ein Schauder durchzuckte sie. Als sie zu ihm aufsah, nahm sie einen Hauch Cognac in seinem Atem wahr.

„Nein.“ Er musterte sie eindringlich. In seinen Augen stand ein seltsames, fast verwegenes Funkeln. „Wirst du an der Fächerlotterie teilnehmen?“

„Der Fächerlotterie?“ Zuerst wusste sie nicht, wovon er sprach. Dann aber fiel ihr ein, dass ihre Nichte Dorothea ihr davon erzählt hatte. Seit drei Tagen sprach sie von nichts anderem. „Nein. Ich mache mir nichts aus solchen Dingen.“

„Tatsächlich? Vermutlich ist das auch besser so.“

„Bitte lassen Sie mich los.“ Sie zitterte unmerklich, wusste jedoch nicht, ob Furcht oder eine gänzlich andere Empfindung dafür verantwortlich war.

„Nur, wenn du mir den nächsten Tanz versprichst.“

„Den nächsten Tanz?“ Er musste beschwipst sein. Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, indes schlossen sich seine Finger daraufhin nur noch fester um ihren Arm. „Warum? Wieso sollten ausgerechnet Sie mit mir tanzen wollen?“

„Aus Neugier womöglich.“ Er klang gelangweilt.

„Ich bedaure, aber ich teile diese Neugier nicht. Ich hege nicht den geringsten Wunsch, mit Ihnen zu tanzen.“ Aus dem Ballsaal drangen Stimmen und Gelächter zu ihnen. Das Souper war beendet. Unvermittelt ergriff sie Panik. „Lassen Sie mich bitte los. Sie tun mir weh.“

Er ließ ihre Hand so rasch los, als hätte er sich daran verbrannt. Über seine Schulter hinweg sah Claire, wie zwei Damen den Salon betraten. Gleich darauf hielten sie mit erstauntem Blick inne. Mit Unbehagen erkannte Claire in der einen Dame Lady Coleridge, eine Bekannte ihrer Schwägerin.

Lady Coleridge stand die Missbilligung ins Gesicht geschrieben. „Ich fürchte, wir haben ein Stelldichein unterbrochen.“

Claire errötete. „Keineswegs. Ich wollte gerade gehen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Mylord.“ Dieses Mal ließ er sie passieren. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte sie an ihm vorbei.

Als sie den Ballsaal erreichte, bebte sie am ganzen Körper, und ihr Herz schlug so rasend schnell, als wäre sie soeben nur um Haaresbreite einem erbitterten Feind entflohen. Was womöglich sogar zutreffend war. Verborgen hinter einer Säule, lehnte sie sich an die Wand und bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen, während das Orchester einen fröhlichen Ländler spielte.

Oh, warum musste sie ihm ausgerechnet in einem Moment wiederbegegnen, in dem sie allein war? Selbstverständlich hatte sie angenommen, bei einem eventuellen Wiedersehen in Gesellschaft zu sein, und sich vorgenommen, ihn knapp zu grüßen, so als ob sie sich kaum an ihn erinnern konnte. Stattdessen hatte sie wie zur Salzsäule erstarrt sprachlos vor ihm gestanden. Dass sein Anblick sie nach sechs Jahren immer noch derart durcheinanderbrachte, hatte sie nicht erwartet.

Die Musik verklang, und die Paare verließen die Tanzfläche. Sie musste Jane suchen. Wahrscheinlich machte sich ihre Schwägerin bereits Sorgen um sie.

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Claire, größer zu sein, denn sie konnte kaum bis zur anderen Seite des Saales blicken. Mühsam bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge und entdeckte Jane schließlich mit Dorothea am hinteren Ende des Raumes.

Jane wandte sich ihr zu, als Claire sich zu ihnen gesellte. Sie war zierlich, hatte blondes Haar und bot in ihrem roséfarbenen Ballkleid einen bezaubernden Anblick. „Claire! Du warst lange weg. Ich fürchtete schon, dir sei etwas zugestoßen.“ Prüfend musterte sie ihre Schwägerin. In ihren blauen Augen stand Sorge. „Oh, Claire! Ich sehe es dir an, etwas ist geschehen. Was ist es?“

Claire zwang sich zu einem Lächeln. Sie wollte Jane nicht bekümmern, indem sie ihr von dem Vorfall mit Lord Rotham erzählte. „Nichts von Bedeutung. Ich kann lediglich meinen Fächer nicht finden. Aber vielleicht hat Harry ihn ja auch eingesteckt.“

