Ein Earl für Miss Alice - Emily Alveston - E-Book

Ein Earl für Miss Alice E-Book

Emily Alveston

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Beschreibung

"Du darfst dein Herz nicht verlieren. Nicht schon wieder, und vor allem: Nicht schon wieder an den Falschen. Und George war der Falsche, falscher ging es gar nicht mehr." Nach zwei bitteren Enttäuschungen hat Alice Landon genug von der Liebe. Um ihr gebrochenes Herz zu kurieren, besucht sie ihre Tante in Schottland. Doch unvorhergesehene Ereignisse zwingen Alice zur Flucht - und sie landet bei Lord Hades, dem alles andere als ein guter Ruf vorauseilt, ist er doch am Tod seiner Gemahlin angeblich nicht ganz unschuldig. *** England/Schottland 1818. Nach zwei bitteren Enttäuschungen und einem gebrochenen Herzen hat Alice Landon genug von der Liebe. Um auf andere Gedanken zu kommen, besucht sie ihre Tante in Schottland, und ihr Plan scheint aufzugehen: Als sie die geheimnisvolle Geschichte von Lord Hades und dem mysteriösen Tod seiner Gemahlin hört, beschließt Alice, die Wahrheit herauszufinden, hat sie doch genügend Schauerromane gelesen, um über Helden, Schurken und finstere Mächte bestens Bescheid zu wissen. Doch dann zwingen widrige Umstände Alice dazu, ausgerechnet in Lord Hades' Haus Schutz zu suchen - und der Hausherr ist wenig begeistert davon... Lord George Shade, genannt Lord Hades, eilt ein düsterer Ruf voraus, ist er doch am Tod seiner schönen Gemahlin angeblich nicht ganz unschuldig. Von der Gesellschaft gemieden, lebt er mit seinem Sohn und seiner gehörlosen Tochter zurückgezogen auf seinem Landsitz - bis eines Nachts eine fremde junge Dame triefend nass in seiner Eingangshalle steht und ihn um Hilfe bittet. Widerwillig stellt er sie als Gouvernante seiner Kinder ein. Die eigensinnige Alice raubt ihm den letzten Nerv - und weckt zugleich längst verloren geglaubte Gefühle in ihm. Doch George weiß, dass Liebe für ihn nichts als Kummer und Verlust bedeutet. Denn wer könnte einen Mann wie ihn wirklich lieben? *** "Ein Earl für Miss Alice" ist eine humorvolle Sweet Regency Romance um zwei verletzte Seelen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und dennoch zueinanderfinden. Genre: Historischer Liebesroman, Sweet Regency Romance (keine erotischen Szenen). Tropes: Feinde zu Liebenden (enemies to lovers), verlorene Liebe (lost love), Gouvernante, Witwer, grumpy x sunshine, hurt x comfort. *** In der Reihe bereits erschienen: Ein Viscount per Annonce (Lost in Regency 1) Eine Braut für Admiral Worsley (Lost in Regency 2) Kein Baron für Miss Louisa (Lost in Regency 3) Die Bücher sind in sich abgeschlossen und auch einzeln lesbar.

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Seitenzahl: 477

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die wichtigsten Personen

Familie Landon/Douglas/Ruthercombe

Alice Landon

Jane Douglas, geb. Ruthercombe, Alices Tante

William Douglas, Alices Cousin

Lady Isabella Chelton, geb. Ruthercombe, Alices Cousine

Captain Sir Matthew Ruthercombe, Alices Cousin

Familie Shade

George Shade, Viscount Shade, genannt ‚Lord Hades’

Beatrice Shade, Georges verstorbene Gemahlin

Mary Shade, Georges Schwester

Rebecca und Tristan, Georges Kinder

Joseph Shade, Georges Bruder

Lord Chesterton, Georges Vater

Weitere Personen

Victoria Sinclair, Beatrices Freundin

Mr. Campbell, Arzt

Mr. McEwan, Anwalt

Mr. Buchanan, Verwalter

Henderson, Butler

Mrs. Henderson, Haushälterin und Köchin

Kitty und Amy, Dienstmädchen

Miss Tippet, Gouvernante

Ballgäste auf dem Sommernachtsball:

Lord und Lady Forsythe, Lady Penelope Forsythe, Mr. Forsythe, Mr. John Forsythe, Reverend Dawson, Mrs. Dawson, Miss Dawson, Mr. und Mrs. Abbott, Miss Abbott, Miss Charlotte Abbott, Captain Hutton, Lieutenant Lambert

Die wichtigsten Begriffe

Almack’s

Berühmter Gesellschaftsklub für Männer und Frauen in London. Wichtiger Bestandteil des Londoner Heiratsmarktes.

Bon Ton

Obere Gesellschaftsschicht.

Chaise

Leichter vierrädriger Einspänner für bis zu drei Personen für Reisen oder Vergnügungsfahrten.

Chaperon

Anstandsdame

Chemise

Knielanges Damenunterhemd, unterhalb des Korsetts getragen.

Constable

Auch: Parish Constable. Ehrenamtlicher Beamter, der in seinem Parish (Gemeinde) für Recht und Ordnung sorgte, Kriminelle festsetzte und sie an das zuständige Gericht übergab.

Countrydance

Auch: Contredance. Gesellschaftstanz, bei dem die Paare einander gegenüber in einer langen Reihe Aufstellung nahmen.

Cotillion

Französischer Gesellschaftstanz für vier Paare.

Exeter ‘Change

Gebäude im Londoner Stadtteil Strand, in dem auf mehreren Etagen eine Tiermenagerie mit zahlreichen exotischen Tieren untergebracht war.

Gretna Green

Schottischer Ort nahe der englischen Grenze, in dem sich junge Paare gegen den Willen ihrer Eltern trauen lassen konnten.

Höflichkeits- titel

Nächsthöchster Titel eines Adeligen, der zu dessen Lebzeiten von dessen erstgeborenem Sohn und Titelerben geführt werden durfte.

Kniebundhose

Knielange Hose, die unterhalb des Knies mit einem Bund abschließt.

Lichtmess

Schottischer Quartalstag, 2. Februar.

Martinstag

Schottischer Quartalstag, 11. November.

Menuett

Höfischer Gesellschaftstanz des Barocks.

Michaelis

Englischer Quartalstag, 29. September.

Musselin

Feiner, leichter Woll- oder Baumwollstoff.

Pantalons

Knöchellange Hose.

Pelisse

Damenmantel mit hoher Taille, vorne bis zur Taille oder bis zum Saum geknöpft.

Petticoat

Ärmelloses Unterkleid mit Schulterträgern.

Quadrille

Französischer Tanz für vier Paare.

Quartalstage

Vier Tage im Jahr, an denen Dienstboten bezahlt, eingestellt und entlassen wurden und die Pacht fällig war. Sie fielen auf vier religiöse Feste, die etwa drei Monate auseinander lagen.

Reel

Schottischer Tanz für drei oder vier Personen.

Retikül

Beutelförmige Damenhandtasche.

Saison

Londoner Heiratsmarkt für Mittelschicht und Adel.

Spenzer

Kurze Damenjacke.

Stockuhr

Tischuhr zum Aufstellen auf Tischen, Kommoden oder Kaminsimsen.

Supper

Letzte kleine Mahlzeit des Tages nach dem Dinner. Oft auf Bällen serviert.

Ton

Siehe

Bon Ton

.

Vauxhall

Vergnügungsgarten in London.

Zerberus

Mehrköpfiger Hund der griechischen Mythologie, Bewacher des Eingangs zur Unterwelt.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

EPILOG

Historische Anmerkungen

DANKSAGUNG

PROLOG

Schottland

August 1818

Der Sturm heulte durch die verkümmerten Birken und zerrte an Alices nassen Röcken wie ein wildes Tier. Es war finster, ihr war kalt, und sie hatte Angst.

Mit aller Macht stemmte sie sich gegen die Windböen, die sie beinahe von dem schmalen Fußweg trieben, der durch den Moorwald führte. Donnerschläge zerrissen die Luft, Blitze zuckten über den nächtlichen Himmel und tauchten das Moor in ein gespenstisches Licht, bevor es erneut in völliger Finsternis versank.

Atemlos presste Alice ihre Ledertasche enger an sich. Knorrige Äste peitschten gegen den Nachthimmel und griffen wie die knochigen Klauen riesiger Schattengestalten nach ihr, als wetteiferten sie darin, sie in einen der Tümpel zu ziehen, deren sturmgepeitschte Oberflächen im Licht der Blitze wie Irrwische aufleuchteten.

Vom Weg abzukommen und im Moor zu versinken, wäre zweifellos ein passendes Ende für die tragische Heldin eines Schauerromans. Doch Alice hatte nicht vor, in dieser Nacht und auf diese Weise den Tod zu finden, auch wenn die vergangenen Stunden ihres Lebens einem Schauerroman ziemlich nahe kamen.

Es war wirklich kaum zu fassen. Dabei hatte sie doch nur Tante Jane in Schottland einen Besuch abstatten wollen. Ein höchst harmloses Unterfangen, mochte man denken! Stattdessen lief sie nun mutterseelenallein mitten in der Nacht durch einen tückischen Sumpf.

Und als wäre all das nicht genug, prasselte unentwegt Regen auf sie ein. Die Krempe ihres Hutes hing völlig durchweicht herab, Pelisse und Kleid klebten förmlich an ihren Beinen, und ihre nassen Lederstiefelchen waren ebenso schlammbedeckt wie ihr Rocksaum.

