Stolze Herzen der Highlands - Patricia Cabot - E-Book
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Stolze Herzen der Highlands E-Book

Patricia Cabot

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Beschreibung

Historische Romantik von der New-York-Times-Bestsellerautorin
Die temperamentvolle Amazone und der arrogante Marquis

Schottland, 1847: Der ehrgeizige Dr. Reilly Stanton, Marquis von Stillworth, verlässt London, um auf der abgelegenen Insel Skye eine Stelle als Arzt anzunehmen. Er ist fest davon überzeugt, dem rauen Klima und den nicht weniger rauen Dorfbewohnern zu trotzen, um seiner Verlobten zu beweisen, dass er mehr als ein adliger Taugenichts ist. Doch dass die größte Herausforderung dabei Miss Brenna Donnegal sein wird, konnte er nicht ahnen …

Die schöne Lady mit den flammend kastanienroten Locken und dem genauso feurigen Willen hat die Rolle als lokaler Arzt von ihrem Vater geerbt und ist alles andere als begeistert, dass ausgerechnet dieser Städter ihre Stelle und das Cottage übernehmen will. Wäre doch gelacht, wenn sie den arroganten Marquis nicht mit ein paar Tricks loswerden könnte. Solange sie das überhaupt noch will …

Erste Leserstimmen
„die Geschichte verspricht Romantik, Intrigen und starke Figuren”
„die Charaktere haben mich oft zum Lachen gebracht”
„eine spannende und unterhaltsame Handlung mit vielen größeren und kleineren Konflikten”
„grandios leitet der lockere und bildreiche Schreibstil durch die Geschichte”
„auch die prickelnden Szenen kommen bei Patricia Cabot nicht zu kurz”

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Seitenzahl: 649

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Über dieses E-Book

Schottland, 1847: Der ehrgeizige Dr. Reilly Stanton, Marquis von Stillworth, verlässt London, um auf der abgelegenen Insel Skye eine Stelle als Arzt anzunehmen. Er ist fest davon überzeugt, dem rauen Klima und den nicht weniger rauen Dorfbewohnern zu trotzen, um seiner Verlobten zu beweisen, dass er mehr als ein adliger Taugenichts ist. Doch dass die größte Herausforderung dabei Miss Brenna Donnegal sein wird, konnte er nicht ahnen …

Die schöne Lady mit den flammend kastanienroten Locken und dem genauso feurigen Willen hat die Rolle als lokaler Arzt von ihrem Vater geerbt und ist alles andere als begeistert, dass ausgerechnet dieser Städter ihre Stelle und das Cottage übernehmen will. Wäre doch gelacht, wenn sie den arroganten Marquis nicht mit ein paar Tricks loswerden könnte. Solange sie das überhaupt noch will …

Impressum

Erstausgabe 2001 Überarbeitete Neuausgabe März 2020

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-107-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-822-3

Copyright © 2001 by Meggin Cabot Titel des englischen Originals: Lady of Skye

Alle Rechte vorbehalten, eingeschlossen dem Recht auf Wiedergabe im Ganzen oder in Teilen in jeglicher Form. Diese Ausgabe wurde veröffentlicht durch eine Übereinkunft mit dem originalen Herausgeber, Pocket Books, ein Teil von Simon & Schuster, Inc., New York.

Übersetzt von: Katharina Radtke Covergestaltung: Rose & Chili Design unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: ©stillfx shutterstock.com: ©Daniel_Kay periodimages.com: ©VJ Dunraven Productions Korrektorat: Sofie Raff

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Stolze Herzen der Highlands

Für Benjamin

Die Autorin dankt Jennifer Brown, Melissa Ehman, Laura Langlie und Amy Pierpont für ihre Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch.

1.

Lyming, Schottland

Februar 1847

Der Fährmann war tot.

Daran bestand kein Zweifel. Der Kerl hatte keinen Puls. Seine Haut fühlte sich an wie Eis. Seine Pupillen waren geweitet, seine Augen glasig und sein Blick starr. Reilly Stanton hätte keine Approbation gebraucht, um zu erkennen, dass dieser Mann nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Aber Reilly war auch nicht derjenige, der davon überzeugt werden musste. Sondern der runzlige Fischer, der sich neben ihm hinuntergebeugt hatte, und einige Zweifel zu hegen schien.

„Also, was fehlt ihm denn?“, fragte der alte Mann. Sein Atem verdampfte sofort in der kalten Winterluft.

„Aye“, murmelten einige seiner Kollegen, die alle gekommen waren, um auf die Leiche zu starren. Und auf Reilly, der sich unklugerweise dazu entschieden hatte, dem ertrinkenden Mann in das eisige Wasser hinterher zu stürzen.

„Ich fürchte“, begann Reilly und hob seinen triefenden Kopf von dem ebenso durchnässten Brustkorb des Toten, „dass er uns verlassen hat.“

„Verlassen?“ Der Älteste der versammelten Fischer blinzelte zu ihm herab. „Was meinen Sie mit verlassen?“

„Nun, er ist entschlafen.“ Weil er die ausdruckslosen Gesichter um sich herum bemerkte, versuchte Reilly es erneut. „Verschieden.“

Das Wort verschieden hatte bei den Angehörigen von Reillys Patienten in Mayfair immer bestens funktioniert. Es war jedoch offensichtlich, dass seine Feinfühligkeit bei diesen Burschen hier vergebens war. Obwohl er Schwierigkeiten hatte, deutlich zu sprechen, weil seine Zähne vor Kälte klapperten, presste Reilly hervor: „Ich fürchte, Ihr Freund ist tot.“

„Tot?“ Der alte Mann wechselte ungläubige Blicke mit seinen Kameraden. „Stuben is’ tot?“

Reilly rappelte sich auf seine Knie hoch – das war kein leichtes Unterfangen, denn seine einst schönen Kniehosen waren wegen des gefrorenen Salzwassers, mit dem sie durchtränkt waren, ganz steif – und blickte sehnsüchtig zu dem Wirtshaus. Es sah zumindest aus wie ein Wirtshaus. Es war das erste Gebäude in der Nähe des Piers, an dem sie jetzt standen, und durch den Nebel konnte Reilly sehen, dass ein Schild schaukelnd über der Tür hing und in den Fenstern warme, einladende Lichter flackerten. Ein Wirtshaus, ein Freudenhaus – Reilly war egal, was es war, solange er bald hineinkam, um wieder trocken zu werden und sich an einem Feuer zu wärmen, vorzugsweise mit einem Glas Whisky in der Hand.

Aber zuerst musste er sich natürlich um den toten Fährmann kümmern.

„Aber das kann nicht sein“, beharrte der zahnlose Fischer. „Stuben kann nich’ tot sein. Er is’ noch nie gestorben.“

„Tja, das hat das Sterben so an sich, nicht wahr?“ Reilly brachte ein verständnisvolles Lächeln zustande. „Wir tun es für gewöhnlich nur einmal.“

„Nich’ Stuben.“ Rings um die Leiche nickten ein paar zottelige graue Köpfe eifrig. „Er’s schon oft untergegangen, das is’ Stuben, und bis jetzt isser noch nie gestorben.“

„Nun.“ Reilly versuchte, sich vorzustellen, wie einige seiner fachkundigeren Kollegen – Pearson zum Beispiel mit seiner allgegenwärtigen Zigarre oder Shelley mit dem lächerlichen Spazierstock mit Silbergriff, den er gar nicht brauchte – auf dem verlassenen Pier standen und versuchten, diesem bunten Haufen die Semantik des Todes zu erörtern. Und daran scheiterten.

Tja, Pearson und Shelley hatten zu viel gesunden Menschenverstand, als dass sie sich für eine solche Aufgabe verpflichtet hätten. Sie hatten zu viel Verstand und waren auch nicht im Entferntesten so blauäugig oder gutgläubig wie Reilly mit seinem Elan.

Er sagte: „Nun, meine Herren, ich fürchte, diesmal hat er es nicht geschafft. Mein Beileid zu ihrem Verlust. Aber er war offensichtlich angetrunken –“

Das war natürlich eine schamlose Untertreibung. Der Fährmann war so sturzbesoffen gewesen, dass Reilly beinahe gefragt hätte, ob es nicht ein anderes Boot gäbe, das er anheuern könne, um sich übersetzen zu lassen. Aber in letzter Minute hatte er sich zurückgehalten. Was war das Schlimmste, hatte er sich gefragt, was bei einem betrunkenen Fährmann passieren konnte? Dass das Boot auf Grund laufen oder, schlimmer noch, sinken könnte?

Dann würde er in den eisigen, rauen Fluten vor der Küste der schottischen Highlands ertrinken. Na und? Es war immerhin nicht so, als hätte er irgendetwas, wofür es sich zu leben lohnte. Christine, die noch in London war, würde hören, dass er ertrunken war, und in dem Wissen leben müssen, dass Reilly Stanton bei dem Versuch gestorben war, ihre Liebe zu gewinnen …

Als der törichte Fährmann allerdings beim Andocken den Halt verloren hatte, ausgerutscht und ins Wasser gefallen war, hatte Reilly nicht an seine eigene Sicherheit gedacht, geschweige denn daran, was Miss Christine King davon halten würde. Ohne zu zögern hatte er sich in das eisige Meer gestürzt und den alten Mann – der so schwer gewesen war wie ein nasser Sack – ans Ufer gezogen.