Jane krauste die Stirn. „Als wir vor dem Tanz zusammenstanden, hat er zwar nichts dergleichen erwähnt, dennoch könnte er ihn natürlich bei sich tragen.“ Sie tätschelte sacht Claires Hand. „Sorge dich nicht. Ich bin sicher, wir werden ihn finden.“

„Das hoffe ich.“

Dorothea schenkte ihnen ein fröhliches Lächeln. Sie war ebenso blond wie ihre Mutter, hatte strahlend blaue Augen und ein lebhaftes Wesen, das ihr eine erfolgreiche erste Saison verhieß. „Die Fächerlotterie wird gleich beginnen, Tante Claire! Ich glaube, das wird ein großer Spaß.“

„Vermutlich“, sagte Claire. Lord Rothams seltsame Frage, ob sie daran teilnehmen wolle, schoss ihr durch den Kopf. Allerdings hatte das gesamte Gespräch sie so sehr aufgewühlt, dass sie sich kaum an die genauen Worte erinnern konnte.

In diesem Augenblick öffneten sich die Türen des Ballsaals, und zwei Lakaien trugen einen mit aufwendigen Schnitzereien versehenen Tisch aus Kirschbaumholz herein. Die Menge teilte sich, um den beiden Dienstboten Platz zu machen.

Nachdem der Tisch in der Mitte des Raumes abgestellt war, trat Lady Arundel vor. Sie war mollig, hatte rosige Wangen, und man sah ihr das Alter von sechzig Jahren nicht an. Sie wartete, bis Schweigen einkehrte, dann erhob sie die Stimme. „Für den nächsten Tanz werden die Gentlemen durch das Ziehen eines Fächers ihre Tanzpartnerin auswählen. An diesem Abend gehen wir jedoch ein wenig anders vor. Zunächst wurden nur ledige Damen zwischen achtzehn und dreißig Jahren aufgefordert, ihre Fächer auf den Tisch zu legen.“

Erstauntes Gemurmel war zu vernehmen. „Das halte ich nicht für gerecht!“, beschwerte sich eine stämmige Matrone in lilafarbenem Satin.

„Moment!“ Lady Arundel hob die Hand. „Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, werden ausschließlich ledige Männer einen Fächer ziehen.“

„Heißt das etwa, wir sind zu mehr als einem Tanz verpflichtet?“, rief einer der Herren. Die Bemerkung wurde mit beifälligem Gelächter aufgenommen.

„Nein, es sei denn, Sie verspüren diesen Wunsch.“ Lady Arundel lächelte. „Mein Enkel hat darum gebeten, als Erster seine Wahl treffen zu dürfen.“

Ihr Herz tat einen Satz, als Claire Lord Rotham mit vor der Brust verschränkten Armen an einer Säule im hinteren Teil des Raumes lehnen sah. Er machte den Eindruck, als öde ihn diese Angelegenheit entsetzlich an. Gemächlich richtete er sich auf und ging zur Mitte des Raumes, blieb am Tisch stehen und musterte die darauf liegenden Fächer. Claire beobachtete, wie er den Tisch umrundete. Er nahm einen Fächer auf und legte ihn gleich wieder zurück. Seine Miene drückte Gleichgültigkeit aus, aber seine gestrafften Schultern verrieten eine gewisse Anspannung. Ihr kam das merkwürdig vor. Es schien fast, als wäre es von größter Bedeutung, welchen Fächer er wählte. Im Raum herrschte Grabesstille, alle hielten gemeinsam den Atem an.

Schließlich nahm er einen Fächer vom Tisch, schlug ihn auf und hielt ihn hoch. „Würde die Besitzerin dieses Fächers bitte vortreten?“

Niemand rührte sich. Vor Claire stand eine große Frau mit einem riesigen Turban auf dem Kopf und versperrte ihr die Sicht.

Dorothea reckte sich und fasste Claire am Arm. „Claire, ich glaube, er hält deinen Fächer in der Hand.“

„Meinen Fächer? Das kann nicht sein!“

„Aber er ist es. Ich bin mir ziemlich sicher. Schau selbst.“

Mit bangem Herzen trat Claire an der Dame mit dem Turban vorbei und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Es war tatsächlich ihr Fächer. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie den vertrauten Anblick der verblassten Rosen und des gelb gewordenen Elfenbeins gut erkennen. Wie war das möglich?

