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Der alte Herr von Boddin auf Pelchow in Neu-Vorpommern, ein Original, wie es heutzutage kaum mehr eines gibt, hat so toll in sein Vermögen hineingewirtschaftet, dass ihm, obgleich seine Nichte Anne-Marie von Lebzow, die er als arme Waise zu sich genommen hat, nach Kärften den Zusammensturz seiner Verhältnisse aufzuhalten sucht, in Person seines Neffen Kurt von Boddin, im Namen der bei Gericht klagenden Erben ein Verwalter auf das Gut gesetzt wird. Je schärfer der zuerst als superklug auftretende Kurt auf Besserung der wirklich immensen Schäden dringt, desto heftiger wird allerdings die Opposition des Onkels ...
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ein Friedensstörer
VICTOR BLÜTHGEN
Ein Friedensstörer, V. Blüthgen
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849663704
Druck: Bookwire GmbH, Voltastr. 1, 60486 Frankfurt/M.
www.jazzybee-verlag.de
1.1
2.16
3.26
4.37
5.47
6.59
7.74
8.89
Die klare Herbstsonne schien auf Pelchow so warm, wie sie nur je einem vorpommerschen Gutsdorfe den Nachgeschmack des Sommers gespendet. Freilich stand sie im Augenblicke auf der Höhe ihrer Mission; denn es war gegen drei Uhr Nachmittags. Bei der kristallenen Klarheit, welche die Luft in dieser Jahreszeit namentlich in Gegenden hat, wo die Nähe der See sich bemerklich macht, gewinnt der ungedämpfte Sonnenschein leicht etwas Blendendes, und wohl darum zog das junge Mädchen, welches vom Herrenhause her über den Gutshof schlenderte, an einer Gummischnur den vordern Rand des gelben Schwingers thunlichst tief über das hübsche, lebhaft gefärbte Gesicht.
Sie nahm den Weg zum Dorfausgange, über uraltes holpriges Steinpflaster, zwischen dessen Ritzen in dreister Ueppigkeit Gras, Löwenzahn und Wegebreit wucherten; rechts die Verbalkung des Kuhringes, links ein gänzlich sich selbst überlassnes Stück Land, das die ziemlich verfallene und verbröckelte Lehmmauer des Gutes abschloß. Der Kuhring war leer; die Kühe konnte man weit jenseits des Hofes im Wiesenlande beobachten, wo sie eingekoppelt mit erhobenen Schwänzen herumgaloppirten oder friedlich weideten. Nur Spatzen, Tauben und Hühner trieben sich in dem Ringe umher, in diesem Augenblick das einzige Lebendige, welches die junge Dame auf dem Hofe gewahrte; denn die Störche, welche während des Sommers das halbe Dutzend struppiger Nester auf den Scheunen und Ställen da oben bewohnt hatten, waren bereits vor geraumer Zeit auf die Wanderschaft gegangen. Das öde Stück Land links, zwischen Herrnhaus und Mauer, war durch Nesseln fast unzugänglich; dieselben beschützten mit ihrer abschreckenden Eigenschaft ein paar Obstbaumruinen, welche kaum noch Blätter, geschweige denn Früchte trugen, und gegen die Mauer hin eine Wucherung fettstrotzender Hollundersträucher, deren bläulichdunkles Grün den bekannten fatalen Geruch bis zu der Spaziergängerin herüberströmte.
Ihr feines Näschen, das nur ein wenig kurz gerathen war, zuckte denn auch mißmuthig, während die muntern braunen Augen mit Wohlgefallen dem Fluge etlicher Nesselfüchse und Pfauenaugen folgten; die Finger machten sogar einmal den Versuch, eines der letztern einzufangen, wiewohl vergeblich. Diese Finger waren gut geformt, verriethen aber den Einfluß von Luft und Sonne; denn sie zeigten die Farbe leicht angerauchten Meerschaums. Eine andere Handbekleidung als diese Halbhandschuhe aus Zwirnmaschen, wie sie jetzt den vom Aermel nicht bedeckten Unterarm schützten, hatte die junge Dame wohl nur ausnahmsweise getragen.
