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Patricia Cabot

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Beschreibung

Historische Romantik von der New York Times Bestsellerautorin
Der verführerische Kapitänund die eigensinnige Lady …

Die abenteuerlustige und offenherzige Payton Dixon hat genau zwei Herzenswünsche: ihreigenes Segelschiff und endlich die Liebe von Kapitän Connor Drake zu gewinnen. Beides rückt in weite Ferne, als ihr geliebter Kapitän sich entschließt, eine andere zu heiraten. Aber es kommt noch schlimmer – ihr treuloser Vater schenkt dem Kapitän ausgerechnet jenes Schiff, von dem Payton heimlich träumt, zur Hochzeit.
Um zu beweisen, dass sie im Recht ist, beschwört Payton einen Skandal herauf und verursacht jede Menge Ärger. Drake kann sich dabei kaum entscheiden, ob er über das Mädchen, mit dem er aufgewachsen ist, den Kopf schütteln oder die wunderschöne Frau, zu der Paytongeworden ist, verführen soll.

Erste Leserstimmen
„wieder ein unglaublich mitreißender neuer Roman von Patricia Cabot
„die dramatische Geschichte von Payton hat mich sofort in ihren Bann gezogen“
„erneut erschafft Patricia Cabot eine Welt aus der ich gar nicht mehr auftauchen wollte“
„dieser Roman hat mich derart zum Mitfiebern gebracht, dass ich ganz die Zeit vergessen habe“
„Mein neues Lieblingsbuch! Klare Leseempfehlung.“

Weitere Titel dieser Reihe
Eine verhängnisvolle Versuchung (ISBN: 9783960874492)
Die wilde Rose (ISBN: 9783960873396)
Eine Sehnsucht im Herzen (ISBN: 9783960874966)
Verführt von einem Herzensbrecher (ISBN: 9783960875826)
Ein verräterisches Herz (ISBN: 9783960876359)

Über die Autorin

Patricia Cabot ist das Pseudonym der amerikanischen Autorin Meg Cabot, die in Bloomington, Indiana, geboren ist. Ihre über 80 Romane und Jugendbücher haben sich weltweit überfünfundzwanzig MillionenMalverkauft, darunter mehrere internationale Bestseller. Meg Cabot lebt mit ihrem Mann und mehreren Katzen in Key West.

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Seitenzahl: 618

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Über dieses E-Book

Die abenteuerlustige und offenherzige Payton Dixon hat genau zwei Herzenswünsche: ihr eigenes Segelschiff und endlich die Liebe von Kapitän Connor Drake zu gewinnen. Beides rückt in weite Ferne, als ihr geliebter Kapitän sich entschließt, eine andere zu heiraten. Aber es kommt noch schlimmer – ihr treuloser Vater schenkt dem Kapitän ausgerechnet jenes Schiff, von dem Payton heimlich träumt, zur Hochzeit. Um zu beweisen, dass sie im Recht ist, beschwört Payton einen Skandal herauf und verursacht jede Menge Ärger. Drake kann sich dabei kaum entscheiden, ob er über das Mädchen, mit dem er aufgewachsen ist, den Kopf schütteln oder die wunderschöne Frau, zu der Payton geworden ist, verführen soll.

Impressum

Deutsche Erstausgabe April 2019

Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-652-6

Copyright © 1999 by Meg Cabot by arrangement with St. Martin’s Press Titel des englischen Originals: An improper Proposal

Übersetzt von: Katharina Radtke Covergestaltung: Rose & Chili Design unter Verwendung von Motiven von periodimages.com; shutterstock.com: © Eva Bidiuk; depositphotos.com: © alex.stemmer; depositphotos.com: © 121312 Korrektorat: Sofie Raff

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Ein gewagtes Angebot

Für Benjamin

Kapitel 1

Shropshire, England, im Juni 1830

„Verdammt nochmal, Payton“, schimpfte Ross Dixon. „Ich kann das elende Ding nicht binden. Mach du das.“

Payton, die in einer entscheidenden Phase mit der Halsbinde ihres zweitältesten Bruders beschäftigt war, würdigte ihren ältesten Bruder keines Blickes und schnauzte: „Warte, bis du an der Reihe bist.“

„Die verdammte Reihe.“ Hudson reckte sein Kinn empor und blickte an seinen hohen Wangenknochen hinunter, um seine kleine Schwester zu sehen, während sie an seiner Halsbinde herumnestelte. Auf diese Weise sah er jedoch nur die Oberseite ihres Kopfes. „Warte, bis du an der verdammten Reihe bist.“

„Warte, bis du an der verdammten Reihe bist“, verbesserte sich Payton.

Die losen Enden seiner Halsbinde baumelten schlaff seinen Nacken herunter, als sich Ross empört vom Spiegel abwandte. „Donnerwetter, Hud! Hör auf, sie zum Fluchen zu ermutigen. Wenn sie heute Abend zum Tanz aufgefordert wird, wird sie dem Kerl womöglich sagen, er solle warten, bis er an der verdammten Reihe ist!“

„Niemand wird Payton zum Tanz auffordern“, informierte sie Raleigh von der gepolsterten Fensterbank aus. Da seine Halsbinde bereits geknotet war, war er von seiner Schwester mit der eindringlichen Ermahnung, sich nicht zu rühren, damit sie sich nicht wieder lockerte, auf die andere Seite des Zimmers verbannt worden. Er saß im westlich einfallenden Sonnenlicht, das den Raum flutete und beobachtete, wie eine Reihe Kutschen auf der Vorderseite des Hauses vorfuhr: „Sie ist viel zu hässlich.“

„Halt deinen verdammten Mund, Raleigh“, riet ihm Payton.

Ross knirschte mit den Zähnen. „Payton“, knurrte er. „Hör auf zu fluchen. Du bist nicht zu Hause und auch nicht an Bord. Erinnerst du dich an unsere Abmachung? Du kannst dich wie ein Wildfang benehmen, so viel du willst, wenn wir zu Hause oder auf See sind, aber in den Häusern anderer Leute wirst du dich benehmen wie eine –“

„Weißt du“, unterbrach Hudson. „Payton ist nicht so hässlich, Raleigh. Es ist nur ihr verdammtes Haar.“ Da er es aus der Vogelperspektive betrachten konnte, fühlte sich Hudson dazu qualifiziert, zu kritisieren. „Als du letzten Sommer uns allen den Kopf rasiert hast, Ross, warum hast du da nicht auch Paytons rasiert, statt ihre Haare nur so zottelig kurz zu schneiden? Es hätte vielleicht geholfen, wenn sie die ganze Sache einfach losgeworden wäre und von vorne anfangen hätte.“

„Und warum hast du“, konterte Ross gereizt, „einen Koch mit Läusen angeheuert? Wenn du das nicht getan hättest, hätte keiner von uns sich den Kopf rasieren müssen und Georgiana würde mir nicht ewig damit auf die Nerven gehen, Payton ein Haarteil zu kaufen.“

„Ein Haarteil?“ Payton runzelte ihre mit Sommersprossen übersäte Nase. „Was sollte ich mit einem Haarteil wollen? Das Haar irgendeiner anderen Frau über meinem eigenen tragen?“ Sie erschauderte. „Nein, schönen Dank. Es macht mir gar nichts aus, zu warten, bis mein eigenes wieder nachgewachsen ist.“

Hudson schnaubte: „Du liebst es, dein Haar kurz geschnitten zu tragen. Gib es zu. Du bist ein Faulpelz und hast es nie gemocht, diese verdammten Indianerzöpfe, die du früher getragen hast, auszukämmen.“

Payton sah mit funkelnden Augen zu ihm hoch. „Vorsicht“, drohte sie und zog schelmisch die Halsbinde fester zusammen. „Ich habe vielleicht meine Indianerzöpfe nicht mehr, aber ich kann immer noch mit Leichtigkeit eine Kehle durchtrennen.“

„Du bist schon ein blutrünstiges Frauenzimmer, oder?“ Hudson zerrte an einer der kurzen rotbraunen Locken, die Payton – erfolglos, wie sie befürchtete – in ein Paar Schildpattkämme gezwängt hatte. „Du wirst lernen müssen, deine Neigung zur Gewalttätigkeit einzudämmen, mein Mädchen, sonst wirst du nie einen Ehemann finden.“

Payton verzog angewidert die Lippen zu einem Schmollmund. „Ich verstehe nicht, wofür ich einen Ehemann brauche, wenn ich schon euch drei habe, um mir zu sagen, was ich tun soll.“

„Weil“, begann Ross, „Hud und Raleigh irgendwann meinem Beispiel folgen und heiraten werden und du dann ganz allein sein wirst.“

„Wie meinst du das, ganz allein?“ Payton starrte ihn über eine entblößte Schulter hinweg an. „Papa ist auch noch da.“

„Georgiana und ich werden uns um Papa kümmern“, teilte ihr Ross mit. „Und keiner von uns hat Lust, sich zusätzlich meine Schwester, die alte Jungfer, aufzuhalsen.

