Ein Gott zu Tulivar - Dirk den van Boom - E-Book

Ein Gott zu Tulivar E-Book

Dirk den van Boom

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Beschreibung

Keine Ruhe für den Baron von Tulivar, obgleich er sich so sehr danach sehnt. Eine Götterstatue beginnt nach Bratensaft zu riechen: Der Mangel an Frömmigkeit vertreibt die ersten Götter aus dem Himmel und einer greift in seiner Not zu einer verzweifelten Tat.
Die Manifestation eines echten Gottes ausgerechnet im abgelegenen Tulivar stellt den Baron vor größte Herausforderungen: zu viel essen, weniger essen, Sport treiben, zum Erzfeind reisen, einen Dämon und einen Heiligen kontrollieren, einen Freund verlieren, zum Sexsymbol werden – und bei alledem die Ruhe bewahren. Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein, und erst recht nicht, einen solchen zu ertragen.

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Inhalt

1. Der Tag des Saftes

2. Denny kann helfen

3. Kehr ein bei Doderil

4. Shayb kann helfen

5. Ein Dämon für den Baron

6. Ein Baron kommt nicht allein

7. Das Ritual

8. Ein großer Spaß

9. Frage der Freiheit

10. Lesen schadet

11. Schönheit ist überwältigend

12. Gesunder Geist, gesunder Körper

13. In der Herberge

14. Nicht allein

15. Fred

16. Eine besondere Begegnung

17. Verantwortung

18. Veränderungen

19. Statuen im Anmarsch

20. Bischöfe und Propheten

21. Die Schlacht

22. Flockys Plan

23. Instinkte

24. Das letzte Messen

25. Boah …

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Dirk van den Boom

Ein Gott zu Tulivar

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Juli 2018 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild: Mark Freier Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-615-7 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-616-4 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

1. Der Tag des Saftes

Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein.

Zu dieser Erkenntnis kam ich, als ich mir im Tempel des Zeron die Statuen ansah. Zeron war einer der wichtigsten Götter des Reiches und er galt als der persönliche Schutzpatron des Kaisers. Ich sagte es nicht öffentlich, aber die Ereignisse der Vergangenheit hatten deutlich gezeigt, dass Zeron diese Aufgabe entweder nicht sonderlich ernst nahm oder Götter im Allgemeinen überschätzt wurden.

Vikar Lemlir hingegen, der neben mir stand und mit weihevollem Blick die sorgfältig in den Stein gehauene Darstellung eines verärgerten alten Mannes betrachtete, war für ketzerische Aussagen nicht zu haben. Sein ganzer Habitus zeigte, dass er von seiner Mission überzeugt war. Ein Mann des Glaubens, voller tiefer Spiritualität. Darüber hinaus war er ein Gelehrter, konnte lesen und schreiben und betrieb einen florierenden Handel mit den Erträgen aus seinem großen Tempelgarten, insbesondere mit den »Heilkräutern«. Netty hielt ihn für einen Scharlatan, und da sie selbst sehr kundig war, was die Heilwirkungen natürlicher Gewächse anging, war ich in diesem Fall geneigt, ihr Glauben zu schenken.

Das alles änderte nichts daran, dass es meine Aufgabe als Herr zu Tulivar war, mich auch um religiöse Fragestellungen zu kümmern. Ich musste meinen Beitrag zur Instandhaltung der wenigen Tempel von Bedeutung leisten und hin und wieder an Zeremonien teilnehmen, die meine Geduld sowie meine Fähigkeit, Kuhmist zu ertragen, immer wieder auf die Probe stellten.

Erschwerend kam in diesem Fall dazu, dass der Tempel des Zeron gleichzeitig als Anbetungsort für den ganzen, zunehmend unübersichtlichen Pantheon unserer Götterwelt diente. Das große, ineinander verschachtelte Gebäude war voller Gebetsnischen, kleiner Altäre, winziger und etwas größerer Kapellen, voller Säulengänge und Heiligenbilder, so vielen, dass Lemlir wahrscheinlich selbst längst die Übersicht verloren hatte.

Er war und blieb natürlich in erster Linie ein Anhänger des Zeron und deswegen hielten wir vor dem steinernen Abbild dieses Gottes kurz inne, ehe wir unseren Weg fortsetzten.

»Eine schöne Statue«, sagte ich.

»Sie strahlt Erhabenheit aus, nicht wahr?«

»Aber ja.«

Aber nein. Es war nicht so, dass ich ungläubig war. Niemand, der am Krieg teilgenommen hatte, konnte ernsthaft an der Existenz übernatürlicher Kräfte zweifeln. Sie existierten und sie waren oft übel gelaunt. Waren sie es nicht, hatten sie die Tendenz, die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen und sich von der Hoffnung der Gläubigen zu nähren, dass sie eines Tages doch noch auftauchen würden, um alles wieder gut zu machen. Das ging nun schon Jahrtausende so und viele warteten immer noch auf diesen Moment. Ich gehörte nicht dazu. Aber Hoffnung war etwas Schönes und gab den Beladenen Trost und Mut. Ich machte mich darüber nicht lustig.

Mir fehlte nur der Sinn dafür.

Zeron war da keine Ausnahme.

»Zeron erfüllt mich immer wieder mit besonderer Demut«, erwähnte der Vikar noch, ehe er mich am Ärmel fasste und weiterzog. »Welcher Gott aus dem Pantheon spricht zu Euch, mein Lord?«

Ich hätte ihm jetzt von meinem Erlebnis bei der Schlacht um Kald berichten können. Ein besonders blutiges Kapitel im vergangenen Krieg, hatten die Hohepriester des Kaisers doch in ihrem flehentlichen Bitten um Beistand tatsächlich die Aufmerksamkeit von Curea, der Göttin der feinsinnigen Liebe und gefälligen Rücksichtnahme, auf sich gezogen. Die Göttin, sehr lieblich anzusehen, war uns erschienen und ihr leuchtender Glanz hatte das Schlachtfeld erhellt, sodass selbst die gegnerischen Dämonen in ihrem Wüten innegehalten hatten. Curea hatte ein weites Gewand getragen und keine Unterwäsche, und jedes Mal, wenn sie die Arme hob, um einen Segen auszusprechen, sah man ihre Brüste wippen. Ich denke bis heute, dass es ein erhebender Anblick war, zumindest für Männer, die noch in dem Alter waren, in dem sich Dinge erhoben. Auch sonst war es eine schöne Pause gewesen, etwa für fünf Minuten. Dann löste sich das Abbild der Hübschen auf und Hunderte von Tauben flatterten über das Gemetzel, das daraufhin wieder anhob.