Sie trat durch den Thorweg, dessen in Ziegel aufgemauerte Pfeiler durch zwei stattliche Findlingsblöcke aus Granit als Prellsteine geschützt waren; von den nicht so gut verwahrten Pfeilerköpfen war der eine herabgestürzt, das Material bis auf den Rumpf des Sandsteinlöwen, der in Gras und Nesseln halb verborgen ruhte, verschleppt worden. Der andere Löwe hatte seinen Platz behauptet, zeigte sich aber – vermuthlich durch Steinwürfe der Jugend - bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Alles trug den Charakter des Ruinenhaften, selbst die Thorflügel, deren halb vermorschtes aschgraues Holz mit grünglänzendem Moose bewachsen war und an ein paar Stellen in breiten Lücken klaffte.
Für das junge Mädchen hatte das offenbar nichts Befremdliches. Mit der heiteren Unbekümmertheit ihrer Jahre – sie konnte deren kaum mehr als achtzehn zählen – summte sie irgend etwas vor sich hin, während der Mund wiederholt wie von einem munteren Einfall in leisem Lächeln zuckte und die braunen Augen nach Art von Kinderaugen, bald hier, bald da, an irgend etwas Unbedeutendem hafteten, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie schritt links an den verwitterten Kopfweiden eines Tümpels hin, dessen tintenfarbenes Wasser zur Hälfte mit Wasserlinsen bedeckt war, wogegen zur Rechten aus einem sumpfigen Terrain die Stämme von Eschen, Erlen und Birken ragten, die Blätter bereits von den Farben des Herbstes angekränkelt.
Am Teiche saßen Kinder und belustigten sich damit, Klümpchen von dem tief ausgefahrenen Erdreich des Weges loszubröckeln und sie nach den Enten zu werfen, welche zwischen den Wasserlinsen schnatterten.
„Fräulein Anne-Marie, Fräulein Anne-Marie!“ rief es plattdeutsch aus der Gesellschaft, und eines der Mädchen, ein dralles, barfüßiges Ding von etwa fünf Jahren, sprang zu der Nahenden her und sah sie aus den großen blauen Augen halb verlegen, halb vergnügt an.
„Na, Dirning, wie geht es Dir? Du bist schon lange nicht auf dem Hofe gewesen. Gott bewahre, wie siehst Du aus! Den halben Syrup hat sie wieder im Gesicht.“
„Ich kann’s auch noch, Frölen,“ nickte das flachshaarige Ding und machte ganz verschmitzte Augen dazu.
„So? Na, da sag’s mal auf!“
Und ohne Stocken plapperte das Kind:
„Gösselken, Glattsnut,
Süht so gel as Rapp ut,
Het ’n Kleed von Sanftmanschester;
Schenk mi dat för mine Swester!“
„Siehst Du, was Du klug bist, Frieding! Du mußt nun wohl bald zum Herrn Mederow in die Schule gehen. Wenn Du wieder zu mir auf den Hof kommst, sollst Du was Neues lernen. Wo hast Du denn Lütt-Jehann heute gelassen?“
„Da,“ sagte die Kleine, nachdem sie den Finger aus dem Munde genommen, und deutete zu einem dürftigen kleinen, vielleicht anderthalbjährigen Geschöpf hinüber, welches auf dem Bauche im Grase lag und das junge Mädchen aus großen Augen wie ein Meerwunder anstarrte.
Die nicht allzu schlanke, blühende und doch unbewußt vornehme Gestalt glitt mit einer weichen Bewegung nieder, um den ziemlich schmutzigen Lütt-Jehann auf die andere Seite zu drehen, worauf sie ihn nach einer weiteren Anstrengung glücklich zum Sitzen brachte.
„Wie der Junge gewachsen ist!“ rief sie mit naivem Staunen. „Wie kann so ’n kleiner Kerl in ein paar Monaten so wachsen! Aber ein kleines Ferkel bist Du, mein süßes Pathchen, und ich wollte Dich wohl gern abwaschen, wenn ich nicht vorher wüßte, daß Du fünf Minuten nachher gerade wieder so aussehen würdest, wie jetzt. Na, Adschüs, Frieding, und laß Deinen Bruder nicht in’s Wasser fallen, und ihr Kropzeug: werft mir die Enten nicht todt, sonst fliegen sie in den Himmel und verklagen Euch beim lieben Gott.“
„Adschüs, Frölen Anne-Marie!“ scholl es hinter ihr drein, immer vollstimmiger, immer lauter und lustiger, und gleich drauf patschten wieder ein paar Erdklumpen in das hoch aufspritzende Wasser.