„Wenn du aufhören würdest, so ein Trottel zu sein und mir das Kommando über ein eigenes Schiff geben würdest“, sagte Payton gelassen, „müsstest du dir keine Sorgen darüber machen, dir deine unverheiratete Schwester aufzuhalsen, geschweige denn, einen Mann für mich zu finden.“

Ross sah entsetzt aus. „Nur über meine Leiche“, verkündete er, „wirst du jemals ein Dixon-Schiff kommandieren.“

„Und warum nicht? Ich bin ein viel besserer Navigator als Raleigh, und er hat schon seit acht Jahren sein eigenes Schiff.“ Sie verengte die Augen zu Schlitzen, als sie in Raleighs Richtung blickte. „Allerdings hatte er sich die meiste Zeit hoffnungslos verfahren.“

Raleigh wandte seinen Blick noch einmal vom Fenster ab und erklärte ihr freundlich: „Ich habe mich nicht verfahren, meine Liebe. Ich habe bisher unbekanntes Terrain erkundet. Das ist ein Unterschied.“

„Du hast dich verfahren, Raleigh. Deine Fracht ist verrottet, während du umhergetrieben bist und versucht hast, dich am Kap der Guten Hoffnung zurechtzufinden. Nur dass du nicht am Kap der Guten Hoffnung warst, nicht wahr?“

Raleigh winkte ab. „Kap Hoorn, Kap der Guten Hoffnung. Diese Kaps sehen alle gleich aus. Ist es da verwunderlich, dass ich das eine mit dem anderen verwechselt habe?“

Payton drehte sich um und funkelte ihren ältesten Bruder an, der sich vor dem Spiegel über der Frisierkommode mit seinem Hemdkragen abmühte: „Siehst du? Du gibst ihm das Kommando über ein Schiff, aber mir nicht? Wenigstens kann ich die Kontinente auseinanderhalten.“

„Das Unternehmen“, erklärte Ross an sein Spiegelbild gerichtet und so geduldig, als spräche er mit einem Kind, „heißt Dixon und Söhne Schifffahrt, Payton.“ Als sie scharf die Luft einsog, hielt Ross eine Hand hoch und sagte: „Und fang gefälligst nicht wieder an, mit mir darüber zu diskutieren, dass wir den Namen in Dixon und Söhne und Tochter ändern sollten. Ich habe nicht die geringste Absicht, mich durch die Einführung von Kapitäninnen zum Gespött des Schifffahrtsgewerbes zu machen.“

„Was ist falsch an Kapitäninnen?“, fragte Payton scharfzüngig. „Ich habe deine Crews oft genug kommandiert, und zwar recht fähig, vielen Dank auch, wenn ihr drei zu betrunken wart, um das Steuerrad zu halten. Ich verstehe nicht, warum ich wie irgend so ein Schwachkopf verheiratet werden muss, wenn ich mindestens genauso viel Erfahrung habe wie ihr.“

„Hör mal“, sagte Hudson und räusperte sich. „Knotest du jetzt meine Halsbinde oder streitest du dich mit Ross?“ Als ihr wutentbrannter Blick auf ihn fiel, trat er hastig einen Schritt zurück. „Vergiss es. Nur zu, streite dich bitte weiter mit Ross.“

„Keine Sorge, Pay“, näselte Raleigh von der gepolsterten Fensterbank aus. „Ross wird keine andere Wahl haben, als dich am Ende zu einer Schiffskapitänin zu machen. Kein Kerl wird dich jemals fragen, ob du ihn heiraten willst. Du bist viel zu hässlich.“

„Sie ist nicht hässlich!“, platzte Ross heraus und wandte sich endlich vom Spiegel ab. „Na ja, zumindest nicht mehr. Nicht, nachdem ich fast hundert verdammte Piepen für das verfluchte Kleid bezahlt habe, das sie anhat.“

„Vergiss nicht“, erinnerte ihn Hudson, „die passenden Slipper. Und den Hut und das Cape.“

„Weitere hundert Pfund.“ Ross hob einen Schwenker voll Brandy, den er auf die Kommode gestellt hatte, und leerte ihn in einem einzigen hastigen Schluck. „Und wofür, das wüsste ich gern? Es ist ja nicht so, dass an dem Kleid überhaupt genug Stoff ist, um sie anständig zu bedecken.“

Payton blickte auf ihr Dekolleté hinunter. Es war ein wenig gewagt. Sie hatte nicht viel zu verstecken, aber das, was da war, wurde recht auffallend präsentiert. Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass Hudson ihren Blick verfolgt hatte.

„Ja, Pay“, sagte er, „Ich habe bemerkt, dass du einen Busen bekommen hast. Wann ist das nur passiert?“

„Ich weiß nicht.“ Payton schüttelte fassungslos den Kopf. „Letzten Sommer, glaube ich. Irgendwo zwischen New Providence und den Florida Keys.“

„Mir ist nicht aufgefallen, dass du Brüste gehabt hättest, als wir in Nassau waren“, erklärte Ross. Da er der Älteste war, ärgerte es ihn immer, wenn Payton, die Jüngste, irgendetwas tat, ohne vorher zu fragen – zu wachsen, zum Beispiel.

„Das kommt daher, dass sie den ganzen Sommer nichts anderes getragen hat als diese Weste und diese schrecklichen gestreiften Hosen.“ Raleigh, der Spaßvogel der Familie, hob die Schultern, um sich zu schütteln. „Erinnerst du dich? Georgiana musste sie praktisch aus ihnen herausschälen, als wir nach London zurückgekommen sind.“

„Ich habe die Hosen getragen“, sagte Payton streng, „weil ich es nicht gebrauchen konnte, dass jeder mir immer, wenn ich den Besanmast hochkletterte, unter den Rock schaute – “

„Das war Wunschdenken“, bemerkte Hudson.

Payton ignorierte ihn und fuhr fort: „Und ich trug die Weste, weil ich nichts hatte, um das, was unter meinem Hemd vor sich ging, zu stützen. Keinen Dank auch an euch.“

„Unterwäsche.“ Ross nickte. „Ich vergaß. Nochmal hundert Piepen. Und wofür, frage ich euch?“

Der Tür zum Schlafzimmer öffnete sich und Georgiana Dixon sagte nüchtern: „Um sie zu verheiraten, natürlich.“ Dann, als sie seufzend den offenen Kragen ihres Mannes erspähte, fügte sie hinzu: „Ich nehme nicht an, dass es irgendeinem von euch in den Sinn gekommen wäre, dass die meisten Männer Kammerdiener beschäftigen, um ihre Halsbinden zu knoten, und nicht etwa ihre kleinen Schwestern.“

Jetzt war Hudson an der Reihe, zu erschaudern. „Ich möchte nicht, dass mich irgendein Kerl anfasst, und schon gar nicht meine Kleidung.“

„Wirklich, Georgiana.“ Ross, das hatte Payton bemerkt, war mit seiner neuen Frau nicht ganz so geduldig wie noch vor ein paar Monaten. Schließlich hatte er ihr damals den Hof gemacht. Jetzt, wo sie sicher verheiratet waren und sie nicht einfach so entkommen konnte, machte er deutlich, dass die neumodischen Ideen, die sie aus London mitgebracht hatte, nicht länger toleriert werden würden. „Da ist etwas ... na ja, Unnatürliches an einem Mann, der einem anderen Mann dabei hilft, sich anzukleiden. Das ist Frauenarbeit.“

Georgiana nickte. Sie hatte sich, dachte Payton, schon ziemlich an die verdrehte Logik gewöhnt, die in der Familie, in die sie eingeheiratet hatte, gang und gäbe war.

„Ich verstehe“, sagte sie. „Also muss die arme Payton euch alle ankleiden, bevor ihr zulasst, dass sie sich um sich selbst kümmert.“ Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge, trat zu Payton und fing an, ihre Haarkämme zu entfernen. „Ihr drei solltet euch schämen“, tadelte sie Georgiana. „Um Himmels willen, lernt, eure Halsbinden selbst zu knoten. Ich habe gesehen, dass Captain Drake es kann. Es gibt keinen Grund, warum ihr es nicht auch können solltet. Ihr seid keine Greise.“

„Oh, na ja, Captain Drake“, sagte Hudson und verdrehte die Augen.

„Captain Drake kann ja einfach alles“, imitierte Raleigh mit hoher Stimme und obwohl nicht klar war, wen genau er nachahmte, warf Payton ihm einen warnenden Blick zu. Sie hatte die leise Vermutung, dass er sie meinte, und in diesem Fall würde sie ihn bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, ihre Faust spüren lassen müssen.

„Ich habe den Captain gerade eben im Flur getroffen.“ Georgiana begann, mit den Haarkämmen Paytons skandalös kurze Locken zu entwirren. Wenn sie sie genau im richtigen Winkel feststecken würde, dachte Georgiana, könnte sie die Illusion erwecken,  Paytons Haar wäre länger als kinnlang. „Und er sah recht präsentabel aus. Deutlich präsentabler, als du, Ross, in der Nacht vor unserer Hochzeit aussahst.“

„Richtig“, sagte Hudson lachend. „Aber Ross hatte, glaube ich, in dieser Nacht fast eine ganze Flasche Rum geleert, also ist es verständlich, dass er vielleicht nicht in bester Verfassung war –“

„Soweit ich weiß“, fuhr Georgiana fort, als hätte Hudson sie nicht unterbrochen,“ beschäftigt Captain Drake keinen Kammerdiener, also kann ich nur annehmen, dass zumindest er in der Lage ist, sich selbst anzukleiden.“

„Oder Miss Whitby hat ihm geholfen“, witzelte Raleigh.

Payton war so bestürzt, dass sie zusammenzuckte und ihr Haar aus Georgianas Händen riss. Sie wirbelte herum und blickte ihren Bruder an. „Das hat sie nicht“, erklärte sie.

Aber obwohl sie es mit all der Geringschätzung sagte, die sie aufbringen konnte, fragte sich ein Teil von ihr, ob es stimmen könnte. Unglücklicherweise musste dieser Zweifel in ihrer Stimme zu hören gewesen sein, denn Georgiana warf Raleigh einen missbilligenden Blick zu und sagte: „Natürlich nicht. Miss Whitby hat nichts dergleichen getan. Wirklich, Raleigh, warum musst du deine Schwester so provozieren?“

Payton fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden, und das geschah nicht, das wusste sie sehr wohl, weil der Raum nach Westen ausgerichtet war und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne direkt durch die drei Meter hohen Flügelfenster fielen.