Jane trat neben sie. „Oh, Claire. Dorothea hat recht. Das ist dein Fächer.“

Claire blieb wie angewurzelt stehen. Die Gäste in ihrer Nähe tuschelten und warfen ihr auffordernde Blicke zu. Lord Rotham wartete mit undurchdringlicher Miene.

Dorothea berührte sie leicht am Arm. „Du musst zu ihm gehen, Tante Claire. Du kannst ihn nicht einfach so stehen lassen.“

„Das kann ich nicht“, flüsterte Claire.

„Claire, geh bitte“, sagte auch Jane. Sie war beinahe ebenso bleich geworden und blickte so erschrocken drein, wie Claire sich fühlte. „Es wäre eine unverzeihliche Beleidigung, wenn du es nicht tätest.“

Schritt für Schritt zwang Claire ihre zitternden Beine vorwärts. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum. Ihr Herz klopfte stürmisch, und ihr wurde schwindelig. Sie hoffte nur, dass sie sich nicht vollends blamierte, indem sie vor der Hälfte der Gesellschaft in Ohnmacht fiel.

Lord Rotham stand so reglos wie eine in Stein gemeißelte Statue, den Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet. Als sie ihn erreichte, sah er sie von oben herab an. Sie hatte keine Ahnung, was er wohl denken mochte. Seine Augen musterten sie kühl und verrieten seine Gefühle nicht. „Offenbar wirst du nun doch noch mit mir tanzen“, sagte er frostig.

„Es hat den Anschein, Mylord.“ Sie versuchte, ebenso kühl zu klingen wie er.

Der Lakai hüstelte, und Lord Rotham schreckte auf, als hätte er vergessen, dass sie mitten in einem Ballsaal standen. Er wandte sich den Gästen zu. „Gentlemen, bitte wählen Sie einen Fächer.“

Dann nahm er ihren Arm und zog sie vom Tisch fort, während die männlichen Gäste sich um die verbleibenden Fächer drängten. Einige Schritte vom Tisch entfernt blieb Lord Rotham stehen. Ein spöttischer Glanz schimmerte in seinen grauen Augen. „Welch unglückliche Entscheidung, dass Sie es sich offenbar anders überlegt und Ihren Fächer doch noch auf den Lotterietisch gelegt haben.“

„Das habe ich nicht.“

Er betrachtete den Fächer in seiner Hand. „Ach, ist dies etwa gar nicht Ihr Fächer?“

„Natürlich ist es mein Fächer. Ich habe ihn jedoch nicht auf den Lotterietisch gelegt.“

Ungläubig hob er die Brauen. „Nicht? Womöglich hat er es selbst getan.“

Errötend reckte sie das Kinn. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Ich habe ihn verloren. Jemand muss ihn gefunden und …“

„… ihn freundlicherweise auf den Tisch gelegt haben“, fuhr er an ihrer Stelle fort. Seine Stimme verriet, dass er ihr kein einziges Wort glaubte.

Auch Wut hörte sie aus seinen Worten. Und das verwunderte sie. Er hätte dankbar sein sollen, vor sechs Jahren einer Zwangsheirat mit dem jungen Mädchen entgangen zu sein, aus dem er sich nichts machte. Sie schlang die Hände ineinander.

„Bitte, Mylord, wir sollten hier nicht streiten.“

„Möchten Sie das Gespräch anderswo fortsetzen?“

„Nein“, sagte sie leise. Die Lakaien hatten inzwischen den Tisch wieder hinausgebracht, und das Orchester begann die ersten Takte eines Menuetts zu spielen.

Lord Rotham nahm ihren Arm. „So sehr es Ihnen verhasst sein mag, Sie sind mir für diesen Tanz verpflichtet.“

Sein herablassender Ton traf sie zutiefst, weshalb sie wie angewurzelt auf der Stelle verharrte. „Ich hege nicht den Wunsch, mit Ihnen zu tanzen, Mylord. Würden Sie mir bitte meinen Fächer wiedergeben?“

Er lächelte flüchtig. „Nein. Erst nach dem Tanz. Sie haben keine Wahl. Es sei denn, Sie möchten eine Szene machen.“

Er führte sie zur Tanzfläche, verbeugte sich galant und griff nach ihrer Hand. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, aber in seinen Augen entdeckte sie keinerlei Herzlichkeit. „Die Höflichkeit gebietet, dass Sie zumindest vorgeben, erfreut darüber zu sein, mit mir zu tanzen, Mrs Ellison. Selbst wenn Sie Ihren Fächer nicht, wie Sie behaupten, auf den Lotterietisch gelegt haben.“