Die schlechte Nachricht war, dass Curea uns nicht wirklich geholfen hatte.

Die gute Nachricht war, dass es an diesem Abend an den Lagerfeuern überall frische Taube gab. Zartes Fleisch, wie Butter auf der Zunge. Dafür war ich der Göttin heute noch dankbar.

»Curea«, sagte ich also, weil es irgendwie stimmte und ich den Vikar nicht verärgern wollte.

Er nickte wissend und blinzelte mir verschwörerisch zu.

»Es gibt in der Hauptstadt im Kleinen Tempel eine besonders gut gelungene, sehr freizügige Statue von ihr«, berichtete er mir. »Sie drückt natürlich auch aus, wofür die Göttin steht. Ich sehe das Bild oft vor mir, wenn ich traurig bin, und es gibt mir Trost.«

Ich kannte die Statue. Ich hatte Selur einmal dabei ertappt, wie er sie sehr versunken angestarrt und sich dabei einen runtergeholt hatte. Damals war er der Ansicht gewesen, es sei eine Art Opfergabe, um sie gnädig zu stimmen. Wenn ein Mensch auf dieser Welt der besonderen Gnade der Göttin nicht bedurfte, dann war es Selur. Er war einfach nur ein Ferkel, sonst war dazu nichts zu sagen.

Außerdem war Curea nicht die Göttin der Lust. Feinsinnige Liebe war ihr Thema. Sie hatte nur Anhänger in besonders auserwählten Kreisen, die sich das mit dem Feinsinn leisten konnten.

»Hier entlang«, sagte Lemlir nun und ich folgte ihm. Der Tempel war nicht nur das übliche Sammelsurium aus Andachtsräumen, um auch jeder Gottheit des weit verzweigten Pantheons seine Ecke zu geben, er war überdies ein Albtraum für das Reinigungspersonal. Aber alles war gut gepflegt und sauber, da konnte man dem Vikar keinen Vorwurf machen. Er mobilisierte die Gläubigen stets zu Säuberungsdiensten und achtete darauf, dass jeder Staubfänger abgefeudelt wurde. Seit ich Tulivar regierte, war die Bevölkerung von Stadt und Land erkennbar angewachsen, bemerkenswerterweise vor allem durch Einwanderung aus anderen, teilweise sehr entfernten Provinzen. Das war keine besondere Leistung meiner feinsinnigen Führungsqualitäten. Es genügte schon, wenn sich herumsprach, ein etwas kleineres Arschloch zu sein als andere, um diesen Effekt zu erzielen.

Dennoch: Nicht für alle der vielen Gottheiten fanden sich immer ausreichend Gläubige. Der Boden vor der Statue Zerons war blank gewetzt durch die Knie der Betenden, vor anderen Abbildungen war es nur der Besen der Tempeldiener und Gläubigen, der für Sauberkeit sorgte. Je tiefer die Kammern in den Fels gehauen waren, desto seltener verlor sich offenbar jemand hierher. Als wir dort angekommen waren, wohin Lemlir mich hatte haben wollen, war es auch recht düster, trotz der ganzen Öllampen an den Wänden.

Die Statue vor mir war schön gearbeitet, wie generell an der Handwerkskunst der Bildhauer hier nichts auszusetzen war. Sie zeigte einen älteren Herrn, durchaus würdevoll, mit einem dicken Bauch, einem jovialen, wenngleich irgendwie etwas verstörenden Lächeln und einem Becher Wein in der Hand. In der anderen hielt er einen Braten, direkt am Knochen, und der Bildhauer hatte in der Kunst des Malers, der die Statue koloriert hatte, seine Entsprechung gefunden. Der Braten sah dermaßen lebensecht aus, ich war beinahe in der Lage, den schönen Duft des gerösteten Fleisches aufzufangen.

Moment!

Prüfend sog ich die Luft ein, fühlte mich dabei von Lemlir eingehend beobachtet.

Verdammt, ich roch tatsächlich etwas!

Meine Irritation musste dem Vikar natürlich aufgefallen sein, denn er nickte beifällig. »Nicht wahr? Ihr merkt es auch, Baron?«

Ich machte einen Schritt auf die Statue zu und nahm mir eine weitere Nase voll. Ja, das war Bratenduft und mein Frühstück war schon eine Weile her. Ich bekam Hunger.

»Berührt die Darstellung, mein Lord«, forderte Lemlir mich auf.

Ich tat wie geheißen, streckte die Hand auf und berührte den Steinbraten sachte mit einem Finger.

Er war warm, fast heiß. Weich. Das Fleisch gab sanft nach, als würde unter der braunen Kruste weiches, weißes Gewebe liegen, gerade richtig geröstet, von köstlichem Geschmack. Ich beherrschte mich. Ich wollte Lemlir gegenüber nicht als leicht beeindruckbar erscheinen, aber bei allen Göttern, inklusive diesem, ich war beeindruckt!

Ich zog die Hand zurück und betrachtete den Finger. Sanft schimmerndes Bratenfett war zu erkennen.

»Sie können es ablecken.«

Ich tat es. Ein wunderbares Aroma, ein Versprechen auf ein Festmahl. Mir lief sofort das Wasser im Munde zusammen. Ich schluckte den Speichel herunter, zwang mich, den Blick von der verheißungsvollen Speise abzuwenden und stattdessen den Vikar anzuschauen, der mir erneut zunickte. Er wirkte nicht triumphierend, er sah besorgt aus.

Das war nicht gut.