Erst jetzt, als er klatschnass am Pier stand und schlotterte wie ein Hund, kam es Reilly in den Sinn, dass er eine weitere wunderbare Gelegenheit verpasst hatte, Christine bereuen zu lassen, was sie getan hatte. Er war einem romantischen Tod so nahe gewesen! Er konnte die Damen in Mayfair schon fast hören: „Liebes, hast du es schon gehört? Der junge Dr. Stanton – der achte Marquis von Stillworth, du weißt schon – ist bei dem Versuch, einem anderen Mann das Leben zu retten, in der Wildnis der Hebriden gestorben. Ich kann mir nicht vorstellen, was sich diese herzlose Christine King dabei gedacht hat, so einem Mann einen Korb zu geben. Sie muss verrückt gewesen sein. So ein aufopferungsvoller, nobler Gentleman … und auch gutaussehend, wie man hört. Das arme Mädchen ist vor Kummer ganz außer sich.“

Tja, er hatte es zweifellos verhunzt. Und weil der alte Trottel ihm trotz all seiner Bemühungen einfach weggestorben war, konnte Reilly noch nicht einmal nach Hause schreiben und – ganz beiläufig, natürlich – erwähnen, wie es ihm gelungen war, am ersten Tag seiner Anstellung jemandem das Leben zu retten, verdammt noch mal.

Wann würde sich sein Glück endlich wenden?

„Mein Beileid wegen Mr Stuben“, sagte Reilly zu den Freunden des Fährmannes, „aber er hat sicher nichts mehr gespürt, als er von uns ging, wenn das ein Trost ist. Er war ziemlich betrunken. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, meine werten Herren, mich friert und ich bin durchnässt, daher würde ich gerne aus diesem Wind herauskommen …“

„Daran liegt’s.“ Mehrere ergraute Köpfe wackelten. „Bringt ihn aus diesem Wind raus. Jemand soll Miss Brenna holen.“

„Schon erledigt“, versicherte ihnen ein zahnloser Herr. „Hab’ gleich den Burschen nach ihr geschickt, als ich gesehen hab’, dass Stuben untergegangen is’.“

„Guter Junge.“ Der älteste Fischer seufzte. „Also, ich nehme seinen Kopf, du seine Füße. Bereit? Jawohl.“

Reilly stand im bitterkalten Wind, der die Luft um ihn herum mit salziger Gischt erfüllte. Runzlige Hände griffen nach dem Körper des Fährmannes und hoben ihn an. Dann bewegte sich die Prozession mit feierlichen Gesichtern unerträglich langsam auf das nächstgelegene Gebäude zu, von dem Reilly innig gehofft hatte, dass es ein Wirtshaus sein möge.

Reilly, der allein auf dem Steg zurückgeblieben war, sah sich um. Das Fährboot wurde von Wind und Wellen hin- und hergeworfen und prallte mit einem dumpfen Geräusch seitlich gegen den Anlegesteg. Seine Taschen und sein Koffer waren noch an Bord, aber da er der einzige Passagier gewesen war, war das alles – abgesehen von den leeren Flaschen des Fährmannes, die polternd über das Deck rollten. Außer den Freunden des Toten und den lärmenden Möwen, die über ihm durch die Lüfte segelten, war niemand in der Nähe. Reilly hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass ihn jemand in Empfang nehmen würde, denn die Verständigung mit dem Festland war nun mal eine Sache für sich. Aber er hatte gedacht, dass vielleicht zumindest jemand kommen würde, um ihm seine Taschen abzunehmen …

Na ja, was soll’s. Es war schließlich jemand gestorben. Er vermutete, dass seine Taschen auf dem Boot vorerst gut aufgehoben wären. Er schlang seinen Umhang um sich – obwohl das vereiste Material seinen Körper kaum vor dem Wind zu schützen vermochte – und holte den Toten mit seiner Gefolgschaft ein. Sie waren auf dem Weg zu dem einzigen Gebäude, das er im Nebel erkennen konnte. Und in diesem Gebäude schien es zumindest ein Feuer zu geben, wenn man von den Lichtern in den Fenstern ausging.

Reilly schloss sich dem Marsch der Fischer an. Als einer von ihnen über Müdigkeit klagte, sprang er ein und hielt den Kopf des Toten.

Dann trat ein anderer der alten Männer beiseite – derjenige, der seine Brust umklammert hatte – und plötzlich hielt Reilly nicht nur den Kopf, sondern auch den Oberkörper des Leichnams.

Dann zog sich ein dritter Fischer zurück. Ein besorgniserregender Hustenkrampf hatte ihn überkommen, der seinen ganzen Körper erschütterte. Es dauerte nicht lange, bis Reilly sich den Fährmann über den Rücken geworfen hatte und dessen ganzes Gewicht trug, während von Stubens Freunden anerkennende Anfeuerungsrufe ertönten. Gott sei Dank gab es keine Möglichkeit, dass Christine etwas davon zu hören bekommen würde, dachte Reilly niedergeschlagen. So romantisch sie seinen Tod vielleicht gefunden hätte, an dieser besonderen Situation gab es nichts, was auch nur ansatzweise romantisch war.

Er taumelte auf das Wirtshaus zu. Es war eindeutig ein Wirtshaus, das konnte er jetzt erkennen, obwohl der Name auf dem vom Wind zerbeulten Schild – The Tortured Hare – nicht sehr vielversprechend klang. Aber sobald die Tür aufgerissen wurde, schlug Reilly ein Schwall warmer und nach Bier duftender Luft entgegen. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass es im Tortured Hare zumindest warm und trocken war und dort immer noch ausgeschenkt wurde – ganz gleich, was man sonst vielleicht über diesen Ort hätte sagen können.

Und er war auch voller Menschen. Nachdem einer seiner neuen Gefährten verkündet hatte: „Stuben is’ mal wieder ins Meer gestürzt und der hier hat ihn wieder rausgefischt“, ging vor Aufregung ein kollektives Raunen durch den Raum, gefolgt von hektischen Bewegungen: Die Männer hoben eilig ihre Krüge an, um den Frauen Platz zu machen. Diese eilten nach vorne, um ein enormes Brett über mehrere Bänke zu legen, die in der Nähe des Ofens aufgestellt worden waren.

„Leg ihn hierhin“, befahl eine große Frau mittleren Alters in Schürze und Haube, die sogar beinahe sauber waren. „Genau hier, auf den Tisch.“

Reilly kam der Aufforderung nach, obwohl „Tisch“ nicht das Wort war, das er gewählt hätte, um die behelfsmäßige Konstruktion zu beschreiben, auf die er den kalten, leblosen Körper legte. Der Mann, der einst als Stuben bekannt gewesen war, hatte kaum das harte Brett berührt, als die Frau sich eilig daranmachte, seine durchnässten Kleider aufzuknöpfen, wobei sie jedem, der in Hörweite war, Befehle zurief.

„Flora, hol eine Flasche Whisky. Oben im Schrank sind Decken, Maeve. In der Spülküche steht auf dem Feuer ein Topf mit Wasser, Nancy. Hol ihn und bring dazu ein paar Lumpen. Hat jemand Miss Brenna hergerufen?“

„Ich habe den Jungen zu ihr geschickt“, versicherte ihr einer der Fischer.

„Gut“, sagte die Frau.

Schon wieder Miss Brenna? Reilly fragte sich, wer zum Teufel diese Miss Brenna war. Sie hatte einen besonders hässlichen Namen, wenn es nach Reilly ging, und diese Meinung wurde von seinen Freunden Pearson und Shelley geteilt. Zusammen hatten sie Brenna einmütig zum scheußlichsten Frauennamen der englischen Sprache erklärt, vielleicht mit der Ausnahme von Megan. Es war so gut wie sicher, dass jede Frau, die auf den Namen Brenna getauft worden war, mit einem Doppelkinn, übermäßig großen Vorderzähnen und einem pferdeähnlichen Antlitz gestraft sein musste. Darin waren sie zumindest übereingekommen. Und im Laufe ihrer zugegebenermaßen nicht sehr wissenschaftlichen Untersuchung zur Bestätigung ihrer Theorie war diese Ansicht bisher nicht widerlegt worden.

Der Fährmann wurde seiner Kleider entledigt, bis er vollkommen nackt dort lag, vor den Augen aller, die sich zufälligerweise gerade im Tortured Hare befanden. Wie Reilly bemerkte, waren darunter auch die Angestellten des Wirtshauses: Es waren allesamt Frauen und einige von ihnen schienen erstaunlich jung zu sein. Noch erstaunlicher war, dass diese jungen Damen nicht im Geringsten schockiert über den Anblick des Leichnams wirkten oder darüber, dass er unbekleidet war. Selbst, als Stuben anschließend die Demütigung zuteilwurde, in heiße Lumpen aus einem Topf mit dampfendem Wasser gewickelt zu werden, den die junge Frau namens Nancy hielt, würdigte keines dieser abgebrühten Highland-Mädchen den Toten auch nur eines zweiten Blickes.

„Ähm“, begann Reilly. Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, als das Zähneklappern schließlich so weit nachgelassen hatte, dass er wieder sprechen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war der tote Mann schon beinahe von Kopf bis Fuß mit heißen Tüchern bedeckt worden.