Mit einem ohrenbetäubenden Knall fuhr ein Blitz in einen Baum. Gerade noch rechtzeitig sprang Alice zur Seite, bevor der zerborstene Stamm neben ihr zu Boden krachte. Sie presste die Zähne zusammen und stieß einen undamenhaften Fluch aus. Mühsam kämpfte sie sich weiter, Schritt für Schritt, die Augen fest auf den Weg gerichtet, der in der Dunkelheit kaum zu erkennen war.

Und dann hörte sie es.

Das Heulen.

Alice hielt abrupt inne und lauschte angestrengt in die Nacht. Da war es wieder. Und es war nicht das Heulen des Sturms. Nervös blickte sie um sich und versuchte, zwischen den schemenhaften Schatten der Bäume etwas zu erkennen. Dort drüben – hatte sich dort etwas bewegt?

Panik stieg in Alice auf. Selbstverständlich hatte sie von der Bestie gehört, die angeblich durch Lord Hades‘ Moorwald streifte, aber sie hatte die Erzählung für ein Märchen gehalten. Zu Hause, in England, gab es schließlich keine Bestien, nicht einmal Wölfe. Aber in Schottland?

Plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher. Einem Mann, dem die Leute den Beinamen ‚Lord Hades‘ gegeben hatten, konnte man durchaus zutrauen, einen Zerberus zu halten, der unerwünschte Besucher von seinem Land fernhielt, nicht wahr?

Unentschlossen stand Alice da. Sollte sie umkehren? Sie hatte die Wahl: als Ehefrau eines trinksüchtigen Gewalttäters enden – oder im Rachen einer Bestie, die sie zerfleischte?

Erinnerungen an die vergangenen Stunden stiegen vor ihrem inneren Auge auf, und Alice entschied sich für die Bestie. Besser ein kurzes, schmerzvolles Ende als lebenslanges Leiden.

Klang das Heulen nicht ohnedies eher nach einem großen Hund? Der Mastiff, der das Gestüt ihrer Schwester beschützte, heulte ebenfalls gerne den Mond an und versetzte neu angekaufte Pferde in Angst und Schrecken. Klopfenden Herzens klammerte Alice sich an diesen Gedanken und stapfte entschlossen weiter, dem Heulen entgegen.

Es gibt hier keine Bestie, sagte sie sich in Gedanken immer wieder vor. Es gibt hier keine Bestie.

EINS

Drei Wochen zuvor

Lèannoch, Schottland

Juli 1818

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“ Alice beugte sich vor und warf einen skeptischen Blick an ihrem Cousin und ihrer Cousine vorbei aus dem Fenster der Chaise, als diese an einem verwitterten Holzgatter hielt. Ein Kiesweg führte an einigen Gemüse- und Kräuterbeeten vorbei zu einem kleinen Cottage mit moosbewachsenem Reetdach und bröckelnder Fassade. Wohnte hier überhaupt jemand?

„Der Wirt in der Poststation von Lèannoch hat dem Postillon den Weg sehr genau beschrieben“, erwiderte Matthew. „Es muss das Haus von Tante Jane sein.“

„Ich hatte nicht erwartet, dass Tante Jane in derart bescheidenen Verhältnissen lebt“, bemerkte Isabella. „Immerhin ist sie Papas Schwester.“

„Aber sie hat einen Schulmeister geheiratet.“ Matthew imitierte die verächtliche Miene und den geringschätzigen Tonfall seines verstorbenen Vaters.

Isabella seufzte. „Papa hat ihr das nie verziehen. Genau wie Großmutter und Großvater.“

„Sie würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, dass wir Tante Jane mit einem Besuch beehren.“ Mit diesen Worten öffnete Matthew den Wagenschlag, sprang hinaus und half seiner Schwester und Alice beim Aussteigen.

Erleichtert, endlich das Ziel ihrer Reise erreicht zu haben, kletterte Alice aus dem Wageninneren und streckte sich. Für drei Personen war die Sitzbank der Chaise eindeutig zu schmal und der Wagen bei weitem nicht gut genug gefedert, um die lange Fahrt von London nach Edinburgh und weiter bis Lèannoch über holprige Straßen und Wege bequem zurücklegen zu können. Sie legte den Kopf in den Nacken, zog die frische Luft ein und genoss die sanfte Brise, die über ihre Haut strich. Von irgendwo her trug der Wind Stimmen von Knaben zu ihnen, die fremdartig klingende Wörter aufsagten.

„Latein.“ Matthew verzog sein Gesicht und brachte Alice und Isabella damit zum Lachen. „Offenbar hat Tante Jane beschlossen, die Privatschule ihres verstorbenen Ehemannes weiterzuführen.“

In diesem Moment trat eine rundliche ältere Frau in einem abgetragenen grauen Kleid mit Schürze und einer schlichten weißen Stoffhaube aus der Tür, winkte ihnen zu und eilte ihnen mit humpelnden Schritten entgegen. Ob das Tante Janes Haushälterin war?

Keuchend und schwer atmend kam sie bei ihnen an. Im nächsten Moment schüttelte sie ein Hustenanfall.

„Nehmen Sie einen Schluck.“ Alice reichte der Frau ihre Lederflasche, die noch etwas kalten Tee enthielt.

„Vielen Dank.“ Sie trank daraus und reichte Alice die Flasche zurück. Im nächsten Moment erschien ein überraschter Ausdruck auf ihrem Gesicht. „Oh, meine Liebe, du bist das Ebenbild deiner Mutter, Gott hab sie selig!“ Sie schloss Alice stürmisch in die Arme.

Offensichtlich war dies nicht Tante Janes Haushälterin. Sondern Tante Jane.

„Dieselben goldenen Locken, dieselben dunklen Augen, dasselbe hübsche Gesicht“, fuhr sie in einem Atemzug fort, nahm Alices Gesicht in ihre rauen Hände und musterte sie lächelnd. „Eine zauberhafte junge Dame, fürwahr!“

Alice wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie war von dem unerwarteten Erscheinungsbild ihrer Tante, der stürmischen Begrüßung und den überschwänglichen Komplimenten zugegebenermaßen etwas überfordert.

Ihre Tante schien davon nichts zu bemerken und wandte sich ohne Umschweife Alices Cousine zu.

„Isabella!“ Sie machte Anstalten, sie ebenso in die Arme zu schließen wie Alice, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. „Oder sollte ich ‚Lady Chelton‘ sagen?“

Isabella schüttelte lachend den Kopf. „Gewiss nicht, Tante Jane. ‚Isabella‘ genügt vollkommen.“

„Oh, gut!“ Tante Jane umarmte Isabella herzlich, bevor sie sich an Matthew wandte.

„Matthew, mein Junge.“ Er wurde umgehend mit einer ebenso unbefangenen Umarmung wie Alice und Isabella bedacht. „Was bist du groß geworden! Als ich dich das letzte Mal sah, habe ich dich in meinen Armen gehalten.“ Sie hielt ihre Arme vor sich und tat, als würde sie ein Baby darin wiegen.

Isabella schmunzelte. „Der kleine Junge ist inzwischen Baronet und Captain der Dragoner, Tante Jane. Auch wenn er in seinem staubigen Reisegewand eher wie ein Landstreicher aussieht.“

Matthew grinste schief und klopfte den Staub von seinem Mantel, was einen weiteren Hustenanfall bei Tante Jane hervorrief. Erschrocken hielt Matthew inne. „Verzeihung.“

Tante Jane machte eine wegwerfende Handbewegung. „Der Husten ist diesmal besonders hartnäckig, aber er wird gewiss vergehen.“ Sie trat einen Schritt zurück und ließ ihren Blick prüfend über Matthew gleiten. „Gut siehst du aus“, fuhr sie fort, „wie dein Vater. Ich bin sicher, sämtliche jungen Damen Londons haben ein Auge auf dich geworfen.“ Sie blinzelte ihm vergnügt zu.

„Tante Jane“, erwiderte Matthew verlegen, und eine leichte Röte überzog seine Wangen.

„Das wird den jungen Damen nichts nützen“, sagte Isabella grinsend. „Matthew ist nämlich verlobt, musst du wissen.“

„Verlobt, wie wundervoll“, bemerkte Tante Jane, „ich gratuliere!“ Ihr Blick wanderte zu der Chaise. „Ihr seid den weiten Weg mit einer Chaise gereist? Du meine Güte. Weshalb habt ihr keine Kutsche genommen?“

„Die Armee hat Matthew für die Fahrt nach Schottland nur eine Chaise zur Verfügung gestellt“, erklärte Isabella.

Tante Jane hob verwundert die Augenbrauen. „Die Armee?“

„Das erzählen wir dir später, Tante Jane“, sagte Matthew und bot seiner Tante galant den Arm. „Lass uns zuerst ins Haus gehen.“

„Um Himmels Willen, wo bleiben nur meine Manieren!“ Tante Jane schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Kommt nur herein, kommt herein!“ Sie nahm Matthews dargebotenen Arm und bedeutete Alice und Isabella mit einer einladenden Geste, ihnen zu folgen. „Ihr seid bestimmt müde von der Reise. Möchtet ihr Tee? Kekse? Himbeersaft?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, hinkte sie an Matthews Arm zurück zum Cottage. „Hinter dem Haus gibt es zahlreiche Himbeerstauden“, fuhr sie fort. „Erst letzte Woche habe ich eine ansehnliche Menge geerntet und eingekocht. Der Saft wird euch gewiss schmecken. William schmeckt er jedenfalls.“ Sie öffnete die Haustür. „William!“

Alice musste ein Lachen unterdrücken, während sie hinter Isabella in den Wohnraum trat. Sie hatte ihre fröhliche, plauderhafte Tante bereits in ihr Herz geschlossen.