„Das tut es nicht“, sagte sie und bewegte sich eilig wieder zu ihrer Schwägerin zurück. „Mich provozieren, meine ich. Mich interessiert es ganz sicher nicht, wer Captain Drake ankleidet. Wenn es nach mir geht, könnte er einen ganzen Harem an Frauen haben, die ihn ankleiden.“

Georgiana runzelte die Stirn und machte sich wieder mit den Kämmen an die Arbeit. Nach drei Monaten Ehe war Georgiana bereits an die schlüpfrigen Gespräche gewöhnt, die zwischen ihrem Ehemann und seinen Brüdern – und manchmal sogar ihrer Schwester – als Humor durchgingen. Sie konnte nur ihr Bestes tun, um solche Gespräche nicht zu ermutigen, indem sie sie ignorierte oder, wie jetzt, gelassen hinnahm.

„Nun, wer auch immer ihn angekleidet hat“, sagte sie, „Miss Whitby war es nicht. Ich habe sie vor nicht einmal einer halben Stunde unten gesehen. Sie war in Gesellschaft eures Vaters. Er hat ihr gerade die neueste Ergänzung seiner Sammlung gezeigt.“

Alle vier Dixon-Geschwister stöhnten auf. Sir Henry Dixon war zu seiner Zeit ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, der Gründer von Dixon und Söhne, einer Handelsreederei, die ihm ein ordentliches Vermögen eingebracht hatte. Aber seit dem Tod seiner geliebten Frau, die nach Paytons Geburt im Kindbett gestorben war, hatte er das Interesse an seinem Geschäft verloren und schließlich das gesamte Unternehmen an seine Söhne übergeben. Nun verbrachte Sir Henry die meiste Zeit damit, in Erinnerungen an seine tote Frau zu schwelgen und Piraten-Memorabilien zu sammeln. Sein ganzer Stolz war eine Kollektion von Musketenkugeln, die er in Nassau gekauft hatte, Musketenkugeln, die angeblich aus Musketen verschiedenster Piratenkapitäne abgeschossen worden waren, darunter auch Blackbeard. Es war eine Sammlung, die er überallhin mit sich führte und die er jedem zeigte, der das Pech hatte, auch nur das geringste Interesse daran bekundet zu haben.

Payton konnte nicht anders, als tiefe Genugtuung darüber zu verspüren, dass die widerliche Miss Whitby ihrem Vater ins Netz gegangen war. Jetzt würde sie den Großteil der nächsten Stunde damit verbringen, zuzuhören, wie Sir Henry über Kaliber und die chemische Zusammensetzung von Blei leierte, etwas, das Payton nur ihrem schlimmsten Feind wünschen würde. Und da Miss Whitby dieser Feind war, fühlte sie sich auf einmal ziemlich gut.

„Und was“, fragte Payton ihre Schwägerin mit trügerischer Gelassenheit, „trägt Miss Whitby heute Abend?“

„Oh, uff“, sagte Georgiana. „Ein zartes blaues Teil mit pinkfarbenen Rosetten. Ich kann mir nicht vorstellen, woher sie es hat. Es wirkt viel zu jugendlich für sie, wenn du mich fragst. Und mit ihrem roten Haar ist rosa nicht das Richtige.“ Payton war klein für ihr Alter, also musste sich Georgiana hinunterbeugen, um zu flüstern: „Dein Kleid ist viel hübscher.“

Trotz Georgianas Versuch, taktvoll zu sein, schnappte ihr Mann ihre Worte auf. „Das will ich auch hoffen, dass Paytons hübscher ist, nach dem, was ich dafür bezahlt habe“, schimpfte er.

Payton zupfte verlegen an den Puffärmeln ihres weißen Abendkleides aus Satin. Sie sehnte sich danach, auch an den spitzen Enden ihres Korsetts zu ziehen, die sich unbequem in ihre Oberschenkel gruben, wagte es aber nicht, solange ihre Brüder im Raum waren. Sie würden sie gnadenlos aufziehen, wenn sie erführen, dass sie eines trug. Und wie sie sie kannte, würden sie sich verpflichtet fühlen, diese Information mit jeder einzelnen Person zu teilen, die sie beim Abendessen trafen. Payton hatte noch nie zuvor ein Korsett getragen, geschweige denn Haarkämme, Ohrringe oder gar Parfüm. Sie konnte nicht anders, als ein wenig über ihre eigene Verwandlung zu staunen. Die Erweiterung ihrer Familie um eine Schwägerin war wirklich nicht so nachteilig, wie Hudson und Raleigh ihr weisgemacht hatten. Schwägerinnen, so fand Payton, wussten über alles Mögliche Bescheid und zögerten nicht im Geringsten, dieses Wissens auch weiterzugeben.

Die Auskunft über Miss Whitbys Kleid zum Beispiel. Payton hätte nicht darauf hoffen können, dass einer ihrer Brüder aufmerksam genug gewesen wäre, um das wiederzugeben. Raleigh hätte vielleicht die richtige Farbe gewusst, und Hudson hätte vielleicht etwas über die Größe und Form von Miss Whitbys Brüsten zu sagen gehabt, aber das wäre schon alles gewesen. Wie nützlich Frauen doch sein konnten! Nachdem sie ihr gesamtes Leben fast ausschließlich in der Gesellschaft von Männern zugebracht hatte, war Payton ziemlich verblüfft über diese Entdeckung.

„Sie ist also vollständig aufgetakelt, oder?“ Payton runzelte beim Anblick ihres Abbildes im Spiegel über der Kommode die Stirn. „Was hat sie auf ihrem Masttop?“

„Damit meinst du wohl, wie Miss Whitby ihr Haar trägt.“ Georgiana schüttelte den Kopf. „Nun, das werde ich dir sagen: Offen.“

„Miss Whitby, Miss Whitby“, donnerte Ross. „Soll ich mir für den Rest meines Lebens Geschwätz über diese verfluchte Miss Whitby anhören? Knotet mir jetzt endlich jemand die verdammte Halsbinde?“

Georgiana steckte die letzte von Paytons Locken in einen Schildpattkamm. „Wirklich, Ross“, sagte sie sanft, „Musst du so fluchen?“

„Genau, Ross“, sagte Payton, die dem damenhaften Beispiel ihrer Schwägerin folgen wollte. „Halt die verdammte Klappe.“

Hudson, der gerade einen Schluck aus seinem eigenen Brandyschwenker genommen hatte, prustete, amüsiert von Paytons empörten Ausruf, seinen Inhalt durch das ganze Zimmer. Ein paar Tropfen der bernsteinfarbenen Flüssigkeit landeten auf dem Ärmel von Raleighs neuem Frack. Er sprang vom Fenstersitz auf und fluchte dabei noch derber als Payton, woraufhin die beiden Männer sofort begannen, miteinander zu ringen. Dabei forderte Ross weiterhin lautstark, dass seine Frau – oder seine Schwester, es war ihm egal, wer es machte, solange es erledigt wurde – seine Halsbinde knotete. Georgiana hob an, um zum tausendsten Mal darauf zu beharren, dass die Dixons einen Kammerdiener beschäftigen sollten, während Payton sich auf Raleighs Rücken stürzte, um ihm heimzuzahlen, dass er sie nachgemacht hatte. Sie griff um seinen Hals und zerrte an der Halsbinde, die sie vor einer halben Stunde selbst so sorgfältig gebunden hatte.

Raleigh ließ ein Knurren vernehmen und hob die Hände, um ihre Handgelenke zu ergreifen. Zu spät ging Payton auf, dass sie erst denken und dann handeln hätte können, ein Grundsatz, an den ihre Schwägerin sie oft mahnend erinnerte. Mit ihren Brüdern in ihrer momentanen Garderobe zu ringen, war entschieden anders als in Kniehosen. Als sie mit den Knien Raleighs Rücken umklammerte, weil sie wusste, dass er sein Bestes tat, um sie abzuwerfen, bohrten sich die Streben von Paytons engem Korsett in ihre Rippen und Oberschenkel; die stramme Schnürung schränkte ihre Bewegung wirkungsvoller ein als jede leidenschaftliche Umarmung – nicht, dass Payton mit Umarmungen vertraut gewesen wäre, ob leidenschaftlich oder nicht. Da sie zierlich war und weniger als die Hälfte ihrer Brüder wog, hatte Payton sich stets ganz und gar auf ihre Gelenkigkeit verlassen, um sich aus jeglicher Folter, die diese für sie erdacht hatten, zu befreien. Der stählerne Griff ihres Korsetts machte es jetzt jedoch unmöglich, so gelenkig zu sein.

Ihre Schwägerin musste das bemerkt haben, denn hinter ihr hörte Payton, wie Georgiana verzweifelt rief: „Raleigh! Lass sie runter. Das ist nicht lustig. Es könnte jemand verletzt werden. Lass sie runter, Raleigh!“

„Ich werde sie runterlassen“, versicherte Raleigh, „und zwar mit dem Kopf voran in den Abort.“

Dann tat Raleigh mit einem teuflischen Lachen so, als würde er sie über seinen Kopf und seine Schultern hieven.

Payton lehnte es ab, zu flehen. Sie war immerhin eine Dixon. Beißen, kratzen und um Gnade winseln wurden als unter der Würde der Dixons angesehen. Ebenso verpönt war es, dem Angreifer ins Gemächt zu treten – ein Schachzug, der einen, wie Payton schon früh in ihrem Leben gelernt hatte, garantiert aus dem Griff eines jeden Mannes befreien würde, tendenziell aber auch eine unerbittliche Wut in dem Angreifer auslöste. Sie konnte nur hoffen, dass Raleigh aus der Tatsache, dass sie bis jetzt noch nicht entkommen war, folgern würde, dass sie nicht gerade in ihrer üblichen Bestform war, was das Kämpfen anging. Payton schloss die Augen und verfluchte innerlich den Tag, an dem sie zugelassen hatte, dass ihre Schwägerin sie zum Tragen eines Korsetts überredete. Sie fand sich damit ab, schmachvoll auf dem harten Parkettboden zu landen ....

