Kaiserkrieger 14: Der Ruf des Marschalls - Dirk den van Boom - E-Book

Kaiserkrieger 14: Der Ruf des Marschalls E-Book

Dirk den van Boom

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Beschreibung

Wenn der Ruf des Marschalls ertönt, dann gehorcht Baekye und seine Feinde erzittern – das zumindest will das aufstrebende asiatische Imperium der Welt Glauben machen. Ein globaler Konflikt droht, in dem viele Individuen ein ganz eigenes Schicksal zu erfüllen haben. Die einen suchen Erlösung für begangene Fehler, die anderen sehen sich als Spielball eines scheinbar verrückten Potentaten. Jene, die sich gegen das Regime des Marschalls stellen, müssen erst besondere Loyalität zeigen, ehe sie in eine Position kommen, in der sie etwas ausrichten können. Und ein ganz anderer, die Zeiten umspannender Kampf droht, die Geschichte aus den Angeln zu heben.

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Inhalt

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Personenverzeichnis

Weitere Atlantis-Titel

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Februar 2022 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-780-2 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-824-3 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

1

Metellus lief über den Platz, begleitet von gut zweihundert Soldaten, die in einem weiten Fächer hinter ihm folgten, die ganze Breite abdeckend, bis zu den Orten, wo Trümmer des abgestürzten Luftschiffes noch auf dem Boden verteilt lagen. Er ging gemessenen Schrittes, ohne Angst vor einem weiteren Angriff, oder vielmehr war es ihm egal. Es war ihm egal, weil er an diesem Desaster eine Mitschuld trug, es war ihm egal, weil er Jin gehegt und gepflegt hatte, trotz seines frühen Misstrauens, und er war es gewesen, der an der Seite des angeblichen Deserteurs gestanden hatte, als dieser seine verhängnisvolle Tat vollbrachte.

Dieser Tag, diese Tat, seine Schuld: Er würde es niemals vergessen. Es hatte sich ihm als Erfahrung tief eingebrannt, eine Wunde geschlagen, die immer noch blutete und die nach seinem Empfinden keine Heilung erwarten durfte. Sie hatte aus Metellus, zumindest derzeit, einen Schatten seiner selbst gemacht.

Yazdegerds Leiche lag einbalsamiert und aufgebahrt im Tempel und die Reihe seiner Untertanen, die noch von ihm Abschied nehmen wollten, war lang und würde auch in den nächsten Tagen aller Voraussicht nach nicht abbrechen. Soldaten, einfache Leute, Adlige, Gäste aus fernen Ländern: Sie alle hatten sich in die Schlange eingereiht, warteten oft stundenlang, um sich vom alten Herrscher zu verabschieden. Yazdegerd hatte seine Feinde gehabt, auch innerhalb des Reiches. Niemand, der so lange geherrscht hatte, blieb ohne. Doch selbst jene, die ihm Macht und Ansehen geneidet hatten, kamen nicht umhin, dem Toten seinen Respekt zu zollen, vielleicht auch ohne gleich mit den unausweichlichen Intrigen zu beginnen, die Teil eines jeden imperialen Hofes waren.

Metellus stand nicht in der Schlange. Er würde sich nicht einreihen. Er hatte Angst, dass der Tote sich aufrichten würde, sobald sich der Römer dem Leib näherte, die Hand ausstrecken und anklagend auf ihn zeigen wollte, zitternd, wo doch die Muskeln an sich keine Kraft mehr haben konnten. Eine Anklage, die der Zenturio auch ohne ausgestreckte Hand schmerzhaft spürte. Er würde das Risiko daher nicht eingehen.

Er wusste, irgendwo in seinem Hinterkopf, dass die zermürbenden Selbstvorwürfe, denen er sich aussetzte, nur zu einem kleinen Teil berechtigt waren. Er hatte nicht allein gehandelt, sondern unter der Oberaufsicht von General Arses. Die Luftflotte wäre so oder so gekommen, Jin war nur eingeschleust worden, um ein Attentat auf den König zu versuchen, und er war durchweg geschickt vorgegangen. Die Verhöre waren nicht sinnlos gewesen, wenngleich manche Information jetzt eher kritisch beleuchtet wurde. Metellus wusste all das auf einer rationalen, bewussten und reflektierten Ebene. Jawed hatte ihm die Predigt erst heute Morgen gehalten, als er die abgrundtief schlechte und letztlich selbstzerstörerische Stimmung seines Kameraden bemerkt hatte. Die Worte hörte der römische Zenturio wohl, allein ihm fehlte der rechte Glaube.

Das Reflektierte war das eine. Das Gefühl, das ihm wie ein Stück Blei im Magen lag, ihn nachts nicht schlafen ließ und ihn Albträume des stets gleichen Inhalts bescherte, ließ sich nicht wegrationalisieren. Es entzog sich Vernunft und Überlegung, jedenfalls bis jetzt. Es lauerte auch in seinem Hinterkopf, wenn er mal nicht daran dachte, etwas aß, sich die Zunge an etwas verbrannte, sich den Zeh an etwas stieß oder anderweitig abgelenkt war. Sobald dieser Moment vorbei war, sprang ihn die Schuld sofort wieder an, brachte sich lautstark und drängend in Erinnerung. Metellus wusste noch nicht, wie er das loswerden sollte. Bis dahin konzentrierte er sich auf seine Pflichten, nach denen er nun mehr denn je lechzte, denn sie gaben ihm etwas zu tun und halfen ihm, sich von sich selbst abzulenken.

Die Luftschiffe der Koreaner waren abgezogen, nachdem sie alles ausprobiert hatten, was sie erproben und trainieren wollten. Sie hatten erfolgreich bombardiert, erfolgreich Truppen aus der Luft abgeworfen – Metellus hätte niemals geglaubt, dass derlei möglich war, und doch war er mit eigenen Augen Zeuge dieser unglaublichen Tat geworden – und sie hatten getestet, wie die karge Luftabwehr der Perser, und damit auch die der Römer, funktionierte. Darüber hinaus hatten sie ihrem Attentäter geholfen, seine psychologisch wichtige Tat zu vollbringen, und das ganze persische Volk durch den Angriff auf die Hauptstadt in tiefen Schrecken und größte Verunsicherung versetzt. Militärisch zu halten war Persepolis, weit im Hinterland des Feindes, natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das hatte man sich gewiss für eine spätere Phase des Krieges vorgenommen. So hatten die Luftschiffe ihre Truppen wieder eingesammelt und waren abgeflogen, und Metellus hatte der behäbigen Flotte nur mit stillem Hass und vielen, nagenden Selbstvorwürfen nachsehen können.

Das war nun vier Tage her und der Schreck saß immer noch tief, nicht nur bei dem Zenturio. Metellus hatte seitdem durchweg kaum geschlafen, und wenn, dann schlecht geträumt. Er würde eine Weile brauchen, bis er wieder richtig funktionierte, falls dieser Zustand für ihn überhaupt noch erreichbar war. In jedem Blick, den ein Perser ihm zuwarf, glaubte er den gleichen Vorwurf zu erkennen, der ihm aus dem Spiegel am Morgen entgegensah. Einbildung, ganz gewiss sogar, aber wie wischte man eine solche Regung beiseite nach allem, was er erlebt hatte?