Es dauerte einen Moment, bis Alice sich an das dämmrige Licht in dem kleinen Raum gewöhnt hatte und mehr als schemenhafte Umrisse erkennen konnte. Das Zimmer hatte lediglich an der Vorderseite zwei kleine Fenster, durch die nur wenig Tageslicht fiel. An der linken Wand erspähte Alice einen Kamin mit einer einfachen Stockuhr darauf sowie ein altes Sofa und einen niedrigen Holztisch davor, an der rechten Wand stand ein Esstisch mit einigen Stühlen unter einer schmalen Holzstiege, die in den oberen Stock führte. An der rückwärtigen Wand befanden sich zwei Türen, hinter denen gewiss die Küche und das Schulzimmer lagen, aus dem zuvor die Kinderstimmen erklungen waren. Zwischen den beiden Türen hatte eine Anrichte aus Eichenholz ihren Platz gefunden, auf der eine Karaffe mit einer goldbraunen Flüssigkeit und einige Gläser standen.

„William!“, rief Tante Jane, diesmal lauter, was einen erneuten Hustenanfall zur Folge hatte.

Alice wechselte einen raschen Blick mit ihrer Cousine.

„Sollen wir den Arzt rufen?“, fragte Isabella besorgt.

„O nein.“ Tante Jane hob abwehrend die Hände. „Das ist nicht nötig. Ich werde mich später etwas zur Ruhe legen. Aber zuerst möchte ich euch mit eurem Cousin bekanntmachen. William!“

Sie trat an eine der beiden Türen und klopfte. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ein untersetzter junger Mann in einem schlechtsitzenden braunen Frack trat heraus. Auf seiner breiten Nase saß eine verbogene Brille, und an seiner Hand glänzte ein altmodischer goldener Ring, dessen Patina verriet, dass es sich bei dem Material wohl um Messing handelte. Seine Lebensverhältnisse würden es ihm kaum erlauben, sich echten Goldschmuck leisten zu können.

Alice schätzte, dass er Mitte Zwanzig und damit ungefähr in Matthews Alter sein musste, obwohl seine kurzen braunen Haare über den Schläfen bereits zurückwichen. Hinter ihm erspähte Alice vier Knaben von etwa zehn Jahren, die vor einem offenen Fenster an einem niedrigen Tisch saßen und neugierig durch den Türspalt lugten. Dann war Tante Janes Sohn also in die Fußstapfen seines Vaters getreten.

„Isabella, Alice, Matthew, darf ich euch meinen Sohn William vorstellen“, bemerkte Tante Jane mit stolzer Stimme.

„Guten Tag, Cousin William“, erwiderte Isabella.

„Wir freuen uns, dich kennenzulernen“, ergänzte Alice.

„Ja“, entgegnete William knapp und wandte sich zurück in das Schulzimmer. „Der Unterricht ist für heute beendet.“

Die Kinder sprangen auf, griffen nach ihren Kappen und stürmten aus dem Zimmer durch den Wohnraum zur Tür.

„Hinaus mit euch.“ Tante Jane hielt ihnen lachend die Haustür auf. „Morgen gibt es Himbeersaft und Apfelkuchen, wenn ihr fleißig lernt.“

„Pünktlich neun Uhr“, rief William ihnen mahnend nach. „Sonst wartet statt des Kuchens die Rute!“

„Ja, Mr. Douglas“, hörte Alice die Kinder von draußen zurückrufen und fragte sich entsetzt, ob ihr Cousin tatsächlich ein Kind mit Rutenschlägen züchtigen würde, bloß weil es zu spät zum Unterricht erschien.

„Bitte, nehmt Platz.“ Tante Jane wies mit einer Hand auf das Sofa, das mit zahlreichen bestickten Kissen geschmückt war.

Alice ließ sich umgehend in die weichen Kissen fallen und seufzte glücklich. Nach mehr als einer Woche auf der engen Sitzbank der schlecht gefederten Chaise erschien ihr das abgenutzte Sofa wie das Paradies auf Erden. „Mir tut jeder einzelne Knochen im Leib weh.“

Tante Jane lachte gutmütig. „Macht es euch ruhig bequem. Ich bin gleich wieder zurück und bringe euch Himbeersaft und Kekse. William, sei so gut und hilf Matthew mit dem Gepäck.“ Mit diesen Worten humpelte sie in den anderen der beiden Nebenräume.

William nahm seine Brille ab, klappte sie demonstrativ langsam zusammen und ließ sie in die Tasche seines Fracks gleiten. Alice konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er die Freude seiner Mutter über ihren Besuch nicht teilte.

„Ihr hättet nicht kommen sollen“, murrte er.

Alice hob irritiert die Augenbrauen. „Weshalb denn nicht?“

„Könnt ihr euch das nicht denken? Vater war kein reicher Mann, und ich bin es ebenso wenig.“ Er machte eine ausladende Geste, wohl, um auf die schlichte Einrichtung hinzudeuten. „Die Privatschule wirft wenig ab. Ich habe lediglich vier Schüler, in manchen Jahren gar nur zwei oder drei, und die Zinsen aus Mutters Mitgift sind denkbar gering.“

Weshalb, war nicht schwer zu erraten. Wie Alice aus Erzählungen wusste, hatten Tante Janes Eltern einen Schulmeister als völlig unstandesgemäße Partie für die älteste Tochter eines Baronets betrachtet, also war Tante Jane mit Mr. Douglas nach Gretna Green durchgebrannt, um ihn gegen den Willen ihrer Familie zu heiraten. Dies hatte sich wohl auf die Höhe der Mitgift ausgewirkt, die ihr Vater bereit gewesen war, seiner Tochter in die missbilligte Ehe mitzugeben.

„Nun muss Mutter zusätzliche Lebensmittel für zwei Gäste besorgen“, fuhr William in gereiztem Ton fort, „zusätzliche Speisen zubereiten und ein weiteres Zimmer reinigen, und das in ihrem kränklichen Zustand.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Wann gedenkt ihr abzureisen?“

Alice wechselte einen raschen Blick mit Isabella. Sie wusste nicht recht, wie sie auf Williams unverhohlene Feindseligkeit reagieren sollte.

„Tante Jane hat in ihrem Brief mit keinem einzigen Wort erwähnt, dass unser Besuch ungelegen kommt“, ergriff Isabella das Wort.

„Natürlich hat sie das nicht“, presste William zwischen den Zähnen hervor. „Mutter konnte noch nie jemandem einen Wunsch abschlagen. Schon gar nicht ihrer eigenen Familie. Es grenzt an ein Wunder, dass sie sich damals dem Willen ihrer Eltern widersetzte und Vaters Antrag annahm.“

„Wenn wir gewusst hätten, dass wir Tante Jane zur Last fallen würden, wären wir nicht gekommen“, bemerkte Alice kleinlaut. Die Angelegenheit war ihr schrecklich unangenehm, und ihrer Cousine war anzusehen, dass es ihr nicht anders ging.

„Wir könnten vielleicht mit der Postkutsche zurückfahren“, schlug Isabella vor.

„Kommt nicht in Frage“, erwiderte William barsch. „Ihr denkt doch nicht, dass Mutter sich nachsagen ließe, ihre Nichten allein mit der Postkutsche nach Hause geschickt zu haben, weil sie ihnen nicht genug zu essen und ein Dach über dem Kopf anbieten konnte.“ Mit diesen Worten wandte er sich an Matthew, als wäre die Diskussion damit für ihn beendet, und machte eine energische Kopfbewegung Richtung Tür. „Lass uns das Gepäck holen.“

Die beiden verschwanden nach draußen. Alice warf Isabella einen ratlosen Blick zu. „Tante Jane scheint kein Dienstmädchen zu haben, wenn sie die Reinigung der Zimmer, den Einkauf der Lebensmittel und die Zubereitung der Mahlzeiten selbst übernimmt“, sagte sie leise, „dabei bräuchte sie dringend Hilfe.“

„Cousin William und Tante Jane haben gewiss nicht genügend Geld, um sich ein Dienstmädchen leisten zu können“, erwiderte Isabella ebenso leise.

„Dann sollten wir uns wenigstens nützlich machen, solange wir hier sind“, sagte Alice. „Ich könnte Tante Jane in der Küche zur Hand gehen.“ Zu Hause auf White Willows hatte sie schließlich oft in der Küche geholfen, solange das Gestüt noch wenig abgeworfen hatte und ihre Schwester keine Köchin hatte einstellen können.

Isabella nickte. „Ich werde Tante Jane zum Markt begleiten und die Lebensmittel bezahlen. Und wir sollten den Arzt rufen. Tante Jane braucht dringend eine Medizin, sie wird sonst ernsthaft lungenkrank.“

„Ich weiß.“ Alice seufzte. „Aber ich fürchte, dass sie sich einen Arzt und Arzneien nicht leisten kann.“

„Dann werde ich die Kosten übernehmen“, sagte Isabella entschlossen. „Lord Chelton hat mich mit einem mehr als großzügigen Reisegeld ausgestattet.“

Alice schüttelte den Kopf. „Tante Jane würde gewiss keine Almosen annehmen wollen.“

„Aber wir müssen etwas tun.“

Alice tippte nachdenklich mit dem Zeigefinger an ihre Unterlippe. „Ich werde meinem Bruder schreiben und ihn bitten, Tante Jane eine kleine jährliche Zuwendung zu zahlen.“ Christopher war nicht unbedingt reich, aber Landon Park warf genug ab, um gut davon leben zu können – und in Anbetracht der ärmlichen Verhältnisse, in denen Tante Jane lebte, war ihr gewiss bereits mit einer geringen Summe geholfen.

In diesem Augenblick kehrte Tante Jane in den Wohnraum zurück, ein Tablett mit einem Krug hellroter Flüssigkeit, einigen Gläsern und einem Teller Kekse vor ihrem rundlichen Körper balancierend.