»Wir beten alle um die Gaben der Götter«, sagte der heilige Mann. »Mal mit mehr, mal mit weniger Inbrunst. Manchmal werden wir erhört, meistens aber nicht – ich bin der Letzte, der das nicht zuzugeben bereit ist. Die Götter sind in ihrem Handeln nicht vorhersehbar. Wären sie das, wären sie wohl keine Götter mehr. Aber halten wir einmal fest: Dass eine Statue anfängt, sich sehr lebendig zu verhalten, das habe ich zuletzt aus dem Krieg gehört und damals war es eine Beschwörung übelwollender Kampfmagier gewesen. Ich möchte nicht hoffen, dass es sich hier um das Gleiche handelt. Ihr wart im Krieg, mein Lord, ich war es nicht. Als ich bemerkte, was hier unten vor sich geht, habe ich sogleich nach Euch rufen lassen.« Lemlir machte nun einen auf sehr profunde Weise verwirrten Eindruck. »Habt Ihr eine Erklärung?«

»Noch nicht«, sagte ich und das war die Wahrheit. »Welcher Gott ist das?«

Der Vikar war mir nicht böse, dass ich nicht jeden kannte. Er schaute wieder auf den jovial lächelnden Mann mit dem Braten.

»Migiers, Gott der Völlerei, der Labsal und der sinnlosen Betäubung. Er ist nicht so beliebt, wie man meinen könnte. Fruchtbarkeitsgötter sind beliebter und auch die essen gerne und sehen einfach besser aus, selbst die weniger feinsinnigen. Migiers ist eher der Verkäufer von Rauschkräutern an zugigen Ecken in den schlechten Vierteln der Stadt, der Bereiter schlechter Weine, die aber stark genug sind, Vergessen zu erzeugen, und der wilden Fresserei, in der man nicht mehr merkt, dass das Fleisch bereits seit drei Tagen liegt und nur rasch wieder angebraten wurde. Diese Art von Völlerei.«

Ich wusste genau, wovon er sprach. Dass es dafür einen eigenen Gott gab, war mir neu gewesen, aber ich hätte damit rechnen müssen. Die Zuständigkeiten der Himmelswesen waren so weit aufgefächert wie die der kaiserlichen Bürokratie – und in etwa genauso berechenbar.

»Und was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß es nicht genau.«

Lemlir log nicht. Er war tatsächlich ratlos.

»Ein göttliches Zeichen, das es zu interpretieren gilt?«

Lemlir zuckte mit den Achseln. »Was für ein Zeichen soll das sein? Der heilige Braten gehört gut durch?«

»Sie sind der Priester.«

Der Mann seufzte. »Baron, ich bin für mehrere Dutzend Götter zuständig und lediglich dem Zeron wirklich geweiht. Für die anderen bin ich mehr … in Vertretung tätig. Wie Ihr wisst, werden davon nur ein paar wirklich regelmäßig angebetet, was dazu führt, dass sich die Inhalte meiner Zeremonien auch auf diese konzentrieren. Angebot und Nachfrage, es ist wie auf dem Markt. Das Angebot Migiers ist da, aber die Nachfrage war es bisher nicht. Also pflegen wir respektvoll sein Bildnis und kümmern uns um andere Dinge. Jetzt tropft hier Bratenfett herunter und das ist nicht normal. Ich meine, es ist nicht unmöglich – den Göttern ist bekanntlich nichts unmöglich –, aber es ist nicht normal. Ich glaube, es gibt in ganz Tulivar nicht einen expliziten Anhänger Migiers’.«

Ich kannte mehrere, die durch ihren Lebenswandel dem Gott nacheiferten, aber wahrscheinlich nicht als bewusster Gottesdienst, sondern eher, weil es ihnen Spaß machte und es sonst am Arsch der Welt auch wenig zu tun gab. Ich konnte sie mir schwer als aufrecht Gläubige vorstellen, selbst wenn sie gewusst hätten, dass es auch für ihren unsteten Lebenswandel eine Gottheit gab. Es würde sie nicht interessieren. Im besten Fall würden sie auf diese Tatsache einen trinken. Möglicherweise fiel das dann bereits unter die Kategorie Gottesdienst. Ich kannte mich da wirklich nicht besonders gut aus.

»Also spekulieren Sie auch nur?«

»Ich habe nachgelesen in den Heiligen Schriften. Wie Ihr wisst, gibt es da eine Menge und auch hier werden die eher bekannten und beliebten Götter gemeinhin in der Rezeption bevorzugt. Es gibt ein paar Kompendien, die den gesamten Pantheon abdecken, und natürlich habe ich überall nachgeschlagen. Migiers ist da meist nur eine Fußnote, und meist keine sehr nette. In der Hauptstadt, so vermute ich, gibt es noch einige obskure Darlegungen, die ich idealerweise ebenfalls hätte heranziehen sollen. Alles in allem, so befürchte ich, gibt es nur eine logische Schlussfolgerung aus dem, was wir da sehen.«

»Aha! Also doch.«

Der Vikar schaute pikiert drein. »Es ist nur eine Hypothese.«

»Keine Theorie?«

Der Vikar schaute noch pikierter drein. »Ich kenne den Unterschied.«

Ich war angenehm überrascht. Ein Mann von Bildung.

»Wie lautet also die Hypothese?«

»Es handelt sich um eine Manifestation.«

Das war mal überraschend. Meine positive Meinung über den Vikar bekam sogleich einen Dämpfer.

»Tatsächlich. Wie die von Curea bei der Schlacht um Kald?« Jeder kannte die Geschichte, da sie Quelle einiger weit verbreiteter Rezepte zur Zubereitung von Tauben war.

»Nein. Eine richtige, physische Manifestation. Das kommt … selten vor.«

»Wann war die letzte?«

Lemlir runzelte die Stirn. »Die letzte wirklich verbürgte oder die letzte, die wir aus den Heiligen Schriften entnehmen dürfen?«

»So in echt.«

»Da wäre mir keine bekannt.«

Ich schaute den Braten an, roch den feinen Duft des gerösteten Fleisches. Das war schon mal recht ordentlich manifestiert. Ich hatte wirklich Appetit.