Die junge Dame schritt lächelnd den Weg zwischen den Häuschen des Dorfes hin. Die niedrigen Hütten, strohgedeckt, zum Theil sichtlich sehr alt, gehörten sämmtlich zum Gute und wurden von dessen Arbeitern bewohnt: das war für jeden aufmerksamen Beobachter außer Zweifel, der ähnliche Gutsdörfer in der Gegend einmal studirt. Zwischen Fachwerk und Lehm, mit mehr oder weniger sauberem Anstrich, überall dieselben niedrigen Fenster, grüne, halbblinde Butzenscheiben, dahinter wohl die rothe Blüthe von Geranium oder die lichtere von Nelken. Nur die Schmiede, zugleich Stellmacherei oder Radmacherei, wie man hier sagt, und Tischlerei, zeichnete sich durch ihre aparte Form aus: zum Hause kam noch die angebaute Werkstatt mit dem überdeckten Schuppen daneben und einem Unterstandsdache vor der halben Front.
In der Thür der Werkstatt stand eine Frau; sonst war die Dorfstraße wie ausgestorben: es war Herbstbestellung draußen, dazu der Anfang der Grummetmahd. Die Frau hatte ein rothes geblümtes Kopftuch übergebunden, und ihre Kleidung war die einer einfachen Städterin. Sie sprach noch ein paar Worte in den Raum hinein, aus welchem der knirschende Ton des Hobels drang, wandte sich dann herum und kam lebhaft die niedrige Böschung heruntergesprungen, als sie die junge Dame gewahrte.
„Guten Tag auch, gnädiges Fräulein; ich wollte eben einen Gang zu Ihnen thun; nun kann ich’s wohl gleich unterwegs abmachen.“
Sie reichte der Ankommenden vertraulich die Hand; war sie doch mit ihr als Pflegerin der Zwölfjährigen nach Pelchow gekommen und in dieser Stellung verblieben, bis sie den Radmacher, das Gutsfactotum, geheirathet hatte, und bei Lütt-Jehann, ihrem Jüngsten, hatte Anne-Marie von Lebzow Gevatter gestanden.
„Habt Ihr etwas auf dem Herzen, Radmacherin?“ fragte die junge Dame. „Ich will ein Bischen in’s Holz hinauf gehen, und Ihr könnt mich ja ein Stück begleiten; da wollen wir’s besprechen. – Ah, guten Tag, Herr Mederow!“
Aus dem schmalen Wege, der hinter der Schmiede herum führte, stieß eine dritte Person zu der Gruppe, eine lange, schmächtige Figur in ziemlich abgeschabtem schwarzem Anzuge, welche eilfertig einen ungewöhnlich hohen alten Cylinderhut vom Kopfe riß und sich ein paarmal so tief verbeugte, daß die langen Arme fast bis zum Erdboden reichten.
„Ich erlaube mir, das gnädige Fräulein devotest zu fragen,“ stotterte der Schullehrer, „ob Dero Herr Onkel zu Hause sind?“
„Ich bedaure, mein lieber Herr Mederow, er ist seit gestern in Branitz auf der Jagd und wird frühestens diesen Abend zurückkommen. Wünschen Sie etwas von ihm?“
„Ich möchte wohl so kühn sein. Der Herr Baron haben die Gnade gehabt, mir zu versprechen, daß der Schweinebehälter hinter dem Schulgebäude neu aufgemauert werden sollte; das ist nun schon ein Jahr her, und mittlerweile ist das Behältniß von Tage zu Tage schadhafter geworden, bis vorhin auch die zweite Wand und mit ihr die Bedachung dem ungestümen Drängen der Vierfüßler erlegen und eingestürzt ist. Wie durch eine besondere Gnade ist dem Vieh kein Schade weiter geschehen, nur daß dasselbe anjetzt obdachlos ist. So wollte ich denn unterthänigst anfragen, ob ich hoffen dürfte –“
„Mein guter Herr Mederow,“ fiel die junge Dame hier ein, „Onkel Boddin ist jetzt in einer schwierigen Lage. Wie Sie wohl gehört haben, geht in der Verwaltung des Gutes eine Aenderung vor, und es ist ungewiß, wieweit die Befugnisse des Onkels noch reichen –“ die blühenden Wangen der Sprecherin übergoß plötzlich ein dunkles Roth, und zwischen die Augen legten sich feine Fältchen des Unmuthes – „kurz, ich würde Ihnen nicht rathen, jetzt seine Hülfe anzurufen. Warten Sie wenigstens ein paar Tage noch!“
„Sie können die Schweine zu uns her treiben, Herr Mederow; wir haben Platz für sie,“ wandte sich die Radmacherin an den Lehrer. „Ich habe doch immer gedacht, daß das alte Gerümpel eines Tags zusammenbrechen würde.“
„Wenn ich mir das erlauben dürfte!“ sagte der Höfliche mit einer Verbeugung zu dieser. „Wir müssen die Creaturen aber erst einfangen. Ich empfehle mich bestens und bitte, auch dem Herrn Baron meine unterthänigste Empfehlung auszurichten.“
„Adieu, Herr Mederow! Grüßen Sie Ihre Frau schönstens!“ nickte Fräulein Anne-Marie und schritt mit der Radmacherin weiter, während der Lehrer den Rückweg antrat.