... als ein langer, kräftiger Arm von hinten ihre Taille umfasste. Oh, gut, dachte Payton. Es ist Ross. Gott sei Dank hatte wenigstens einer ihrer Brüder ihre missliche Lage bemerkt, wenn auch nur, weil seine Frau ihn dazu gedrängt hatte.

Aber als der Mann, der ihre Taille umfasst hatte, sprach, erkannte Payton, dass es ganz und gar nicht Ross war. „Wie oft muss ich es dir noch sagen, Raleigh?“, fragte Connor Drake in seiner tiefen, polternden Stimme. „Lass die Finger von deiner kleinen Schwester.“

„Von wegen klein“, behauptete Raleigh und hielt Paytons Handgelenke eisern fest. „Sie hat mich angegriffen, damit du’s weißt.“

„Trotzdem wirst du sie loslassen.“

„Warum sollte ich?“ Raleigh klang gereizt. „Sie –“

„Weil“, sagte Drake, „ich es gesagt habe.“

Payton konnte nicht sehen, was Drake mit seiner freien Hand tat, aber, was auch immer es war, es ließ Raleigh vor Schmerz aufjaulen. Plötzlich waren ihre Handgelenke frei. Das Nächste, was Payton wusste, war, dass sie mit der Kraft eines einzelnen Armes um ihre Taille vom Rücken ihres Bruders gehoben wurde. Eines Armes, der sie eng an den Körper presste, zu dem er gehörte. An einen sehr harten, sehr großen und sehr männlichen Körper. Einen Körper, den Payton im Laufe der letzten Jahre in der Tat sehr gut kennengelernt hatte – leider nur durch Beobachtung. Als sie diesen Körper jetzt an ihrem spürte – auch wenn es nur für ein oder zwei Sekunden war und durch eine ganze Reihe von Schichten aus Unterröcken und Walknochen – fühlte Payton sich, als wäre Raleigh gelungen, womit er gedroht hatte. Ihr war so schwindelig, als wäre sie kopfüber auf den harten Boden gestürzt.

Aber in Wirklichkeit war es nur Connor Drakes Körper an ihrem, der ihren Kopf dazu brachte, sich zu drehen.

„Und du“, hörte sie Drake sagen, wobei sein warmer Atem an ihrem Ohr kitzelte. „Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du nur solche  Raufereien provozieren sollst, die du auch gewinnen kannst. Und nur mit Leuten, die deine Größe haben.“

Als ihre Füße das Parkett berührten, spürte Payton, wie Drake seinen Arm zurückzog. Nicht, dachte sie und empfand dabei ein so intensives Bedauern, dass es tatsächlich körperlich wehtat.

Aber ihr wollte einfach keine Möglichkeit einfallen, in seinem Arm zu bleiben. Miss Whitby wäre sicherlich in Ohnmacht gefallen oder hätte irgendein anderes Kunststück vollbracht. Aber Payton war in ihrem ganzen Leben noch nie in Ohnmacht gefallen und hatte auch nicht die geringste Ahnung, wie man so etwas vortäuschte.

Also hatte sie keine andere Wahl, als sich ihrem Retter zuzuwenden und so bissig wie möglich zu sagen: „Danke für deine Hilfe, aber ich kann dir versichern, dass das nicht nötig war. Ich hatte die Situation vollkommen unter Kontrolle.“

Sie glaubte zumindest, dass sie etwas Ähnliches gesagt hatte. Denn als sie ihren Blick hob, um Drake in die Augen zu sehen – und sie musste ziemlich weit nach oben schauen, weil er so absonderlich groß war, sogar noch größer als ihre Brüder, die in einigen Ländern für Riesen gehalten wurden – verließ sie alles rationale Denkvermögen und sie konnte ihn nur anstarren.

Drake lehnte lässig an einem der Bettpfosten, hatte die Arme vor seiner Brust überkreuzt und sah zu ihr herunter, während ein Lächeln seinen breiten, ausdrucksvollen Mund umspielte und seine blauen Augen leuchteten. In dem neuen schwarzen Frack, der seine breiten Schultern etwas zu gut umschmeichelte, wie Payton fand, sah er einfach umwerfend aus. Zu dem Jackett trug er eine neue Weste aus weißem Satin und ein Paar Kniehosen, die ihr, als sie den Blick senkte, um sie zu betrachten, vorne vielleicht ein wenig zu eng erschienen. Denn sie brachten eine junge Dame wie sie selbst, die sich für solche Dinge interessierte, völlig durcheinander.

Dann wiederum schien sie das von all seinen Hosen zu denken. Ihre Schwägerin hatte ihr versichert, dass die Hosen des Captains in Wirklichkeit ziemlich locker geschnitten waren. Und dann hatte sie vorgeschlagen hatte, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten.

Obwohl das wahrscheinlich ein sehr vernünftiger Rat war, war es Payton in letzter Zeit  nicht möglich, ihn zu befolgen.

„Ist das so?“, fragte Drake affektiert. „Tja, dann hoffe ich, dass du mir verzeihst. Mir schien, als wärst du in einiger Bedrängnis.“

„Unsinn.“ Payton warf ihren Kopf zurück und bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass einer der Kämme während der Balgerei mit Raleigh herausgerutscht war. Er hing herunter und baumelte gerade so über ihrer nackten Schulter. Sie hob eine Hand und versuchte, ihn wieder zurückzuschieben. „Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen ...“

Payton verstummte, und zwar nicht, weil ihre Brüder hinter ihr lautstark ihre Rauferei fortsetzten. Als sie ihre Arme hob, um den Kamm zurechtzurücken, glitt Drakes Blick plötzlich von ihrem Gesicht weg und in den Ausschnitt ihres Kleides, der, wie Ross zuvor beklagt hatte, ohnehin ziemlich gewagt war. Ein kurzer Blick nach unten eröffnete ihr, dass er jetzt nicht nur gewagt, sondern geradezu obszön war: Obwohl nichts Essenzielles zu sehen war, war doch während ihres Ringkampfes mit ihren Brüdern deutlich mehr den Spitzenkörbchen dieses verräterischen Korsetts entschlüpft, als sich gehörte.

Payton begann sofort, ihre Brüste wieder dorthin zu verstauen, wo sie hingehörten. Nicht, dass es viel gewesen wäre – es schien, als ob jede andere Frau auf der Welt viel mehr Busen hatte als sie – aber das, was sie hatte, schien wirklich unkontrollierbar zu sein ... zumindest für ein Mädchen, das es gewohnt war, dort überhaupt nichts zu haben.

Das zischende Einatmen ihrer Schwägerin zeigte ihr, dass sie das vielleicht besser gelassen hätte – zumindest in Anwesenheit von Gentlemen, die nicht blutsverwandt mit ihr waren.

„Oh, Captain Drake“, rief Georgiana, stürzte nach vorn und ergriff den Arm des Captains. „Haben wir Sie beunruhigt? Nur wieder einmal eine kleine Meinungsverschiedenheit bei den Dixons, fürchte ich.“ Als der Blick des Captains immer noch nicht von Paytons Brustkorb wich, zerrte Georgiana an seinem Arm und zog ihn zu der offenen Tür, durch die er vor wenigen Augenblicken so unbemerkt hereingeschlendert war. Das war, wie Payton annahm, Georgianas Strategie, um den Captain abzulenken, sodass Payton Zeit hätte, die Dinge unter ihrem Mieder in Ordnung zu bringen. Sie nutzte die Gelegenheit, indem sie kräftig an ihrem Korsett zog.

„Sie sind so kindisch, nicht wahr, Captain?“, sagte Georgiana mit einem glockenhellen Lachen, als sie über die niedergestreckten Körper ihrer Schwager stiegen, die noch lange nach Paytons Rettung miteinander gerungen hatten, und schließlich mit gewaltigem Krach zu Boden gefallen waren. „Ich kann mir nicht ausdenken, wie Sie sie so viele Jahre lang ertragen konnten. Raleigh, Hudson“, säuselte sie. „Unser Gastgeber ist hier. Jetzt steht doch auf.“

Raleigh stand zuerst auf und zog seine Weste wieder straff. „Gastgeber“, murmelte er. „Es ist nur Drake, um Himmels willen.“

„Wirklich, Georgiana“, sagte Hudson im gleichen Tonfall. „Du wirst den Kerl noch aufs hohe Ross setzen, wenn du ihn einfach so als Gastgeber bezeichnest. Und ehe du dich versiehst, wird er herumlaufen und darauf bestehen, dass er ein Baronet ist oder sowas.“

„Genaugenommen“, sagte Drake, „bin ich ein Baronet.“

Hudson sah seine Schwägerin zornig an. „Schau, was du angerichtet hast“, sagte er.

Georgiana sah gequält aus. „Hudson“, sagte sie. „Captain Drake ist ein Baronet. Erinnere dich, ich habe dir in der Kutsche erklärt, dass er den Titel geerbt hat, als sein Bruder starb –“

„Das glaub’ ich nicht“, verkündete Hudson.