»Was bedeutet das?«

»Es kann bedeuten«, sagte der Vikar mit Betonung auf dem kann, »dass Migiers bald leibhaftig unter uns wandeln wird.«

»Warum sollte er das tun wollen?«

Lemlir zuckte nur mit den Achseln. Erwartungsgemäß hatte er für die wichtigste Frage nicht einmal eine Hypothese parat. Das war wahrscheinlich der ausschlaggebende Grund dafür, dass er mich herangezogen hatte. Ich fand mich mit einem Problem befasst, das einmal mehr jemand in meinen Schoß geworfen hatte, ohne mich vorher zu fragen. Es wurde zur Gewohnheit, aber nicht zu einer angenehmen.

Ehe der Priester noch etwas sagen konnte, setzte er sich plötzlich in Bewegung. Er trat nach vorne, hielt mit einem Mal eine kleine Flasche in der Hand, die er mit einer gewandten Geste entkorkte und unter die Statue hielt. Zielsicher fing er mit der Öffnung den frisch heruntertropfenden Bratensaft auf, wartete noch einige Momente, bis sich der Behälter gefüllt hatte, und stopfte dann den Korken wieder drauf.

»Was …?«, fragte ich.

Lemlir lächelte und steckte das Fläschchen ein. »Der heilige Saft«, sagte er. »Der Tempel ist teuer. Wir müssen Geld verdienen. Das ist original göttlicher Bratensaft, von mir zertifiziert. Ich weiß nicht, ob er Wunder bewirken kann, aber göttlich ist er.«

Ich hob die Augenbrauen.

Er sah mich misstrauisch an. »Das werdet Ihr doch nicht abstreiten?«

Ich konnte es nicht abstreiten und das wurmte mich. Lemlir wirkte erleichtert. Es wäre unangenehm, wenn der Lord von Tulivar ihm in die spirituellen Geschäfte fahren würde.

»Ich werde der Sache nachgehen«, sagte ich zum Schluss vage, denn ich hatte noch gar keine genaue Vorstellung, wie ich diese Ankündigung würde umsetzen können. Lemlir wirkte zufrieden. Bis auf Weiteres würde er mit dem Unerklärlichen auf konstruktive Weise umgehen, indem er Geld damit verdiente. Ich musste einfach nur aufmerksam sein: Wenn er anfing, ein geheiligtes Grillfest auszurichten, hatte sich die Sache zugespitzt.

2. Denny kann helfen

Wie immer, wenn ich mal nicht weiterwusste, wandte ich mich an die alte Netty. Das half oft nicht, aber sie war eine der wenigen, die mit so abenteuerlichen Theorien ankam, dass sie meine eigenen Gedanken ausreichend anregten. Seit sie von den Toten auferstanden war, um mich zu ärgern, schien sie wie verwandelt. Vor diesem Ereignis war sie eine zynische, etwas gehässige und oft beleidigende Vettel gewesen, die jungen Männern mit allen Anzeichen der Notgeilheit nachstellte. Nun war sie eine zynische, etwas gehässige und oft beleidigende Vettel, die jungen Männern mit allen Anzeichen der Notgeilheit nachstellte und die sich gewissermaßen für unsterblich hielt. Erwartungsgemäß löste das bei ihr heftige Schübe von Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit aus. Zudem hatte sie sich, seit sie sich von mir kurz vor ihrem nahenden Tode meine tränenreiche Eulogie angehört hatte, eine sehr gönnerhafte Attitüde zugelegt. Alles in allem war sie weiterhin unerträglich und ich besuchte sie nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Dies war ein solcher Anlass, den sonst erwies sich niemand als hilfreich. Selurs einzige Reaktion etwa hatte aus der Frage bestanden, ob damit zu rechnen sei, dass Libida, die Göttin der hemmungslosen Promiskuität, ebenfalls zu einer Manifestation bereit sei. Ich hatte darauf keine Antwort, äußerte aber die ernsthafte Hoffnung, dass dem nicht so sei. Das war nicht das gewesen, was er hatte hören wollen. Auch sonst war niemandem etwas eingefallen. Also Netty. Sie freute das. Sie mochte es, gebraucht zu werden, vor allem von mir.

Ich schilderte ihr den Fall. Sie wirkte sofort sehr nachdenklich und besorgt. Das war meistens ein wirklich schlechtes Zeichen.

»Migiers, ja?«

»Dir ist dieser Gott bekannt? Ich habe zum ersten Mal von ihm gehört.«

»Er gehört zu den himmlischen Wesen, bei denen ich mich wirklich frage, was der Göttervater sich gedacht hatte, als er sie ins Leben rief.«

»So schlimm?«

Anstatt sogleich zu antworten, goss mir Netty von ihrem Kräutertee ein und sah mich auffordernd an. Ich roch erst mal an der Tasse. Alles harmlos, soweit ich das beurteilen konnte. Ich nahm einen Schluck und tat so, als würde ich das Gebräu genießen. Netty wusste natürlich, dass ich das nur vortäuschte. Es war wirklich immer das gleiche Spielchen.

Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und sprach.

»Migiers gehörte immer zu den schwarzen Schafen des Pantheons. Kein wirklich böswilliger Gott, keine Macht der Dunkelheit. Gar keine Macht, wenn man es recht betrachtet. In gewisser Hinsicht unorthodox. Aber im Großen und Ganzen als Gott schlicht eine Nullnummer. Wenige aktive Anhänger, kaum Wunder, erhörte Gebete oder Erscheinungen. Heilige Schriften und Überlieferungen? Fehlanzeige. Besondere Rituale? Mehr Gelage. Alles in allem würde ich ihm ein schlechtes Zeugnis ausstellen.«

Das klang erst einmal nicht so bedrohlich.