Die beste, möglicherweise sogar die einzige Möglichkeit, wieder die Füße auf den Boden zu bekommen, war daher in der Tat harte Arbeit und Pflichterfüllung, und so hatte sich der Römer auf jede Aufgabe gestürzt, die man ihm angeboten hatte. Es sprach für die Perser, dass sie ihm offenbar tatsächlich weniger heftige Vorwürfe machten als er sich selbst, und ihn mit verantwortungsvollen Pflichten bedachten, und wäre er nicht selbst in einem wirren Dickicht von Selbstmitleid und Schuld gefangen, hätte er dies möglicherweise auch so verstanden und daraus andere Rückschlüsse gezogen. So aber war seine Miene düster wie seine Stimmung und er wollte eigentlich mit niemandem reden und von niemandem hören, beides Gefallen, die ihm das Schicksal nicht zu machen gedachte.

Den zweiten Tag in Folge stapfte er nun mit seinen Männern durch das, was die Landetruppen nach ihrem Angriff hinterlassen hatten.

Er war auf der Suche.

Er wusste nicht genau, wonach eigentlich. Nach Hinweisen. Nach Resten. Nach Erkenntnis. Nach etwas, das ihnen allen weiterhalf und das ihm ein wenig von der Absolution schenkte, nach der er sich sehnte. Doch wer sollte sie ihm geben? Der Einzige, von dem er ein Verzeihen akzeptiert hätte, lag aufgebahrt in einem Tempel und wurde beweint. Er wagte sich nicht einmal in seine Nähe, brachte die Bitte um Verzeihung nicht über seine Lippen. Das war eine, alles in allem, recht aussichtslose Situation.

»Durchsucht alles. Jedes Trümmerteil wird aufgelesen. Auch Dinge, die verbrannt sind, verbogen, unkenntlich. Es wird alles gesammelt!« Das waren auch heute seine Befehle an die Soldaten gewesen. Weitere Truppen riegelten die Absturzstelle weiträumig ab. Und an einer freien Stelle waren große, weiße Linnen ausgebreitet und standen Gelehrte bereit, eine Gruppe unter der Leitung der höchst ehrenwerten Ahang, die alles, was man ihnen brachte, so gut sortieren würden wie möglich. Metellus hatte auch Schwierigkeiten, der Wissenschaftlerin unter die Augen zu treten. Sie war zugegen gewesen, als er gescheitert war, und die Schmach traf ihn aus irgendeinem Grunde besonders hart. Normalerweise gab er wenig auf die Meinung von Frauen, sie hatten ihren Platz woanders und mit dem, was er gemeinhin tat, nichts zu tun. Bei ihr aber war das anders und es brachte ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass Frauen in Männerangelegenheiten einfach nichts zu suchen hatten.

Ahang sah das anders und der Kronrat, der Persien bis zur Einführung des neuen Königs regierte, ebenso. Also musste auch Metellus es anders sehen, wenn er nicht endgültig an irgendeine Stelle versetzt werden wollte, an der er versauerte – oder, noch schlimmer, in Schmach nach Rom zurückkehren musste.

Das durfte nicht geschehen. Wenn es für ihn eine Wiedergutmachung gab, dann hier, hier in Persien, und nirgendwo anders.

Metellus blieb stehen, scharrte mit einem Fuß über etwas, das auf dem Boden lag, überlegte, worum es sich handelte, und ging weiter, als er es als verbrannte rechte Hand identifizierte. Eine zweite Gruppe von Arbeitern würde den Soldaten folgen und menschliche Überreste aufsammeln. Seine Aufgabe war das nicht.

Der neue König … unausweichlich wanderten Metellus’ Gedanken zu ihm. Bahrām-e Gūr war auf dem Wege in die Hauptstadt, er hatte seine Ausbildung am Hof der Lachmiden in Hira ohnehin beendet. Ein Jahr lang hatte er sich zudem in Aksum aufgehalten, als Sekretär des Botschafters von Persien, der sein Onkel war. Rom hatte er dem Vernehmen nach nie besucht, sprach aber fließend Griechisch und etwas Englisch, wie man hörte. Er war keine völlig unumstrittene Figur, hatte nicht zuletzt deswegen in Hira zugebracht, weil er noch weniger als sein Vater ein Freund des einflussreichen persischen Hochadels war, dessen ständige Forderungen die Handlungsfreiheit des Königs ein ums andere Mal eingeschränkt hatten. Dies war besser geworden in der Allianz und aufgrund der großen Bedrohung durch Baekye, aber der schwelende Konflikt konnte jederzeit wieder aufbrechen. Bahrām-e Gūr war ein relativ unbeschriebenes Blatt und niemand wusste ihn so richtig einzuschätzen. Metellus konnte nur hoffen, dass er von seinem Vater die guten Eigenschaften geerbt und die schlechten unter Kontrolle hatte.

Er bückte sich, hob etwas auf, das definitiv kein Rest eines toten Körpers war: eine kleine Ledertasche mit einem abgerissenen Riemen. Er öffnete sie vorsichtig und lugte hinein. Da waren einige Münzen aus der Währung von Baekye, im Gegensatz zum Geld Roms oder Persiens nicht aus Edelmetallen wie Gold und Silber, sondern aus einfacher Bronze, der Wert nur verändert durch die Prägung, die Metellus natürlich nicht entziffern konnte. Die Währung Baekyes basierte auf Glauben und Vertrauen, was der Römer nicht ganz verstand, aber auch nicht durchweg als Unsinn abkanzelte. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass der Glaube an etwas Berge versetzen konnte und oft von größerer Wirkungsmacht war als alles andere. Sein hartnäckiger Glaube an das eigene Versagen stellte diese Bewertung aktuell unter Beweis.

Er kramte weiter. Ein metallenes Amulett kam zum Vorschein, jedenfalls interpretierte er es so, und dann, erstaunlich gut erhalten, so etwas wie ein Buch, dessen eng beschriebene Seiten ihn natürlich völlig ratlos zurückließen. Auf der Frontseite war die perfekt ausgeführte Zeichnung des sogar ihm mittlerweile bekannten Porträts des Geliebten Marschalls zu sehen, wie es ihn sonniglich anlächelte. Es musste sich um irgendeine Propagandaschrift handeln. Sie würde Ahang bestimmt helfen, ihre noch rudimentären Kenntnisse der Sprache Baekyes zu verbessern. Sie hatte ausdrücklich darum gebeten, schriftliche Zeugnisse der Angreifer besonders gut zu behandeln.

Also wollte er das auch tun. Metellus trug selbst eine weite Umhängetasche, in die er seinen ersten Fund nun sorgfältig und bedachtsam verstaute. Er würde nicht eher zur Sammelstelle umkehren, bis sie wohlgefüllt war, und danach seine Suche sogleich wieder aufnehmen. Alles Gute, das er fand, war ein winziger Schritt hin zur Wiedergutmachung und dieser bedurfte er immer noch weitaus mehr, als er sich selbst gegenüber zugab.

Metellus, die Augen aufmerksam auf den Boden gerichtet, ging weiter.

2

»Wir werden nachts in die Stadt fahren«, sagte Antonov und schaufelte sich eine Portion gekochtes Hühnchenfleisch in den Mund. Er kaute und sprach, und es gelang ihm das erstaunliche Kunststück, beides miteinander zu verbinden, ohne die Speisen dabei im Raum zu verteilen. Der Russe – was immer genau dieses Land war, von dem er dauernd schwärmerisch sprach, es musste sich um einen Ort mit nahezu paradiesischen Zuständen handeln – hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend mit seinem Gefangenen zu speisen. Sein Lieblingsthema bei Tisch war immer noch das, was darauf angerichtet wurde, und er schien einen an Besessenheit grenzenden Ehrgeiz zu besitzen, Latinus genau zu erklären, welche Speisen seine neue Heimat besonders gut, auf welche Weise und zu welchen Anlässen bereithielt. Es war nicht so, dass dies Latinus gar nicht interessierte. Er aß gerne und probierte auch mal etwas Neues aus. Aber Antonov hatte wirklich so gar kein anderes Thema und am vierten Abend hatte er begonnen, sich zu wiederholen, ohne dass es ihm bewusst geworden war. Latinus hielt es für ratsam, ihn nicht darauf hinzuweisen, und hörte weiter aufmerksam zu; zumindest versuchte er es.