„Auf keinen Fall“, fügte Raleigh hinzu. „Wir müssen dich doch jetzt nicht mit Sir ansprechen, oder, Drake? Denn ich für meinen Teil werde das nicht hinnehmen, bei allem, was wir zusammen durchgemacht haben.“

„Ich glaube nicht“, stimmte ihm Hudson nachdenklich zu, „dass ich einen Mann, den ich beim Kartenspielen so oft geschlagen habe wie Drake, mit Sir ansprechen könnte.“

Drake machte eine tiefe Verbeugung. „Meine Herren“, sagte er mit gespieltem Ernst, „ich habe vollstes Vertrauen, dass keiner von euch zulassen wird, dass die Veränderung meines sozialen Status den Respekt mindert, den ihr, wie ich weiß, stets für mich gehegt habt.“

„Leck mich am Arsch, Drake“, legte ihm Hudson nahe, während Raleigh mit seinen Lippen ein rüpelhaftes Geräusch machte.

„Oh“, sagte Georgiana, öffnete ihren Fächer und fächelte ihren glühenden Wangen energisch Luft zu. „Du meine Güte.“

Drake erhob sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht aus seiner Verbeugung – ein Lächeln, das Payton den Atem raubte, auch wenn sie das auf das Gerangel mit ihren Brüdern schob.

„Es ist schön, zu wissen“, kommentierte er, „dass selbst, wenn sich viele Dinge ändern mögen, manches immer gleich bleiben wird.“

„Ach was, Drake.“ Ross fingerte an seinem immer noch offenen Kragen herum. „Georgiana sagt, dass du diesen Knoten selbst gebunden hast. Stimmt das? Du musst mir zeigen, wie man das macht, alter Kumpel. Ich scheine den Dreh nicht ganz rauszukriegen.“

„Die Gentlemen treffen sich im Billardzimmer“, antwortete Drake immer noch lächelnd. „Ich werde euch dort Gesellschaft leisten und dir mit Vergnügen so viel Rat erteilen, wie ich kann.“

„Billardzimmer“, wiederholte Hudson, „der Tunichtgut hat ein Billardzimmer. Dieser Baronet-Kram hat irgendwie was, Ral.“

„Ich wette, dass es da Whisky gibt“, sagte Raleigh. „In einem Billardzimmer gibt es immer Whisky.“

Es gab auf der Welt keine Türöffnung, die breit genug gewesen wäre, als dass alle drei Dixon-Brüder auf der Suche nach Whisky hindurchgepasst hätten und die Türen in Daring Park waren da keine Ausnahme. Payton beobachtete mit hochgezogenen Augenbrauen, wie ihre Brüder sich in ihrer Eile, aus dem Zimmer zu kommen, gegenseitig mit den Ellenbogen stießen und anrempelten. Erst als sie weg waren, wandte sich Drake mit ebenfalls hochgezogenen Augenbrauen an Georgiana und sagte so nüchtern, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen, seit er den Raum betreten hatte: „Mrs Dixon, die Damen treffen sich vor dem Abendessen im Salon, so viel ich weiß.“

„Oh.“ Georgiana, die sich noch nicht ganz von Hudsons Vorschlag erholt hatte, dass Connor Drake sein Hinterteil lecken möge, fächelte sich verzweifelt Luft zu. „Vielen Dank, Captain. Es ist ganz – es ist sehr freundlich von Ihnen, persönlich vorbeizuschauen, um uns Bescheid zu geben –“

„Es war mir ein Vergnügen, Mrs Dixon. Ich bin erfreut, Sie alle hier in Daring Park zu empfangen. Ich hoffe, Sie finden Ihre Zimmer komfortabel?“

„Oh“, sagte Georgiana. „Sehr. Das Haus ist bezaubernd, einfach bezaubernd.“

Georgiana schien sehr darauf erpicht zu sein, dem eindringlichen Blick des Captains zu entkommen. Payton konnte diesen Wunsch verstehen. Sie war öfter, als sie sich ins Gedächtnis rufen wollte, selbst die Empfängerin dieses kühlen und berechnenden Blickes gewesen.

„Komm schon, Payton“, fuhr Georgiana nervös fort. „Wir sollten besser nach unten gehen, bevor deine Brüder sich in noch mehr Schwierigkeiten bringen ...“

„Ich komme gleich“, sagte Payton.

Payton erkannte, dass sich ihr eine einmalige Gelegenheit bot. Sie versuchte ihre Stimme ausreichend unschuldig und liebreizend klingen zu lassen, damit ihre Schwägerin nicht vermutete, dass sie nicht die geringste Absicht hatte, ihr in absehbarer Zeit zu folgen.

Es gelang ihr. Georgiana verschwand im Flur. Sie war zu verärgert über die schlechten Manieren ihrer neuen Familie, um dem, was das jüngste Mitglied dieser Familie vorhatte, viel Beachtung zu schenken. Und das war auch gut so, denn sie hätte kaum befürwortet, was Payton als Nächstes tat. Sie packte den Baronet am Arm, als er zur Seite trat, um ihr den Vortritt zu lassen und zischte: „Danke für verdammt nochmal gar nichts!“

Drake wirkte äußerst erstaunt darüber, so angesprochen zu werden. Er zog seine dunkelblonden Augenbrauen hoch und fragte empört: „Wie bitte?“

„Wie soll ich Ross jemals davon überzeugen, mir ein eigenes Kommando zu übergeben, wenn du dich andauernd einmischst?“, fragte Payton hitzig.

„Wenn ich mich einmische?“ Schließlich erhellte sich das Gesicht des Captains wissend. „Oh, ich verstehe. Du meinst, indem ich deinen Bruder davon abgehalten habe, dich über seine Schulter zu werfen, habe ich mich eingemischt?“ Seine Mundwinkel bogen sich zu einem unmissverständlichen Grinsen nach oben. „Ich werde dich dann wohl um Vergebung bitten müssen, Payton. Ich dachte eigentlich, dass ich dich vor einem verheerenden Schlag auf den Kopf bewahren würde. Äußerst unehrenhaft von mir, wie ich jetzt bemerke.“

Payton weigerte sich, sich von dem Charme und dem umwerfenden Äußeren des Captains beeinflussen zu lassen. Das war gerade in diesem Moment äußerst schwierig, da die Sonne, die schräg in den Raum fiel, auf seinem goldenen Haar glänzte und es zum Schimmern brachte. Dadurch sah es so aus, als ob um Captain Drakes Kopf ein Glorienschein läge, als wäre er ein Heiliger – oder vielleicht der Erzengel Gabriel – in einem Bleiglasfenster. Glücklicherweise war Captain Drake nicht auf dem von Läusen befallenen Klipper gewesen, sodass sein feines Haar von Ross’ Schere verschont geblieben war. Es reichte bis zu seinem Hemdkragen. Manchmal trug er es mit einem schwarzen Band nach hinten gebunden, was Payton sehr gut gefiel.

Großer Gott! Was machte sie denn da, herumstehen und sein Haar bewundern?

Payton stemmte beide Hände gegen ihre schmale Taille und funkelte ihn an. „Das ist nicht lustig“, informierte sie ihn, „Wir reden hier von meiner Zukunft. Weißt du, Ross hat diese lächerliche Idee, mich zu verheiraten, anstatt etwas Sinnvolles zu tun und mir die Constant zu überlassen.“

„Ach ja“, sagte Drake. Er schien zu versuchen, ein angemessen ernstes Gesicht zu machen, hatte aber einige Schwierigkeiten: „Die Constant. Das neueste und schnellste Schiff der Dixon-Flotte. Und du findest, dein Bruder sollte dir das Kommando darüber überlassen.“

„Warum denn nicht?“ Payton stampfte mit ihrem Fuß auf, der in einem anmutigen Slipper steckte. „Ich werde nächsten Monat neunzehn Jahre alt. Sowohl Hudson als auch Raleigh haben an ihrem neunzehnten Geburtstag ihr eigenes Schiff bekommen. Warum sollte ich anders behandelt werden?“

Wieder einmal rutschte Drakes kühler, blauer Blick in den Bereich unter ihrem Hals ab.

„Nun ja“, sagte er. „Vielleicht, weil du eine –“

„Sag es nicht.“ Payton hob eine Hand hoch, mit der Handfläche nach außen. „Wage nicht, es zu sagen.“

„Warum?“ Drake sah ernsthaft verwirrt aus. „Daran gibt es nichts auszusetzen, verstehst du, Payton. Es hat seine Vorteile, weißt du.“

„Ach? Nenn mir einen. Und wenn du das Wort ‚Mutterschaft‘ erwähnst, schwöre ich dir, dass ich schreien werde.“

Drake zögerte. Es fiel ihm entweder nichts Vorteilhaftes daran ein, als Frau geboren zu werden, oder er hielt es nicht für angemessen, es in Paytons Gegenwart zu äußern. „Vielleicht denkt dein Bruder, dass er dir dein Geburtstagsgeschenk bereits gegeben hat. Ist das nicht eines der neuen Abendkleider, über die sich Ross beschwert hat? Es ist sehr hübsch.“

Paytons Unterkiefer klappte herunter. „Was? Ein Kleid? Ein verdammtes Kleid? Du machst wohl Witze. Ich soll mich mit einem neuen Kleid zufriedengeben, wenn ich das Kommando über einen Klipper hätte haben können?“

„Nun“, sagte Drake, „das erscheint dir wohl nicht gerecht. Aber um ehrlich zu sein, Payton, ich bin mir nicht sicher, ob ich anderer Meinung bin als Ross, wenn es darum geht, dass du dein eigenes Schiff kommandierst. Es ist eine Sache, wenn du mit deinen Brüdern auf See gehst. Schließlich sind sie dann zur Stelle, um dich zu beschützen. Aber eine junge Dame, die ganz allein in See sticht, mit einer Crew aus Männern, die sie nicht kennt –“

„Mich beschützen?“ Paytons Stimme triefte vor Abscheu. „Wann hat mich irgendeiner meiner Brüder jemals beschützt? Du hast sie vorhin gesehen. Mich zu beschützen stand bei Raleighs Absichten kaum an erster Stelle. Mich umzubringen würde es schon eher treffen.“ Sie legte ihre Hand noch einmal auf seinen Arm und hoffte, er würde nicht bemerken, dass diese leichte Berührung genügte, um ihren Puls zum Rasen zu bringen. Dennoch: Sie hatte nicht das Gefühl, als hätte sie eine Wahl. Das könnte durchaus ihre letzte Chance sein. „Versprich mir, dass du mir helfen wirst, Ross davon zu überzeugen, mir die Constant zu geben. Bitte, Drake. Ross hört auf dich, weißt du. Versprichst du mir bitte, dass du es versuchen wirst?“

Fest entschlossen, dass sie ihm dieses Mal in die Augen sehen würde, ohne zu blinzeln oder wegzusehen, hob Payton ihren Blick. Jedes Mal verunsicherte sie das unnatürliche Blau seiner Iris aufs Neue. Sie war von derselben Farbe wie die Untiefen der Gewässer vor den Bahamas. Der einzige Unterschied war, dass dort das Wasser so klar war, dass sie bis auf den Meeresgrund sehen konnte. Doch was hinter Drakes klaren, blauen Augen verborgen lag, konnte sie nicht lesen – und war auch noch nie dazu imstande gewesen. Sie hätten genauso gut pechschwarz sein können, so wenig konnte sie ihn durchschauen.

