Ein Haiku für die Leiche - Manfred Eichhorn - E-Book

Ein Haiku für die Leiche E-Book

Manfred Eichhorn

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Beschreibung

Kommissar Lott hat keine Lust mehr, ein Jahr trennt ihn noch von seiner Pensionierung. Doch als in einem Waldstück im Schönbuch ein toter Luchs gefunden wird, müssen Lott und seine neue Kollegin Britta Zorn ermitteln. Ein Haiku wurde, offenbar vom Täter, bei dem toten Luchs platziert. Doch aufklären können Lott und Zorn den Fall trotz intensiver Ermittlungen nicht. Wochen später wird ein totes Mädchen in Ulm aufgefunden. In unmittelbarer Nähe prangt ein Zettel, es ist ein Haiku - Schrift und Material mit dem Haiku an der Tierleiche von vor einigen Wochen identisch …

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Manfred Eichhorn

Ein Haiku für die Leiche

Kriminalroman

Zum Buch

Schnitzeljagd  Kommissar Lott hat keine Lust mehr, ein Jahr trennt ihn noch von seiner Pensionierung. Doch als in einem Waldstück im Schönbuch ein toter Luchs mit abgetrennten Läufen gefunden wird, müssen Lott und seine neue Kollegin Britta Zorn ermitteln – denn Umwelt- und Artenschutzdelikte gehören zum Aufgabebereich des Dezernats für Sonderfälle. Ein Haiku wurde, offenbar vom Täter, bei dem toten Luchs platziert. Doch aufklären können Lott und Zorn den Fall trotz intensiver Ermittlungen nicht. Wochen später wird ein totes Mädchen in Ulm aufgefunden. In unmittelbarer Nähe prangt ein Zettel, es ist ein Haiku – Schrift und Material mit dem Haiku an der Tierleiche von vor einigen Wochen identisch. Lott und Zorn ermitteln gemeinsam mit ihren Ulmer Kollegen. Eine erste Spur führt sie zu einem Ulmer Buchhändler …

Manfred Eichhorn wurde 1951 in Ulm geboren. Nach einer Buchhandelslehre eröffnete er 1973 mit seiner Frau in seiner Geburtsstadt den Kult-Buchladen Eichhorn. Im selben Jahr erschienen erste literarische Arbeiten. Heute ist er als Schriftsteller tätig. Manfred Eichhorn veröffentlichte Romane, Regionalkrimis, Erzählungen, Lyrik und zahlreiche Kinderbücher sowie Publikationen über seine Heimat und über seine Kindheitserinnerungen aus den 50er und 60er Jahren. Seine Theaterstücke in schwäbischer Mundart werden landauf, landab gespielt. Die Versdichtung „Die schwäbische Weihnacht“, im Fernsehen mehrfach ausgestrahlt, wurde zum Klassiker der Weihnachtsliteratur. Der Autor wurde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Schwanenschrei (2018)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © msl33 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6092-0

Widmung

Karl-Heinz Hahn Erster Kriminalhauptkommissar a.D. in Dankbarkeit gewidmet

Haiku

Haiku ist eine traditionelle japanische Gedichtform, die heute weltweit verbreitet ist.

Das oder der Haiku gilt als die kürzeste Gedichtform der Welt. Ein Haiku besteht aus einer einzigen Strophe mit maximal 17 Silben (nach dem Schema 5-7-5; es heißt, 17 Silben seien das Maß eines Atemzugs).

Prolog

Was ist der Wert eines Tieres? Wie viel wiegt das Leben eines Menschen?

Was überhaupt ist ein Leben wert?

Gerade so viel, wie es das Spiel verlangt!

Denn das Leben ist ein Spiel mit Gewinnern und Verlierern.

Nicht mehr.

Nicht weniger.

Der Sieger bekommt die Hand der Königstochter. Und obendrein ein Schloss. Mit einem Park dabei, in dem die Pfauen regieren.

Der Verlierer geht leer aus.

So war die Welt noch in Ordnung.

Jetzt hat sie sich gedreht.

Jemand muss sie wieder ins Lot rücken.

Denn der Sieger darf nicht leer ausgehen.

Die Spielregeln müssen ihre Gültigkeit zurückgewinnen.

*

Die abgeschnittenen Vorderbeine des Luchses legte er an die Waldlichtung. Zwei Schritte weiter das Übrige der Luchsdame.

Hier musste sie gefunden werden.

In Schönschrift schrieb er 17 Silben.