Anne-Marie stieß einen Seufzer aus, und ein Schatten lag auf ihrem sonst so klaren Gesicht.
„Ich fürchte, ich kann auch Euch nichts Besseres sagen, Radmacherin,“ meinte sie. „Was habt Ihr auf dem Herzen?“
„Ach, mein Mann wollte gern noch das zweite Stückchen Acker hinter unserm Hause dazu pachten. Es ist gestern umgepflügt worden, und wir möchten die Sache in’s Reine bringen, ehe es vom Gute aus bestellt wird. Es wäre so vortheilhaft für uns; denn wir könnten dann Alles, was wir im Hause brauchten, selber ziehen. Der Radmacher hat schon einmal mit dem Herrn Baron darüber gesprochen, und er hat gemeint, er werde sich die Sache bis zum Herbst überlegen. Und nun wollte ich das gnädige Fräulein bitten, ein gutes Wort für uns einzulegen.“
Die junge Dame schüttelte traurig den Kopf.
„Ihr kommt ein paar Tage zu spät, Radmacherin,“ entgegnete sie, und es mischte sich ein Klang von wehmüthiger Resignation in ihre Worte. „Der Onkel darf bezüglich der Verwaltung von Pelchow nicht mehr selbstständig verfügen. In den nächsten Tagen wird ein Administrator eintreffen, der ihm die Mühe abnehmen wird, ein Vetter von mir, von den Teterower Boddins; an den müßt Ihr Euch wenden. Ich will aber wenigstens dem Statthalter sagen, daß er das Stück vorläufig nicht bestellen soll.“
„Nun aber!“ machte die Radmacherin verwundert. „Das Gut gehört doch dem gnädigen Herrn, und er kann doch darauf thun, was er will? Ich habe wohl gehört, daß so was im Gange ist, aber ich habe das für dummen Schnack gehalten.“
„Ich kann Euch das nicht Alles so aus einander setzen,“ meinte Anne-Marie, der es sichtlich widerstrebte, die intimen Familienangelegenheiten zum Gegenstande einer Erörterung mit der Frau zu machen. „Aber es ist so. Wer weiß, ob der Onkel je wieder die Verwaltung zurückbekommen wird.“
„Na, Pelchow bleibt Ihnen doch mal,“ nickte die Radmacherin lächelnd.
„O nein! Das fällt an die Teterower. Ich bin so arm wie eine Kirchenmaus. Höchstens was der Onkel gespart hätte, das würde er mir geben dürfen.“
„Das wird freilich nicht viel sein,“ sagte die Frau verblüfft. „Ja, dazumal, wo er noch durch die Straße von Trebbin geritten ist und die Jungens mit harten Thalern gegen die Köpfe geworfen hat – aber er ist doch so reich gewesen! Alles kann er ja wohl nicht –“
Anne-Marie machte eine ungeduldige Bewegung.
„Lassen wir die Frage, Radmacherin! Das ist seine Sache. Was ich Euch nützen kann, thue ich gewiß germ – das wißt Ihr. In den nächsten Tagen wird allerlei Umwälzung bei uns vorgehen. Mein Gott, ich wollte, die Aufregung für den Onkel wäre erst vorüber!“
Das Letzte sprach sie mehr zu sich selber, als zu ihrer Begleiterin, welche etwas verschüchtert und stumm noch ein paar Schritte weiter mitging und endlich Halt machte.