Der Römer war daher etwas überrascht, als an diesem Abend plötzlich das Thema gewechselt wurde.

»Morgen werden wir den Stadtrand erreichen«, informierte ihn Antonov und trank gurgelnd aus einem Glas mit Reisschnaps, den er wie Wasser konsumierte. »Wir wollen keinerlei Aufsehen erregen. Tatsächlich hat der Marschall befohlen, dass nur ein sehr ausgesuchter Kreis von Ihrer Ankunft Kenntnis erhalten soll. Daher werden wir in der Nacht einreisen und an einem Posten, der alleine den höchsten und wichtigsten Kadern als Zugang dient.«

Latinus wusste nicht genau, was ein Kader war, aber er hatte die vage Vorstellung, dass damit irgendwie der seltsame Adel gemeint war, den sich auch ein Land wie Baekye gönnte. Egal wie man sie bezeichnete, es gab immer jene, die in der gesellschaftlichen Ordnung über den anderen standen, und wenn diese einen eigenen Weg in die Hauptstadt hatten, gehörte das eben zu den Privilegien. Das Konzept, den Zutritt in die Hauptstadt streng zu kontrollieren und daraus eine große Sache zu machen, als ob man ein Heiligtum betrete oder eine Art gelobtes Land, befremdete ihn durchaus. Aber es gehörte zu den vielen Eigenheiten Baekyes, die er mit der Zeit zu akzeptieren gelernt hatte, nicht zuletzt deswegen, weil ihm ja ohnehin nichts anderes übrig blieb.

»Dafür wird unsere Einreise problemlos sein«, fuhr Antonov schmatzend fort. Etwas Fett tropfte glitzernd sein Kinn hinab, er wischte es achtlos mit dem Ärmel seiner Jacke ab. Wieder das Schlürfen, als er einen tiefen Schluck Schnaps nachgoss, um die Kehle freizuspülen. »Normalerweise wird man streng kontrolliert, sogar mehrmals. Aber wir sind angekündigt und ich …« Er klopfte sich auf die Brust. »… ich bin wichtig.«

Interessanterweise sagte er das ohne jede Angeberei oder Arroganz, sondern eher ein wenig trotzig, als würde Latinus dies infrage stellen wollen. Der Römer hatte nicht die geringste Absicht, so etwas zu tun. Antonov war ein leibhaftiger Zeitenwanderer und gehörte damit zur Elite Baekyes. Latinus war sich nicht ganz sicher, was exakt die Funktion des Russen im komplexen Herrschaftssystem unter der gnadenvollen Leitung des Marschalls war, aber es war gewiss keine randständige oder unwichtige. Dennoch erweckte Antonov den Eindruck, als sei er sich über seinen eigenen Status nicht ganz im Klaren oder wisse, dass dieser nach außen hin hoch, auf einer anderen Ebene dagegen nur marginal war. Latinus fand das hochinteressant, zeigte es aber nicht, nickte nur, aß methodisch an seiner Mahlzeit – das nicht zu tun, würde mit großer Sicherheit Missfallen bei seinem Gegenüber hervorrufen – und nahm einfach nur alles in sich auf: Informationen, Reis und Hühnchenfleisch und, in Maßen, auch Schnaps.

Nüchtern zu bleiben, darauf legte er allerdings großen Wert, ganz im Gegensatz zu Antonov, der, wie eine Dampfmaschine, langsam Betriebstemperatur zu erreichen schien.

»Was wird danach mit mir geschehen?«, fragte er.

»Nun, ich kann Ihnen ein richtiges Bett versprechen. Und Sie werden verpflegt.«

Dass der Russe Letzteres für sehr wichtig hielt, war für Latinus keine Überraschung.

»Und dann wird der Marschall mit mir reden?«

»Nach geeigneter Vorbereitung, sonst hätte er Sie ja nicht angefordert.«

»Werde ich außer ihm noch jemanden treffen? Ich meine … es gibt doch sicher so etwas wie einen Außenminister?« Die Idee eines Kabinetts hatten die Zeitenwanderer in Rom eingeführt und verfeinert, es ging jetzt weit über die Idee des alten Consistoriums hinaus, obgleich es weiterhin diese Bezeichnung trug. Auch in den Bündnisstaaten der Allianz hatte sich die Ausdifferenzierung der politischen Verwaltung nicht aufhalten lassen. Da Baekye in vielen Akzenten, von den poetischen Bezeichnungen einmal abgesehen, einem solchen modernen Zeitenwanderer-Staat ähnelte, war Latinus’ Vermutung alles andere als abwegig. Antonov reagierte mit einem Kopfnicken.

»Das ist nicht auszuschließen. Das entscheidet der Marschall.«

»Sie … haben gesagt, er sei schwer krank«, sagte Latinus nun mit gesenkter Stimme. Er hatte bereits bemerkt, dass Antonov dieses Thema nicht in Hörweite der ihn begleitenden Soldaten ansprach. Jetzt aber, in dieser Raststätte am Wegesrand, die in Aufbau und Arbeitsweise allen anderen entsprach, die sie bisher auf dieser Reise frequentiert hatten, saßen die Soldaten weit weg oder waren anderweitig beschäftigt. Antonov nickte erneut, langsam, sah sich um, fand seine Vorsicht befriedigt und antwortete.

»Sehr krank«, sagte er dann.

»Wenn er stirbt, wer wird dann sein Nachfolger?«

»Sein Sohn.«

»Es ist also eine Art Dynastie? Es gibt eine direkte Erbfolge?«

»Das ist das System. Gar nicht so unterschiedlich von China und Persien, nicht wahr? Es hat etwas von einer Monarchie, aber Sie sollten das nicht laut sagen.« Antonov kicherte. »Bei mir ist es egal, ich kann das ertragen. Aber es gibt jene, die meinen, es sei alles andere als eine Monarchie, ja, diese sei eine veraltete, unterdrückerische Herrschaftsform, die es zu überwinden gelte. Für diese Fraktion ist der Krieg, den wir führen, ein Akt der Befreiung der geknechteten Volksmassen, eine Emanzipation und eine Modernisierung. Ich höre mir dieses Gerede immer mit der allergrößten Zurückhaltung an, denn der Marschall ist in seiner Haltung gar nicht so weit davon entfernt. Ich gebe Ihnen daher den guten Rat, eine solche Einschätzung eher für sich zu behalten.«

»Ich werde das beherzigen. Werde ich Sie wiedersehen?«

Antonov lachte. »Ich treib mich so lange im Palast rum, bis ich wieder verreisen muss. Ja, kann schon sein. Ich habe angefangen, Griechisch zu lernen. Manchmal glaubt der Marschall, ich sei ein vertrauenswürdigerer Übersetzer als derjenige, der offiziell diesen Posten innehat. Ich bin also in der Nähe. Kann auch sein, dass ich zum offiziellen Betreuer ernannt werde, dann hänge ich Ihnen am Arsch wie eine Klette.«

Erneut lachte der Russe und es klang nicht fröhlich, eher wie ein schmerzliches Amüsement. Latinus wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, er hatte allerdings das Gefühl, dass Antonov im Regime Baekyes nicht richtig gebraucht wurde – zumindest nicht so, wie es der Russe für angemessen hielt. Latinus speicherte diesen Gedanken ab. Es war eine Erkenntnis, die, sollte sie sich bewahrheiten, noch nützlich sein konnte.