»Wäre das ein Grund, ihn von himmlischer Seite her zur Intensivierung seiner Bemühungen zu bewegen, was dann zu einer Manifestation führen würde?«

»Ich will das nicht ganz ausschließen, aber echte Manifestationen haben meist einen anderen Hintergrund.«

»Was für einen?«

»Eine große Krise, etwa unter den Gläubigen.«

»Krise? Etwa eine grassierende Diät? Systematische Lebensmittelkontrollen?«

Netty verzog das Gesicht. »Eher ein Konflikt, etwa mit den Dunklen Mächten oder einer rivalisierenden Gottheit.«

Ich runzelte die Stirn. »Aber Migiers ist eine völlig unerhebliche Gottheit, wenn ich dich gerade richtig verstanden habe. Er hat kaum Gläubige und er wird gemeinhin eher ignoriert. Richtig?«

»So sehe ich das.«

»Warum also der Bratensaft?«

Netty ruckelte sich in eine noch bequemere Sitzposition und schürzte die Lippen. Sie schloss die Augen und all das Gehabe, das mich an ihr sonst so aufregte, war plötzlich aus ihrer Haltung verschwunden. Deswegen war ich hier. Netty wusste Dinge. Sie wusste so verdammt viel, ihre Überlegenheit war manchmal erdrückend. Und sie ließ es einen spüren, was diese Gespräche oft so unangenehm machte.

»Es ist ungewöhnlich«, sagte sie leise. »Nicht normal. Wir sollten jemanden fragen, der sich wirklich auskennt. Götter sind eine Sache für sich. Da sollte man Expertenrat einholen.«

»Lemlir …«

Netty sah mich an. »Lemlir ist ein Idiot.«

Ich schaute sie einen Moment mit einem Ausdruck gelinder Verwunderung an. Hieß das etwa, dass sie zugab, sich in diesem Bereich nicht wirklich auszukennen?

»Natürlich könnte ich es selbst herausfinden«, sagte sie.

Also nicht.

»Aber das kostet Zeit und ich habe den Eindruck, dass uns diese fehlt. Der Bratensaft macht mir Sorgen.«

»Wen also fragen wir?«

»Es gibt da diverse Optionen. Den heiligen Ulrich, der wohnt aber weit im Norden und versucht oft miese Tricks, um sich Vorteile zu verschaffen. Dem traue ich nicht. Die heilige Britta, aber die ist meistens damit beschäftigt, kleine Götterstatuen zu bemalen, und wird leicht grantig, wenn man sie dabei stört. Außerdem hat sie drei echt fiese Katzen. Ich schlage daher den heiligen Denny vor.«

Ich überlegte kurz. Zugegeben, Heilige gehörten nicht unbedingt zu meinem Bekanntenkreis, erst recht keine, die so despektierliche Namen trugen. Die wichtigsten aber meinte ich zu kennen und fand es bemerkenswert, dass sie in Nettys Aufzählung nicht erschienen waren. Der heilige Falco beispielsweise, der vom Dämonen Uldur in der Luft zerrissen worden war, als er einmal einen lockeren Spruch zu viel geäußert hatte. Ein witziger Typ. Ich verbrachte einstmals einige Zeit mit ihm und war nach zwei Tagen in seiner Gesellschaft bereit gewesen, ihn mit meinen eigenen Händen zu erwürgen. Uldur genoss meine Sympathie.

»Wo finde ich diesen weisen Mann?«

Netty schüttelte betont den Kopf.

»Ich habe nicht gesagt, dass er weise ist. Er ist heilig. Das eine bedingt nicht notwendigerweise das andere. Denny war früher ein Richter, bis der Göttervater ihn heimsuchte und er anfing, in Zungen zu reden. Ein Mann von großer Transzendenz. Man könnte ihn als durchgeistigt bezeichnen. Ich denke eher, dass er völlig durchgeknallt ist, aber die Grenzen sind da ja fließend.«

Netty sagte das mit einem Unterton, der mir nicht so gefiel. Ich schaute mir die Teetasse an und fragte mich, ob ich gezwungen sein würde, einen weiteren Schluck zu nehmen, oder aus dieser Pflicht entlassen war.

»Gut, also nicht weise. Wo finde ich ihn?«

»Auf der astralen Ebene, im Land Ätheria, in den Bergen der Glückseligkeit, am See der Erleuchtung, in der Burg der …«

»Netty!«

Die alte Dame unterbrach ihren weihevollen Singsang. Sie schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln.

»Tut mir leid, Baron. Es ist ein besonderer Ort.«

»Das habe ich deiner Beschreibung bereits entnehmen können. Daher bin ich ihm auch noch nicht auf irgendeiner Landkarte begegnet. Wie komme ich dorthin?«

»Du nimmst den Weg der Erkenntnis und wandelst den Pfad der …«

»Jetzt mal im Ernst.«

Netty seufzte.

»Er ist Stammgast in Doderils Refugium, der größten Kifferkneipe von Eldin. Ich sagte doch: in den Bergen der Glückseligkeit. Und so.«

Ich verzog das Gesicht. Eldin war nicht weit von hier, lag am Mittelgebirge, das das Imperium wie ein Grat durchschnitt, etwa acht oder neun Tagesreisen mit dem Schiff, da es sich um eine Hafenstadt handelte. Seit Tulivar selbst einen solchen hatte – soweit man das Dorf mit seiner wackeligen Anlegestelle ernsthaft so beschreiben wollte –, war eine Reise dorthin rein theoretisch gut möglich. Einmal alle zwei Wochen kam eine Kogge aus der Richtung und brachte allerlei Waren für den stetig wachsenden Markt meines Landes. Ich könnte eine Passage buchen und müsste nicht einmal dafür bezahlen.

Baron und so. Für irgendwas musste das ja gut sein.

»Doderil, ja?«

»Direkt am Hafen. Kann man nicht verfehlen. Riecht man schon von Weitem.«

Ich nickte gemessen. »Dann bleibt nur noch eine Frage: Soll ich diese Reise auf mich nehmen oder nicht? Ich meine – wir reden hier von Bratensaft. Ich bin schon vielen übernatürlichen Bedrohungen begegnet, wie du weißt, aber ich kann das Bedrohungspotenzial eines gut gerösteten Rinderviertels noch nicht so richtig einschätzen.«

Netty seufzte und sah mich strafend an. Ich hatte natürlich wieder etwas Dummes gesagt.