„Ja, da soll ich dann wohl wieder umkehren, gnädiges Fräulein?“ fragte sie. „Entschuldigen Sie auch, daß ich mir die Freiheit genommen habe! Ich bin wohl schuld, daß Sie sich etwas aufgeregt haben, aber ich wußte das Alles nicht so.“
„Nein, nein,“ wehrte Anne-Marie hastig ab, und ihr Gesichtchen zeigte schnell wieder den ihm eigenen Zug von Frische und Liebenswürdigkeit, „Sie können nichts dafür, Radmacherin, und vielleicht wird sich auch Alles gut abwickeln. Die Männer sind nur immer etwas unverträglich und hartköpfig. Und was mein Onkel ist – na Adschüs, Fieken!“
„Adschüs auch, und nichts für ungut! – Nein, was sie doch für ein gutes Mädchen ist, und ein kluges Mädchen, unsere Anne- Marie,“ dachte die Radmacherin vor sich hin, indeß ihre Lippen glücklich lächelten; „und Fieken hat sie mich wieder mal genannt, gerade wie dazumal, als sie noch so’n Gör war.“
Anne-Marie von Lebzow ging rascher dem Walde zu, dessen bunte Färbung schon von Weitem den Buchencharakter des Bestandes deutlich genug aussprach. Zuerst mochten es noch trübe Gedanken sein, welche ihr junges Herz beschäftigten; denn die Fältchen hatten sich wieder zwischen die Augen gelegt, und diese Augen waren unruhig und nachdenklich, und einmal sagte sie sogar vor sich hin: „Der arme Onkel thut mir zu leid. Er ist ja ein sonderbarer Mann, und mit dem Gelde weiß er gar nicht umzugehen, aber daß sie ihm auf seine alten Tage diesen Aerger anthun – ob das wirklich nöthig war? Ich verstehe freilich nichts von ‚Fideicommissen‘ oder wie die Dinger heißen.“ – Aber dann kamen ein paar frische Athemzüge, zu denen die reine sonnige Luft so unabweisbar einlud, und da spannte sich ein schneeweißes Band von Altweibersommer leicht schwebend quer über den Weg und legte sich plötzlich über Nase und Wangen, daß sie aus dem Nachdenken aufschrak, und dann lachend die herbstliche Ueberraschung ablöste, und nun hatten Himmel und Erde das gesunde junge Blut wieder. Sie merkte mit einem Male, daß die klarblaue Luft voll fliegenden Gespinnstes war. So weit und frei lag auf beiden Seiten das Land, bis zu fernen Wäldern. Hier und da ein ackerndes Gespann; auf der Bruchwiese weit drüben Arbeiter und Arbeiterinnen beim Heumachen und ein Stück davon auf dem Acker – richtig, da stelzten schon wieder ein Dutzend Kraniche herum. Es war doch eigentlich ein himmlischer Tag und eine himmlische Welt!
Sie näherte sich dem Walde mehr und mehr. Wie doppelte Erfrischung wehte es von ihm her; selbst die leise Beimischung von Sterbeduft hatte nichts Störendes. Die stattlichen Buchenkronen sahen noch so voll aus, als dächten sie nicht an ein Kahlwerden und die Blätter der üppigen Haselbüsche, welche sich unter ihnen fast undurchdringlich dicht am Waldsaume hinzogen, waren noch grün. Nur selten rieselte ein abfallendes Blatt droben und wirbelte zu Anne-Marie nieder, als sie vom Feldwege nach rechts abbog und zwischen dem Waldrande und einem tief eingesenkten Wiesenbande auf schmalem Pfade hinschlenderte. Im Sonnenscheine glitzerten die Blätter der Hasel; bunte Falter, Fliegen, seltsam langbeiniges Wespen- und Schnakenvolk flogen auf und ab, zuweilen einen Abstecher in die Wiesensenkung hinab unternehmend. Auch Anne- Marie stieg ein paarmal nieder, um leuchtend violette Orchideen zu pflücken; mit den Blumen im Schooße, saß sie dann eine Weile still im Grase der Böschung. Sie dachte an ihre verstorbenen Eltern, an die Jugendzeit in Greifswald, an das wunderliche Leben in der Nähe des Onkel Boddin, das sie einst gefürchtet hatte. Und doch war es hübsch in der Verwilderung um sie herum; sie konnte thun und lassen, was sie wollte; die rauhe Art des Barons, seine Seltsamkeiten und Extravaganzen war sie nun gewohnt, und seine Derbheiten hatte er ihr gegenüber verschlucken gelernt. Als Vermittlerin zwischen den Leuten und ihm war ihr sogar eine Art von diplomatischem Wirkungskreis geworden, während freilich die alte Dürten Schoritz sie von wirthschaftlichen Bemühungen eifersüchtig fern hielt.
Wie würde es nun werden?