Vielleicht war es eine gute Idee, sein Freund zu werden.

Antonov nahm einen weiteren tiefen Schluck Reisschnaps und sein Blick wurde etwas trübe. Er vertrug eine Menge und er hatte viel Übung, das eine bedingte zweifelsohne das andere.

»Ich wusste nicht, dass es so viele gute Getränke in Baekye gibt. Es erscheint von außen in allem sehr diszipliniert.«

»Oh ja«, sagte Antonov. »Sehr diszipliniert. Aber das ist ja meist das Problem, nicht wahr? All die unterdrückten Neigungen und Bedürfnisse. All die Frustrationen, das ewig durchgedrückte Kreuz, die permanente Wachsamkeit … das fordert seinen Preis, mein Freund. Ja, das fordert seinen Preis.«

Den letzten Satz hatte er fast sinnierend gesagt, als erinnere er sich an seine eigenen Erfahrungen. Sie schienen nicht durchweg angenehmer Natur gewesen zu sein.

»Da gibt es jedenfalls so einiges«, fuhr Antonov fort, der sich für das Thema, wie von Latinus erwartet, zu erwärmen begann. »Bokbunja-ju zum Beispiel, ein bittersüßer Wein aus der Schwarzbeere. Muss man einen Gaumen für haben, aber recht gut zu einigen Speisen. Baekse-ju ist ein gelber Wein, hergestellt aus Reis und schwer gewürzt. Man trinkt ihn auch als Medizin, aber ich weiß nicht, ob er gegen etwas anderes als Traurigkeit hilft.« Antonov lachte, er hatte es wahrscheinlich schon versucht. »Ich mag Soju am liebsten, er erinnert mich an Wodka, wenngleich er weniger stark ist.« Er zeigte auf seinen Becher. »Das ist Soju. Cheongju ist die süßere Variante, ist mehr was für die Damen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Wieder das Lachen, der Russe schien sich tatsächlich sehr zu amüsieren. »Sind auch beide aus Reis. Ich glaube, den Leuten hier wächst der Reis aus dem Arsch.« Antonov nahm einen weiteren Schluck, schaute die Flasche an, die er geleert hatte, und signalisierte nach der nächsten. »Makgeolli ist mehr was für die jungen Leute, nicht ganz so stark und mit Kohlensäure. Kann man ordentlich nach rülpsen.« Antonov rülpste zu Demonstrationszwecken und sein alkoholisierter Atem traf Latinus. Der zuckte mit keiner Wimper. Er war Soldat, er hatte Schlimmeres gerochen. »Und dann gibt es da noch den Schlangenlikör.«

»Den was?«

»Davon haben Sie noch nicht gehört, ja? Kein Wunder, das Zeug zieht einem die Schuhe aus – und die Haut um die Zehen dazu. Alkohol mit Gewürzen und dem Extrakt aus Schlangengift. In jeder Flasche finden Sie eine gut eingelegte Schlange.«

»Warum trinkt man so was?«, fragte Latinus aus echtem Interesse.

»Na ja«, machte Antonov und zwinkerte vielsagend. Dann hob er einen Unterarm, ballte die Finger zur Faust und signalisierte eine sanft pumpende Bewegung, eine Geste von universeller Bedeutung. »Gibt halt Dampf auf den Kessel, zumindest sagt man so. Ich habe es einmal getrunken und danach ’ne halbe Stunde im Strahl gekotzt.« Er schnalzte mit der Zunge. »Ich bleibe bei Soju. Gute, alte Hausmannskost, da macht man nichts falsch. Ah, die Flasche!«

Er löste den Korken und goss Latinus ein, ohne ihn zu fragen. Er warf ihm einen auffordernden Blick zu und der Römer wusste nun, dass Antonovs Freundschaft ihren Preis hatte.

3

»Genosse Choi? Haben Sie einen Moment?«

Das war ungewöhnlich, obgleich Choi nun schon einige Zeit hier war und gelernt hatte, sich an das Ungewöhnliche zu gewöhnen. Seine Arbeit war relativ stupide, aber wichtig. Er erledigte sie aufgrund seiner Erfahrungen und seiner natürlichen Anlagen ohne größere Anstrengung, was ihm Zeit und Kapazitäten ließ zu beobachten. Er hatte viel gelernt, er hatte eine Nachricht über einen toten Briefkasten an seine Führungsoffizierin Yong-mi übergeben – persönlich hatte er sie noch nicht wieder getroffen, durchaus zu seinem Bedauern. Doch was sich in jener geheimnisvollen, gut abgeriegelten Spezialabteilung verbarg, auf die sein ganz besonderes Interesse gerichtet war, wusste er nicht einmal ansatzweise. Es war zu früh, um richtig frustriert zu sein, aber es würde nicht mehr lange dauern.

Choi erhob sich und salutierte. Sein direkter Vorgesetzter hieß Park, wie 80 Prozent aller nordkoreanischen Zeitenwanderer, und er war ein ältlicher Mann, über seine Fähigkeiten hinaus befördert, vor allem deswegen, weil er durch die Zeit gefallen war und daher zu einer ganz speziellen, hochverehrten Kaste Baekyes gehörte. Das war weder ungewöhnlich noch wurde es von irgendwem beklagt, es gehörte zur Grundstruktur des Staates. Park war, soweit man das sein konnte und durfte, ein netter Mann. Manchmal etwas verwirrt vielleicht, aber das war ja nicht notwendigerweise eine negative Charaktereigenschaft. Sein hageres Gesicht war von einem schütteren Haarkranz umrahmt, dem Ansatz eines Bartes, der nicht richtig wollte oder konnte, mehr am Kinn herumlungerte wie ein Verwandter, der hin und wieder zu Besuch kam und nie lange verweilte. Seine Augen waren wässrig, als würde er ständig traurig sein, es konnte aber auch daran liegen, dass Park in seiner Schreibtischschublade stets eine Flasche Soju verbarg, aus der er gerne trank. Alle wussten es, jeder duldete es. Park war seontaegdoen, also auserwählt, und als solcher galten andere Gesetze für ihn. Er galt vor allem deswegen als nett, weil er seinen Status nicht ausnutzte und zu seinen Untergebenen stets höflich und nachsichtig war, wohl wissend, dass er an einem Platz saß, der seine Fähigkeiten weitgehend überstieg. Er wollte keinen Ärger. Er wollte niemanden ärgern.

Choi stand immer noch stramm.

»Nein, nein«, winkte Park ab. »Nicht so formell, bitte. Choi, mein Guter. Kommen Sie in mein Büro.«

Es wirkte weder bedrohlich noch erwartete Choi irgendeine Zurechtweisung, also war er auch nicht von irgendwelchen bösen Vorahnungen erfüllt, als er dem alten Herrn mit gebührendem Abstand in sein Büro folgte. Es war einfach eingerichtet, der Sessel gewiss sehr bequem und natürlich hing an der Wand das lächelnde, allgegenwärtige Vollmondgesicht des Geliebten Marschalls. Park zeigte nach außen hin ein Abbild der Bescheidenheit, obgleich er sich in einem gewissen Rahmen Luxus und Pomp hätte erlauben können.

»Setzen Sie sich. Es tut mir leid, dass ich Sie so mit dieser Sache überfalle. Ich habe auch gerade erst Nachricht bekommen und bin angehalten, dies sofort weiterzugeben.« Er räusperte sich. »Ich habe einen Sonderauftrag für Sie.«

Sonderauftrag … das war wiederum kein Wort, das Choi gerne hörte. Es war sein Bestreben, in der Maschinerie von Palast und Forschungsstätte wie eine einfache Schraube zu verschwinden, belastbar, funktional, zuverlässig, ohne jedes Aufsehen. Sonderaufträge hatten es an sich, eine solche Strategie zu konterkarieren. Es gab allerdings auch kein Mittel dagegen, denn Befehl war natürlich Befehl. Und es konnte selbstverständlich eine Chance damit verbunden sein und, wenn er an Yong-mi und ihren gemeinsamen Auftrag dachte, sogar eine Absicht. Choi wappnete sich.