Die Frau – sie war offensichtlich die Inhaberin des Wirtshauses – warf ihm einen einzigen Blick zu. Dann blaffte sie: „Maeve, steh da nich’ so dumm rum. Sieh zu, dass der Herr aus den nassen Kleidern raus und unter eine Decke kommt.“

Reilly blickte beunruhigt zu der sehr beherzten jungen Dame, die auf ihn zukam. Er trat eilig einen Schritt zurück, hob beide Hände und rief: „Ähm, nein, nein. Das ist nicht – ich meine, es geht mir gut. Wirklich. Ich glaube nur, dass jemand Ihnen sagen sollte, gnädige Frau, dass dieser Mann dort –“

Aber Reilly, der Schottland bisher nur für gelegentliche Jagdausflüge bereist und dabei wenig oder gar keinen Kontakt zu den Einheimischen gehabt hatte, war schlecht darauf vorbereitet, sich der unbeirrbaren Entschlossenheit eines gälischen Dienstmädchens zu erwehren. Im Handumdrehen hatte Miss Maeve erst seinen Umhang und dann seinen Mantel ergriffen und zerrte ihm beides in einer Art und Weise vom Leibe, die ihn vermuten ließ, dass sie es durchaus gewohnt war, widerwillige Gäste auszuziehen … und er hatte auch eine allzu genaue Vorstellung davon, zu welchem Zweck sie das für gewöhnlich tat.

Reilly konnte sich nur gerade so davon abhalten, handgreiflich zu werden. Er sah keine Möglichkeit, Maeve von ihrem Ziel abzubringen. Sie schien ihn so splitternackt ausziehen zu wollen wie die Leiche, die vor ihnen lag. Plötzlich befand er sich auf der anderen Seite des Raumes, weil er buchstäblich in die Ecke gedrängt worden war. Seine Weste und sein Hemd waren ebenso wie sein Umhang und Mantel verschwunden, und ein paar sehr entschlossene Finger machten sich an dem Latz seiner Kniehosen zu schaffen …

„Das genügt vollkommen, denke ich“, sagte Reilly und packte die Handgelenke des Mädchens.

Maeve sah blinzelnd zu ihm hoch. Ihr Gesichtsausdruck war überhaupt nicht so, wie er erwartet hatte. Statt beschämt schaute das Dienstmädchen äußert kokett drein. „Sie hat gesagt, ich soll Sie aus Ihren nassen Sachen holen“, erinnerte sie ihn.

„Ja“, sagte Reilly. „Nun, gegenwärtig möchte ich aber meine Hosen anbehalten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Ich denke nicht, dass Sie das machen sollten“, sagte Maeve. „Sie werden sich sonst eine Mandelentzündung holen.“

„Oder das rheumatische Fieber“, rief eine weitere Frauenstimme.

Erst dann bemerkte Reilly, dass die junge Nancy, das Mädchen, das geschickt worden war, um heißes Wasser für den Fährmann zu holen, zurückgekehrt war und sie beide mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete.

„Genau“, sagte Maeve standhaft. „Oder das rheumatische Fieber. Sie wollen doch kein rheumatisches Fieber bekommen –“ Maeves Blick schweifte über seinen nackten Brustkorb. „Es wär’ schade um so einen stattlichen jungen Mann.“

Reilly, der jetzt vollkommen überzeugt davon war, in einem Irrenhaus gelandet zu sein, zog kräftig an Maeves Handgelenken, sodass sie wieder auf den Beinen stand. Dann zerrte er ihre Finger von seinem Hosenbund weg und bewahrte so das bisschen Würde, das ihm noch geblieben war.

„Das werde ich riskieren“, sagte er und drängte Maeve entschlossen von sich weg.

Jetzt, wo Reilly nur noch mit durchtränkten Stiefelhosen und ebenso nassen Stiefel bekleidet war, erkannte er, dass seine Befürchtung, vor dem ganzen Dorf entblößt zu werden, unbegründet gewesen war: Niemand außer Maeve und Nancy schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung. Die Stammgäste des Tortured Hare schienen den Inhalt ihrer Bierkrüge interessanter zu finden als den halbnackten Mann in der Ecke und auch deutlich faszinierender als den vollkommen nackten, der auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag.

Zumindest alle außer der Inhaberin der Schenke. „Wach auf. Wach jetzt auf, Stuben“, forderte sie den Fährmann auf.

Reilly war von der beharrlichen Weigerung der Frau, sich das Offensichtliche einzugestehen, sonderbar bewegt und sagte behutsam: „Gnädige Frau, es betrübt mich, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber die Wahrheit ist, dass Mr Stuben tot ist.“

Die Frau erstarrte. Sie hielt noch ein heißes, dampfendes Tuch in den Händen, das sie gerade über den Unterleib des Fährmanns hatte legen wollen. Äußerst erstaunt sah sie Reilly an. „Tot?“, wiederholte sie.

Das Wort schien eine fesselnde Wirkung auf die Gäste der Schenke zu haben. Plötzlich drehten sich alle Köpfe Reilly zu.

„Äh … ja.“ Jetzt, wo es ihm endlich gelungen war, die Aufmerksamkeit beinahe jeder einzelnen Person im Raum auf sich zu ziehen, wurde Reilly sich dessen bewusst, dass er beinahe nackt war. Die Decke, von der vorhin die Rede gewesen war, schien lange auf sich warten zu lassen.

Trotzdem hatte er eine Pflicht zu erfüllen, und das würde er auch tun.

„Ja, gnädige Frau“, fuhr er fort. „Tot. Er hat keinen Puls und er hat nicht einen Atemzug getan, seit ich ihn aus dem Wasser gezogen habe. Ich sage es Ihnen nur ungern, aber ich fürchte, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind Ihre Bemühungen, so wacker sie auch sind, vollkommen nutzlos.“

Er bemerkte, dass die Stammgäste des Tortured Hare plötzlich deutlich mehr Interesse an dem Mann auf der Planke zu zeigen schienen, jetzt, wo es schien, dass er nicht mehr am Leben war.

Tatsächlich verrenkten sich einige von ihnen den Hals, um einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen. Reilly nahm an, dass ein toter Fährmann ihre Aufmerksamkeit wohl in höherem Maße verdiente als ein lebender.

„Tot?“ Die Frau blickte auf das leichenblasse Gesicht herab. „Stuben? Aber er is’ bisher noch nie gestorben.“

Reilly zog eine Augenbraue hoch. „Ja“, sagte er und fragte sich, ob an diesem Ort eigentlich alle so begriffsstutzig waren, und falls ja, was er dann als einziger Arzt des Dorfes dagegen tun sollte. „Nun, ich fürchte, dieses Mal war sein Sturz leider tödlich. Es tut mir sehr leid, Ihnen schlechte Nachrichten überbringen zu müssen. Ich habe alles Menschenmögliche für ihn getan, aber ich fürchte, das Wasser war einfach zu kalt, und er ist, wie man sieht, schon recht betagt.“

Reilly hielt es für klug, nicht zu erwähnen, wie betrunken der tote Mann zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war. Schließlich waren Damen anwesend.

„Er war einfach nicht kräftig genug, um es dieses Mal zu schaffen“, sagte Reilly. „Nun, wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmachen würde: Könnten Sie vielleicht jemanden runter zur Fähre schicken, um meine Sachen zu holen? Ich würde mich gern umziehen –“

Er wurde durch den Krach unterbrochen, den die Haustür machte, als sie stürmisch aufschwang und den Blick auf eine große Gestalt freigab. Sie war in einen schweren, dunklen Umhang gehüllt, dessen Enden der schneidende Wind elegant hin und her peitschte.

„Oh, Miss Brenna!“ Die Inhaberin vom „The Tortured Hare“ sah ausgesprochen erleichtert aus. „Gott sei Dank sind Sie hier.“

Reilly sah interessiert zu der Gestalt in der Tür. Das war also diese Miss Brenna, von der alle sprachen! Nun, sie war keine Enttäuschung. Sie war gewiss groß genug, um eine Brenna zu sein. Bei Gott, sie war nur ein paar Zentimeter kleiner als er und er war etwas über eins achtzig groß. Der Umhang verhüllte ihre Figur und die tiefe Kapuze ihr Gesicht, sodass er nicht ganz erkennen konnte, ob auch der Rest zu ihrem Namen passte, aber sie sah allemal aus wie eine Amazone. Pearson und Shelley würden sehr erfreut sein, das zu hören.

„Stuben ist wieder ins Meer gefallen“, teilte ihr einer der Fischer mit. „Und der da hat gesagt, er is’ tot.“

„Wer?“ Die Stimme klang ganz genau so, wie er es von einer Brenna erwarten würde: Die Tonlage war tief und überhaupt nicht feminin. Reilly beglückwünschte sich selbst dazu, so ein ausgezeichneter Frauenkenner zu sein, als eine behandschuhte Hand die Falten des Umhangs teilte, die Kapuze abstreifte …

Und er beinahe einen Herzanfall erlitt. Denn da war kein Doppelkinn und nichts in diesem Antlitz erinnerte auch nur im Geringsten an ein Pferd, außer vielleicht die wilde Mähne von kupferfarbenen Locken, die völlig ungehindert durch Netze oder Kämme von ihrem Kopf herab wallte. Tatsächlich vereinte diese Brenna in sich alles, was anmutig und schön war.

Das konnte er nur zu gut bezeugen, wenn man die Tatsache in Betracht zog, dass das Mädchen unter ihrem Umhang … ja, auch ein zweiter Blick bestätigte es … Herrenhosen trug. Tatsächlich, Herrenhosen, die sich aufreizend an ihre schlanken Oberschenkel schmiegten. Sie waren mit einem dicken Ledergürtel, in dem die Enden eines bauschigen grünen Oberteils steckten, eng um ihre Taille gegurtet. An den Füßen des Mädchens erspähte Reilly ein Paar derbe Lederstiefel.