Sie hatte keine Ahnung, was er ihr geantwortet hätte, denn sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten und sie wurden unterbrochen, bevor er etwas erwidern konnte.

„Connor?“ Die melodische Stimme wehte von der offenen Tür herüber und überrumpelte sie beide. Payton zog ihre Hand ruckartig von Drakes Arm zurück, drehte sich um und sah im Flur eine hübsche rothaarige Frau in einem hellblauen Kleid mit pinkfarbenen Rosetten. Passende Rosetten zierten auch ihre Slipper und ihr Haar.

„Ich dachte, ich hätte deine Stimme gehört, Connor“, säuselte die Frau. „Guten Abend, Miss Dixon. Ich hatte eben die reizendste Unterhaltung mit Ihrem Vater. Er zeigte mir die neueste Ergänzung seiner Musketenkugel-Sammlung. Er ist so ein lieber Mann. Ich verehre ihn geradezu.“

Payton rang sich ein müdes Lächeln ab. „Oh“, sagte sie. „Das freut mich aber.“

Zu Captain Drake sagte Miss Whitby: „Kommst du nach unten, Teuerster? Ich habe gehört, dass deine Großmutter gerade angekommen ist und nach dir gefragt hat.“

Captain Drakes Lächeln, das er noch einen Moment zuvor nur mit Mühe hatte zurückhalten können, war jetzt völlig verschwunden. Nun betonte das schwindende Sonnenlicht nicht mehr den goldenen Schimmer in seinem Haar, sondern ließ die Falten in seinem Gesicht deutlich hervortreten. Wie Payton bemerkt hatte, waren es noch mehr geworden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Zwei besonders tiefe Falten verliefen von seinen Mundwinkeln bis zu seiner Nase. Er sah plötzlich viel älter aus als ein Mann im dreißigsten Lebensjahr.

„Natürlich“, sagte er zu Miss Whitby. „Ich komme jeden Augenblick runter.“

Miss Whitby rührte sich allerdings nicht. „Ich denke, wir sollten deine Großmutter nicht warten lassen, mein Liebster“, sagte sie gutgelaunt.

Captain Drake sagte einen Moment lang nichts. Er schien sich sehr für das Muster auf dem Teppich zu interessieren. Dann sah er plötzlich auf. Payton erstarrte, als er seinen unerträglich eindringlichen Blick mit aller Intensität auf sie richtete. „Werden Sie uns nach unten begleiten, Miss Dixon?“, fragte er.

Payton, die immer noch ein wenig erschrocken über die Verwandlung war, die sein Gesicht seit Miss Whitbys Erscheinen durchlaufen hatte – und die, wie immer, völlig fasziniert von seinem Blick war – konnte nur den Kopf schütteln. „Ähm, vielen Dank“, murmelte sie. Ihre Lippen waren trocken. „Aber nein. Ich ... ich brauche noch einen Moment.“

Zu ihrer Erleichterung senkte der Captain seinen Blick. „Nun gut“, sagte Drake und bot der rothaarigen Frau seinen Arm an.

„Einen guten Abend, Miss Dixon“, sagte Miss Whitby voller Liebreiz. Und dann drehten sich die beiden um. Payton beobachtete, wie Miss Whitby ihre behandschuhten Finger durch die Armbeuge des Captains schob und ihn heiter anlächelte. „Ich könnte mir vorstellen“, sagte sie, „dass deine Großmutter sehr gespannt darauf ist, endlich deine Verlobte zu treffen.“

„Ja“, hörte Payton Drake antworten. „Ich könnte mir denken, dass sie das ist.“

Kapitel 2

Nachdem der Captain und seine Verlobte das Zimmer verlassen hatten, ging Payton zum Spiegel, der über der Kommode hing. Der Schildpattkamm, den das Herumgealber ihrer Brüder aus ihrem Haar gelöst hatte, baumelte traurig hinter ihrem Ohr herunter. Er war wahrscheinlich schon die ganze Zeit, in der sie mit Captain Drake gesprochen hatte, dort gewesen. Er war ganz gewiss dort gewesen, während sie mit Miss Whitby gesprochen hatte.

Seufzend griff Payton nach oben und versuchte, den Kamm wieder an seinen Platz zu stecken. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn nicht im gleichen Winkel festklemmen, wie Georgiana es getan hatte. Als sie fertig war, stand der Kamm ziemlich komisch seitlich von ihrem Kopf ab. Sie verdrehte die Augen und wandte sich verärgert vom Spiegel ab.

Wirklich, dachte Payton bei sich. Ihr Haar war das geringste ihrer Probleme. Sogar mit ihrer sommersprossigen, braungebrannten Nase, ihrer kleinen Statur und ihrem mehr oder weniger fehlenden Busen wusste sie, dass sie nicht, wie es Raleigh so feinfühlig formuliert hatte, hässlich war. Wenn sie wirklich hässlich gewesen wäre, hätten ihre Brüder nicht so ungeniert darüber gescherzt. Aber sie wusste auch ganz genau, dass sie überhaupt nicht wie andere Mädchen ihres Alters aussah. Sie sah gewiss nicht im Geringsten aus wie Miss Whitby mit ihrer zartweißen Haut – ohne eine einzige Sommersprosse – und ihrem taillenlangen, rotbraunen Haar. Payton sah nicht annähernd so aus wie Miss Whitby und benahm sich auch nicht annähernd wie sie.

Zum Beispiel gerade jetzt: Niemals im Leben hätte Payton zu Connor Drake sagen können: „Kommst du nach unten, Teuerster?“, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Connor Drake war Payton unendlich viel teurer, als er es jemals für Miss Whitby wäre – und jeder, der etwas anderes behauptete, würde Paytons Fäuste kennenlernen – aber sie hätte sich lieber ihre Zunge abgeschnitten, als ihn tatsächlich ‚Teuerster‘ zu nennen. Natürlich könnte das daran liegen, dass ihre Brüder sie bis in alle Ewigkeit aufziehen würden, wenn einer von ihnen mitanhören würde, wie sie ihren Freund Drake ‚Teuerster‘ nannte.

Aber trotzdem dachte Payton nicht, dass es Männern wirklich gefiele, als Teuerster bezeichnet zu werden. Es hatte für sie gewiss nicht so ausgesehen, als wäre Drake sehr erfreut gewesen. Zumindest hatte sich sein Gesichtsausdruck, als Miss Whitby ihr „Teuerster“ und „mein Liebster“ von sich gegeben hatte, nicht im Geringsten verändert, außer vielleicht, dass er ein wenig strenger und ernster geworden war.

Andererseits sah Ross auch nie anders aus, wenn Georgiana ihn Teuerster nannte. Aber das lag wahrscheinlich daran, dass seine Frau ihn nur dann Teuerster nannte, wenn er etwas getan hatte, was sie missbilligte. Payton vermutete vielmehr, dass Ross und Georgiana hinter geschlossenen Türen ganz anders miteinander umgingen – eindeutig anders. Denn sie war einmal unbemerkt in den Salon gegangen und hatte gehört, wie Ross Georgiana sein kleines Äffchen genannt hatte, ein Kosename, gegen den Payton auf jeden Fall Einwände gehabt hätte, wenn jemand – selbst Captain Drake – sie so genannt hätte.

Aber vielleicht, dachte sie, gingen Captain Drake und Miss Whitby, wie Ross und Georgiana, anders miteinander um, wenn sie allein waren. Vielleicht gefiel es Drake, Teuerster genannt zu werden, wenn sie allein waren. Und Miss Whitby gefiel es, sein kleines Äffchen genannt zu werden. Die Vorstellung, wie Captain Drake und Miss Whitby allein miteinander waren, führte dazu, dass Payton ein wenig übel wurde, sodass sie diesen Gedanken hastig aus ihrem Kopf vertrieb.

Payton drehte sich wieder zum Spiegel um, fächerte ihren Rock auf und klimperte mit den Wimpern. Mit gekünstelter Stimme, die viel höher war als ihr normaler Tonfall, imitierte sie: „Ich könnte mir vorstellen, dass deine Großmutter sehr gespannt darauf sein muss, endlich deine Verlobte zu treffen.“

Als sie sich aus dem Knicks erhob, machte sie eine ungestüme Bewegung, so, als ob sie etwas treten würde – oder jemanden. Aber durch die plötzliche Bewegung zwickten ihre Korsettstreben, sodass sie es sofort bereute und eine Hand an ihre Hüfte legte, um sich die schmerzende Stelle zu reiben. „Verdammter Mist“, murmelte sie ärgerlich.