„Wie schön, dass ihr hier seid“, begann Tante Jane das Gespräch, nachdem sie das Tablett auf dem Tisch abgestellt und sich etwas ungelenk zwischen Alice und Isabella auf dem Sofa niedergelassen hatte, und schenkte drei Gläser Himbeersaft ein. „Und nun erzählt mir alles, meine Lieben. Ich weiß so wenig darüber, wie es meiner Familie erging, nachdem ich zu Mr. Douglas nach Schottland zog.“

Während Alice und Isabella Tante Jane von ihrer Familie erzählten, trugen Matthew und William Isabellas und Alices Reisetruhen und Reisetaschen in das Gästezimmer und gesellten sich danach zu ihnen.

William trat an die Anrichte und griff nach der Karaffe. „Brandy?“ Er warf Matthew über die Schulter einen fragenden Blick zu. Matthew nickte, zog mangels anderer Sitzgelegenheiten einen der Holzstühle heran, die um den Esstisch standen, und nahm Platz.

William schenkte zwei Gläser ein und reichte eines davon Matthew. Dann leerte er sein eigenes Glas in einem Zug und füllte es ein weiteres Mal, bevor er an den Kamin trat, sich betont lässig gegen das Sims lehnte und abwechselnd Alice und Isabella von oben herab missbilligend musterte. Alice fühlte sich in seiner Gegenwart zunehmend unwohl.

„Nun heraus mit der Sprache, Matthew“, wandte Tante Jane sich an ihren Neffen. „Dich führt also ein Auftrag der Armee ins schottische Hochland? Wegen der Aufstände der Bauern, nehme ich an?“

Matthew nahm einen Schluck Brandy. „Ich überbringe den schottischen Regimentern den Einsatzbefehl der Armeeführung und habe Anweisung, den Einsatz zu koordinieren.“

Tante Jane zog die Augenbrauen zusammen. „Eine üble Geschichte, das. Seit Jahren geht das nun schon ... Schergen, die im Auftrag ihrer reichen Herren die Bauern und Pächter mit Gewalt vertreiben, um die Ländereien für die Schafzucht zu nutzen. Es heißt, dass manche Landbesitzer nicht davor zurückschrecken, widerständige Pächter auf Auswandererschiffe nach Amerika zu verladen. Die Häuser werden niedergerissen oder angezündet, ganze Dörfer wurden bereits entvölkert. All das nur, um die Erträge der Ländereien zu steigern. Eine Schande!“ Sie schürzte missbilligend die Lippen und schüttelte den Kopf. „Die Vertriebenen setzen sich mit allen Mitteln zur Wehr. Und wer könnte es ihnen verdenken?“

„In der Tat“, stimmte Matthew zu. „Daher ist die Armee dazu angehalten, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.“ Er leerte sein Glas und erhob sich. „Deshalb werde ich umgehend aufbrechen. Ich möchte heute noch einige Meilen zurücklegen, um möglichst rasch ans Ziel zu kommen.“

Alice hatte den starken Verdacht, dass es Matthew weniger darum ging, vor Einbruch der Dämmerung noch eine kurze Wegstrecke zu fahren – was waren schon einige Stunden Zeitgewinn im Vergleich zu der langen Reise, die sie bereits hinter sich hatten –, als vielmehr darum, dass Tante Jane in ihrem kleinen Cottage kein weiteres Zimmer zur Verfügung hatte und er ihr wohl die Verlegenheit ersparen wollte, ihm das Sofa als Schlafquartier anbieten zu müssen.

Isabella umarmte Matthew. „Pass auf dich auf. Du bist der einzige Bruder, den ich habe.“

„Versprochen.“ Er erwiderte ihre Umarmung lächelnd und verabschiedete sich.

Eine Weile standen Alice, Isabella und Tante Jane in der Tür und winkten Matthew nach, bis die Chaise hinter der Wegbiegung verschwunden war.

„Es ist wahrlich an der Zeit, wieder Recht und Ordnung zu schaffen“, seufzte Tante Jane, nachdem sie in den Wohnraum zurückgekehrt waren, und nahm erneut auf dem Sofa Platz. „Man mag über Lord Hades sagen, was man will, aber auf seinem Land wurde bislang kein einziger Pächter vertrieben, um einer Herde blökender Schafe Platz zu machen!“

„Lord Hades?“ Alices Neugierde war augenblicklich geweckt. Ein Mann, der wie der griechische Gott der Unterwelt hieß? Höchst interessant!

„Viscount Shade, genannt Lord Hades.“ Tante Jane zuckte mit den Schultern. „Es ist ein Wortspiel.“

Alice sah ihre Tante gespannt an. „Und was hat Lord Shade getan, um sich den Beinamen Hades zu verdienen?“

„Er hat seine Gemahlin ins Verderben gestürzt.“ Tante Jane zog die Augenbrauen zusammen. „Lady Shade war eine überaus liebreizende und ausnehmend schöne junge Dame. Doch dann –“ Sie wurde von einem weiteren Hustenanfall unterbrochen und fischte nach dem Taschentuch in ihrem Ärmel.

„Sollen wir nicht doch besser den Arzt rufen?“, erkundigte sich Alice besorgt.

„Nein, nein.“ Ihre Tante schüttelte vehement den Kopf, während sie ihr Taschentuch gegen den Mund presste. „Es ist nichts. Wirklich. Das wird schon wieder.“ Sie räusperte sich, steckte ihr Taschentuch zurück in den Ärmel ihres Kleides und fuhr mit ihrer Erzählung fort. „Nach einiger Zeit wurde Lady Shade trübsinnig und wortkarg und war kaum noch in der Kirche oder auf der Straße anzutreffen. Es heißt, Lord Hades sei daran schuld gewesen. Er habe sie nicht gut behandelt und immer häufiger in sein Verlies gesperrt.“

„Sein Verlies?“ Wer um alles in der Welt besaß ein Verlies in seinem Haus? Vor Alices innerem Auge erschien das schattenhafte Bild eines greisen Lords mit schütterem grauem Haar, einer scharfen Hakennase und einem grausamen Zug um den Mund, der seine schöne junge Gemahlin in sein Verlies werfen ließ, weil sie ihm nicht länger zu Willen sein wollte.

Tante Jane nickte eifrig. „Lord Hades lebt mit seiner Schwester auf Dunmuir Manor, einem der Landsitze seines Vaters, des Earls of Chesterton. Im Mittelalter stand eine Burg an der Stelle des Herrenhauses, und man erzählt sich, das unterirdische Verlies sei über die Jahrhunderte erhalten geblieben.“

Alices Interesse wuchs mit jedem Wort. „Kann man das Haus denn besichtigen?“ Sie hatte noch nie ein Verlies gesehen, und es war schließlich nicht ungewöhnlich, dass Adelige ihre Landsitze in ihrer Abwesenheit zur Besichtigung zur Verfügung stellten.

„Du lieber Himmel, natürlich nicht!“, rief Tante Jane. „Dunmuir Manor liegt jenseits eines ausgedehnten Moorwalds westlich von hier. Du kannst die Ausläufer dort sehen.“

Alice folgte Tante Janes Geste mit ihrem Blick. Tatsächlich war in der Ferne die dunkle Silhouette eines Waldes zu erkennen.

„Eine wilde Bestie treibt dort ihr Unwesen“, ergriff William das Wort, trank den letzten Schluck Brandy und beobachtete über den Rand seines Glases hinweg sichtlich zufrieden, wie Alices Augen sich weiteten. „Wer den Sumpf betritt, kann ihr unheimliches Gebrüll hören.“

„Du solltest besser keine solchen Geschichten erzählen, Cousin“, bemerkte Isabella.

Er trat grinsend zur Anrichte und goss sich ein weiteres Glas ein. „Habe ich euch etwa Angst eingejagt?“

„Das hast du nicht. Aber wie ich meine Cousine kenne“, Isabella zwinkerte Alice neckisch zu, „ist sie imstande, selbst ins Moor zu laufen, nur um herauszufinden, ob es die Bestie tatsächlich gibt.“

„Du meine Güte“, Tante Jane ergriff Alices Hand, „tu das nicht, meine Liebe! Man sagt, nicht wenige seien bei dem Versuch, Hals über Kopf vor dem Untier zu fliehen, vom Weg abgekommen und im Morast versunken!“

Alice tätschelte beruhigend die Hand ihrer Tante, bemüht, ihre Begeisterung zu zügeln. Ihr beschaulicher, um nicht zu sagen langweiliger Aufenthalt in einem abgelegenen schottischen Dorf schien unverhofft eine abenteuerliche Wendung zu nehmen. Ein düsteres Moor, eine wilde Bestie, ein altes Burgverlies ... der perfekte Schauplatz für einen Schauerroman.

Eines ihrer Lieblingsbücher kam Alice in den Sinn, Lord Vanderbilts Fluch, in dem der grausame Herzog von Tormouth die schöne Aleidis in seinem Burgverlies gefangen hielt, aus dem sie der junge Lord Vanderbilt befreien musste. Alice sah sich bereits selbst in Lord Hades‘ Verlies sitzen, bangen Herzens darauf wartend, dass ein schöner junger Gentleman sie aus den Klauen des alten Viscounts befreite, und für einen kurzen Augenblick trat Sir Godfreys Bild vor ihre Augen. Energisch verscheuchte sie es und wandte sich wieder dem Gespräch zu.

„Und was geschah mit Lady Shade?“, fragte sie und hoffte inständig, ein strahlender Held wie Lord Vanderbilt möge sie aus dem Verlies des kaltblütigen Lord Hades errettet haben.

Noch bevor ihre Tante antworten konnte, beugte William sich zu ihr und flüsterte hörbar: „Man sagt, Lord Hades habe sie umgebracht.“ Er fuhr mit dem Zeigefinger quer über seinen Hals. „Nimm dich vor ihm in acht“, zischte er in ihr Ohr.