Das Oberteil und die Stiefel verbargen einige wesentliche Attribute, aber die Hosen waren umwerfend. Reilly hatte noch nie zuvor eine Frau in Hosen gesehen. Christine, da war er sich ganz sicher, wäre eher in einem Kartoffelsack herumgelaufen als in etwas, das auch nur im Entferntesten einem Paar Hosen ähnelte.

Dennoch fand Reilly, dass er diese Neuerung in der Mode voll und ganz befürworten konnte, obwohl sie bisher vielleicht noch nicht in Paris oder London angekommen war. Um die Wahrheit zu sagen, war er von der Wirkung ziemlich überwältigt, sodass es einen Moment dauerte, bis ihm klar wurde, dass das Mädchen erneut sprach.

„Wer hat gesagt, dass Stuben tot ist?“, fragte sie nachdrücklich und mit dieser tiefen, dunklen Stimme, die so im Widerspruch zu ihrem weiblichen Äußeren zu stehen schien.

Ein Dutzend Finger zeigten in Reillys Richtung und im nächsten Moment traf ihn plötzlich der Blick aus einem Augenpaar und nagelte ihn fest. Diese Augen hatten nicht nur eine intensive blaue Farbe, sondern waren zweifellos auch die scharfsinnigsten, die er je gesehen hatte. Er hatte keinen Hut, den er sich vom Kopf hätte ziehen können – Maeve hatte ihn sich ebenso angeeignet wie seinen Mantel und seinen Umhang –, daher konnte er nur eine Verbeugung mit seinem Oberkörper andeuten, wobei er sich entsetzlich bewusst wurde, wie wenig Kleidung er noch trug.

„Ich war das“, sagte er. Unerklärlicherweise verunsicherte ihn ihr leuchtender Blick. „Ich habe das gesagt. Ich habe ihn selbst aus dem Wasser gezogen. Er hatte keinen Puls. Er war eiskalt –“

„Wer“, fragte sie und blinzelte einmal, „sind Sie?“

Er bemerkte, dass Miss Brenna im Gegensatz zu allen anderen, denen er begegnet war, seit er die Grenze überquert hatte, keinen schottischen Akzent hatte, sondern, wie es von Gott und der Queen beabsichtigt war, ein schönes, reines Englisch sprach.

„Stanton“, sagte er. „Reilly Stanton. Ich bin hier, um die Stelle anzutreten –“

Sie hatte ihren Blick bereits von ihm abgewandt und schritt auf den Leichnam zu.

„Für die Sie alle per Inserat jemanden gesucht haben.“ Reilly beobachtete, wie sie den toten Mann auf die Seite zerrte und sich dann hinter ihn stellte. „Die Stelle des Arztes. Ich bin hier, um meine Arbeit aufzunehmen.“ Als er feststellte, dass sich die Gesichter nicht erhellten, fügte er eilig hinzu: „Ich bin natürlich vom Royal College of Physicians approbiert. Ich bin auch Mitglied der Universität – Oxford, um genau zu sein – und ich habe in Paris studiert … Hören Sie mal, vielleicht haben Sie mich nicht verstanden, aber dieser Herr ist wirklich ganz und gar –“

Zu seinem äußersten Erstaunen rammte das Mädchen ihre Faust mitten in den Rücken des Leichnams, genau zwischen die Schulterblätter. Und zwar mit genügend Kraft, um ein hohles, dumpfes Geräusch zu verursachen. Wäre der Kerl nicht bereits tot gewesen wäre, hätte es sicherlich fürchterlich geschmerzt.

„Tot“, sagte Reilly. „Es tut mir schrecklich leid. Ich habe alles getan, was ich konnte.“

Genau in diesem Moment öffnete der Fährmann seinen Mund und spie eine Fontäne aus Rum und Meerwasser auf den Boden, wobei er die Stiefel aller, die um ihn herumstanden, bespritzte, einschließlich Reillys.

Der ehemals tote Fährmann blinzelte benommen und brachte ein einfältiges Lächeln zustande. „’S tut mir leid“, sagte er.

2.

„Welches Inserat?“, fragte sie ihn.

Reilly hob seinen ungläubigen Blick von dem wiederauferstandenen Mann und zum Gesicht des Mädchens, das jetzt vor ihm stand. Sie war so groß, dass sie ihr Kinn nur ein wenig nach oben recken musste, um ihm in die Augen zu sehen. Christines Kopf hingegen hatte ihm noch nicht mal bis zur Brust gereicht.

„Welches Inserat, Mr Stanton?“, wiederholte sie.

Reilly hörte sich sagen: „Aber er war tot. Dieser Mann war tot. Er hatte keinen Herzschlag. Ich habe an seiner Brust gehorcht. Da war nichts.“

Sie blickte beiläufig nach hinten zum Fährmann, der die Beglückwünschungen seiner Freunde und Nachbarn genoss, sich sehr daran erfreute, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und noch mehr an dem dampfenden Becher, den ihm jemand in die Hand gedrückt hatte.

„Oh“, sagte sie. „Die Kälte hält sein Herz für gewöhnlich einen Moment lang an. Es braucht einfach ein oder zwei gute Schläge, um es wieder in Gang zu bringen.“

Reilly schüttelte den Kopf. „Kein Wunder, dass sie alle sagten, er sei noch nie zuvor gestorben. Wie oft haben Sie den alten Kerl schon aus dem Hades zurückgeholt?“

„Ein oder zwei Mal“, sagte sie.

Er grinste. „Eher ein halbes dutzend Mal, da bin ich mir sicher. Ich muss sagen, dass ich während meiner Zeit in Paris sicherlich nie auf Literatur gestoßen bin, die diese spezielle Methode, Patienten wiederzubeleben, befürwortet –“

„Oh“, sagte sie und lachte kurz auf. „Tja. Paris.“

Das Lachen ging mit einem Augenrollen einher. Das Mädchen hielt offensichtlich nicht viel von Paris.

„Sie sollten wissen“, sagte Reilly mit verletztem Stolz, „dass ich in Paris bei einigen der angesehensten Gelehrten der Medizin studiert habe.“

„Tja, die angesehensten Gelehrten der Medizin haben Ihnen überhaupt nichts dabei genutzt, Stuben wiederherzustellen, oder?“, antwortete sie.

Reilly runzelte die Stirn. „Ich habe es mir nicht zur Gewohnheit gemacht, meine Patienten auf den Rücken zu schlagen.“

„Vielleicht sollten Sie das“, schlug das Mädchen vor. „Sie würden dann vielleicht nicht so viele von ihnen verlieren.“

Er funkelte sie an. Er musste wohl seine Meinung über sie ändern. Gut, sie war ein Hingucker, aber sie war auch ein ziemliches –

„Aber dann wiederum scheinen Sie es gewohnt zu sein, Dinge zu verlieren.“ Der blauäugige Blick der jungen Frau wanderte von Reillys Gesicht nach unten über seine bloßen Schultern und die behaarte Mitte seines Brustkorbs, bis er anzüglich auf dem Bund seiner Kniehosen verharrte.

Reilly spürte, wie er zum ersten Mal seit langem errötete. Er verspürte einen plötzlichen und vollkommen lächerlichen Drang, sich vor diesem durchdringenden Blick zu schützen.

Er weigerte sich, ihr den Triumph zuzugestehen, ihn in Verlegenheit gebracht zu haben. Finster überkreuzte er seine Arme vor der Brust und sagte: „Der Verlust eines Hemdes ist ein geringer Preis für ein gerettetes Leben.“ Und in Gedanken fügte er hinzu: Selbst für das Leben eines dämlichen Trunkenboldes.

Obwohl er diese letzten Worte nicht laut aussprach, schien Miss Brenna dasselbe zu denken, falls die einzelne Augenbraue, die sie hochzog, ein Anhaltspunkt war. Aber vielleicht dachte sie auch nur darüber nach, dass sie es war und nicht er, der letztlich Stubens erbärmliches Leben gerettet hatte.

Falls sie das dachte, hielt sie sich allerdings davon ab, sie laut auszusprechen. Stattdessen fragte sie noch einmal: „Also, welches Inserat war es, Mr Stanton, das Sie hierher geführt hat?“

„Es heißt genaugenommen Doktor“, sagte Reilly. „Dr. Stanton. Und ich meine natürlich das in der Times.“

Das Mädchen, das immer noch eine Augenbraue hochgezogen hatte, sah skeptisch aus. „In der Times“, sagte sie ausdruckslos. Offensichtlich glaubte sie ihm nicht.

Das machte ihn fast genauso wütend wie die unverschämte Art und Weise, wie sie ihren Blick über seinen nackten Brustkorb hatte schweifen lassen. Er sah sich nach seinen Kleidern um und entdeckte Maeve, die scheinbar sowohl den Whisky als auch die ihm versprochene Decke völlig vergessen hatte und seine Kleider vor dem Feuer aufhängte.

„Ich habe das Antwortschreiben auf meine Anfrage hier“, sagte Reilly und ging durch den Raum, um in die Tasche seiner Weste zu greifen.

Das Futter war so klitschnass wie der Außenstoff, da alles, was auf dem Pier zu Eis gefroren war, in der Hitze der Gaststube langsam geschmolzen war. Es dauerte eine Weile, bis er ein durchweichtes Blatt Papier aus den Tiefen der Tasche ziehen konnte.