In der Buche über ihr rasselte und knatterte es; ein Eichkätzchen hatte droben den Halt verloren und fiel dicht neben ihr zu Boden, daß sie erschrocken zusammenfuhr. Ein paar Secunden genügten für das Thierchen, um sich zu sammeln; dann richteten sich die klugen Augen auf Anne-Marie, und im Husch war das anmuthige Geschöpf zwischen den Haselstauden verschwunden. Die junge Dame lachte halblaut; die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, und sie erhob sich, um weiter zu gehen.
Ein schmaler Weg lockte sie in die sonnendurchspielte Einsamkeit des Waldes. Häher kreischten in den Buchenwipfeln; Meisen schwangen sich mit feinem Metalltone hin und her. Zuweilen raschelte es in dem morschen Laube an ihrer Seite, und sie hätte gern gewußt, ob es von Eidechsen oder den feinen Schlänglein herrührte, die sie wohl auch schon hatte über den sonnigen Pfad schlüpfen sehen.
Eine halbe Stunde mochte Anne-Marie auf bekannten Wegen geschritten sein – da stand sie vor einer Schneiße wieder in der Nähe des Fahrweges. Ueber ihr ragten Tannen; sie fand Champignons und Steinpilze; mit plötzlichem Einfalle zog sie ein frisches Taschentuch und begann zu sammeln. Sie hatte kaum die ersten Pilze aus dem Boden gezogen, als sich Wagengerassel näherte. In rascher Wendung fuhr sie empor, neugierig den Einspänner betrachtend, ein Demminer Fuhrwerk, das sie kannte; nur den jungen Mann im Strohhute, der hinter dem lahmen Lorenz im Wagenfond lehnte, suchte sie in ihrem Gedächtnisse vergebens. Sie stand kaum dreißig Schritte von der Straße entfernt, und der mäßige Trab des Miethgauls verstattete ihr recht wohl, dieses nicht sehr volle, intelligent geschnittene Gesicht mit dem Schnurrbärtchen und dem Klemmer auf der Nase, der so moquant saß, auf einen Blick zu erfassen.
Anne-Marie ließ sich wieder zu den Pilzen hinab; sie konnte nicht sehen, wie der junge Mann sich erhob und etwas zu dem Kutscher sagte, und wie er auf dessen Antwort hin mit dem Zeigefinger auf dem Rücken des Alten trommelte. Aber ihr Kopf bog sich verwundert herum, da das Fuhrwerk plötzlich anhielt, und eine beklemmende Ahnung überkam sie, als sie den Fremden mit sehr entschlossener Bewegung vom Wagen springen und elastischen Schrittes auf sich zukommen sah. Sie richtete sich hastig auf, und in der Verwirrung schlug sie das aufgeraffte Taschentuch aus einander und ließ die Pilze zur Erde rollen.
Der Ankömmling lächelte mit leisem Anflug von Spott, indem er ein wenig den Strohhut lüftete. Er mochte im Anfang der Dreißiger stehen, eine stattliche Figur, deren Formen durch die Raschheit und knappe Entschiedenheit des ganzen Auftretens eckiger schienen, als sie in Wirklichkeit waren. Nein: die breiten, zu wenig abgeschrägten Schultern bedingten den Eindruck wesentlich mit.
„Habe ich das Vergnügen, meine Cousine Lebzow vor mir zu sehen? Mein Name ist Curt von Boddin, von der Teterower Familie,“ sagte er mit etwas hartem Accent und einem schwachen Näseln im Ton. „Auch Doctor von Boddin, wenn Sie wollen; denn ich bin Jurist von Studium und Landwirth von Beruf. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch meiner Person erinnern? Ich war vor zehn Jahren einmal bei Ihrer Familie in Greifswald zum Besuch und mußte Ihnen täglich eine Tüte mit Bonbons liefern, welche Sie gewissenhaft aufaßen.“
„Ach ja!“ meinte Anne-Marie nach kurzem Nachdenken, „ich erinnere mich jetzt dunkel.“
„Nun, dann wären wir ja über die Personenfrage einig. Sind Sie ganz allein hier im Walde, wenn ich fragen darf?“ Die junge Dame sah ihn verwundert an.
„Allerdings,“ war ihre Antwort.
„Hm! Das sollten Sie aber nicht sein. Eine Dame darf nicht so sans façon und ohne Schutz Ausflüge in die Wälder machen - aus verschiedenen Gründen nicht.“
„Ich fürchte mich nicht, Herr – von Boddin.“
Sie wußte nicht, was sie eigentlich verhinderte, ihn Vetter zu nennen. Vielleicht, weil sein Auftreten so etwas halb Väterliches, halb Polizeimäßiges hatte.