Alice fuhr erschrocken zurück. Lachend richtete William sich auf, leerte sein Glas und füllte es erneut. Offenbar bereitete es ihm ein diebisches Vergnügen, sie zu ärgern.

„Das ist doch nur Gerede, nicht wahr?“ Alice warf ihrer Tante einen unsicheren Blick zu.

„Nun, es ist eine Tatsache, dass Lady Shade unter höchst mysteriösen Umständen starb“, erwiderte Tante Jane. „Und nun müssen die armen Kinder ohne ihre Mutter aufwachsen.“

„Kinder?“ Alice sah ihre Tante entsetzt an. Dieser schreckliche Mann hatte Kinder?

Tante Jane nickte seufzend. „Eine Tochter und ein Sohn. Seine Schwester kümmert sich um sie, seit sie ihre Mutter verloren haben. Aber nun Schluss mit den trüben Gedanken.“ Sie griff nach dem Krug. „Wer möchte noch etwas Himbeersaft?“

***

Die nächsten drei Wochen verbrachten Alice und Isabella damit, die wenigen Sehenswürdigkeiten von Lèannoch zu erkunden, den jungen Damen, die sie kennenlernten, Morgenbesuche abzustatten und über die in voller Blüte stehenden Heidewiesen zu streifen.

Zu Alices Bedauern traf sie weder bei ihren Spaziergängen durch Lèannoch noch auf ihren Streifzügen über die Heide oder bei einer Abendgesellschaft auf Lord Hades und seine Schwester. Zu ärgerlich!

Konnte Lord Hades‘ Schwester ihn nicht dazu überreden, wenigstens einmal einer Einladung Folge zu leisten? Denn wie Alice festgestellt hatte, achteten die Damen von Lèannoch penibel darauf, ihre Einladungen auch an Dunmuir Manor überbringen zu lassen, galt es doch als besondere Auszeichnung für eine Gastgeberin, wenn der außerordentlich seltene Fall eintrat, dass Lord Hades und seine Schwester sie mit ihrer Anwesenheit beehrten.

An gewöhnlichen Dinnerpartys und Abendgesellschaften schienen sie jedoch keinen Gefallen zu finden, und Alices Befürchtung, dass im schottischen Hochland kaum glanzvolle Veranstaltungen wie Bälle oder Maskeraden stattfinden würden, schien sich täglich aufs Neue zu bestätigen. Bis Isabella eines Tages freudestrahlend in ihr Gästezimmer stürmte, einen Brief in der einen, eine weiße Karte mit Goldrand in der anderen Hand.

„Sieh nur, Alice“, sie schwenkte die Karte über dem Kopf, „was soeben in der Post war, die Cousin William gebracht hat!“ Sie hielt Alice das goldumrandete Papier entgegen. „Eine Einladung für Lady Chelton und Miss Landon. Von Miss Sinclair.“

Alice erinnerte sich an die elegante junge Dame mit den rehbraunen Augen und Haaren. Vor wenigen Tagen hatten sie und Isabella bei einer Soirée die Bekanntschaft von Sir Robert und Lady Sinclair sowie ihrer Tochter Victoria gemacht. Neugierig nahm sie die Karte und warf einen Blick darauf.

„Ein Sommernachtsball!“ Ihre Augen leuchteten auf.

Isabella fasste Alice um die Taille und wirbelte mit ihr im Kreis herum. „Das hast du nun davon, dass du kein Ballkleid nach Schottland mitnehmen wolltest“, rief sie lachend und etwas außer Atem, als sie wieder zum Stillstand kamen.

„Zum Glück habe ich wenigstens ein Abendkleid dabei“, erwiderte Alice kichernd. „Und was ist das?“ Sie deutete auf den Brief in Isabellas Hand. „Ein weiterer Brief von Matthew?“

Isabella schüttelte den Kopf. „Es ist nicht seine Handschrift.“

Sie brach das Siegel und schlug den Brief auseinander. Kaum hatte sie die wenigen Zeilen überflogen, stieß sie einen unterdrückten Schrei aus und schlug eine Hand vor den Mund. Jegliche Farbe wich jäh aus ihrem Gesicht.

„Isabella?“ Alice sah ihre Cousine erschrocken an. Reglos und stumm stand Isabella da, den Blick starr auf den Brief gerichtet. Dann löste sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Und noch eine.

„Isabella?“

Keine Reaktion. Ihre Cousine schien sie nicht wahrzunehmen.

Alice legte eine Hand auf Isabellas Arm und schüttelte sie. „Isabella! Was ist geschehen? Ist etwas mit Lord Chelton?“

Langsam hob Isabella ihr Gesicht und sah Alice mit tränenverhangenen Augen an. Dann wanderte ihr Blick zurück zu dem Brief, und sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Mit eurer kleinen Amanda?“

„Nein“, wisperte Isabella tonlos.

„Mit“, Alice schluckte, „Matthew?“

Isabella schloss die Augen und nickte.

Alices Herz setzte für einen Schlag aus. „Was ist passiert?“

„Es gab eine ... Explosion“, flüsterte Isabella stockend. Es fiel ihr sichtlich schwer, den Inhalt der Nachricht in Worte zu fassen. „Einen Hinterhalt. Viele ...“, sie brach ab und räusperte sich, „viele Verletzte. Tote.“

„Tote?“ Panik stieg in Alice hoch. „Ist er ...?“ Sie wagte nicht, es auszusprechen.

„Er hat schwere Brandwunden“, entgegnete Isabella mit brüchiger Stimme, „und sie wissen nicht, ob er ... ob er ...“

„Oh, Isabella“, sagte Alice leise und legte einen Arm um die bebenden Schultern ihrer Cousine. „Matthew ist stark. Er wird kämpfen. Er wird überleben.“ Sie war nicht sicher, ob sie die Worte mehr zu sich selbst oder zu ihrer Cousine sprach.

Isabella lehnte ihren Kopf an Alices Schulter. „Aber was, wenn nicht? Wenn er ...“ Ihre Stimme ging in haltlosem Schluchzen unter.

Alice zog ihre Cousine an sich und bemühte sich, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben. „Matthew wird wieder gesund, hörst du? Es wird alles gut. Du wirst sehen.“

„Ich muss zu ihm“, flüsterte Isabella. „Es tut mir leid, Alice, aber ich kann nicht hierbleiben. Ich muss zu ihm.“

„Selbstverständlich.“ Alice strich beruhigend über Isabellas Haar. „Mach dir keine Gedanken. Natürlich fährst du zu ihm. Ich würde dasselbe tun, ginge es um einen meiner Brüder.“

Isabella hob den Kopf und sah Alice aus verweinten Augen an. „Aber es wird Wochen dauern, bis Matthew die Rückreise antreten kann. Wenn er überhaupt ...“ Sie brach ab. Dann richtete sie sich auf, wischte sich mit einer entschlossenen Geste die Tränen aus dem Gesicht und sah Alice fest an. „Ich kann dich hier nicht so lange alleinlassen. Immerhin bin ich dein Chaperon.“

„Tante Jane ist Witwe“, erinnerte Alice ihre Cousine. „Sie kann an deiner statt meine Anstandsdame sein.“

„Aber Cousin William –“

Alice machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mit ihm komme ich schon zurecht.“

„Bist du sicher?“ Isabella sah sie zweifelnd an. „Er ist so ... so seltsam. Und er trinkt.“

„Ich bin sicher.“ Alice lächelte zuversichtlich. „Mach dir keine Sorgen um mich, Isabella. Fahr zu Matthew und kümmere dich um ihn, damit er rasch gesund wird. Und dann holt ihr mich ab, und wir fahren nach Hause.“

ZWEI

George Shade stand vor dem Spiegel in seinem Ankleidezimmer und brachte seine dunklen Haare mit etwas Pomade in Form, während er verdrossen an den Abend dachte, der vor ihm lag.

Ihm stand der Sinn nicht nach Gesellschaft, und er verspürte keinerlei Bedürfnis, einen ganzen Abend lang so tun zu müssen, als würde ihn auch nur im mindesten interessieren, was andere redeten. Aber was tat man nicht alles seiner einzigen Schwester zuliebe? Da sie keine verheiratete Tante oder andere Verwandte in Lèannoch hatten, die als Marys Anstandsdame fungieren konnte, musste er selbst wohl oder übel seine Schwester zu der einen oder anderen Veranstaltung begleiten, um ihr die Gelegenheit zu geben, einen netten jungen Gentleman kennenzulernen, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Mit ihren sechsundzwanzig Jahren war es ohnedies beinahe zu spät dafür.

Er trat zur Waschschüssel, wusch die Reste der Pomade von den Händen und schickte sich an, sein gestärktes blütenweißes Halstuch zu einem Mathematical zu knoten.

Der Tochter eines Earls gebührte eigentlich eine Saison in London. Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wüsste sie, dass Chesterton nicht bereit gewesen war, Mary auch nur eine einzige Saison in London zu bezahlen, und George konnte sich eine standesgemäße Saison für seine Schwester schlicht nicht leisten – insbesondere, da der alte Earl ihnen Chesterton House gewiss nicht zur Verfügung stellen würde und George daher ein Haus in Mayfair anmieten müsste. Die Ländereien, die zu Dunmuir Manor gehörten, warfen zwar genügend ab, um davon leben zu können, die Erträge waren jedoch bei weitem nicht ausreichend, um Kosten von mehreren Tausend Pfund für eine Londoner Saison zu decken.

Ganz zu schweigen davon, dass er sich weigerte, eine ganze Saison lang – drei Monate, wenn nicht mehr! – oberflächliche Höflichkeiten, nichtssagende Gespräche und den Londoner Klatsch und Tratsch ertragen zu müssen.