»Es geht nicht um das, was Migiers in der Hand hält. Es geht darum, wer er ist. Wenn ein Gott sich manifestiert, passieren im Regelfall unangenehme Dinge. Sie sind anfangs etwas orientierungslos, ich würde sagen … tapsig.« Netty sah mich eindringlich an. »Kannst du dir vorstellen, was ein tapsiger Gott so alles anrichten kann?«

»Nein, aber die Tatsache, dass du so böse guckst, gibt mir eine Idee.«

»Du solltest Denny fragen.«

»Und er kennt sich aus?«

»Er ist seit Jahren dermaßen bekifft, er kennt sich bestens im Götterhimmel aus.«

»Ich bin auch ein Experte für alles Mögliche, wenn ich betrunken bin.«

Netty lächelte. »Denny ist aber richtig begnadet. Er hat die Gabe. Und er ist ein netter Kerl. Deswegen ist er ja auch heiliggesprochen worden. Er weiß, wovon er redet, zumindest meistens. Besuche ihn.«

»Ich könnte ihm schreiben.«

»Er kann weder lesen noch schreiben.«

»Es gibt Schreiber.«

»Denny gibt alles Geld, über das er verfügt, für Rauschkraut aus.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das alles eine gute Idee ist. Vielleicht sollten wir lieber ein großes Grillfest veranstalten und Migiers willkommen heißen, wenn es so weit ist.«

Netty faltete ihre Hände über dem Schoß zusammen.

»Das, lieber Baron, müssen wir auf jeden Fall tun! Glaub mir, alles andere wäre für Tulivar, für dich und für alle Bewohner dieser Provinz potenziell fatal.«

Ich zwinkerte. »Fatal? Im Sinne von …«

»Fatal.«

Und damit hatte Netty im Grunde alles gesagt.

3. Kehr ein bei Doderil

Ich reiste nicht allein, ich nahm Selur mit. Das hing weniger damit zusammen, dass ich der Gesellschaft bedurfte, und auch nicht damit, dass er ein besonders angenehmer Reisepartner war, der mir die Langeweile vertreiben konnte. Nein, Selur kannte einfach zu viele Leute in der Gegend, in der sich der Heilige aufzuhalten pflegte, und diese Kontakte konnten sich noch als nützlich erweisen. Außerdem war er flink mit Schwert und Zunge, und auch ein zusätzliches Augenpaar war nicht zu verachten.

Meistens war er auch ganz nett.

Ausnahmsweise gab es für ihn keine andere Motivation, mich zu begleiten, als sein Schwur, meine Befehle zu befolgen. Es gab keine aktuellen Skandale, die ihn beutelten, keine Ehemänner oder Väter, die ihn jagten, von den Geldeintreibern mal ganz zu schweigen. Es war nicht so, dass Selur einfach nur älter geworden war – obgleich man es ihm nicht ansah! –, er war auch ein klein wenig reifer als noch zu den Zeiten vor zwei Jahren, als der Prinz unser … Gast gewesen war. Selur schien die Aufregung nicht mehr als Lebenselixier zu benötigen oder, in seinem speziellen Fall, als Aphrodisiakum. Es gab sogar Gerüchte, dass er in einer festen Beziehung sei, eine Nachricht, der ich trotz aller Wandlungen mit gehöriger Skepsis gegenüberstand. Aber alles in allem war auch mein alter Freund einfach älter geworden und es fehlte ihm die Energie für das gewisse Extra an Nervigkeit, das ihn früher doch sehr ausgezeichnet hatte.

Das machte ihn möglicherweise etwas langweiliger. Aber ich war in einem Alter, in dem ich dieses Gefühl zu schätzen gelernt hatte, vor allem mit aufwachsenden Kindern im Haus, denen es ebenso an Respekt vor dem Vater und Baron mangelte wie meiner Gattin, deren Liebe und Zuwendung ich natürlich trotzdem genoss.

Dennoch erfüllte mich der Gedanke, die Bande einige Wochen nicht zu sehen, nicht nur mit Trennungsschmerz.

So standen wir zu zweit am Holzpier, der in das trübe Wasser der See ragte, und schauten auf die Handelskogge Glückliche Hand unter dem Kommando von Kapitän Hargar. Hargar hatte es sich nicht nehmen lassen, uns persönlich zu begrüßen, und er entsprach dem Klischee des alten Seebären auf so schmerzhaft akkurate Weise, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob er jeden Morgen vor dem Spiegel stand und sich auf diese Rolle vorbereitete: groß, breit, dick, Bart, wettergegerbte Haut und ein Holzbein. Er hatte tatsächlich ein Holzbein. Was sollte man dazu noch sagen?

Dennoch, dem Mann galt meine Sympathie. Er war unter den ersten Handelskapitänen gewesen, die es gewagt hatten, Tulivar anzulaufen, auch auf die Gefahr hin, mit diesem Geschäft im übertragenen Sinne Schiffbruch zu erleiden. Dieser Mut hatte mir geholfen, den Bürgern meiner Provinz und letztlich auch ihm selbst, vor allem weil andere, die noch gezögert hatten, seinem Vorbild gefolgt waren. Die Glückliche Hand kam nun immer wieder hierher und ich sorgte dafür, dass die besten Geschäfte auf Hargar warteten, die Tulivar zu bieten hatte. Er war ein Freund des Landes, nicht aus persönlicher Begeisterung, aber aus wohlverstandenem Geschäftsinteresse, eine Regung, die ich in ihrer Ehrlichkeit anderen Motivationen jederzeit vorzog.

»Eine große Reise, ja?«, knurrte er zur Begrüßung und fuhr sich über den wilden Backenbart.