„Können Sie mich nicht bitte in Frieden lassen“, sagte sie leise. Seine fortdauernden beißenden Bemerkungen raubten ihr allmählich die Fassung. Warum tat er ihr das an? Unzählige Male hatte sie sich ihr Wiedersehen in ihrer Vorstellung ausgemalt, sich vorgestellt, wie ihr erstes Gespräch nach all den Jahren verlaufen würde. Doch nie hätte sie damit gerechnet, dass er sich ihr gegenüber wütend zeigen würde. Reserviert, ja. Vielleicht auch verächtlich, aber nicht derart von kaltem Zorn beseelt.

„Ich versuche lediglich, Konversation zu betreiben. Möchten Sie sich über etwas Bestimmtes unterhalten?“

„Nein.“ Sie fühlte sich elend und krank. Es war das gleiche Gefühl, das sie bei den Demütigungen ihres Gatten verspürt hatte. Ohne zu wissen, wie es ihr gelang, führte sie die entsprechenden Tanzschritte aus.

Sein Mund verzog sich zu einem bedrohlichen, fast grausamen Lächeln. „Nun gut, vielleicht sollte ich ein Thema für unsere Unterhaltung wählen, da Ihnen keines einfällt. Ich möchte Ihnen mein Beileid zum vorzeitigen Dahinscheiden Ihres Gatten aussprechen. Wie …?“

Sie entriss ihm ihre Hand, sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Wie können Sie es wagen? Genügt es Ihnen nicht, mich zu beleidigen und zu verspotten? Ich wünschte, dieses Wiedersehen mit Ihnen wäre mir erspart geblieben!“

Claire wirbelte herum und stürmte ungeachtet der Blicke und dem erstaunten Gemurmel der anderen Gäste auf die Türen des Ballsaales zu. Kaum hatte sie das Vestibül erreicht, berührte jemand ihren Arm. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals; einen grässlichen Augenblick lang befürchtete sie, es sei Lord Rotham.

Doch er war es nicht. Stattdessen sah sie in Harry Devlins freundliches und höchst willkommenes Gesicht. „Mir scheint, deine Begegnung mit Jack verlief nicht gerade herzlich.“

„Oh, Harry! Es war … einfach schrecklich!“ Beschämt stellte sie fest, dass ihre Stimme zitterte.

Er hob die Augenbrauen. „So schlimm?“, fragte er mitfühlend. „Meine Liebe, soll ich ihn zum Duell fordern?“

„Nein!“ Sie tat einen tiefen Atemzug. „Nein. Würdest du bitte Jane und Dorothea später nach Hause bringen? Ich möchte nicht länger bleiben.“

Nachdem es Jack endlich gelungen war, sich aus der Gesellschaft seiner Stiefmutter zu befreien, die sich in Schimpftiraden über Claire ergangen hatte, bahnte er sich seinen Weg durch die Menge.

Der Tanz wurde zwar fortgesetzt, doch mit weniger Hingabe als zuvor, da die meisten Gäste damit beschäftigt waren, die Hälse zu recken und sich nach Lord Rotham umzudrehen.

Jack schenkte den unverhohlen neugierigen Blicken indes keine Beachtung und verließ den Ballsaal. Raschen Schrittes eilte er die Treppe hinunter ins Vestibül. Als er von der letzten Stufe stieg, betrat Harry das Haus.

Jack hielt inne und blickte seinen Freund an. „Wo ist sie?“

Harry hob die Augenbrauen. „Meinst du etwa Claire? Ich habe sie soeben in ihre Kutsche gesetzt. Zweifellos legt sie keinen Wert darauf, dir noch einen weiteren Tanz zu schenken.“ Er öffnete seine elegante Schnupftabaksdose und nahm eine Prise. „Oder gar, dich zu ehelichen.“

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, du hattest bei dieser Angelegenheit deine Hände im Spiel.“ Jack musterte Harry mit scharfem Blick. „Vielleicht hattest du das wirklich. Sie meinte nämlich, sie hätte keine Ahnung, wie ihr Fächer auf den Lotterietisch gelangt sei.“