George griff nach seiner silbergrauen Weste. Himmel, es kostete ihn bereits Überwindung, sich für einen einzelnen Abend in Gesellschaft zu begeben und stundenlang wohlerzogenes, belangloses Geschnatter zu erdulden. Wie sollte er das über mehrere Wochen hinweg durchstehen? Das ging eindeutig zu weit, bei aller geschwisterlichen Liebe.

Es klopfte an seiner Schlafzimmertür.

„George?“, erklang die gedämpfte Stimme seiner Schwester.

Er schlüpfte in seinen anthrazitgrauen Frack und öffnete die Tür. „Wir können auf–“

„George, du musst ins Schulzimmer kommen!“

George kräuselte die Stirn. „Rebecca?“

Mary nickte. „Sie lässt sich nicht beruhigen, nicht einmal von mir.“

Er eilte an seiner Schwester vorbei durch die Eingangshalle zur Treppe. Kaum war er im ersten Stock angekommen, hörte er das Poltern von Gegenständen und Miss Tippets aufgeregt kreischende Stimme aus dem nächsten Stockwerk, gefolgt von einer weinerlichen Kinderstimme. George beschleunigte seinen Schritt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und betrat das Schulzimmer.

Ihm bot sich ein Anblick der Verwüstung. Die Stühle waren umgestoßen, Spielsachen lagen in wildem Durcheinander auf dem Boden, als wären sie wahllos umhergeworfen worden. George duckte sich geistesgegenwärtig, um nicht von einem Ball getroffen zu werden, der mit einem dumpfen Geräusch hinter ihm im Korridor aufschlug und davonrollte.

Inmitten der Unordnung stand eine Dame in einem hochgeschlossenen braunen Kleid, die grauen Haare im Nacken zu einem schlichten Knoten gesteckt, und schrie Georges achtjährige Tochter an, die mit zornigem Gesicht unartikulierte Laute ausstieß. Tristan saß auf seinem geliebten Schaukelpferd, für das er mit seinen fünf Jahren eigentlich schon etwas zu groß war, und weinte vor sich hin.

George zog die Augenbrauen zusammen. „Miss Tippet, was geht hier vor?“

Die Gouvernante fuhr herum, ihre Wangen gerötet. „Dieses ... dieses ...“ Mit wutentbranntem Gesicht deutete sie auf seine Tochter, brach jedoch ab, als sie Georges finstere Miene sah.

Rebeccas Stoffpuppe flog gegen die Wand und fiel zu Boden.

„Wirst du wohl aufhören!“ Miss Tippet packte das Kind am Arm und gab ihm eine Ohrfeige.

Rebecca hielt inne und starrte Miss Tippet erschrocken an. Im nächsten Moment schossen Tränen in ihre großen blauen Augen und liefen über ihre Wangen.

„Genug“, herrschte George die Gouvernante an.

Mit einem kehligen Schrei riss Rebecca sich von Miss Tippet los, lief zu George und umklammerte weinend seine Hüfte. Er richtete einen der umgeworfenen Stühle auf, setzte sich, hob seine Tochter auf seinen Schoß und zog sie an sich. Rebecca schlang ihre Arme um seinen Hals und vergrub ihr tränennasses Gesicht an seiner Schulter. Ihr ganzer Körper bebte vor Schluchzen.

Aus den Augenwinkeln sah George seine Schwester ins Zimmer kommen und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Den Eröffnungstanz würden sie auf diese Weise versäumen, doch er konnte seine Tochter in dem aufgewühlten Zustand, in dem sie sich befand, nicht einfach ihrer aufgebrachten Gouvernante überlassen.

Mary erwiderte seinen Blick mit einem stummen Nicken, nahm Tristan an der Hand und ging mit ihm in das angrenzende Kinderschlafzimmer, um ihm weitere Aufregung zu ersparen, die ihn ohnedies nicht betraf.

George gab seiner Tochter einen Kuss auf ihre dunklen Locken und sah über ihren Kopf hinweg Miss Tippet scharf an. „Sie sind entlassen.“

Miss Tippets Augen weiteten sich. „Aber ich –“

„Ich denke, ich hatte mich bei Ihrer Einstellung klar ausgedrückt“, unterbrach George sie brüsk. „Keine körperliche Züchtigung meiner Kinder.“

„Mr. Shade. Mylord.“

George zuckte unmerklich zusammen. Wie alle seine Dienstboten und Angestellten wusste auch Miss Tippet nur zu gut, wie sehr er es hasste, mit seinem Höflichkeitstitel angesprochen zu werden. Dass sie es dennoch tat, noch dazu in einem unangemessen provokanten Ton, zeigte ihr Ausmaß an Empörung über die Ungerechtigkeit, die ihr ihrer Meinung nach soeben widerfuhr.

Miss Tippet richtete sich kerzengerade auf, atmete tief ein und blies langsam die Luft aus, sichtlich um Fassung ringend. „Ihre Tochter ist das unbändigste, wildeste Kind, das mir je begegnet ist, und ich habe weiß Gott viele Kinder erzogen!“ Sie reckte ihr Kinn vor. „Ich bin nicht länger bereit, mir das hier“, sie deutete mit einer ausladenden Geste auf die umhergeworfenen Gegenstände, „bieten zu lassen. Dieses Kind“, sie zeigte auf Rebecca, „braucht keine Gouvernante, sondern einen Zuchtmeister!“

„Hüten Sie Ihre Zunge“, knurrte George.

Sie bückte sich und griff nach ihrem Schultertuch, das unter einem der umgeworfenen Stühle lag. Erhobenen Hauptes stolzierte sie an George vorbei zur Tür. „Es ist nicht nötig, mich zu entlassen“, warf sie über ihre Schulter hinweg zurück. „Ich kündige!“

Mit diesen Worten war sie aus dem Zimmer verschwunden. George hörte, wie ihre Schritte im Korridor verhallten, und seufzte. Die fünfte Gouvernante in diesem Jahr. Oder war es bereits die sechste?

Eine hagere Gestalt mit schlohweißem Haar erschien im Türrahmen. Henderson hatte im Lauf seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Butler ein untrügliches Gespür dafür entwickelt, zur rechten Zeit zu erscheinen, um Aufträge entgegenzunehmen – eine Eigenschaft, die George neben seiner Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit besonders an ihm schätzte.

„Finden Sie eine neue Gouvernante, Henderson. So rasch wie möglich.“

„Gewiss, Sir.“

„Vorzugsweise jemanden mit Geduld und Standhaftigkeit“, fügte George hinzu. „Ich habe genug von empfindlichen Damen, die mit einer temperamentvollen Achtjährigen überfordert sind.“

„Sehr wohl, Sir.“ Henderson deutete eine Verbeugung an und verschwand.

Rebecca zog an Georges Ärmel und sah ihn fragend an.

„Miss Tippet wird nicht wiederkommen.“ George machte eine Handbewegung in Richtung Tür, als würde er jemanden des Zimmers verweisen, und hoffte, dass Rebecca verstand, was er damit meinte. Dann zog er sein Taschentuch hervor und trocknete sanft ihre Tränen. „Was soll ich nur mit dir machen“, murmelte er.

George verstand die Wut seiner Tochter. Rebecca sah tagtäglich, wie die Menschen um sie herum sich auf eine Art und Weise verständigten, die sie nicht nachvollziehen konnte, so sehr sie sich auch bemühte, den Schlüssel dazu zu finden. Zugleich wuchs in ihr das Bedürfnis, sich den Menschen in ihrer Umgebung mitzuteilen, je älter sie wurde. Es musste unglaublich frustrierend sein, sich nicht ausdrücken zu können, nicht verstanden zu werden und keine Möglichkeit zu haben, etwas daran zu ändern. Es war kaum verwunderlich, dass sie aus Verzweiflung über ihre eigene Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit immer ungestümer und jähzorniger wurde – bis die aufgestaute Wut so groß wurde, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als ihre Wut an den Gegenständen in ihrer Nähe auszulassen.

Rebecca legte ihre Handflächen zusammen, klappte sie auf, als würde sie ein Buch öffnen, und sah ihn bittend an. George nickte lächelnd und nahm eines der Bücher, die auf dem Tisch lagen. Es enthielt kurze Kindergeschichten, die mit Holzschnitten illustriert waren.

Er schlug das Buch auf und begann zu lesen, während seine Tochter sich wie stets an ihn schmiegte und ihren Kopf an seine Brust legte. George war nicht sicher, weshalb sie das tat. Er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte, aber möglicherweise spürte sie die Vibration seiner Stimme in seiner Brust.

Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich. Auf Zehenspitzen trat Mary ins Schulzimmer und schloss die Tür leise hinter sich. „Tristan schläft“, sagte sie. „Soll ich Rebecca zu Bett bringen?“

George schüttelte den Kopf. „Schicke nach Kitty. Es ist schon spät. Wir sollten aufbrechen.“

Mary nickte und eilte aus dem Zimmer. Wenige Minuten später huschte ein junges Dienstmädchen herein. George gab seiner Tochter einen Gutenachtkuss und sah ihr schweren Herzens nach, als sie zusammen mit dem Dienstmädchen das Zimmer verließ.

Was sollte nur aus ihr werden, wenn sie erwachsen war? Rebecca war bildhübsch, wie ihre Mutter – dieselben unergründlichen blauen Augen, dasselbe bezaubernde Lächeln, dieselben zarten, ebenmäßigen Gesichtszüge. Lediglich Beas goldene Locken hatte sie nicht geerbt, sondern sein dunkles Haar, das in einem faszinierenden Kontrast zu ihrer porzellanweißen Haut und den blauen Augen stand.