Er bemerkte allerdings sofort, dass es nicht das war, wonach er gesucht hatte. Es war der Brief von Christine, den er seit dem unglückseligen Tag seiner Ankunft nahe an seinem Herzen getragen hatte. Jetzt war er nur noch ein feuchtes Blatt blassrosafarbenes Briefpapier, das zu oft auseinander- und wieder zusammengefaltet worden war, und auf dem nur ein paar handschriftliche Bögen zu erkennen waren. Trotzdem entstammten sie eindeutig einer femininen Hand, denn wie alles an ihr sprühte Christines Schrift nur so vor Weiblichkeit.

Die junge Frau, die Miss Brenna genannt wurde, zog eine rotbraune Augenbraue hoch. „Das sieht nicht aus wie ein Inserat aus der Times“, sagte sie.

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, stopfte das durchgeweichte, rosafarbene Fiasko wieder in seine Tasche und fischte ein anderes Schreiben heraus.

„Bitte sehr“, sagte er. „Hier ist die Antwort auf meinen Brief, den ich auf das Inserat hin geschrieben habe. Sie ist von Iain MacLeod, dem Earl von Glendenning –“

Den Lippen des Mädchens entschlüpfte ein Wort, das so schändlich war, dass Reilly sich nicht erinnern konnte, es jemals zuvor gehört zu haben, außer einmal in den Hafenanlagen im Osten Londons. Es war in einer der ersten Nächte gewesen, nachdem Christine die Verlobung gelöst hatte. Pearson und Shelley hatten darauf bestanden, eine Hure für ihn zu finden, mit deren Hilfe er den Schmerz seines gebrochenen Herzens lindern konnte. Die tiefe, markante Stimme des Mädchens erfüllte den Raum, sodass der Fluch an die Ohren der Inhaberin der Bierschenke drang.

„Was ist denn, Miss Brenna?“, fragte die Frau besorgt und trat von der Seite des Fährmanns. „War der hier unanständig zu Ihnen?“ Sie warf Reilly einen tadelnden Blick zu. „Benehmen Sie sich, Sir. Das ist ein ehrbares Lokal und ich lass es nicht zu, dass meine Gäste gekränkt werden. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie Stuben den ganzen Weg hierhergetragen haben, aber ich werde es nicht dulden, wenn jemand Miss Brenna schlecht behandelt –“

Bestürzt sagte Reilly: „Hören Sie mal, gnädige Frau. Ich habe Ihrer Miss Brenna kein Haar gekrümmt und ich bin entsetzt über die Andeutung, dass mein Verhalten in irgendeiner Weise als unpassend aufgefasst werden könnte –“

Er verstummte jäh, als eben jene Dame, die er angeblich so schmerzlich gekränkt hatte, ihren Arm ausstreckte und nach der Flasche griff, die die ältere Frau in den Händen hielt. Reilly, der gerade erst dabei war, sich von dem Schock zu erholen, dass ein so schändliches Wort über so hübsche Lippen gekommen war, wurde noch grundlegender erschüttert. Dieselben Lippen schlossen sich um den Mund der Flasche und die junge Frau kippte ganz selbstverständlich einen beträchtlichen Schluck Whisky hinunter.

Reilly hatte noch nie in seinem Leben gesehen, wie eine Frau Whisky aus der Flasche trank – oder auch aus einem Glas. Christine hatte gelegentlich Wein getrunken, aber nie etwas Stärkeres und sicherlich nie aus einem anderen Gefäß als geschliffenem Kristall.

Aber obwohl er schockiert war, war es keine unangenehme Überraschung. Denn das war sicherlich die Art von Benehmen, das er von einer Frau erwarten würde, die zu ihrem Unglück Brenna hieß.

Sie setzte die Flasche von den Lippen ab und reichte sie wieder ihrer Besitzerin.

„Entschuldigung, Mrs Murphy“, sagte sie und wirkte kein bisschen schuldbewusst. „Es war nicht der hier. Sondern er schon wieder.“

Mrs Murphy sah betroffen aus, aber anscheinend wegen dieser Information und nicht, wie Reilly, wegen der Trinkgewohnheiten des Mädchens. „Oje“, murmelte die alte Frau.

„Ich werde besser gehen.“ Sehr zu seiner Enttäuschung zog die amazonenhafte Miss Brenna ihren Umhang zu und verwehrte ihm so den weiteren Anblick dieser schönen Oberschenkel. „Mal sehen, ob ich das in Ordnung bringen kann.“

„Meine Güte“, hauchte Mrs Murphy. „Wirklich, Miss Brenna, ich denke, Sie sollten nicht allein gehen …“

„Ich schaffe das schon.“ Sie warf ein paar Strähnen ihres widerspenstigen roten Haares zurück und fügte hinzu: „Halten Sie Mr Stuben warm, und sorgen Sie dafür, dass er etwas Tee zu sich nimmt. Keinen Whisky, sondern Tee. Haben Sie verstanden, Mrs Murphy?“

„Ich habe verstanden“, murmelte die ältere Frau. „Aber seien Sie vorsichtig, Miss Brenna. Es ist ein dichter Nebel aufgezogen, und der Weg ist bestimmt vereist –“

Das Mädchen machte nur eine leichtfertige Handbewegung. „Dr. Stanton sieht allerdings aus, als könnte er einen Whisky gebrauchen“, sagte sie zum Abschied. Sie deutete mit ihrem schönen Kopf in Reillys Richtung und machte sich auf zur Tür. „Und ein trockenes Hemd, falls Sie eines finden, das groß genug für ihn ist.“

Und damit war er, wie Reilly erkannte, kurzerhand abgewiesen worden. „Hören Sie“, rief er. „Unsere Unterhaltung –“, die Tür des Tortured Hare wurde ihm vor der Nase zugeschlagen und schnitt ihm das Wort ab, „ – ist noch nicht beendet.“

„Ach, kümmern Sie sich nicht um Miss Brenna“, sagte Mrs Murphy in einem mütterlichen Tonfall. Sie eilte auf ihn zu und breitete endlich die seit langem versprochene Decke über seinen Schultern aus. „Jetzt machen wir Sie schön trocken. Sie müssen ganz durchgefroren sein. Miss Brenna hat Recht, es gibt wohl im ganzen Dorf kein Hemd, das so groß is’, dass es Ihnen passen könnt’ … na ja, außer eins von Lord Glendenning vielleicht, aber seine Lordschaft is’ nich’ bekannt dafür, seine Hemden zu verleihen. Dann werden Sie einfach ein Glas hiervon trinken müssen, um sich aufzuwärmen, bis Ihre Kleider getrocknet sind.“ Sie goss ihm etwas aus der Flasche ein, die eben noch Miss Brennas Lippen berührt hatte.

Reilly nahm das Glas, das die Inhaberin ihm entgegenstreckte, ohne wirklich Notiz davon zu nehmen, denn sein Blick ruhte immer noch auf der jungen Frau, die so plötzlich gegangen war. Er konnte sie durch das Fenster deutlich sehen – die beschlagene Scheibe hatte er mit einem Zipfel der Decke abgewischt. Sie schwang sich in den Sattel einer Schimmelstute, deren Beine nur ein wenig länger waren als ihre eigenen. „Im Herrensitz“, murmelte Reilly vor sich hin. „Natürlich.“

Er hatte noch nie zuvor eine Frau im Herrensitz reiten gesehen. Genaugenommen hatte er in seinem Leben ohnehin nicht viele Reiterinnen gekannt, denn seine Mutter und seine Schwestern zogen es vor, mit einem Phaeton durch den Park nach Hause zu fahren. Und Christine hatte sich vor Pferden gefürchtet. Soweit er wusste, besaß sie nicht einmal ein Reitkleid, geschweige denn einen Damensattel.

Nun, das tat die amazonenhafte Miss Brenna anscheinend auch nicht. Aber sie schien sich davon nicht abhalten zu lassen. Reilly beobachtete, wie sie dem Schimmel einen Tritt mit ihren Absätzen verpasste, und plötzlich waren das Pferd und seine Herrin auf und davon und verschwanden im dichten Nebel.

„Wie Königin Boudicca“, rief Reilly verwundert aus und wusste nicht, dass er das laut gesagt hatte, bis Mrs Murphy ihm antwortete.

„Aye“, sagte sie vollkommen ungerührt. „Wenn Sie es sagen, Sir. Lassen Sie sich jetzt diese Hosen ausziehen, Sir, oder sind die etwa an Ihnen festgewachsen? Und wenn Sie mir bitte Ihre Stiefel reichen würden, ich werd’ Nancy sie ausstopfen lassen, damit’s Leder seine schöne Form behält.“

Reilly setzte sich hin und begann seine Stiefel auszuziehen.

„Wer ist die Frau?“, fragte er und zog an einem. „Sie ist nicht aus der Gegend, oder?“

„Miss Brenna, meinen Sie?“ Als Mrs Murphy sah, dass er keine großen Fortschritte mit den Stiefeln machte, beugte sich nach unten und hob selbst einen seiner Füße an.

„Ist in London geboren, habe ich recht?“

Sein Stiefel löste sich mit einem lauten schmatzenden Geräusch und Mrs Murphy taumelte zurück, während sich ein Schwall Meerwasser aus dem ehemals feinen Leder ergoss.

„Das tut mir schrecklich leid“, sagte Reilly, als er die sich ausbreitende Pfütze auf dem Boden bemerkte. „Ich bezahle es natürlich, falls das Wasser einen bleibenden Schaden anrichten sollte. Also? Ist sie aus London?“

Mrs Murphy hatte bereits zwei oder drei ihrer Mädchen auf die Pfütze angesetzt und schien Reillys Frage nicht gehört zu haben. Sie machte sich stattdessen an dem anderen Stiefel zu schaffen.