„Ich werde mir erlauben, Sie zu begleiten,“ fuhr er fort. „Darf ich Sie bitten, mein Fuhrwerk mit mir zu benutzen? Oder nein –“ unterbrach er sich plötzlich; „entschuldigen Sie einen Augenblick!“ – und er wandte sich ohne weitere Umstände ab, ging zu dem Wagen zurück und sprach ein paar Worte zum Rosselenker, worauf dieser nickte. Die Peitsche knallte; der Schimmel zog an, und das Gefährt rollte vorwärts. Curt von Boddin war bereits wieder auf dem Wege zu dem jungen Mädchen, das ihn mit einem Gemisch von Interesse und Scheu, um nicht zu sagen heimlicher Furcht, erwartete.
„Sie haben hoffentlich nichts dagegen, Cousine, daß ich den Wagen vorausschickte. Sie waren ja darauf gefaßt, zu Fuß nach Pelchow zurückzugehen. Wie weit rechnen Sie bis dahin?“
„Auf directem Wege gehen wir vielleicht dreiviertel Stunden,“ war ihre Antwort.
„So? Ich denke, wir wählen diesen directen Weg, also vermuthlich den dort.“
Er zeigte auf den Fahrweg, auf den sich der Rest des aufgewirbelten Staubes niederließ.
„Darf ich um Ihren Arm bitten? Aber ich sehe, daß Ihre unglücklichen Pilze noch immer da herumliegen. Ich habe nicht die Absicht gehabt, Sie um die Frucht Ihrer idyllischen Bemühungen behufs Vervollständigung der Pelchower Speisekammer zu bringen.“
Er trug Glacéhandschuhe von apfelgrüner Farbe zu seinem lichtgrauen Herbstanzuge; diese apfelgrünen Finger langten vorsichtig hinab, und nur die äußersten Spitzen faßten die verstreuten Pilze und legten sie zu einem Häufchen zusammen.
„So,“ sagte der Vetter, während er sich aufrichtete und den Klemmer wieder auf die Nase setzte, der ihm beim Bücken entfallen war. „Und nun haben Sie die Güte, mir Ihr Taschentuch zu überreichen, damit ich diese Kinder des Waldes einwindeln kann!“
Anne-Marie von Lebzow stand abgewandten Gesichtes und blickte steif zu dem Wege hinüber; als er etwas zur Seite trat und mit einiger Verwunderung ihr Profil in’s Auge faßte, bemerkte er, daß ihr braunes Auge feucht war, und daß es bitter um ihren Mund zuckte.
„Um’s Himmels willen, Cousine, was ist Ihnen?“ fragte er. „Tragen Sie in Ihren jungen Jahren schon Leid um die Unvollkommenheiten unserer irdischen Laufbahn, oder besitzen Sie sentimentale Anlagen?“
Die junge Dame hatte die Herrschaft über ihre Empfindlichkeit gewonnen, welche von dieser saloppen Art, mit der man hier bei der ersten Begegnung sie zu behandeln beliebte, tief gereizt war. So neu war ihr diese Art, daß sie aus dem Schwanken, ob sie ihr Taschentuch hingeben sollte oder nicht, erst herauskam, als er dasselbe bereits erfaßt hatte und auf dem Boden ausbreitete. Bald war es gefüllt; Curt von Boddin knüpfte die Zipfel zusammen und nahm das Bündel auf.
„So,“ sagte er, „und um Sie ganz zufrieden zu stellen, Cousine, werde ich eigenhändig das Ding hier bis Pelchow tragen, obwohl ich nicht die mindeste Anlage zu ländlichem Schäferdienste habe. Wenn ich also bitten darf: gehen wir!“
Er hielt ihr seinen Arm hin, mußte es indessen erleben, daß sie ihn ausschlug. Der Weg bis zur Landstraße hinüber sei zu schmal, meinte sie kurz und schritt voraus; nur flüchtig musterte der Nachfolgende die anmuthige Figur und das dicke strohblonde Haargeflecht, das unter dem italienischen Hut hervorquoll.