Der Captain und seine zukünftige Braut hatten die Treppe zu diesem Zeitpunkt gewiss bereits verlassen, schätzte Payton, und sie würde hinuntergehen können, ohne Angst haben zu müssen, einem von ihnen zu begegnen. Als sie ins Treppenhaus trat, sah sie sich interessiert um. Sie war neugierig auf das Haus, in dem sie bis zu diesem Tag noch nie gewesen war. Tatsächlich hatte sie, obwohl sie es nie zugegeben hätte, in der Nacht zuvor kaum geschlafen, so aufgeregt war sie wegen des bevorstehenden Besuchs gewesen.

Und abgesehen von der Tatsache, dass der Hausherr eine Frau heiratete, die sie nicht ausstehen konnte, war Payton nicht enttäuscht worden. Daring Park war das Anwesen, auf dem Drake aufgewachsen war. Hier hatte er die meiste Zeit seines Lebens verbracht, bevor er wegen eines Zerwürfnisses mit seiner Familie, das seine Zukunft betraf, nach London gegangen war, um sein Glück zu suchen. Das weitläufige, dreistöckige Haus war über einhundert Jahre alt und voller schöner alter Möbel, von denen Georgiana ihr versichert hatte, dass es alles unbezahlbare Antiquitäten wären. Das war in der Tat etwas ganz anderes als das Londoner Stadthaus der Dixons, in dem alle Möbel neu gekauft worden waren, kurz nachdem Paytons Vater seine ersten fünftausend Pfund verdient hatte. Sie sahen immer noch aus wie neu, da die Dixons nie länger als ein paar Wochen im Jahr zu Hause waren und die restliche Zeit auf See verbrachten. Trotzdem gefiel Payton Daring Park sehr gut. Es war einer der wenigen Orte an Land, an denen man, dachte sie, barfuß herumlaufen konnte und keine Angst haben musste, auf etwas Spitzes zu treten.

Und obwohl sie keine sichtbaren Anzeichen dafür, dass Drake das Anwesen jemals bewohnt hatte, ausmachen konnte – keine Initialen, die in das Geländer geritzt worden waren, oder Porträts von ihm im großen Saal – konnte sie sich trotzdem ausmalen, wie er als Junge dort umhergestreift war, seine Lehrer schikaniert hatte und seinen älteren Bruder, mit dem er nie gut ausgekommen war, zum Weinen gebracht hatte. Dafür mochte sie den Ort umso mehr.

Diese Vorstellungen waren natürlich vollkommen frei erfunden: Drake sprach nie viel über seine Kindheit. Sie war anscheinend ziemlich unglücklich gewesen. Doch Paytons blühende Fantasie ergänzte das, was sie nicht wusste, bis sie ihn genauso ausgelassen durch das Dachgebälk springen sah, wie er durch die Takelage an Bord der Virago sprang. Das Schiff, das er die letzten fünf Jahre für Dixon und Söhne kommandiert hatte, und das er vermutlich noch weitere zehn Jahre lang kommandieren würde.

Nicht, dass Drake den Job bräuchte, geschweige denn den Lohn. Der frühe Tod seines Bruders vor beinahe acht Wochen hatte ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht. In Wirklichkeit bräuchte er nie wieder zur See zu fahren ... zumindest nicht, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ob er sich dazu entschied, weiterhin zu segeln, lag ganz bei ihm ...

Und bei der Frau, die er am nächsten Tag heiraten würde, natürlich.

Aber nach dem, was Payton aufgeschnappt hatte, empfand Miss Whitby keine besondere Liebe zum Meer. Sie hatte einmal mit einem Seitenblick in Paytons Richtung bemerkt, der nur einem Blinden entgangen wäre, sie fände, dass Salzluft dem Teint nicht guttue.

Aber wenn Paytons Teint darunter gelitten hatte, dass sie erst ihren Vater und dann ihre Brüder jahrelang auf See begleitet hatte, schien das Mr Matthew Hayford offensichtlich nicht zu bemerken. Entweder mochte er braungebrannte Frauen oder er war nicht so oberflächlich, dass solche Nebensächlichkeiten seinen Freundschaften im Weg standen. Denn als Payton den Treppenabsatz erreichte, sah sie, dass Matthew unten auf sie wartete und in seiner Abendgarderobe ganz anders aussah als in der Uniform des ersten Maats. „Ahoi, Miss Dixon“, rief er und schien erfreut, sie zu sehen. „Der Captain sagte mir, dass sie auf dem Weg wären. Und ich muss sagen, das Warten hat sich gelohnt. Sie sehen bildschön aus!“

Payton war ein wenig erstaunt über diese enthusiastische Begrüßung und sah sich um, um sicherzugehen, dass auch wirklich sie gemeint gewesen war. Aber hinter ihr auf der Treppe war niemand. So unwahrscheinlich es auch klang, die Bewunderung, die im Gesicht des jungen Mannes lag, schien ihr zu gelten. Aber sie kannte Matthew Hayford schon seit Jahren und er hatte ihr nie zuvor gesagt, dass sie bildschön aussähe. Könnte es am Korsett liegen? Sie blickte an sich herunter. Wahrscheinlich lag es eher an ihrem Dekolleté. Männer waren in der Tat sonderbare Kreaturen. Vielleicht sollte sie Drakes Rat beherzigen und es sich zweimal überlegen, bevor sie allein an Bord eines ganzen Schiffes voller Männer ging ...

Trotzdem begrüßte Payton Matthew mit einem heiteren Lächeln und einer ausgestreckten Hand.

„Seien Sie gegrüßt, Mr. Hayford“, sagte sie und gab seinen schwieligen Fingern einen kräftigen Händedruck. „Wann sind Sie angekommen?“

„Erst gerade eben“, sagte Matthew. „Ist es hier nicht nobel? Haben Sie die Schwäne draußen im See gesehen?“

„Oh, das ist noch gar nichts.“ Payton deutete auf eine Seite des großen Saals. „Schauen Sie sich diese Rüstungen an. Georgiana sagt, sie sind echt. Echte Ritter haben sich in ihnen geprügelt. Drakes Vorfahren, nehme ich an. Können Sie sich das vorstellen?“

Matthew folgte ihrem Blick. „Gott“, hauchte er. „Die Vorfahren von Captain Drake waren ziemlich klein, nicht wahr?“

„Das waren sie nicht“, rief Payton empört. Aber als sie sah, dass einige der Rüstungen ihr gepasst hätten, sagte sie: „Na ja, damals wussten sie nichts über ordentliche Ernährung. Da kann man nicht erwarten, dass sie besonders groß geworden sind.“

Matthew wandte ihr seinen bewundernden Blick wieder zu: „Gibt es eigentlich irgendetwas, über das Sie nicht Bescheid wissen, Miss Dixon?“

Sie tat so, als müsse sie über diese Frage sorgfältig nachdenken. Wirklich, wenn sie ganz ehrlich war, fand Payton, dass es nicht viel gab, was sie nicht wusste. Sie hielt sich gewiss für gebildeter als die meisten Mädchen ihres Alters. Über was wussten die schon Bescheid, außer über das Frisieren und Tratschen? Sie wusste, wie man ein Segel während einer Sturmböe einholt, wie man den Kurs nur mithilfe der Position der Sonne und der Sterne am Himmel bestimmt und wie man eine Meeresschildkröte nur mit einem Messer, ein paar Felsbrocken und ein wenig getrocknetem Seetang töten, häuten und zubereiten konnte. Wenn sie es nicht selbst an Deck eines der Schiffe ihrer Familie gesehen hatte, dann hatte sie darüber von Mei-Ling gehört, der kantonesischen Köchin, die die Dixon-Kinder auf fast jeder ihrer Reisen begleitet hatte. Erst seit Mei-Ling in ihr Heimatland zurückgekehrt war, um ihren wohlverdienten Ruhestand zu genießen, und Ross Georgiana als eine Art Ersatz in die Familie gebracht hatte, hatte Payton zu erkennen begonnen, wie mangelhaft ihre Bildung besonders bezüglich eines Themas war: nämlich der Liebe und Ehe.

Was hätte Mei-Ling zum Beispiel dazu gesagt, dass Connor Drake, der jede Frau auf der Welt hätte haben können, sich dazu entschieden hatte, die widerliche Miss Whitby zu heiraten? Payton vermutete, dass Mei-Lings Gedanken zu diesem Thema sehr aufschlussreich gewesen wären.

Aber sie war nicht bereit, ihren Unmut über die bevorstehende Hochzeit mit irgendjemandem zu teilen. Noch weniger wäre es ihr eingefallen, ihre Unwissenheit in Angelegenheiten, die ein Herz und keinen Kompass erforderten, zuzugeben. Also zuckte Payton bloß mit den Schultern und sagte: „Nein.“

Sie erschrak ein wenig, als Matthew ein heiseres Lachen vernehmen ließ, das so laut war, dass es in dem gewaltigen Raum widerhallte. Sie musste ihm sogar ziemlich heftig auf die Schulter klopfen, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„So amüsant war es nun auch nicht“, sagte sie. Es verblüffte sie wirklich, wie Männer völlig den Verstand zu verlieren schienen, sobald man irgendwo ein bisschen Busen sehen konnte. Na ja, manche Männer jedenfalls. Connor Drake schien leider völlig im Besitz seiner Geisteskräfte geblieben zu sein, als ihr Mieder heruntergerutscht war.