„Hampstead“, sagte Reilly und zog mehrere Scheine aus seiner Brieftasche. „Da kommt sie her. Habe ich recht?“

Der zweite Stiefel gab nach, und die Schankmädchen eilten herbei, um das Wasser aufzuwischen, das herausgeflossen war. Reilly wackelte mit seinen Zehen, die fast gefroren waren und in durchnässten Strümpfen steckten.

„Was macht ein Mädchen aus Hampstead hier oben?“, wunderte er sich. „Hat sie jemanden von hier geheiratet?“ Aber dann sagte er sich, dass sie wohl kaum Miss Brenna genannt werden würde, wenn sie verheiratet wäre …

Nicht, dass ihn das gekümmert hätte, natürlich nicht. Er war nicht auf dieser Insel, um über den Familienstand von Frauen nachzugrübeln, die den unglückseligen Namen Brenna trugen … und eine ausgeprägte Abneigung gegen ihn zu hegen schienen.

Selbst, wenn es ungewöhnlich hübsche Frauen waren, die Hosen trugen und im Herrensitz ritten. Und so ungemein selbstsicher waren.

Nein. Er war hier, um seiner ehemaligen Verlobten zu beweisen, dass er in der Kunst der Medizin kein Dilettant und kein Pfuscher war. Er war fest entschlossen, Leben zu retten. Deshalb hatte er seine Praxis in London aufgegeben, wo seine Patienten es sich frustrierenderweise angewöhnt hatten, keine lebensbedrohlichen Krankheiten zu bekommen. Wie sollte er beweisen, dass er sich dem Arztberuf ernsthaft widmen wollte, wenn es keine Erkrankungen gab, die er heilen konnte?

Und bei Gott, das würde er beweisen, auch wenn es bedeutete, dass er tausende Miss Brennas ertragen müsste …

„Lyming“, bemerkte die Inhaberin des Tortured Hare zusammenhanglos.

Reilly sah sie an. „Wie bitte?“

„Miss Brenna.“ Mrs Murphy nickte ihm zu. „Sie kommt von genau hier. Ist in Lyming geboren und aufgewachsen.“

Reilly war wirklich schockiert. „Lyming?“

„Aye“, sagte die Frau. Sein Erstaunen verwirrte sie offensichtlich.

Reilly brauchte ein paar Sekunden, um diese Information zu verdauen. Und als er es geschafft hatte, entschlüpften ihm völlig gegen seinen Willen weitere Fragen über die leidige Miss Brenna:

„Wie ist das möglich? Sie ist eindeutig gebildet. Sie besitzt jedenfalls medizinische Kenntnisse, so viel ist sicher. Aber sie kann nicht die Hebamme sein, oder? Ist viel zu jung dafür. Sie dürfte ja kaum älter sein als zwanzig.“

Mrs Murphy hörte diesen Fragen aufmerksam zu, schien aber nicht der Ansicht zu sein, dass sie Antworten erforderten. Stattdessen erwiderte sie seine Äußerungen ihrerseits mit einer Frage: „Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten irgendwo einen Koffer, Mr Stanton? Vielleicht könnten wir darin ein Hemd für Sie finden. Und eine neue Hose.“

Ihre Erkundigung wurde so mit soviel Nachdruck vorgebracht, dass Reilly für einen Moment von seiner Befragung abgelenkt wurde.

„Ich habe einen, er ist noch auf der Fähre. Und auch ein paar Taschen. Medizinische Geräte und all das. Aber wissen Sie, vielleicht wollen Sie das alles lieber direkt zum Haus bringen lassen.“

Mrs Murphy sah ihn an und war offensichtlich verdutzt. „Zum Haus, Sir?“

Reilly nickte. „Ja, genau. Lord Glendenning schrieb, dass zu der Anstellung auch eine Unterkunft gehörte. Ein Haus, sagte er. Oder war es ein Cottage? Ja, ich glaube, so war es. Burn Cottage hat er es genannt.“

Die Mädchen, die damit beschäftigt gewesen waren, den Boden zu schrubben, hielten plötzlich inne und sahen mit fassungslosen Gesichtern auf.

„Burn Cottage?“ Er hatte das Gefühl, als würde ihn Mrs Murphy forschend ansehen. „Er hat gesagt, dass Sie Burn Cottage haben sollen? Sind Sie ganz sicher?“

„Absolut, eigentlich“, sagte Reilly. „Ich erinnere mich genau, dass ich mich über den seltsamen Namen gewundert habe und hoffte, dass das Cottage in der Nähe eines kleinen Baches liegt und nicht dazu neigt, in Flammen aufzugehen.“

Er lachte, aber entweder tat Burn Cottage regelmäßig genau das, oder die Gäste dieser bestimmten Bierschenke hatten recht wenig Humor, denn er war der einzige im Raum, der sich wegen seines kleinen Witzes ein Lächeln abrang. Tja, Christine hatte schon immer gesagt, dass sein Sinn für Humor manchmal fehl am Platz sei, und jetzt war wohl genau eine dieser Situationen. Die Mädchen hatten sich einen strengen Blick von ihrer Arbeitgeberin eingefangen, sprangen auf die Füße und huschten davon – vermutlich, um den anderen Kunden ihre Aufwartung zu machen, denn nach der Wiederbelebung des Fährmannes herrschte wieder mehr oder weniger der gewohnte Betrieb. Stuben hatte sich sogar umgezogen und trockene Kleider angelegt, die dort offenbar für den Fall eines ebensolchen Ereignisses aufbewahrt wurden.

Reilly sagte: „Hören Sie, ich hoffe, ich bin jetzt nicht ins Fettnäpfchen getreten. Mit Burn meinen Sie doch einen Bach, oder nicht?“

Mrs Murphy lächelte ihn sehr freundlich an. „Natürlich, Sir. Es ist auch ein hübsches Cottage. Es ist nur, dass …“

Reilly schüttelte den Kopf. „Kommen Sie schon, gnädige Frau. Heraus mit der Sprache. Es ist offensichtlich, dass etwas damit nicht stimmt. Ist es etwa eine Bruchbude? Ich habe auch von dem Cholera-Ausbruch gehört, den Sie alle im letzten Sommer durchgemacht haben. Wurde Burn Cottage unter Quarantäne gestellt?“

„Nein, nein“, unterbrach Mrs Murphy hastig. „Das isses nicht. Es is’ nur … es is’ nur …“

„Red’ weiter und sag es ihm, Moira“, rief einer der Männer an der Bar herüber.

„Es is’ nur –“ Mrs Murphy schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein und beendete ihre Äußerung nachdrücklich: „Es ist nur so, dass es jetzt viel zu spät ist, um aufzubrechen, mit dem dichten Nebel. Ich werde jemanden Ihre Sachen holen schicken und Sie werden über Nacht hierbleiben. Flora wird bei Maeve unterkommen. Das wirst du doch, nicht wahr, Flora?“

Jetzt bemerkte Reilly zum ersten Mal, dass sich unter Floras schmutziger Schürze ein dicker Bauch wölbte. Statt einer Antwort verdrehte sie nur die Augen und begann, in einer hinteren Ecke des Raumes eine wackelig aussehende Treppe hinaufzusteigen.

„Jetzt hören Sie mal“, sagte Reilly ziemlich beunruhigt. „Es gibt keinen Grund, warum unser Fräulein – äh – unsere Frau – ähm – unsere Freundin Flora hier ihr Bett räumen müsste. Wenn das Cottage wirklich zu weit weg ist, bleibe ich einfach hier unten. Das würde mir gar keine Umstände machen.“

„Auf keinen Fall!“ Mrs Murphy schien allein über den Vorschlag entsetzt zu sein. „Es ist nicht der Rede wert, dass Flora umzieht.“

„Es ist nich’ nicht der Rede wert“, hörte Reilly aus Floras Richtung, obwohl das Mädchen die Worte vor sich hin murmelte.

Aber sie murmelte sie nicht leise genug, denn ihre Arbeitgeberin hörte sie ebenfalls. Sie verfolgte das Mädchen und hatte dabei eine flache Hand erhoben.

„Jetzt reicht es mir aber mit dir, Fräulein“, rief Mrs Murphy aus, aber bevor sie eine Chance hatte, ihre Hand herunterfahren zu lassen, ergriff Reilly sie und hielt sie fest, als wären er und Mrs Murphy ein Liebespaar – obwohl man zugeben musste, dass sein Griff eher beengend als liebevoll war.

„Hören Sie, gnädige Frau“, begann Reilly und musste seinen wohlmeinenden Tonfall heucheln. Seiner Meinung nach gab es nichts Schlimmeres als Arbeitgeber, die ihre Angestellten schlugen, außer vielleicht Ehemänner, die ihre Frauen schlugen. „Es wäre nicht einmal im Geringsten vornehm von mir, eine junge Dame aus ihrem Zimmer zu vertreiben. Ich will nichts davon wissen – besonders wenn die junge Dame in solch besonderen Umständen ist wie unsere Flora. Oh, wenn meine Kollegen davon Wind bekämen, würde man mich aus dem College werfen …“

Das war natürlich eine unverfrorene Lüge. Es gab mehr sogenannte angesehene Mitglieder der Ärzteschaft, als Reilly zählen konnte, die sich nichts dabei denken würden, eine schwangere Frau aus ihrem Bett zu vertreiben, damit sie eine bequeme Nachtruhe hätten. Sehr viele Männer in Reillys Metier schienen ein gewisses Anspruchsdenken zu hegen, etwas, das Reilly selbst nie wirklich verstanden hatte.