»Keine Sorge«, sagte Park mit bemerkenswerter Empathie. »Nichts Schlimmes. Könnte tatsächlich recht angenehm werden. Ich habe erst einmal eine gute Nachricht für Sie: Der älteste und einzige Sohn des Geliebten Marschalls wird heiraten!«

Choi strengte sich an, aufrichtige Freude ob dieser Neuigkeit zu zeigen. Seit geraumer Zeit gab es Gerüchte um den an Liebschaften nicht armen Sohn des Führers, und obgleich sie nur flüsternd und hinter vorgehaltener Hand kursierten, waren sie Choi natürlich nicht entgangen. Sollte er tatsächlich in den Hafen der Ehe eingelaufen sein, hatte dies Auswirkungen von dynastischer Bedeutung. Choi entwickelte für das Thema trotzdem nur mildes Interesse, wenngleich er sich mühte, ordentliche Begeisterung zu zeigen.

»Eine ausgezeichnete Nachricht! Möge er mit starken Söhnen gesegnet sein!«

»In der Tat, in der Tat«, sagte Park nickend. »Eine große Feier ist für die Hochzeit geplant, im Festsaal des Palastes. Alle müssen mit anpacken – alle, die vertrauenswürdig sind. Das sind wir alle hier, mein guter Mann, und Sie auch. Alle Abteilungsleiter und Stabsoffiziere wurden angewiesen, geeignetes Personal für die Organisation und Durchführung des Balls abzustellen. Sie sind ein junger, belastbarer Mann, der neu hier ist und sich gewiss einmal von der Pracht des eigentlichen Palastes ein eigenes Bild verschaffen will. Ich habe Sie daher abgeordnet.«

Begeisterung war es nicht, was diese Nachricht in Choi auslöste, aber dennoch Erregung, die er nutzte, um Erstere zu simulieren. Sein Vorgesetzter war ernsthaft der Ansicht, ihm damit einen Gefallen zu tun, ja vielleicht sogar einen Traum zu erfüllen. Er kannte Choi eben nicht.

Park überreichte ihm ein Schriftstück, das Choi sogleich als Gestellungsbefehl identifizierte.

»Sie werden kellnern, Choi. Ja, sagen Sie nichts. Offizier und alles, eines tapferen Soldaten unwürdig. Aber es ist so: Wer die Gnade hat, in unmittelbarer Nähe des Geliebten Marschalls und des Großen Nachfolgers zu dienen, für den darf keine Tätigkeit zu niedrig und keine Herausforderung zu schwer sein.«

Choi beugte seinen Kopf. »Jawohl, das versteht sich von selbst. Ich fühle mich zutiefst geehrt und werde mit aller Kraft dafür streiten, dass der Ball ein grandioser Erfolg wird, würdig dem historischen und erfreulichen Anlass.«

»Das ist die richtige Einstellung, mein Lieber. So habe ich mir das gedacht. Und wer weiß?« Park zwinkerte. »Wenn Sie positiv auffallen, kann sich das sehr erfreulich auf Ihre Karriere auswirken, mein Freund.«

»Soll ich mich sofort melden?«

»Nein, schließen Sie die aktuellen Vorgänge noch ab und melden Sie sich morgen früh als Allererstes bei der Palastgarde. Sie bekommen spezielle Ausweise und müssen sich einer erneuten Prüfung unterziehen.« Choi hatte mit nichts anderem gerechnet. »Gehen Sie und herzlichen Glückwunsch! Sie müssen mir danach alles erzählen.«

Damit war klar, dass Park, ob nun Zeitreisender oder nicht, keine Einladung erhalten hatte. War er neidisch? Wahrscheinlich empfand er sogar Erleichterung, eben nicht der Aufmerksamkeit des Marschalls ausgesetzt zu werden. So etwas war gewiss ein zweischneidiges Schwert.

»Danke! Vielen Dank!«, sagte Choi.

Er salutierte und zeigte sein hocherfreutes Gesicht, bis er das Büro verlassen hatte und sicher sein konnte, keiner weiteren Beobachtung zu unterliegen. Der Gestellungsbefehl enthielt keine Informationen, über die er nicht bereits verfügte, und so war er allein seinen Gedanken überlassen, welche Möglichkeiten und Chancen sich für ihn durch einen solchen Anlass vielleicht ergeben würden. Er war sich nicht zu schade, hochgestellte Persönlichkeiten zu bedienen, tatsächlich hatten diese Art von Diensten zu seinen ständigen Pflichten auf der Offiziersakademie gehört, auf der die Instruktoren und Offiziere tagein, tagaus von den Kadetten versorgt worden waren. Damals war es ein Mittel zur Disziplinierung gewesen, aber es hatte ihn wichtige Tätigkeiten gelehrt und er würde sich gewiss an alle Handgriffe von Bedeutung erinnern. Auch wusste er, dass Personal wie Mobiliar angesehen wurde, gerne übersehen von Gästen ausschweifender Feiern. Er mochte dadurch das eine oder andere aufschnappen, das eigentlich nicht für seine Ohren bestimmt war, und so konnte sich dieser Einsatz in der Tat noch als sehr nützlich erweisen.

Choi meldete sich am nächsten Morgen absolut pünktlich zum Dienst. Wie angekündigt, wurde er einer intensiven Sicherheitskontrolle unterzogen. Er war das mittlerweile gewohnt und trotz seiner Gesinnung als regimekritischer Umstürzler erweckte es nicht mehr als sanfte Nervosität in ihm. Man stumpfte auch bei potenziell tödlichen Prozessen irgendwann ab. Er wurde eingelassen und einer Frau in einer Palastuniform unterstellt: Das Korps der Bediensteten des Geliebten Marschalls und seiner Familie ließ sich durch eine sehr schlichte, absolut schmucklose und streng geschnittene Uniform erkennen, da die Mitgliedschaft in dieser elitären Gruppe bereits Auszeichnung genug war. Frau Chung war klein, schon älter und schien unter einer ständigen Anspannung zu stehen. Sie lebte für ihre Aufgabe und sie duldete nur Höchstleistungen, das war der Eindruck, den Choi bereits nach wenigen Minuten gewann. Und in ihren Augen würde nur derjenige bestehen, der seine Pflicht hundertprozentig erfüllte, egal was er vorher getan oder erreicht hatte. Falls hundert Prozent überhaupt ausreichten. Es wurde eher noch mehr erwartet.

Interessanterweise konnte sich Choi mit dieser Haltung gut anfreunden. Sie vermittelte ein klares Bild von Absichten und Erwartungen, und das war eine wohltuende Abwechslung zu den ganzen Eifersüchteleien, der falschen Höflichkeit und den Scheingefechten im engeren Dunstkreis des Machtzentrums von Baekye. Mit seinen neuen Kollegen hatte er deswegen bisher nur sehr zurückhaltende soziale Bande knüpfen können.