„Hören Sie, Miss Dixon“, sagte Matthew, als er sich genügend erholt hatte, um etwas zu sagen. „Ich habe gerade eben mit dem Captain gesprochen, und was glauben Sie, was er gesagt hat?“

Während sie wieder an ihren Haarkämmen herumfingerte, sagte Payton: „Ich kann aufrichtig behaupten, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, was der Captain gesagt hat, Mr. Hayford.“

„Oh, nur, dass nach dem Essen getanzt werden soll. Richtig getanzt, mit einem Orchester und nicht bloß einem Kerl, der etwas auf seinem Akkordeon spielt.“

Payton nickte. „Ich habe gesehen, wie die Musiker draußen vorgefahren sind“, sagte sie.

„Nun, Miss Dixon, wäre es dreist von mir Sie zu bitten, einen Tanz für mich zu reservieren? Würden Sie das tun?“

Payton hätte den Kamm beinahe direkt in ihre Kopfhaut gestochen. Sie wandte ihren erstaunten Blick dem jungen Mann zu und starrte ihn mit leicht geöffnetem Mund an – kein attraktiver Anblick, wie ihr klar wurde. Georgiana hatte sie eindringlich ermahnt, diesen Gesichtsausdruck um jeden Preis zu vermeiden. Sie erinnerte sich zu spät daran und ließ ihre Lippen zuschnappen wie ein Zackenbarsch, der nach Luft japst.

Mein Gott! Ein Mann hatte sie gerade gebeten, mit ihm zu tanzen! Zum ersten Mal in ihrem Leben – in den fast neunzehn Jahren ihres Lebens, um genau zu sein – hatte sie tatsächlich ein Mann zum Tanzen aufgefordert. Payton konnte es nicht glauben. So schnell waren Hudson und Raleigh Lügen gestraft worden!

Payton kaute auf ihrer Unterlippe herum, während sie mühsam versuchte, sich daran zu erinnern, was sie jetzt tun sollte. Georgiana hatte sie davor gewarnt, dass so etwas passieren könnte, obwohl Paytons ihr versichert hatte, dass sie viel zu jungenhaft wäre, als dass sie irgendein Mann zum Tanz auffordern würde. Sie mochte Matthew Hayford ziemlich gern. Der junge Mann hatte mit seinen zwanzig Jahren eine vielversprechende Karriere vor sich, und außerdem ziemlich ansehnliche volle, dunkle Haare – denn er war nicht auf dem mit Läusen befallenen Klipper gewesen.

Aber sie mochte ihn nur freundschaftlich. Er war geschickt mit dem Segel und ein guter Whist-Spieler, was ein beliebter Zeitvertreib unter den Offizieren an Bord war. Sie würde gewiss nicht zögern, ihn als Maat anzuheuern, wenn sie endlich ihr eigenes Kommando bekam. Aber mit ihm tanzen? Das war etwas anderes.

Allerdings war es trotz allem nur eine Einladung zum Tanz. Er hatte sie nicht gebeten, ihn zu heiraten, um Himmels willen. Also, worauf wartete sie?

Auf ihn, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Auf ihn.

Richtig, sagte sie zu sich selbst. Tja, aber er heiratet morgen Miss Whitby, also solltest du verdammt nochmal ein anderes Ziel anpeilen, Fräulein.

„Ja, vielen Dank, Mr Hayford“, sagte sie höflich. „Das wäre reizend.“

„Oh.“ Matthew sah ein wenig erstaunt aus, schüttelte aber trotzdem ganz begeistert ihre Hand. „Das ist prima, Miss Dixon. Einfach prima. Dann bis zum Abendessen?“

„Bis zum Abendessen“, stimmte Payton zu.

Die beiden jungen Leute trennten sich, Matthew ging in Richtung des Billardzimmers und Payton in den Salon, wo sich die Damen versammeln sollten. Sie hatte keine Schwierigkeiten, dieses Zimmer zu finden, weil sie das Klimpern eines Hammerklaviers hören konnte, das hinter der massiven Tür hervordrang. Dazu erklang Miss Whitbys trällernder Sopran, der eine Interpretation von „Der Eschenhain“ sang. Dieses Lied war ein besonderer Favorit Miss Whitbys, obwohl Payton sich nicht erklären konnte, warum. Es erzählte eine ziemlich schaurige Geschichte darüber, dass ein junger Mann seine Geliebte tot unter einem Baum vorfand. Aber Payton fand Liebesballaden im Allgemeinen meist makaber und zog bei weitem Seemannslieder vor, besonders solche mit einem Takt, der einen dazu brachte, seinen Fuß sehr fest auf das Achterdeck zu stampfen.

Als sie die Tür öffnete, bemerkte sie, dass der Salon nur geringfügig weniger maskulin dekoriert war als der Rest des Hauses. Beige war die vorherrschende Farbe. Payton schlüpfte leise genug in den Raum, um keine Aufmerksamkeit zu erregen – alle waren ohnehin zu vertieft in Miss Whitbys Darbietung, um sie zu beachten – und setzte sich auf den ersten freien Platz, den sie fand: ein wohlig weiches, aber etwas abgewetztes Ledersofa.

„Im Eschenhain, so voller Anmut“, trällerte Miss Whitby.

Sie hatte wohl eine ganz angenehme Stimme, dachte Payton, aber sie hatte das Gefühl, dass Miss Whitby es nicht deshalb so liebte, zu singen. Sie liebte es, zu singen, weil sie dabei so gut aussah. Jedes Mal, wenn sie Luft holte, um ihrem Lied Gefühl zu verleihen, hob sich ihr Busen in erschreckende und dramatische Höhen. Sie gab ein ziemlich beeindruckendes Bild ab mit ihrem blauen Rock, der sie umwogte, und ihrem Busen, der sich so sehr aufblähte, dass es aussah, als ob er jede Sekunde aus dem aufreizend geschnittenen Kleid herausquellen könnte. Als sie auf ihren eigenen Busen hinuntersah, fühlte sich Payton ziemlich niedergeschlagen. Sie fragte sich, ob Miss Whitby nicht vielleicht Taschentücher in die Körbchen ihres Korsetts gestopft hatte, um zu unterfüttern, womit die Natur sie beschenkt hatte.

„Die Lieben, um die ich trauere, kommen hier wieder zusammen“, sang Miss Whitby.

Payton war ziemlich überrascht darüber, dass Miss Whitby eine so vortreffliche Vorstellung an eine Gruppe von Frauen verschwendete. Sicherlich hätte sie besser daran getan, ihr Lied bis nach dem Abendessen aufzusparen, wenn die Herren anwesend wären. Ihr Busen wäre dann von viel größerem Nutzen.

Andererseits hatte Miss Whitbys Busen ja bereits seine Arbeit getan: Er hatte ihr den besten Fang Englands eingebracht. Oder zumindest nahm Payton an, dass es das war, was Drake angezogen hatte. Es schien ihr nicht so, als besäße die widerliche Miss Whitby noch irgendetwas anderes, das für einen Mann von Interesse sein könnte.

Im Eschenhain, so voller Langeweile, dachte Payton, während sie sich im Zimmer umsah. Sie erkannte etliche der dort versammelten Frauen. Da war natürlich Georgiana, die vorgab, in Miss Whitbys Vorstellung versunken zu sein (Georgiana hatte Payton anvertraut, dass sie Miss Whitbys Vibrato etwas gekünstelt fand). Dann waren da die Frauen und Töchter einiger Offiziere, mit denen Captain Drake in der Vergangenheit gesegelt war. Um genau zu sein gab es mit Ausnahme der stattlich aussehenden alten Frau, die gerade das Zimmer betrat, keine einzige Person, die Payton nicht kannte. Sie fragte sich, wo bloß Miss Whitbys Gäste waren? Auch wenn sie keine Familie mehr hatte, hatte die zukünftige Braut doch sicherlich irgendjemanden zu einem solch bedeutenden Anlass eingeladen ...

Aber offenbar nicht die alte Dame, die gerade das Zimmer betreten hatte. Nachdem sie beiläufig durch ein Paar Lorgnetten einen Blick auf Miss Whitby geworfen hatte, bewegte sich die Frau würdevoll, aber zielsicher auf das leere Sitzkissen auf Paytons Sofa zu. Nachdem sie sich – mithilfe eines hübschen Gehstocks – darauf niedergelassen und ihren wallenden Rock um ihre Beine drapiert hatte, beugte sie sich zu Payton herüber. Ihre wachen Augen sahen hinter den Gläsern ihrer Brille hervor, und in einem krächzendem Flüsterton fragte sie: „Wer bitte ist das? Dieses Geschöpf da, das so scheußlich singt?“

Payton, die gerade etwas sehr Ähnliches gedacht hatte, konnte nicht anders, als über eine so unvermittelte Bemerkung in Lachen auszubrechen. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, um die Darbietung nicht zu stören, aber trotzdem hörte Georgiana sie und drehte sich auf ihrem Platz um, um ihr einen warnenden Blick zuzuwerfen.

Die alte Frau neben Payton schien jedoch nicht die geringsten Skrupel zu haben, sich während Miss Whitbys Hauskonzert zu unterhalten.

„Ist das die, die er morgen heiratet?“ Die Hände der alten Dame – die trotz ihrer Altersflecken sehr elegant waren – umklammerten den Griff eines kunstvoll mit Schnitzereien verzierten elfenbeinernen Gehstocks. „Die, die da singt?“

Payton, die sich wieder gefangen hatte, nickte. „Ja, gnädige Frau“, flüsterte sie. „Das ist Miss Becky Whitby.“

„Whitby?“ Die alte Dame warf der Sängerin einen skeptischen Blick zu. „Ich habe noch nie von jemandem namens Whitby gehört. Wo kommt ihre Familie her?“

„Sie hat keine Familie, gnädige Frau.“ Payton musste sich nah an die Schulter der alten Frau lehnen, damit diese ihre geflüsterten Antworten hören konnte. „Alle aus ihrer Familie sind tot.“