Aber es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Mrs Murphy bisher schon vielen Ärzten begegnet war, daher wäre sie sich dieser sonderbaren Tatsache zweifellos nicht bewusst.

„Also, liebe gnädige Frau“, fuhr Reilly fort und lockerte seinen Griff um ihr Handgelenk ein wenig, „wenn Sie so freundlich wären, meine Sachen hierher bringen zu lassen, werde ich gern mein Lager auf der Sitzbank dort drüben aufschlagen und fertig.“

Mrs Murphy war nicht die einzige Person im Raum, die ihn erstaunt ansah. Maeve, Nancy und sogar die in anderen Umständen befindliche Flora starrten ihn an, als wäre er eine neue, bisher unentdeckte Spezies.

Und vielleicht war er das für sie auch. Die Stammkundschaft des Tortured Hare sah nicht gerade so aus, als ob sie darauf bestehen würden, einer schwangeren Frau ihr Bett zu lassen. Geschweige denn, dass sie sich erheben würden, um zu verhindern, dass sie einen Klaps von ihrer Arbeitgeberin bekam.

Andererseits könnten die Blicke der Frauen vielleicht gar nichts mit Reillys Galanterie zu tun haben und stattdessen sehr viel mit der Tatsache, dass die Decke heruntergerutscht war, als er Mrs Murphys Handgelenk ergriffen hatte. Seine nackte Brust war wieder entblößt, sodass sie ihn neugierig – und, wenn man nach ihren Gesichtsausdrücken urteilte, auch anerkennend – betrachteten.

Mrs Murphy war die erste, die ihren Blick von Reillys nacktem Oberkörper riss.

„Na ja“, sagte sie langsam. „Ich weiß nich’. Lord Glendenning wird das sicher nich’ gefallen …“

„Tja, wenn es Lord Glendenning nicht gefällt“, bemerkte Reilly, „kann er mich sehr gerne einladen, bei ihm auf Burg Glendenning zu wohnen, nicht wahr?“

Mrs Murphy nickte langsam. „Ja, das kann er.“

„Dann ist alles geklärt.“ Reilly ließ den Arm der molligen Dame los, griff noch einmal nach der Decke und dem dürftigen Schutz, den sie ihm gegen die lüsternen Blicke von Maeve und ihren Kolleginnen bot, und nahm dann das Whiskyglas, das seit geraumer Zeit vergessen neben seinem Ellbogen gestanden hatte. Er hob es an und schwenkte es in Floras Richtung. „Dann auf Ihr Wohl, meine Damen –“

Und mit einem Blick zu dem Fährmann, der wegen der unzähligen Getränke, die seine Freunde ihm ausgegeben hatten, bald wieder besinnungslos sein würde, kippte Reilly seinen Kopf nach hinten und leerte den Inhalt des Glases.

Der Whisky war köstlich, stark genug, um in seinen Augen zu brennen, aber mit einer herrlich rauchigen Note. Die feurige Flüssigkeit floss seinen Hals hinunter und erwärmte selbst die Stellen seines Körpers, von denen er überzeugt gewesen war, dass sie sich nie wieder warm anfühlen würden. Er dachte sich, dass Pearson und Shelley zwei oder drei Kronen für ein Glas von so einem guten Zeug bezahlten, und hier saß er und trank es umsonst, weil er einen halbtoten Fährmann aus dem Wasser gezogen hatte.

Und sie hatten ihn gedrängt, London nicht zu verlassen!

Erst mehrere Gläser Whisky später, nachdem Reilly endlich trockene Kleider aus seinem Koffer angezogen hatte, erinnerte er sich an einen der Gründe, warum Christine ihre Verlobung gelöst hatte – zumindest war es einer der Gründe, den sie in ihrem Brief genannt hatte, demselben Brief, der momentan vollkommen unleserlich an einer Wäscheklammer über dem Ofen hing: seine chronische Trunkenheit. Er fand, dass das Wort chronisch ein wenig überzogen war. Schließlich trank er nicht öfter als jeder andere Mann, den er kannte – eher das Gegenteil, um genau zu sein.

Aber Christine, die süße, fromme Christine, die sonntags nie in der Kirche fehlte und mehr Gesellschaften angehörte, als er an beiden Händen abzählen konnte – Temperenzgesellschaft, Missionarsgesellschaft und abolitionistische Gesellschaft – war anscheinend der Meinung gewesen, dass sogar seine ein oder zwei Whiskys am Abend ein oder zwei zu viel waren.

Nun, wahrscheinlich hatte sie Recht. Je mehr er trank – und es herrschte eine weinselige Stimmung im Tortured Hare, die Reilly ziemlich unwiderstehlich fand – desto mehr schien er zu vergessen, zu welchem Zweck er an diesen verlassenen Ort gekommen war.

Nicht, um mit den örtlichen Trunkenbolden zu verkehren, wie er es jetzt gerade tat, sondern um gute Werke zu vollbringen, um sich für andere aufzuopfern. Und um Miss Christine King ein für alle Mal zu beweisen, dass Reilly Stanton (Lord Reilly Stanton, um genau zu sein. Schließlich war er der achte Marquis von Stillworth, wozu auch immer das gut war) ein Mann mit Courage und Überzeugungen war, der es nicht nötig hatte, seinen Titel zur Schau zu tragen, um Respekt zu erlangen. Und sicherlich nicht der betrunkene, unentschlossene Prasser und Verschwender, für den sie ihn zu halten schien.

Und bei Gott, er würde ihr das beweisen, selbst, wenn er dafür jeden verdammten betrunkenen Fährmann auf diesem verfluchten Felsbrocken retten müsste.

„Stanton!“ Reillys neuer bester Freund, Adam MacAdams, der älteste und zahnloseste der Fischerleute, unterbrach seine Betrachtungen, indem er ihm einen Arm um den Hals legte und sagte: „Lass mich dir noch ’nen Drink ausgeben.“

„Oh, nein, danke“, sagte Reilly höflich. „Ich hatte wirklich genug.“

„Nur noch ein Drink. Du has’ meinen Freund gerettet. Meinen Freund Stuben. Darf ich dir keinen Drink ausgeben, als Dank, weil du meinen Freund Stuben gerettet has’?“

Reilly sagte: „Ich habe ihn nicht gerettet. Ihre Miss Brenna hat ihn gerettet.“

„Nur noch ein Drink“, sagte MacAdams. „Nur einer.“

Reilly konnte sich nicht erinnern, jemals irgendwo so herzlich aufgenommen worden zu sein. Wahrhaftig, seine Freunde hatten vollkommen Unrecht gehabt. Highlander waren im Grunde vollkommen zivilisiert. Und die Menschen auf der Isle of Skye waren die freundlichsten, geselligsten Highlander überhaupt.

Mit Tränen in den Augen sagte Reilly: „In Ordnung. Noch einen. Aber nur, wenn ich den Toast aussprechen darf.“

„Leg los“, sagte MacAdams. „Du machst den Toast.“

Reilly hob sein Glas. „Ich möchte diesen Toast auf die schönste, liebenswürdigste und reizendste Dame im ganzen Land aussprechen, die Verfasserin dieses Briefes dort –“ Alle drehten die Köpfe, um das Blatt rosafarbenes Briefpapier anzusehen, das vor dem Feuer trocknete. „Die anmutige, die entzückende und fromme – und ich beabsichtige, sie zu heiraten, wenn sie mich nur haben will – die achtenswerte Miss Christine King.“

„Auf Mish King“, stimmten die Fischer ein.

Sie leerten ihre Gläser. Dann wandte sich Reilly an Adam MacAdams und fragte: „Also, was ist denn das Problem mit Burn Cottage?“

Aber er bekam keine Antwort mehr darauf. Denn alle seine neuen Freunde waren eingenickt, bevor er die Worte ganz herausgebracht hatte.

Und Reilly entschied, erfüllt von einem warmen Gefühl der Kameradschaft, dass es nicht sehr vornehm von ihm wäre, ihr überaus gastfreundliches Angebot eines Schläfchens auszuschlagen … trotz allem, was Christine zweifellos davon gehalten hätte.

3.

Die Burg war alt, Teile von ihr sogar jahrhundertealt. Seltsamerweise war es der jüngere Anbau – von etwa 1650 –, der zuerst begonnen hatte zu verfallen. Die Mauern bröckelten schon seit Jahrzehnten und das Fundament war undicht. Jedes Frühjahr wurden die Kerker überschwemmt. Da in diesen unterirdischen Zellen keine Gefangenen mehr eingesperrt wurden, war das nicht besonders gefährlich, aber der Wasseransturm trieb für gewöhnlich die Ratten, die sich zwischen den Weinfässern niedergelassen hatten, in die Wohnbereiche der Burg.

Dies erwies sich als sehr ärgerlich für die Bediensteten, obwohl es den Eigentümer der Burg nicht besonders zu stören schien. Brenna war überzeugt davon, dass es Lord Glendenning nicht allzu viel ausmachen würde, wenn eine Ratte von der Größe eines Ponys auf seiner Brust hocken würde, außer das Tier hinderte ihn irgendwie daran, an seinen Bierkrug zu gelangen.

Als Brenna den dösenden Earl nüchtern von der Tür aus betrachtete, bedauerte sie, dass es noch nicht Frühling war.