»Sie werden folgende Aufgaben übernehmen«, wurde ihm gesagt und die Stimme der Frau war von einer kalten Klarheit, die in ihm den Wunsch nach einem dicken Mantel auslöste. »Sie werden ankommenden Gästen die Plätze zuweisen – es gibt Tischkarten. Sie werden für zwei Tische die Bedienung übernehmen, das sind sechs Gäste, möglicherweise sieben, falls Verwandte beisammensitzen. Sie bekommen im Notfall einen Assistenten, der Ihnen hilft. Sie werden Bestellungen aufnehmen. Sie werden Wünsche anhören und an jene weitertragen, die dafür zuständig sind. Egal was gesagt wird, Sie bleiben höflich, demütig, zurückhaltend und leise. Der einzige Fall, in dem Sie eingreifen dürfen, ist, wenn abfällige Worte über den Geliebten Marschall oder das Brautpaar fallen. Dies berichten Sie mir, und nur mir!« Sie sah ihn hypnotisierend an. »Das haben Sie genau verstanden, ja?«

»Jawohl!«, gab Choi die einzig richtige und angemessene Antwort. Frau Chung war ganz ohne Zweifel beim Sicherheitsdienst. Bei welchem genau, wusste er nicht und möglicherweise gab es nur für Palastangelegenheiten eine eigene Organisation oder Abteilung, das war beim stetig mäandernden und wuchernden Staatsapparat Baekyes nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich.

»Sie bekommen von uns eine Uniform – nicht das simple Grau, sondern eine dem freudigen Anlass angemessene Kleidung, dem Auge wohlgefällig. Sie haben auf peinlichste Sauberkeit zu achten. Es gibt Vorführungen von Tanz, Gesang und Akrobatik sowie zwei Reden, eine davon vom Geliebten Marschall. Während dieser Darbietungen wird nicht serviert, dann dürfen Sie sich in der Küche ausruhen und selbst etwas zu sich nehmen oder einem Bedürfnis nachkommen. Sobald eine Darbietung vorbei ist, sind Sie wieder bereit. Sie dürfen die Darbietungen aber auch vom Rand des Saals selber genießen, das steht Ihnen ganz frei.«

»Jawohl!«, sagte Choi erneut, denn das wurde von ihm erwartet, wenn Frau Chung eine Kunstpause einlegte. Er würde sich natürlich nichts entgehen lassen, wenn sich das irgendwie einrichten ließ.

»Sie werden erst aus dem Dienst entlassen, wenn der letzte Gast gegangen ist. Die Festivität wird voraussichtlich die ganze Nacht dauern und Gäste werden möglicherweise … Hilfe beim Rückweg benötigen. Sie verstehen. Dafür steht eine eigene Abteilung von Soldaten mit genauen Instruktionen zur Verfügung, aber wenn Sie diese Notwendigkeit erkennen, melden Sie es mir. Kommen Sie ausgeruht zum Dienst, Choi. Am Tag des Balls beginnt die Schicht um 10 Uhr vormittags. Ausgeruht, ich betone es.«

»Ausgeruht, jawohl!« Choi stand immer noch stocksteif. Diese Frau hatte eine Aura echter Autorität, die einschüchternd wirkte. Und die Art und Weise, wie sie sprach, ließ darauf schließen, dass dieser fröhliche Ball für sie ein Kriegsschauplatz war, eine Schlacht, die es zu schlagen galt. Sie war die Generalin und ja, die Rolle war ihr auf den Leib geschnitten. Ihr Ziel war der Sieg und sie würde alles tun, um diesen zu erringen.

»Kommen Sie mit, Choi!«

Sie setzte sich unvermittelt in Bewegung und beinahe fühlte sich Choi überrumpelt. Dann entwickelte Frau Chung auch noch eine ungeahnte Geschwindigkeit. Choi beeilte sich, ihr zu folgen. Er bekam nun einen Rundgang durch das Allerheiligste von Baekye und er konnte die ganzen Eindrücke alle gar nicht richtig sortieren. Der Palast war ein im ganzen Land einzigartiges Bauwerk, davon hatte er bereits gehört. Aber jetzt wurde er mit der Realität dieser Einzigartigkeit konfrontiert und er konnte gar nicht anders, als ernsthaft beeindruckt zu sein.

Wände aus poliertem Marmor. Böden aus schimmernden, reflektierenden Fliesen. Überall Mosaike und Malereien, die revolutionäre Motive zeigten: säende Bauern, singende Arbeiterinnen, entschlossen dreinblickende Soldaten, klug stirnrunzelnde Gelehrte, es war ein Panoptikum aller möglichen Funktionen, die ein treuer Bürger Baekyes erfüllen konnte, um dem Geliebten Marschall gegenüber wohlgefällig zu sein. Edelste Materialien waren hier verbaut worden und alles war peinlich sauber. Welche Arbeit allein in dem Unterhalt dieses Palastes steckte, Choi konnte es nur ansatzweise erfassen. Seine Stiefel hinterließen auf den polierten Fliesen einen harten Nachhall und die Sonne schien durch breite, in goldene Rahmen gefasste Fenster in die Gänge. Ein Märchenschloss der Revolution. Ja, es war beeindruckend. Auf eine gewisse Weise war es auch albern, vor allem wenn man sich die Darstellungen der stereotyp lächelnden und von ewigem Glück erfüllten Protagonisten der vielen Statuen ansah.

»Der Saal.«

Der Saal, oh ja.

Choi blieb für einen Moment stehen, nun aber wahrhaft überwältigt. Der Saal war gut zweihundert Meter lang und etwa einhundert Meter breit, also beachtlich, aber keinesfalls von überirdischen Ausmaßen. Er war aber auch bestimmt fünfzehn Meter hoch und das darauf ruhende Dach bestand aus einer pyramidenförmigen Glaskuppel, deren Metallrahmen wie ein Gitternetz auf dem Raum lag. Der Saal war lichtdurchflutet und an den Wänden standen Statuen. Choi identifizierte sie sogleich: Es war der Geliebte Marschall in allen möglichen Posen und Verkleidungen. Die Tätigkeiten, die von den Gemälden auf den Gängen vor dem Saal dargestellt worden waren, die fanden sich auch hier, diesmal aber alle in Szene gesetzt durch den gütigen Staatschef selbst. Sein Vollmondlächeln durchflutete die Festhalle genauso wie das Sonnenlicht und es war eine intensive Rundumbeleuchtung. Der Geliebte Marschall in Uniform, in dem Gewand eines Bauern – mit Dreschflegel in den Händen, natürlich – und dort mit dem Kittel eines Forschers, als Seemann, als Bauarbeiter, als Schmied, als Schuhmacher: als alles. Der Geliebte Marschall als alles und als allumfassende und allmächtige Präsenz. Dies war in so klarer Hinsicht der Ort, an dem die absolute Macht des Regimes sich manifestierte, dass Choi nicht wusste, ob ihn die Architektur oder die Autorität … oder nur die Aufdringlichkeit der Darstellung mehr beeindruckte.

Oder deren Frechheit. Der Marschall war weder Schmied noch Schuhmacher, davon konnte man mit großer Sicherheit ausgehen.

Hier hatte sich jemand sehr große Mühe gemacht, eine Botschaft in die Gehirne der Gäste und Besucher zu meißeln, förmlich hineinzubrennen, mit der Absicht, dies niemals in Vergessenheit geraten zu lassen. Es atmete hier alles Allmacht und Ewigkeit und war gleichzeitig dermaßen übertrieben, mit dem runden Gesicht des Marschalls aus allen Winkeln und in allen Posen dominierend, dass Choi sehr darauf achten musste, in seiner Haltung zwar den Eindruck der Überwältigung, nicht aber das langsam aufkommende Amüsement zu zeigen.

»Wunderbar, nicht wahr?«

Die Stimme von Frau Chung, eben noch voller Autorität, klang nun erstaunlich weich und andächtig. Choi beeilte sich, ihr zuzustimmen. Nichts anderes durfte jetzt gesagt werden.