Harry zuckte die Schultern. „Möglicherweise hast du recht. Allerdings hatte ich keinen Einfluss darauf, welchen Fächer du wählen würdest. Es sei denn, du unterstellst mir übernatürliche Kräfte.“ Ein schwaches Lächeln lag auf seinen Lippen. „Erstaunlich, wie sich die Vergangenheit wiederholt. Wir sind beinahe in derselben Lage wie vor sechs Jahren. Dieses Mal ist der Einsatz jedoch ungleich höher.“

Jack blickte auf den Fächer, den er immer noch in der Hand hielt, ehe er sich wieder Harry zuwandte. „In der Tat eine Ironie des Schicksals.“

„Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wie es dieses Mal ausgehen wird. Ich frage mich, ob du wohl wieder verlieren wirst.“

Jack verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln. „Nein. Ich beabsichtige, diese Wette unter allen Umständen zu gewinnen.“

2. KAPITEL

Ich muss schon sagen!“ Lady Billingsley blieb an der Tür des Salons stehen und blickte Claire empört an. Ihr Doppelkinn bebte. „Ich hatte gehofft, Sie besäßen zumindest den Anstand, nach dem gestrigen Vorfall London unverzüglich zu verlassen.“ Ihr Blick schweifte zu ihrer Nichte. „Ich kann nicht fassen, Jane, dass du sie obendrein noch in Schutz nimmst! Dorotheas Saison ist so gut wie ruiniert!“ Mit diesen Worten rauschte sie, die ausladenden Hüften entrüstet wiegend, aus dem Zimmer.

„Oh, diese grässliche Frau!“, rief Jane, legte die Hände an ihre feuerroten Wangen und sank aufs Sofa.

Claire erhob sich von ihrem Stuhl und ging hinüber zu Jane. „Oh, meine Liebe, es tut mir so leid, dir solche Unannehmlichkeiten zu bereiten.“ Seit ihrer Heimkehr am vergangenen Abend plagten sie Gewissensbisse. Lady Billingsleys Worte, so harsch sie auch klingen mochten, waren leider nur allzu wahr. Claire hatte ihrer Familie Schande bereitet. Edward würde außer sich vor Wut auf sie sein. Allerdings konnte sie es ihrem Bruder ohnehin kaum recht machen, gleich, was sie tat.

Jane blickte sie mit unglücklicher Miene an. „Das alles ist doch nicht deine Schuld. Lord Rotham hätte sich dir gegenüber nicht in dieser abscheulichen Weise benehmen dürfen. Ich weiß nicht, welcher Teufel ihn geritten hat. Ach, Claire, ich befürchte, er hat es dir nie verziehen, dass du damals seinen Antrag abgelehnt hast.“

„Nein“, stimmte sie zu, wenngleich sie sich nicht erklären konnte, weshalb er ihr das nie verziehen haben sollte, da er nie Liebe für sie empfunden hatte. Ja, sie konnte sich nicht einmal mehr sicher sein, ob er sie überhaupt je gemocht hatte. Sie waren Freunde gewesen, so dachte sie zumindest, indes hatte sein Verrat selbst diese Illusion letztendlich zerstört. Und diese Erkenntnis schmerzte weitaus mehr als die Schande, die sie damals über sich gebracht hatte.

Sie ergriff Janes Hand. „Vielleicht sollte ich London tatsächlich verlassen. Lady Billingsley hat recht. Ich habe dich und Dorothea blamiert. Ich befürchte, es ist mein Schicksal, mich selbst zu ruinieren, aber ich werde mir nie verzeihen, wenn ich durch mein Handeln eurem Ansehen Schaden zufüge.“

„Oh, Claire, das hast du nicht.“

„Eine Einladung ist bereits zurückgenommen worden. Sicher werden weitere folgen.“

„Nicht einmal im Traum würde ich daran denken, Lady Hawkes Ball zu besuchen, wenn du ihr nicht willkommen bist.“

„Aber Dorothea zuliebe …“

„Dorothea ist ganz meiner Ansicht“, fiel Jane ihr ins Wort und umarmte Claire kurz. „Sorge dich nicht. Ich bin mir sicher, diese Angelegenheit wird uns nicht im Mindesten berühren. Und ich verbiete dir, London zu verlassen. Warum gehst du nicht nach oben und sagst Dorothea, dass Tante Billingsley gegangen ist, und sie nun unbesorgt wieder herunterkommen kann. Danach solltest du dich ein wenig ausruhen. Wir werden heute keine weiteren Besucher mehr empfangen.“

Claire gab Dorothea Bescheid und ging anschließend in ihr Schlafzimmer. Nachdenklich stellte sie sich ans Fenster und ließ den Blick über den Garten auf der Rückseite des Hauses schweifen. Keinesfalls wollte sie die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Es wäre ihr unerträglich, wenn Lady Billingsley recht behielte und kein Gentleman mehr Dorothea aufgrund dieses Vorfalls den Hof machte. Gewiss würde Lord Rotham sie zukünftig meiden, aber was, wenn er auch Jane und Dorothea ignorierte? In diesem Fall wäre Dorotheas Saison mit Sicherheit ruiniert.