Natürlich nicht, weil sie die Vorstellung reizvoll fand, in den dunklen und schimmligen Korridoren von Burg Glendenning auf Ungeziefer zu stoßen. Ganz und gar nicht. Aber sie konnte sich gut vorstellen, dass Iain MacLeod, der neunzehnte Earl von Glendenning, nicht ganz so erfreut über die Ratten in seinem Anwesen wäre, wenn sie ihm zufällig eine in den verhassten Nacken legen würde. Was er nur verdient hätte.

Aber da sie keine Ratte zur Hand hatte, begnügte sich Brenna damit, den Raum zu durchqueren und den Füßen des Earls, die er auf dem Ofen abgelegt hatte, einen kräftigen Tritt zu verpassen.

Die riesigen, bestiefelten Füße Lord Glendennings landeten mit einem Krach auf dem Fliesenboden und weckten die Hunde, die sich vor dem Feuer zusammengerollt hatten. Die Hunde sprangen sofort auf und begannen laut zu bellen, während Lord Glendenning auf der Suche nach seinem Schwert in den Falten des Umhangs wühlte und rief: „Bleib stehen, Dieb! Ich habe eine Waffe und ich werde sie benutzen!“

Aber als er schließlich das scharfe, antike Breitschwert schwang – die Klinge, die, wie es hieß, seit den Tagen König Artus’ in seiner Familie war – wirkte die Person, an deren Kehle er es hielt, vollkommen unbeeindruckt. Vielmehr streckte sie die Hand aus und schob die Schneide mit Daumen und Zeigefinger von sich weg.

„Hättet Ihr mir gegenüber nicht wenigstens erwähnen können, dass Ihr überlegt, einen neuen Arzt einzustellen?“, sagte Brenna frostig.

Lord Glendenning schien allmählich wach zu werden. Er blinzelte mit seinen von dunklen Wimpern umrahmten blassblauen Augen, die, wie Brenna wusste, mehr Frauenherzen in Aufregung versetzt hatten, als sie an all ihren Fingern und Zehen abzählen konnte, und fragte: „Brenna? Bist du das etwa?“

„Natürlich bin ich es.“ Sie duckte sich unter der Klinge, die er immer noch erhoben hielt, hindurch und ging zum Feuer, um ihre Finger auszustrecken und aufzuwärmen, die vom Ritt beinahe gefroren waren. Die Hunde, die ihre Freundin erkannten, fielen über sie her und drängelten sich vor, um ihre Schnauzen unter ihre Hände zu schieben.

„Runter“, brüllte Lord Glendenning die Tiere an, aber sie schenkten ihm nicht mehr Beachtung als sonst und sprangen immer noch hoch, um das Gesicht der Besucherin abzulecken. Erst, als diese sich mit dem Rücken zum Feuer auf den Ofen setzte und mit gebieterischer Stimme „Nein“, und „Sitz“ sagte, gehorchten sie alle, und zwar sofort.

„Was machst du hier?“, fragte Lord Glendenning, als er das Schwert wieder in die Scheide steckte. „Hast du deine Meinung geändert?“ Er griff nach oben, um seine langen, pechschwarzen Haare aus dem Gesicht zu streichen, und musterte ihren Gesichtsausdruck im Licht des erlöschenden Feuers genau. „Das hast du, bei Gott. Du bist endlich zur Vernunft gekommen. Also das muss gefeiert werden. Raonull!“

Der Earl warf seinen Kopf zurück und bellte lauter als all seine Hunde zuvor: „Raonull! Wach auf und bring uns Wein!“

„Lasst das Geschrei“, sagte Brenna und begann beiläufig, eine Klette aus dem Fell des Hundes zu lösen, der am nächsten bei ihr saß. Der Hund rollte bei dieser Zuwendung dankbar mit den Augen und legte seinen schweren Kopf auf ihrem Schoß ab. „Wirklich, habt Ihr denn allen Verstand verloren, den Gott Euch gegeben hat? Ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich will wissen, was Ihr Euch dabei denkt, einfach einen Arzt einzustellen, ohne jemandem auch nur ein Wort davon zu sagen.“

Lord Glendenning sah etwas verwirrt aus. „Einen Arzt einzu–“ Er blinzelte ein paar Mal. „Oh. Du hast das also herausgefunden, ja?“

„Es herausgefunden?“ Brenna schüttelte vor Erstaunen über ihn den Kopf. „Das will ich meinen. Der Kerl ist vor einer halben Stunde bei Moira aufgetaucht. Wirklich, Mylord. Wie konntet Ihr nur? Ihr hättet zumindest erwähnen können, dass –“

„Vor einer halben Stunde?“ Glendenning sank tief in den Gobelin-Stuhl zurück, in dem er ein paar Augenblicke zuvor gedöst hatte. Er sah verblüfft aus. „Aber er sollte erst am Mittwoch kommen.“

Brenna verdrehte die Augen. „Heute ist Mittwoch, Mylord“, sagte sie.

„Oh.“ Iain MacLeod blickte auf seine großen, schwieligen Hände hinab, so als fände sich in ihnen ein Ausweg aus dieser misslichen Lage. Brenna betrachtete ihn gefasst. Obwohl der Earl von Glendenning selten etwas tat, was ihr gefiel, war ihr vollkommen klar, dass dies nicht darauf zurückzuführen war, dass er sie persönlich beleidigen wollte – er wusste es einfach nicht besser. Tatsächlich scheute er für gewöhnlich keine Mühen, um ihre Gunst zu gewinnen. Die Tatsache, dass diese Versuche selten erfolgreich waren, war nicht unbedingt die Schuld des Earls. Das sagte sich Brenna zumindest, wenn sie, wie jetzt, den Drang verspürte, ihre Hände um seinen wuchtigen Hals zu legen und zuzudrücken.

„Ihr hättet es mir erzählen können“, tadelte ihn Brenna behutsam und streichelte die Ohren eines der Hunde, „das wisst Ihr.“

Lord Glendenning blickte finster drein. Er war ein gutaussehender Mann. Um ehrlich zu sein, war er der ansehnlichste Mann, dem Brenna je begegnet war. Zumindest war er es bisher gewesen. Jetzt, wo Brenna Reilly Stanton getroffen hatte, stellte sie fest, dass sie sich dessen nicht mehr vollkommen sicher war.

Sie war sich jedoch völlig sicher, dass selbst ein finsterer Blick Lord Glendenning gut stand … und das war ihm auch völlig klar. Der Earl war sich seines guten Aussehens nur allzu bewusst – etwas, was Brenna keinesfalls mit Gewissheit von Dr. Stanton behaupten konnte. Er wusste auch um die verheerende Wirkung, die diese Blicke manchmal auf leicht zu beeindruckende junge Frauen hatten und auch auf einige, die schon älter waren. Und ihn plagten keine Gewissensbisse, wenn er diese Blicke, so oft es möglich war, zu seinem Vorteil nutzte.

Aber Brenna wusste nur zu gut, dass das Aussehen des Earls trügerisch war. Er mochte vielleicht wie ein junger Gott erscheinen, aber unter dieser engelsgleichen, unschuldigen Fassade lauerte, das wusste sie ganz genau, ein teuflisch schalkhaftes Gemüt. Daher rührte sie sein finsterer Blick nicht im Geringsten. Vielmehr blickte sie genauso finster zurück.

„Es ist jetzt wirklich kein fairer Kampf mehr, oder?“ Sie runzelte die Stirn, um ihn wissen zu lassen, dass sie das ganz und gar nicht lustig fand. „Ihr hättet mich zumindest darauf hinweisen können.“

Glendenning reckte sein Kinn vor. Er hatte dort ein Grübchen, sein Kiefer war kantig und heute mit einem Blauschatten übersät, weil er sich seit dem Morgen nicht rasiert hatte.

„Ich wollte es dir ja sagen“, sagte er trotzig. „Aber ich … tja, ich habe es vergessen.“

„Oh, ach so.“ Brenna nickte. „Ihr habt es vergessen. Natürlich, wie dumm von mir. Und ich dachte, Ihr hättet es einfach absichtlich getan, um mich zu überrumpeln und mich empfänglicher für Eure … Vorschläge zu machen.“

„Verdammt nochmal, Brenna!“ Der Earl drückte sich aus seinem Stuhl hoch und begann, der Länge nach durch den Raum zu schreiten. Und der Raum war ziemlich lang, denn er war einst der Palas der Burg gewesen. Immer noch hingen alte, zerfledderte Banner mit dem Wappen der McLeods – zwei Löwen, die auf grünem Rasen rangen – von den Dachbalken der sechs Meter hohen Decke herab. „Was erwartest du denn von mir, hä?“

„Ich erwarte, dass Ihr Euch wie ein Mann verhaltet“, sagte Brenna. „Und nicht wie ein verzogenes kleines Kind.“

„Wieso benehme ich mich denn wie ein verzogenes Kind?“, rief der Earl und wirbelte so schnell zu ihr herum, dass der lange Umhang, den er trug, sich wie eine Sturmwolke hinter ihm aufbauschte. „Ich handle im besten Interesse meines Volkes.“

„Indem Ihr einen Arzt einstellt, den Ihr durch ein Inserat in der Londoner Times gefunden habt?“ Brennas Stimme triefte vor Hohn. „Habt Ihr eine Ahnung, ob dieser Mann für die Stelle überhaupt geeignet ist? Bei allem, was Ihr von ihm wisst, könnte er ein auch irgendein Quacksalber sein –“

„Er ist kein Quacksalber“, blaffte der Earl. „Er hat mir ein halbes Dutzend Empfehlungsschreiben geschickt, die alle mustergültig waren. Er war in Oxford, um Himmels willen, Brenna. Er ist Mitglied der Royal University –“