»Hier wird der Ball stattfinden. In einer Hälfte des Saals werden die Tische stehen und dort wird eine Tanzfläche sein und wir werden ein Podest aus Holz errichten, für die Reden, für den Platz des Brautpaares und für das Orchester. Kommen Sie, Choi, ich zeige Ihnen den Weg zur Küche. Den werden Sie noch sehr oft zurücklegen müssen.«

Choi löste sich vom Anblick, weitaus weniger widerwillig, als er zelebrierte, und kaum hatte Frau Chung die Festhalle wieder verlassen, verwandelte sie sich erneut in die harte Generalstabschefin, die alles und vor allem jeden im Griff hatte. Die Küche war keine zwanzig Schritte entfernt und diesmal war Choi ohne jede Ironie von der Anlage eingenommen. Der Raum war groß, voller Backöfen, voller Anrichtetische und in ihm war ein Dutzend Köche bereits bei der Arbeit. Es roch nach allerlei Backwerk und hier wurden offenbar die Kuchen und anderen süßen Köstlichkeiten erstellt, die sich etwas länger hielten und daher schon einmal vorbereitet werden konnten.

Frau Chungs Anwesenheit wurde mit einem allseitigen, respektvollen Neigen des Kopfes registriert, in seiner Arbeit aber ließ hier niemand nach. Ein dicker Mann, dem Klischee auf unglaubliche Weise entsprechend, dirigierte seine Köche hin und her, er war hier der König und selbst Frau Chung schien seine Autorität nicht infrage stellen zu wollen.

»In drei Tagen, Choi, ist es so weit. Sie werden in einer Stunde mit den anderen Eingeteilten zusammen ein Training durchlaufen. Etikette, richtiges Bedienen, Höflichkeit und eine genaue Kunde der Speisen und Getränke sowie des Lageplans. Danach werden Sie mit den anderen ins Lager gehen und die Tische und Stühle herschaffen, aufstellen, säubern und für die Zwischenzeit mit sauberen Laken abdecken. Ist bis jetzt alles klar?«

»Ja, Frau Chung. Wird der Geliebte Marschall wirklich persönlich dabei sein?«

Die Frage wurde von einem treuen, völlig ergriffenen Untergebenen erwartet und wieder tauchte für einen Sekundenbruchteil so etwas wie Sanftheit in Frau Chungs Habitus auf.

»Natürlich, Choi. Natürlich. Sie werden diesen Tag niemals vergessen. Er wird zu den ewigen Höhepunkten Ihres Lebens gehören. Bereiten Sie sich gut vor und tun Sie das Ihre, um ihn zu einem perfekten Ereignis zu machen. Ich erwarte Großes von Ihnen! Morgen früh machen wir eine große Stellprobe und schließen den Aufbau ab!«

»Ich werde Sie nicht enttäuschen!«

Das war exakt das, was Frau Chung hören wollte. Als er ging, lächelte sie beinahe.

4

Acht Säulen trugen das mächtige Vordach des weißen Steinbaus, drei zweiflügelige Türen waren nebeneinander in die vordere Mauer eingelassen, beide mit Fenstern über den Zugängen und verschließbar mit weißen Holzgittertüren. Die mittlere war offen, und rechts und links daneben sowie vor der kleinen Treppe, die zur Veranda unter dem Vordach führte, standen Soldaten in den mittlerweile bekannten grauen Uniformen der Konföderierten. Köhler und Terzia waren nicht die einzigen Beobachter. Die staubige Straße vor dem Weißen Haus war belebt und es gab einige wie sie, die das, was darin vorgehen mochte, mit Interesse beobachteten. Viele Reporter der diversen regionalen und überregionalen Zeitungen waren anwesend, offenbar in der Hoffnung, dass nach der verlorenen Schlacht von Gettysburg irgendwelche neuen Verlautbarungen bekannt werden würden. Präsident Jefferson Davies aber hatte sich, so hörte man, nach einer ersten Stellungnahme in Dauersitzung mit Kabinett und den Generalen zurückgezogen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wohl gleichermaßen aus Sicherheitserwägungen heraus wie aufgrund allgemeiner Ratlosigkeit war bisher von den Ergebnissen dieser Erörterungen nichts nach draußen gedrungen. Selbst Neuankömmlinge wie Köhler und Terzia bekamen daher vor allem mit, dass sich auf diesem fruchtbaren Boden eine Gerüchteküche ganz besonderer Intensität entwickelt hatte.

Es lag etwas in der Luft. Spekulationen trieben durch die Stadt wie die Gerüche aus den Garküchen, den Saloons, den Ställen und den Werkstätten. Es gab jede Geschichte zu hören und für jede einen Zuhörer und wahrscheinlich oft auch jemanden, der selbst die wildeste Variante der Realität für irgendwie glaubwürdig hielt. Köhler und Terzia hatten sich an die etwas seriöser aussehenden Zeitungen gehalten, aber selbst Journalisten, die sich sehr anstrengten und über gute Kontakte verfügten, schrieben wahlweise von einer besonders harten und intensiven Fortsetzung des Krieges oder über die Kapitulation – mit Abstufungen zwischen beiden Extremen.

Niemand wusste etwas. Alle warteten sie.

Die beiden Zeitreisenden standen daher relativ unauffällig auf der anderen Straßenseite jenseits des Weißen Hauses – das, wie sie erfahren hatten, ein älteres Äquivalent in einer Stadt namens Washington hatte und in dem, vor dem Bürgerkrieg, der Präsident der gesamten Union gesessen hatte – und aßen aus altem Zeitungspapier eine neue Köstlichkeit, die erst seit kurzer Zeit in Richmond Einzug gehalten hatte und wortwörtlich in aller Munde war. »French Fries« wurde das einfache Gericht aus frittierten Kartoffeln genannt, und obgleich Köhler theoretisch mit dem Konzept der Kartoffel vertraut war – sein Vater hatte ihm davon erzählt –, kam er erst hier richtig in den Genuss dieses Erdapfels, und das gleich in einer Darreichungsform, die ungeahnte Popularität zu entwickeln schien. Tatsächlich war die durchaus schwere Mahlzeit, serviert mit einer Tomatensauce, erstaunlich schmackhaft und füllte den Magen. Außerdem schien sich die Mode, diese Speise auf den Gehwegen und außerhalb von Restaurants zu sich zu nehmen, langsam durchzusetzen. Da weder Köhler noch Terzia wie Mitglieder der High Society aussahen und eher den Eindruck einfacher Menschen erweckten, war auch diese Speisefolge in der Öffentlichkeit nichts, was irgendwelche hochgezogenen Augenbrauen hervorrief. Es war alles ganz entspannt.

Zumindest hier draußen. Da drin, hinter verschlossenen Türen und hinter verschlossenen Gesichtern der Wachsoldaten, war nicht mit einer entspannten Diskussion zu rechnen. Köhler war das im Grunde egal, er hatte ein anderes Ziel und es gab leider nur zu deutliche Hinweise, dass dieses, sehr beweglich und anpassungsfähig, in Gestalt von Dr. Engelmann exakt in jenem Weißen Haus zugegen war, um Intrigen zu spinnen, die seinen Plänen zugutekamen. Pläne, deren Tragweite Köhler nicht einmal kannte, abgesehen von dem Gefühl, dass es sich in jedem Fall um schlechte Nachrichten handeln würde.

»Isst du die noch?«

Erst jetzt merkte Köhler, dass er das Kauen nachdenklich eingestellt hatte, und Terzia warf einen verlangenden Blick auf seine Reste, die er ihr sofort übergab. Terzia schien sehr großen Gefallen an dieser Speise gefunden zu haben, jedenfalls aß sie mit Hingabe.