»Ich zahle«, war meine Antwort und reichte ihm einige Münzen, die er mit Geschick und Schnelligkeit ergriff und verschwinden ließ. Ich musste nicht zahlen. Mein Titel gab mir das Recht, kostenlosen Transport einzufordern. Nicht nur für mich, sondern auch für ein Gefolge, das ich für angemessen hielt. Doch ich war nicht so. Tulivar war nicht so. Ich pflegte dieses Bild aus guten Gründen. Und so zahlte ich die übliche Summe für Koje, Nahrung und die Mühe, mich an Bord zu ertragen. Hargar nickte mir anerkennend zu. Er würde es so weitererzählen. Der Baron war ehrlich und er wusste, was die Dinge wert waren. Er betrog niemanden. Meine Hoffnung war, dass sich dieses edle Bild auf die ganze Region übertrug. Die Bevölkerung wuchs langsam, aber viele waren arm und noch mehr der Einwanderer kamen hierher, weil sie ein neues Leben erhofften, da ihnen das alte missfiel. Tulivar brauchte Freunde, den Handel und alles Wohlwollen, das Münzen allein nicht kaufen konnten.

»Seid willkommen, Lord zu Tulivar!«, sagte der Kapitän mit deutlich verbesserter Laune. »Ich habe sogar eine Kajüte für Euch, in der es gerüchteweise keine Ratten gibt.«

»Außer denen in der Suppe natürlich.«

»Fleisch ist wichtig für die Ernährung, edler Herr.«

Er ließ uns allein und wir trugen unser bescheidenes Gepäck an Bord. Selur und ich waren in unserem Leben viel herumgekommen – zu viel für unser beider Geschmack – und wir hatten dabei gelernt, dass man nicht viel brauchte, vor allem aber, das Herumschleppen sich oft als hinderlich erwies, etwa wenn man dringend weglaufen musste. Wir hatten uns je einen Rucksack gepackt, was völlig ausreichend war. Man konnte ihn auch als Kopfkissen verwenden oder ihn jemandem auf den Kopf hauen. Ich mochte es, wenn Dinge zu mehr nützlich waren, als allein einer Bestimmung zu dienen.

Wir waren pünktlich gekommen. Nicht eine Stunde nach unserem Eintreffen machte man die Leinen los, die Segel fielen von den Rahen und die Glückliche Hand arbeitete sich knirschend und knackend ins offene Meer hinaus. Das Schiff war ein Küstensegler und Kapitän Hargar nahm das auch sehr ernst, indem er sich nie mehr als wenige Seemeilen vom Festland entfernte. Auch für jene unter den Passagieren, deren Begeisterung für die Seefahrt ihre Grenzen hatte, war der Anblick der Küste sehr beruhigend.

Die Reise verlief weitgehend ereignislos. Am Abend vor unserer Ankunft lud uns der Kapitän in seine Kajüte zum Abendessen ein. Es gab ein einfaches Seemannsmahl, in dem aber keine Ratten vorkamen, wie wir generell auf dem Schiff keinerlei Ungeziefer vorgefunden hatten. Hargar verhielt sich wie ein mustergültiger Gastgeber. Seine Kajüte war nur unwesentlich größer als die unsere und wurde durch einen großen Tisch dominiert, auf dem normalerweise wahrscheinlich Seekarten ausgebreitet wurden. Jetzt saßen wir daran und aßen, und sowohl mein Magen als auch der Selurs hatten sich an das Geschaukel so weit gewöhnt, dass wir guter Dinge waren.

Hargar schenkte uns Wein ein und es war klar, dass er auf Neuigkeiten aus war. Informationen waren ebenfalls ein wichtiges Handelsgut.

»Es geht mich ja nichts an, aber was führt den hohen Herrn nach Eldin? Geschäfte, ja?«

Ein erwartungsvolles Glitzern stand in den dicht beieinanderstehenden Augen des Kapitäns. Er roch entweder eine Gelegenheit oder eine Bedrohung, und in beiden Fällen wollte er mehr wissen. Ich nahm ihm das keinesfalls übel.

»Eher eine Erkundigung.«

»Über Geschäfte?«

Ich legte den Löffel weg und sah den Kapitän ernst an.

»Keine Geschäfte. Es geht um Bratensaft.«

Hargar sah mich verständnislos und ein wenig ungläubig an. Netty und ich hatten darüber geredet, wir waren gemeinsam zu dem Schluss gekommen: Ich konnte die Sache gar nicht geheim halten. Gläubige berichteten täglich aus dem Tempel zu Tulivar über die seltsamen Erscheinungen. Also konnte ich dem Kapitän gegenüber ganz offen sein. Wer auch immer sich künftig berufen fühlen würde, dem Schauspiel beizuwohnen oder es zu kommentieren, würde sich durch mich kaum abhalten lassen. Hargar lauschte der Geschichte mit andächtigem Schweigen. Selur war der Einzige, der unablässig aß, getreu seinem Lebensmotto, dass man immer dann zuschlagen sollte, wenn etwas umsonst war. Er hatte manchmal einen Hang zur Effizienz, den er vor allem bei seinen Liebschaften nicht an den Tag legte.

»Das ist ja mal eine wilde Sache«, kommentierte der Kapitän zum Schluss. »Erinnert mich an das Seemannsgarn, das wir uns so erzählen.«

»Ich vermute, es geht dabei oft um Landor, den Gott der Meere, oder Pietros, den Schutzpatron der Fischer?«

Hargar runzelte die Stirn. »Eher um Meerjungfrauen mit riesigen Möpsen.«

Selur verschluckte sich. »Gibt es die?«

»Ich habe schon welche gesehen.«

»Wo findet man sie?«

»Im Meer.«

»Hattet Ihr schon mal eine?«

Hargar sah Selur unwillig an. »Welchen Teil von ›Jungfrau‹ muss ich Euch erklären?«

Dieses Gespräch führte zu nichts, aber das hatte noch keinen abgehalten, es trotzdem bis zum bitteren Ende auszuwalzen, vor allem jetzt, wo Selurs ernsthaftes Interesse geweckt worden war.

»Könnt ihr das ein andermal diskutieren?«, sagte ich also rechtzeitig genug, um Hargar an seine Pflichten als Gastgeber zu erinnern. »Edler Kapitän, Ihr kennt Euch doch aus. Doderils Refugium ist Euch bekannt?«

Hargar lächelte zweideutig und ich konnte jeden einzelnen Gedanken in seinem Kopf lesen, roch den Schmutz, den jedes Fragment umgab und der einiges über die Fantasie des Mannes und meinen Ruf aussagte. Hargar dachte, der Baron suche Entspannung weit weg von der Familie. Mal richtig einen draufmachen. Er kannte mich eben nicht. Dennoch freute ich mich bereits auf die Gerüchte, die dieses Gespräch unweigerlich säen würde, egal welche Beteuerung ich nun äußerte.