An Edward mochte sie erst gar nicht denken. Ihr Bruder wäre vor Zorn außer sich, wenn ihm dieser Vorfall zu Ohren käme. Zum Glück weilte er derzeit in diplomatischer Mission in Brüssel.

Sie wandte sich vom Fenster ab und sank auf ihr Bett. Warum musste Lord Rotham auch ausgerechnet ihren Fächer ziehen? Hat er ihn wiedererkannt und mit Absicht gewählt, fragte sie sich. Indes konnte sie sich nicht vorstellen, warum er so etwas tun sollte, es sei denn, um sie zu verspotten. Selbst jetzt noch zuckte sie bei der Erinnerung an seine kalten, höhnischen Worte zusammen.

Wenn sie nur die Fassung behalten und ihn höflich angelächelt hätte, als ob es ihr einerlei sei, was er zu ihr sagte. Aber nein, wie gewöhnlich hatte sie sich von ihren Gefühlen leiten lassen und gehandelt, ohne vorher nachzudenken. Und nun war Dorotheas Saison in Gefahr.

Zudem hatte er immer noch ihren Fächer. Ihr blieb nur ein Ausweg aus dieser misslichen Lage: Sie musste ihn um Verzeihung bitten, so schwer ihr das auch fallen mochte.

Missmutig ob des leichten, aber beharrlichen Pochens in seinem Kopf, das ihn unangenehm an die Ausschweifungen der letzten Nacht erinnerte, nahm Jack die Handschuhe von der Kommode, die sein Kammerdiener Hobbes für ihn herausgelegt hatte. Dabei fiel sein Blick auf den zarten Fächer, der neben einer diamantenbesetzten Krawattennadel lag. Aufstöhnend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar.

Was zum Teufel hatte ihn nur dazu getrieben, Claire in dieser Weise zu quälen? Bis zu ihrem Wiedersehen im Salon war er der Ansicht gewesen, sie bedeute ihm nichts. Dann aber waren die längst vergessen geglaubte Wut und Verbitterung unvermittelt wieder in ihm aufgestiegen. Ihr Gesicht mit den strahlenden Augen und den schön geschwungenen Lippen war noch liebreizender, als er es im Gedächtnis hatte. Doch ihr Anblick löste unvermittelt den seltsamen Wunsch in ihm aus, sie für den Schmerz, den sie ihm vor sechs Jahren zugefügt hatte, zu bestrafen.

Allein deshalb hatte er vermutlich unverzeihlicherweise diese Szene herbeigeführt. Wahrscheinlich zerrissen sich die Klatschbasen bereits den Mund darüber.

Warum hatte das Schicksal ausgerechnet ihn ihren Fächer wählen lassen? Oder war es einfach nur Pech gewesen? Er nahm den Fächer in die Hand, fuhr mit dem Finger über den Elfenbeingriff und entdeckte die kleine Kerbe am Rand. Unter all den aufwendig gearbeiteten, glanzvollen Exemplaren war er ihm aufgrund seines vergilbten Aussehens ins Auge gestochen. Offenbar hing die Besitzerin sehr daran, was in ihm die vage Hoffnung geweckt hatte, sie sei keine dieser oberflächlichen Damen des ton, die sich zumeist in seichter Konversation ergingen.

Niemals hätte er damit gerechnet, dass der Fächer Claire gehörte. Die seltsame Erleichterung, die er anfangs darüber verspürt hatte, war jedoch rasch der Wut gewichen, als sie sich zu ihm gesellte und ihm unmissverständlich zu verstehen gab, wie sehr sie ihn verachtete.

Ungehalten legte er den Fächer auf die Kommode zurück. Offensichtlich hatte ihm der Cognac, den er vor der Lotterie genossen hatte, den Verstand benebelt. Normalerweise neigte er nicht dazu, sich von solch törichten Sentimentalitäten leiten zu lassen.