„Jetzt, Cousine,“ nahm er das Gespräch wieder auf, nachdem er mit kurzem Sprunge den Fahrweg erreicht hatte, „jetzt möchte ich Sie bitten, mir allerlei von Pelchower Zuständen zu erzählen. Ich werde zwar Zeit genug haben, sie in Person zu studiren – vielleicht ahnen oder wissen Sie gar, meine Beste, daß ich mit der Vollmacht betraut bin, in dieser verlotterten Wirthschaft Ordnung herzustellen.“
„Ah!“ machte Anne-Marie unwillkürlich. Wie hatte sie auch nur einen Augenblick in Zweifel sein können, was dieser Besuch zu bedeuten habe! Vorhin erst hatte sie zur Radmacherin von der künftigen Verwaltung durch einen Teterower Boddin gesprochen.
„Hoffentlich können Sie mir nützen, indem Sie mir auf dieses verrückte Original von Onkel einwirken helfen, damit er ruhig geschehen läßt, was nicht zu ändern ist und was er mit seiner Zerfahrenheit und Verschwendung selber verschuldet hat. – Aber haben Sie eigentlich keinen Sonnenschirm mit, Cousine? Wie kann eine Dame am lichten Tage dreiviertel Stunde Weges hin und zurück ohne Schirm gehen! Sie sollten auch Ihre Hände mehr schonen.“
Er hielt einen Augenblick inne, als erwartete er eine Antwort. Allein Anne-Marie schwieg.
Die Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Vetter Fräulein Anne-Marie schulmeisterte, war in der That empörend. Was war er denn, und wie alt war er denn, daß er sie wie ein unerzogenes Kind behandeln durfte? Sie wollte dergleichen Aeußerungen von seiner Seite zunächst einmal ignoriren.
„Zwar, ich begreife,“ fuhr er nachlässig fort. „Es muß in diesem Pelchow mehr als ländlich zugehen, und Sie kamen jung hierher.“
„Ich wünschte wohl, daß Sie den Onkel schonten,“ stieß Anne-Marie hart hervor. „Er ist freilich voll Grillen und Eigenheiten, aber er ist von Herzen gut und ein alter Mann, und ich dächte, es wäre eine Kränkung für ihn, daß man ihm die freie Verfügung über sein Eigenthum nimmt.“
„Was wollen Sie? Er ist ein bankrotter Verschwender, den man längst hätte unter Curatel stellen sollen. Die Zeit der Originale ist vorüber, und es gilt heutzutage nicht mehr als Entschuldigung, wenn Einer sein Geld und nebenbei dasjenige anderer Leute, statt auf eine gewöhnliche, auf eine verrückte Art durchbringt. Ein Mensch, der nicht mit klarem Kopf und zielbewußtem Willen ein Vermögen verwalten kann, muß eben wie ein Kind behandelt werden. Ein zartfühlendes Mädchenherz mag da sein Privaterbarmen haben, das öffentliche Leben der Gegenwart aber ist hartherzig wie das Recht und die Vernunft. Aber davon versteht ein Mädchen nichts, Cousine Lebzow, und ich liebe unnütze Kraftvergeudung nicht. – Was meinen Sie, könnten wir nicht etwas schneller gehen?“
„Nein,“ erwiderte sie fast heftig; „könnten Sie nicht vielleicht etwas langsamer gehen?“
Und sie wagte es sogar, ihm einen trotzigen Blick zuzuwerfen, senkte indeß die Wimpern und wandte sich ab, als sich die scharfen grauen Augen ihres Begleiters so ruhig und kühl auf die ihrigen hefteten, als handle es sich zwischen ihnen Beiden um die einfachsten sachlichen Erörterungen, bei welchen ein Affect gar nicht in Frage kommen könne.
„Ganz wie Sie befehlen! Sie hätten vielleicht besser gethan, vorhin meinen Arm zu nehmen. – Teufel, da kommen wir in eine schöne Atmosphäre!“
Zwanzig Schritt vor ihnen bog eine Schafheerde von einem Feldweg her in die Landstraße ein. Der vorangehende Schäfer strickte an einem Strumpfe; die Schafe blökten; zwei Hunde kreisten hin und her. Unendlicher Staub wirbelte auf, den die sinkende Sonne dnrchleuchtete und der sich bis zu dem Paare hinzog.
„Wir hätten am Ende doch den Wagen benutzen sollen, Cousine,“ brachte der neue Administrator von Pelchow heraus, mit einem Hustenanfall kämpfend. „Aber wer ist auf solche Eventualitäten gefaßt! Warten Sie – ich werde den Menschen veranlassen, auf diese Brache hinüber auszuweichen.“
„Bitte, wir können die Sache kürzer machen, Herr von Boddin,“ sagte die junge Dame rasch; „das Ausweichen ist für uns bequemer als für die Heerde.“