Die jungen Gentlemen würden ihr eines Tages zu Füßen liegen – bis sie feststellten, dass sie nicht hören und sprechen konnte. Rebecca würde niemals eine eigene Familie haben. Kein Gentleman würde das Risiko eingehen, dass seine eigenen Kinder, allen voran sein Erbe, ebenfalls taub und stumm sein könnten.

George seufzte. Wenn er nur wüsste, wie er ihr helfen konnte. Ihm fehlte schlicht die Zeit, sich eingehend um seine Tochter zu kümmern, den Gouvernanten fehlte die Geduld, und seine Schwester bemühte sich zwar, so gut sie konnte, war jedoch in einem Alter, in dem sie längst selbst heiraten und eine Familie gründen sollte, statt sich um die seine zu kümmern.

Er war ratlos, was er tun sollte. Er wusste nur eines: So konnte es nicht weitergehen.

DREI

„Alice!“, erklang die Stimme ihrer Tante aus dem Wohnraum herauf. „Beeile dich, du verpasst sonst den Eröffnungstanz!“

„Ich komme“, rief Alice zurück und warf einen letzten kritischen Blick in den kleinen Spiegel. Ihr Aussehen war passabel, wenn auch weit entfernt von Londoner Maßstäben. Notgedrungen hatte sie auf ein Korsett verzichtet – sie konnte es nicht selbst im Rücken schnüren, und Tante Jane vermochte es mit ihren gekrümmten Fingern ebenso wenig –, und das zartblaue Abendkleid mit goldgelben Stickereien passte zwar hervorragend zu ihrem goldblonden Haar, war aber nicht gänzlich geeignet für einen Ball. Der knöchellange Rock würde beim Tanzen hinderlich sein, aber in Ermangelung eines Ballkleides würde es seinen Zweck wohl erfüllen. Ihr einziger Schmuck bestand aus einer filigranen Goldkette mit tropfenförmigen Aquamarinen, anderen Schmuck hatte sie auf ihre Reise nicht mitgenommen. Ihr Haar hatte sie zu einer einfachen Frisur aufgesteckt.

In London hätten sie gehässige junge Damen wohl ein Landei geheißen und sich ob ihrer schlichten Erscheinung über sie lustig gemacht, aber für einen Tanzabend in den schottischen Highlands genügte ihr Aussehen gewiss allemal.

Alice streifte ihre langen weißen Handschuhe über, nahm ihr Retikül und stieg die schmale Stiege in den Wohnraum hinab, wo Tante Jane und William bereits warteten.

„Du siehst hinreißend aus, meine Liebe“, rief Tante Jane und humpelte Alice mit ausgestreckten Armen entgegen.

Tante Jane hatte sich große Mühe gegeben, sich im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten dem Anlass und ihrer Rolle als Chaperon entsprechend zu kleiden, dennoch war ihrem Kleid anzusehen, dass es noch aus dem vorigen Jahrhundert stammen musste. Der helle Leinenstoff, bedruckt mit zarten moosgrünen Blattranken und weinroten Blüten, war hübsch, jedoch äußerst altmodisch, und die ursprünglich tiefsitzende Taille des Oberteils war nachträglich angehoben worden.

„Sieht deine Cousine nicht bezaubernd aus, William?“, rief Tante Jane über die Schulter hinweg ihrem Sohn zu.

William brummte etwas Unverständliches und würdigte Alice kaum eines Blickes. Er war nicht als Gast geladen, sondern würde lediglich seine Mutter und Alice in einem für den Abend von Nachbarn geliehenen Wagen zum Sommernachtsball fahren, was wohl auch der Grund für seinen missmutigen Gesichtsausdruck war, mit dem er soeben in sein Glas Brandy starrte. Allerdings konnte man von Miss Sinclair, die immerhin die Tochter eines Baronets war, nicht erwarten, einen einfachen Schulmeister auf ihre Gästeliste zu setzen. Bälle dienten schließlich nicht nur der Unterhaltung, sondern auch dazu, passende Partien für die unverheirateten jungen Damen zu finden, und ein Schulmeister aus bescheidenen Verhältnissen galt in den Augen der besseren Gesellschaft wohl kaum als passende Partie.

„Du wirst das hübscheste Mädchen auf dem Ball sein“, fuhr Tante Jane unterdessen unbeirrt fort, ergriff Alices Hände und musterte sie von Kopf bis Fuß. „Sämtliche Gentlemen werden mit dir tanzen wollen. Du wirst kaum zu Atem kommen!“

„Anstrengender als die Londoner Saison kann es kaum werden“, erwiderte Alice leichthin. Eine durchtanzte Nacht war für sie beileibe nichts Ungewöhnliches.

Tante Jane nickte zustimmend. „Ich erinnere mich nur zu gut. Die rauschenden Feste, die Morgenbesuche und Dinnerpartys und Kostümbälle ... und diese herrliche Eiscreme im Pot and Pine Apple!“ Ein schwärmerischer Ausdruck trat in ihre Augen. „Gibt es das Pot and Pine Apple noch?“

„Es heißt jetzt Gunter’s Tea Shop“, erwiderte Alice und musterte ihre Tante mit unverhohlener Verwunderung. Es fiel ihr schwer, sich ihre Tante inmitten rauschender Feste und Dinnerpartys vorzustellen.

Tante Jane lachte. „Ich war auch einmal jung, meine Liebe. Oh, wenn ich an damals denke! Einkaufstouren auf der Bond Street ... Kutschfahrten im Hyde Park ... romantische Spaziergänge in den fackelerleuchteten Vauxhall Gardens ...“

„All die durchtanzten Nächte und Kutschfahrten und Spaziergänge in Vauxhall haben mir bislang allerdings wenig genutzt“, entgegnete Alice bitter.

„Das macht doch nichts.“ Ihre Tante machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nicht jedes Mädchen findet bereits auf seiner ersten Saison einen geeigneten jungen Gentleman.“

„Es war aber nicht meine erste Saison“, erwiderte Alice zerknirscht, „sondern meine zweite.“

„Die zweite?“ Tante Jane hob überrascht die Augenbrauen, und Alice schluckte das aufsteigende Schamgefühl hinunter. „Ein junges, hübsches Mädchen wie du ... Wie hoch ist deine Mitgift, Liebes?“

„Viertausend Pfund“, gab Alice bereitwillig Auskunft. Die Höhe der Mitgift einer jungen Dame war schließlich kein Geheimnis, im Gegenteil – war sie doch ein schlagkräftiges Argument auf dem Heiratsmarkt.

„Viertausend Pfund.“ Ihre Tante spitzte anerkennend die Lippen. „Das ist nicht wenig.“

„Jedenfalls weniger, als Miss Ingram hatte“, murmelte Alice mehr zu sich selbst und verscheuchte rasch die Erinnerung. Sie war schließlich nach Schottland gereist, um Sir Godfrey, Miss Ingram und den hämischen Klatsch der Londoner Gesellschaft hinter sich zu lassen und ihr gebrochenes Herz zu heilen. Sofern dies überhaupt möglich war.

„Ach, Mädchen.“ Tante Jane seufzte mitfühlend. „Ich bin sicher, viele junge Gentlemen würden sich glücklich schätzen, wenn ihre Braut eine Mitgift von viertausend Pfund in die Ehe mitbrächte. Bei fünf Prozent Verzinsung ergibt das immerhin ein zusätzliches jährliches Einkommen von ...“ Sie zog ihre Stirn in Falten, während sie nachrechnete.

„Zweihundert Pfund“, kam William seiner Mutter zuvor. Er nahm einen Schluck Brandy und ließ seinen Blick mit unverhohlenem Interesse über das Glas hinweg langsam an Alice hinabgleiten. Über Alices Rücken lief ein Frösteln.

Tante Jane ergriff Alices Hand und drückte sie. „Mach dir keine Sorgen, Liebes. Du hast noch jede Menge Zeit, den Richtigen zu finden.“

„Ich bin schon zwanzig“, erwiderte Alice. Wenige Jahre noch, und sie würde als alte Jungfer gelten.

„Zwanzig Jahre, du meine Güte. Was gäbe ich darum, noch einmal so jung zu sein.“ Ihre Tante lächelte verträumt und tätschelte ihre Wange. „Du wirst bestimmt bald einen charmanten jungen Gentleman kennenlernen, der sich unsterblich in dich verliebt.“

„Romantischer Unsinn“, murmelte William in sein Glas.

Tante Jane ignorierte den Einwurf und lächelte Alice aufmunternd an. „Du wirst schon sehen. Wer weiß, vielleicht begegnest du diesem jungen Mann sogar hier in Schottland?“

Sie warf ihrem Sohn einen vielsagenden Blick zu, und Alice unterdrückte ein Lachen. Cousin William? Nur über ihre Leiche.

Tante Jane beugte sich zu ihr, als wolle sie ihr ein Geheimnis anvertrauen. „Halte dich nur von Lord Hades fern“, flüsterte sie verschwörerisch.

Alice sah ihre Tante irritiert an. Weshalb sollte sie sich von einem Mann fernhalten, dem sie noch nie begegnet war? Seltsam. Es sei denn ...

„Wird Lord Hades denn auch auf dem Ball sein?“ Alice bemühte sich redlich, ihre Aufregung zu überspielen. Sollte sie etwa endlich die Gelegenheit bekommen, Lord Hades mit eigenen Augen zu sehen?

Ihre Tante zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise. Miss Sinclair war eng mit Lady Shade befreundet. Sie und Lord Hades kennen sich seit vielen Jahren. Aber keine Sorge,“ Tante Jane legte beruhigend eine Hand auf Alices Arm und zwinkerte ihr zu, „William wird dich vor ihm beschützen.“

Welch ein Glück. Alice lächelte huldvoll, während sie über Lord Hades und Miss Sinclair nachdachte. Da stimmte doch etwas nicht. Eine junge Dame, die den Mörder ihrer Freundin zu einem Ball einlud? Wohl kaum.