»Nein«, sagte ich sofort. »Ich fahre nicht so weit weg, um eine wilde Party zu feiern, Kapitän. Kein Rauschkraut, keine Frauen und auch sonst nichts. Ich suche jemanden. Der heilige Denny ist Euch möglicherweise ein Begriff?«

Der Kapitän runzelte die Stirn. »Denny, der Hurensohn? Der jede Frau begattet, egal wie alt und wie hässlich? Der jeden Trank zu sich nimmt, egal wie gepanscht und wie stark? Der jedes Kraut raucht, egal wer drauf gepupst hat und wer nicht? Und der, wenn nüchtern, seinen Lebensunterhalt mit den Karten und den Würfeln verdient und als der größte Betrüger südlich der Hauptstadt gilt?«

»Nein, ich meine den heiligen Denny.«

Hargar nickte. »Ebenderselbe.«

Ich wechselte einen Blick mit Selur. Ob Netty sich wirklich sicher war, was ihren Ratschlag betraf? Oder wollte sie mich nur aus dem Weg haben, um die Legalisierung von Rauschkraut für die Betreuung von Kleinkindern durchzusetzen, ein Plan, den sie verfolgte, seit die Familie des Ulricus Bethman neben ihr eingezogen war. Ich hielt viel von Ulricus. Er war eine Stütze meiner Finanzverwaltung und darüber hinaus ein sehr fruchtbarer Mann. Beides Eigenschaften, die Netty aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht sonderlich schätzte.

»Aber Ihr kennt ihn?«, hakte Selur noch einmal nach.

»Jeder kennt ihn. Hundert Meter vom Kai, in der Steingasse. Gar nicht zu verfehlen, immer dem süßlichen Geruch des Rauschkrauts nach.«

»Ich vermute, die städtischen Behörden ergreifen ihn bisweilen bei einer Razzia.«

Hargar sah mich an, als habe ich den Verstand verloren.

»Mein Baron, kennt Ihr Doderil, den Eigner der Wirkungsstätte Eures Heiligen?«

»Ich hatte noch nicht das Vergnügen.«

»Er ist der Sohn des Stadtpatriarchen. Einer seiner vielen Söhne. Wie viele Razzien wird es da Eurer Ansicht im Schnitt so geben?«

Ich verzog den Mund. »Wenige.«

»Keine.« Hargar grinste. »Ein guter Ort, um ungestraft so richtig einen draufzumachen.« Dann ein verschwörerischer Blick. »Sehr diskret, wenn es darauf ankommt.« Während Selur diese Neuigkeit mit sichtlicher Freude aufnahm, sah ich mich erneut in der Pflicht, meinem schlechten Ruf etwas entgegenzusetzen. Nach einer fünfminütigen, für meine Verhältnisse durchaus eloquenten Beteuerung der Reinheit meiner Absichten erntete ich von Hargar nicht mehr als ein vielsagendes Kopfnicken und ein ebensolches Augenzwinkern in Richtung Selur, das dieser natürlich sofort erwiderte, womit umfassende Einigkeit hergestellt worden war.

Ich hatte hier absolut keine Chance.

Der Rest des Mahls verging im Geiste dieser Eintracht, die sich vornehmlich dadurch äußerte, dass Selur genaue Fragen in Bezug auf die Details der angekündigten Diskretion stellte, die Hargar bereitwillig beantwortete. Dem folgte eine ebenso detailreiche Erörterung der zu erwartenden Vergnügungsmöglichkeiten, die in einer für einen alten Seebären nur zu angemessenen, bildhaften und eindringlichen Wortwahl mündeten. Ich war kein Kind von Traurigkeit, aber als wir uns schließlich zurückzogen, glühten mir die Ohren. Ich war mir nicht so sicher, ob meine feinsinnige Seele einen Aufenthalt bei Doderil überleben würde, wohingegen Selur dem Abenteuer mit stetig wachsendem Enthusiasmus entgegensah.

Er war wohl doch nicht älter geworden.

Nach einer alles in allem langweiligen Reise trafen wir ein. Ein großer Hafen, viele Schiffe, umtriebige Geschäftigkeit. Das Ganze hatte sicher etwas Romantisches für Seelen, die das zu würdigen wussten, diese Kombination aus dem Ruf der großen, weiten Welt, dem Ruf des großen Geldes und der Tatsache, dass in einer Hafenstadt Leute aus vielen verschiedenen Gegenden zusammenkamen. Ich fand es nicht romantisch, sondern anstrengend. Als Baron zu Tulivar hatte ich mir die Attitüde eines grantelnden Landeis angewöhnt, der jede Ansammlung von mehr als einem Dutzend Menschen für unziemlich, ungewöhnlich und unerträglich hielt. Wie sagte der heilige Oliver immer so richtig? »Dort lauern die Drachen.« Und damit meinte er alles jenseits des nächsten Waldes.

Dennoch bewegte ich mich hier, nachdem wir das Schiff verlassen und Hargar eine gute Weiterreise gewünscht hatten, wie ein Fisch im Wasser, was vor allem daran lag, dass ich in Selurs Netz gefangen war und er mich einfach mitzog. Doderils Etablissement war leicht zu finden, denn wir waren nicht die einzigen Neuankömmlinge, die dorthin strebten. Ich schlug vor, erst einmal für ein geeignetes Nachtlager zu sorgen, Selur aber beharrte, uneigennützig wie er eben war, auf sofortiger Durchführung der Mission. Ein Bett für die Nacht würde sich immer finden. Mir war bewusst, dass Selur hierbei andere Auswahlkriterien verfolgte als ich, und nahm seine Zuversicht daher mit einem gewissen Misstrauen zur Kenntnis.

Aber so war er eben. Was konnte schon schiefgehen?

Also traten wir ein.