»Das Zeug macht bestimmt dick«, sagte er. Terzia hielt inne, bewegte ihren Kopf in Zeitlupe und starrte ihn wortlos an, ehe sie mit sehr betonten, methodischen Bewegungen das Kauen fortsetzte. Es bedurfte keiner weiteren Worte. Seine Bemerkung war unpassend, es war ihr egal und die stumme Drohung sagte darüber hinaus klar: Noch eine solche Bemerkung, und es würde Konsequenzen geben, die sich Köhler lieber nicht ausmalen wollte. Beinahe schuldbewusst senkte er den Kopf, gleichzeitig erlaubte ihm diese Geste, weiterhin das Weiße Haus zu beobachten, ohne dass es sonderlich auffiel.

»Wie kommen wir an Engelmann ran?«, fragte Terzia und schluckte. Dann warf sie einen bedauernden Blick auf die kunstvoll aus einer alten Zeitung gefaltete Tüte. Jetzt war sie endgültig leer und es war offensichtlich, dass sie noch nicht genug hatte. »Wir können da kaum einfach so reinmarschieren und ihn in Gegenwart des Präsidenten erschießen.«

»Es würde ein ziemliches Aufsehen geben.«

»Wir würden außerdem dabei sterben.«

»Das wäre bedauerlich, ja.« Er kniff die Augen zusammen. »Was ist das da?«

Vor dem Weißen Haus stand eine Holzwand, auf der allerlei Plakate mit Ankündigungen der Regierung angebracht waren. Es waren große, eng bedruckte Papiere mit vielen Worten, die von den allermeisten Passanten und Neugierigen eher ignoriert wurden. Jetzt aber rissen zwei Arbeiter einige ältere Dokumente ab und klebten ein großes Plakat an, das beinahe künstlerisch wirkte. Köhler beugte sich nach vorne, aber das half auch nicht viel. Immerhin, mit etwas Konzentration war das Plakat dann doch zu entziffern.

»Eine Theateraufführung zum Feiertag der Gründung der Konföderation«, las er. »Das Stück heißt Ein amerikanischer Cousin von einem Mann namens Tom Taylor, ein Spiel in drei Akten. In zwei Tagen ist die Premiere, wenn ich das heutige Datum richtig in Erinnerung habe.«

»Theater? Wo Leute vor Leuten stehen und sich gegenseitig anschreien und in seltsamen Versen reden, die nicht einmal der Autor verstanden hat?«, fragte Terzia mit einem respektlosen Unterton. »Theater war nie meine große Leidenschaft.«

Darauf wäre Köhler nie gekommen.

»Ich bin mir sicher, das ist jetzt was ganz anderes«, murmelte er. »Und schau: Ehrengast ist der Präsident, Jefferson Davis, und Mitglieder seines Kabinetts. Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass Engelmann auch dort sein wird, schon in der Nähe der Mächtigen?«

»Willst du ihn während der Theatervorführung erschießen?«, fragte Terzia zweifelnd. »Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir das hier überleben wollen!«

»Nein, wer käme auf so eine dämliche Idee?«, wehrte Köhler ab. »Aber wir können uns an ihn ranhängen und herausfinden, wo er wohnt. Dort erschießen wir ihn.«

Terzia sah ihn mit gespielter Bewunderung an. »Ich bin mit einem Genie zusammen! Ich bin mir sicher, Engelmann hat für diesen Fall keine besonderen Vorkehrungen getroffen. Ein genialer Plan, mein Liebster.«

»Okay«, machte Köhler, jetzt doch leicht verschnupft. »Du hast bestimmt einen besseren.«

»Ich mache Pläne, wenn ich alle notwendigen Informationen habe, mein Guter. Und bis hierhin stimme ich mit dir überein: Wir gehen zu diesem Theaterstück und schauen uns um. Nach Möglichkeit, ohne selbst allzu sehr aufzufallen. Dafür aber, mein Mann, benötigen wir angemessene Kleidung.«

Köhler empfand eine plötzliche Kälte in seiner Magengegend und er war sehr froh, nicht noch mehr von diesen »French Fries« gegessen zu haben. Es gelang ihm nur mit Mühe, das langsam in ihm wachsende Entsetzen zu beherrschen.

»Nein.«

»Doch, doch. Wir gehen jetzt Anzüge, Kleider und Schuhe kaufen.« Terzia lächelte und es war, als würde die Sonne aufgehen. Köhler schaute sie mit einem Ausdruck sanfter Verzweiflung an. Er wusste nicht genau, was ihm jetzt bevorstand, aber diese düstere Vorahnung eines sich unaufhaltsam nähernden Unheils ließ ihn von diesem Moment an nicht mehr los.

Terzia hatte einen Beschluss gefasst und sorgte für Durchführung. Sie mussten nicht lange laufen, bis sie in der richtigen Gegend von Richmond angekommen waren. Sie hatte mit großer Sicherheit die »Main Street« angesteuert, die Hauptstraße, die durch das Stadtzentrum führte und neben einer erstaunlichen Vielzahl an Läden, die vorwiegend Alkoholika verkauften, auch andere Geschäfte bot. Die Stadt war voll mit Soldaten, die offenbar dienstfrei hatten, und mit Verwundeten, soweit diese mobil waren. Köhler hatte bereits erfahren, dass hier eines der größten Krankenhäuser der Konföderierten operierte, ein Ort namens Chimborazo, der einen bemerkenswert guten Ruf zu haben schien. Die Soldaten, die die Hauptstraße bevölkerten, waren größtenteils betrunken und es gab deutliche Unterschiede zum zurückhaltenden, manchmal ängstlichen Verhalten der normalen Stadtbewohner. Heute schienen alle einen guten Tag zu haben, denn Terzia und er konnten ungestört einige der Geschäfte aufsuchen, in denen Schneider Fertigware, gebrauchte Kleidung oder schlicht ihre Dienste anboten. Da der Zeitpunkt der Theateraufführung nicht allzu fern in der Zukunft lag, entschied Terzia, dass das Angebot an Fertigwaren, wenngleich übersichtlich, für ihre Zwecke genügen musste.

Es tat dann auch gar nicht so weh wie erwartet.

Als er nach einigen längeren Sitzungen, in denen sein Mitspracherecht durch weibliche Diktatur vollständig außer Kraft gesetzt wurde, mit neuer Bekleidung ins Freie trat, musste er zugeben, dass er nicht nur für hiesige Verhältnisse gut aussah. Er hatte nie einen besonderen Geschmack entwickelt, was Kleidung anbetraf, wie es vielen Soldaten ging, die fast nur ihre Uniformen kannten, aber er musste sich und Terzia eingestehen, dass er in der richtigen Aufmachung eine sehr gute Figur zu machen imstande war. Die schwarze Hose wurde mit Trägern hochgehalten, die um seine Schultern geschlungen waren, am Oberkörper trug er über einem weißen, gestärkten Hemd mit einem steifen Kragen eine lose sitzende Weste. Um den Hals trug er einen kunstvoll gebundenen Schal oder ein Tuch, das in die über der Weste geschlossene Anzugjacke gesteckt wurde, und seine Schuhe waren schwarz glänzend, mit bedeckten Knöcheln für sicheren Halt. Einen Hut aus Seide hatte Terzia ihm verpasst, fast das Teuerste an seiner ganzen Ausstattung, und alles in allem schien er für einen Theaterbesuch nun gut genug angezogen. Es war erstaunlich, dass alles recht weit geschnitten war und locker am Körper saß, selbst um den Hals wollte sich kein Gefühl der Beengung einstellen. Köhler kam zu dem Schluss, dass er sich mit dieser Art von Bekleidung anfreunden konnte.