Aber wenn Lord Hades nicht der Mörder seiner Gemahlin war, weshalb setzte er dann nicht alles daran, die Gerüchte über sich zu entkräften? Höchst mysteriös.

Zum Glück hatte Alice genügend Schauerromane gelesen, um über alles bestens Bescheid zu wissen – über böse Schurken und tapfere Helden; über Schurken, die sich als Helden herausstellten, und Helden, die sich als Schurken herausstellten; über Täuschungsmanöver und falsche Fährten; über Verwünschungen, Flüche und übersinnliche Fähigkeiten ...

Nun gut, übersinnliche Fähigkeiten besaß Lord Hades wohl trotz seines Beinamens nicht. Aber sie wollte nicht länger Alice Landon heißen, wenn sie nicht wenigstens versuchen würde, dieses Rätsel zu lösen!

***

Keine halbe Stunde später betrat Alice an Tante Janes Arm die hell erleuchtete Terrasse von Sinclair House, wo ein Lakai mit weißgepudertem Haar und goldblauer Livree das Eintreffen der neuen Gäste mit lauter Stimme verkündete und Lady Sinclair und ihre Tochter sie liebenswürdig begrüßten.

Alice sah sich verblüfft um. Sie war davon ausgegangen, dass der Ball im Salon oder allenfalls vorhandenen Ballsaal von Sinclair House stattfinden würde, doch sie hatte sich geirrt. Auf der Terrasse warteten Tische mit allerlei Erfrischungen, Obstkörben und Etageren mit Süßspeisen und Konfekt auf die Gäste, und am Fuß der steinernen Freitreppe, die von der Terrasse in den Garten führte, war eine Tanzfläche aus polierten Holzplanken errichtet worden, in deren Mitte ein hübsches Kreidemuster aus Efeu- und Rosenranken das Familienwappen der Sinclairs umrahmte: Eine goldene Mondsichel auf nachtblauem Grund.

Wie gebannt ließ Alice den Blick über die Szenerie schweifen. Zahllose bunte Papierlaternen hingen an Seilen über dem Tanzparkett und in den umstehenden Zierbäumen und tauchten den nächtlichen Garten in ein märchenhaftes Licht. In einiger Entfernung entdeckte Alice einen künstlich angelegten See, auf dem unzählige Kerzen schwammen und die Wasserfläche zum Erstrahlen brachten, als wäre sie flüssiges Gold.

Eine Weile stand Alice wie verzaubert da. Schließlich riss sie sich von dem Anblick los und wandte ihre Aufmerksamkeit den Gästen zu, die bereits eingetroffen waren. Ob sie einige der Gäste kannte? Und ... ob Lord Hades darunter war?

Neugierig musterte Alice die jungen und älteren Damen und Herren, die sich in kleinen Grüppchen am Rand der Tanzfläche unterhielten, während sie an Tante Janes Arm die Freitreppe hinabschritt.

Da waren Mr. und Mrs. Abbott von Aspen Grove, einem der größten Landsitze dieser Gegend nach Dunmuir Manor und Sinclair House, zusammen mit Miss Abbott und Miss Charlotte Abbott; Mr. Campbell, der junge Arzt mit dem herzlichen Lächeln, den Tante Jane immer noch nicht konsultieren wollte, obwohl ihr Husten sich nicht gebessert hatte; Sir Robert Sinclair, der sich soeben mit Captain Hutton unterhielt, einem breitschultrigen Gentleman in blauer Kavallerieuniform, den Alice als unangenehm schroff und wortkarg in Erinnerung hatte; Reverend Dawson, Mrs. Dawson sowie Miss Dawson, anderen Seite sich ein junger Offizier in roter Infanterieuniform befand – wenig überraschend, war Lieutenant Lambert doch mit Miss Dawson verlobt; zwei junge Herren, die etwas abseits standen und den beiden Misses Abbott von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke zuwarfen; und zuletzt ein älteres, äußerst elegant gekleidetes Ehepaar und ihre Tochter in fliederfarbenem Kleid, deren Ähnlichkeit zu den beiden jungen Gentlemen sie leicht als Geschwister zu erkennen gab.

Doch weit und breit keine Spur von einem griesgrämigen alten Mann, der auch nur ansatzweise widerwärtig genug wirkte, um den Eindruck zu erwecken, er wäre dazu imstande, seine liebreizende junge Gemahlin in sein finsteres Verlies zu werfen.

Zwei Countrydances und einen schottischen Reel später fand Alice sich damit ab, dass ihre Hoffnung, an diesem Abend endlich Lord Hades kennenzulernen, vergeblich gewesen war. Zu dumm! Wie sollte sie auf diese Weise herausfinden, was der armen Lady Shade zugestoßen war, bevor sie aus Schottland abreiste?

Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen, während sie sich mit den beiden Misses Abbott, Miss Dawson und der jungen Dame in fliederfarbenem Kleid, die ihr als Miss Sinclairs Cousine Lady Penelope Forsythe vorgestellt worden war, über die romantische Fortsetzungserzählung des ‚blauen Ritters‘ unterhielt, die in der neuesten Ausgabe des Lady‘s Magazine ihr tragisches Ende gefunden hatte.

„Wenn Lady Elfrida Woodville in Lord de Courcy doch nur eher den blauen Ritter erkannt hätte, dann wäre Sir Edwin nicht –“ Miss Abbott brach ab und deutete mit dem Kinn nach oben. „Scheint, als käme noch ein verspäteter Gast.“

Neugierig spähte Alice zur Balustrade der Terrasse. Der Lakai in weißgepuderter Perücke und blaugoldener Livree war an die Brüstung getreten.

„Der sehr Ehrenwerte Viscount Shade und Lady Mary Shade“, verkündete er mit lauter Stimme über die Köpfe der Ballgäste hinweg.

Augenblicklich verstummten die Gespräche, und eine geheimnisvolle Stille legte sich über die soeben noch fröhliche Gesellschaft – beinahe, als hätte sie ein plötzlicher Zauber in den Bann geschlagen.

Eine hübsche dunkelhaarige Dame in lindgrünem Taft trat an die Balustrade.

Alice zog die Augenbrauen zusammen. „Ist es nicht schrecklich unhöflich, zu spät –“

Neben Lady Mary erschien ein hochgewachsener Gentleman in anthrazitgrauem Frack und silbergrauer Weste.

Alice erstarben die Worte auf den Lippen. Das war Lord Hades?

VIER

George ließ seinen Blick über die emporgewandten Gesichter schweifen und konnte nicht umhin, ein gewisses Gefühl der Befriedigung zu empfinden. Wenn ihm etwas an gesellschaftlichen Anlässen gefiel, dann der Moment seines Erscheinens. Die Mischung aus Verblüffung und Entsetzen in den Mienen der Anwesenden war jedes Mal aufs Neue höchst unterhaltsam.

„Es sind weniger Gäste da, als ich erwartet hatte“, bemerkte er. „Zum Glück.“

George hätte durchaus nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn Mary und er die einzigen Gäste gewesen wären, was allerdings den Zweck ihres Besuches ad absurdum geführt hätte. Mary musste dann und wann an gesellschaftlichen Anlässen teilnehmen, um einen geeigneten Gentleman kennenzulernen.

Seine Schwester legte ihre Hand auf seinen Arm. „Vergiss nicht, was du mir versprochen hast.“

„Keine Beleidigungen, keine Drohungen, keine zynischen Bemerkungen“, wiederholte er sein Versprechen. „Ich werde ein mustergültiger Chaperon sein. Aber erwarte nicht von mir, dass ich mich amüsiere.“

„Das erwarte ich nicht“, erwiderte Mary mit einem nachsichtigen Lächeln, „dafür kenne ich dich zu gut.“ Sie drückte sanft seinen Arm. „Danke trotzdem – oder vielmehr gerade deshalb.“

George nickte. Seine Schwester wusste nur zu gut, wieviel Überwindung es ihn kostete, sich in Gesellschaft zu begeben. Eine Gesellschaft, die nichts anderes in ihm sah als den Mörder seiner Ehefrau, und die nur darauf wartete, dass endlich die Wahrheit ans Licht kam. Doch das würde nicht geschehen. Nicht, solange er es verhindern konnte.

Sein Blick wanderte von Reverend Dawson und dessen Ehefrau zu einer Gruppe junger Damen – und er erstarrte.

Honigblonde Locken.

Einen Augenblick lang sah er Bea vor sich, wie sie ihr Gesicht zu ihm hob und ihn anlächelte, mit diesem unbeschreiblichen, einzigartigen Lächeln, mit dem sie ihn von ihrer ersten Begegnung an verzaubert hatte. Und wie immer versetzte ihm die Erinnerung einen Stich.

Doch der blonde Lockenkopf dort unten auf der Tanzfläche war nicht Bea. Natürlich nicht. Bea war tot.

Abrupt wandte er sich ab.

***

Alice starrte ungläubig zu dem dunkelhaarigen Gentleman empor, der an der Balustrade der Terrasse stand und seinen Blick über die Anwesenden schweifen ließ.

Wie hatte sie sich Lord Hades noch gleich vorgestellt? Mit schütterem grauem Haar, Hakennase und einem grausamen Zug um den Mund. Der Mann dort oben an der Brüstung hätte von dieser Vorstellung nicht weiter entfernt sein können.

„Sieht er nicht umwerfend aus?“, flüsterte Miss Charlotte mit unverhohlener Bewunderung in der Stimme.