17 Silben für den Tod.

Kapitel eins

Falls ihr nicht zu sterben versteht – keine Angst! Die Natur wird euch, wenn es so weit ist, schon genau sagen, was ihr zu tun habt, und die Führung der Sache voll und ganz für euch übernehmen; grübelt also nicht darüber nach.

Michel de Montaigne

*

Lott hatte keine Lust mehr. Er stand vor dem Spiegel im Bad und dachte: Wenn du morgens aufstehst und es dir schwerfällt, ins »G’schäft« zu gehen, dann ist es an der Zeit aufzuhören.

Das Gesicht im Spiegel nickte ihm zu. Aber was half es. Lott putzte sich die Zähne und machte sich fertig, fertig fürs »G’schäft«.

Sein »G’schäft« war die Landespolizei Tübingen, und dort das Dezernat für Sonderfälle, das er seit einigen Jahren leitete. Er war 59. Ein Jahr trennte ihn noch vom ersehnten Ruhestand. Und das Gesicht im Spiegel ließ keine Zweifel aufkommen: Er hatte genug von dieser Tätigkeit.

Elli saß bereits am Frühstückstisch. Ihr Blick verriet ihm, dass er spät dran war. Er setzte sich dazu, trank Kaffee und bestrich sich eine Semmel mit Butter, löffelte geruhsam ein weiches Ei und überflog nebenher die Titelseite der Tageszeitung, als übe er bereits für den Ruhestand.

Der Schrei eines Roten Milans schreckte ihn auf. Er tönte von der Wanduhr her. Ein sinniges Geschenk von Tochter Lisa. Jede Stunde hatte ein anderer Vogel die Aufgabe, anzukündigen, welche Stunde es geschlagen hatte. Um sieben Uhr morgens war der Rote Milan an der Reihe.

Lott trank hastig seinen Kaffee zu Ende, ließ den Rest des weich gekochten Eies wie auch die halbe Semmel auf dem Teller liegen, stand vom Tisch auf, eilte zur Garderobe, zog sich die Jacke über, küsste Elli flüchtig, und flüchtig war auch sein »Ade«, ehe er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Lott fuhr das Auto aus der Garage und lenkte es durch die Einfahrt hinaus auf die Straße. Er schaute in den Rückspiegel. Einen Augenblick lang dachte er, da säße jemand auf dem Rücksitz, der ihn anstarrte. Lott erschrak. Er dachte an den Tod. Saß der ihm etwa schon im Nacken? So dicht bereits bei ihm, dass der nur die Hand nach ihm ausstrecken musste. Er verscheuchte den Gedanken. Drehte sich um. Der Rücksitz war wieder leer. Jetzt dachte er an Elli, mit der er nun bald 40 Jahre verheiratet war. Jung gefreit – nie gereut. Im Großen und Ganzen stimmte der Spruch bei ihnen. Mehr oder weniger. Ausbruchsversuche hatte es auf beiden Seiten gegeben. Jetzt aber waren sie in einem Alter, in dem nur mehr der Tod ein ernsthafter Konkurrent war. Warum aber ging er, der noch Kriminalhauptkommissar, dann so fahrlässig mit seiner Zeit um? Mit der Flüchtigkeit, mit der er Elli am Morgen maulfaul begegnet war, mit abgeflachten Ritualen, so selbstverständlich, als beanspruchten sie einen Ewigkeitswert. Diese hingeworfenen Abschiedsfloskeln!

Da war Flaubert, sein in die Jahre gekommener Golden Retriever, aus anderem Holz geschnitzt. Der lebte jeden Augenblick so, als könnte es der letzte sein. Ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um seine Anhänglichkeit unter Beweis zu stellen, genoss jeden Moment des Familienlebens, ganz gleich ob drinnen oder draußen.

Flaubert müsste mein Lehrer sein, dachte Lott.

Wenn man versäumt, das Leben festzuhalten, wird es einem entwischen. Aber auch wenn man es festhalten will, wird es entfliehen. Also muss man gegen den schnellen Lauf der Zeit ankämpfen und wie aus einem reißenden Gießbach, der nicht ständig fließen wird, geschwind trinken.

Das hatte Elli ihm vorgelesen. Vor nicht allzu langer Zeit. Er hatte sich das Wort für Wort gemerkt. Was selten vorkam. Denn Elli las viel und teilte ihm viel von dem, was sie gelesen hatte, mit. Sätze, die dazu taugten, sich ins Gedächtnis einzubrennen.

Ich schaue dem Tod ins Gesicht und sage: Es gibt dich nicht.

Dieses Epigramm aus Meßmers Gedanken hatte Elli damals, während ihrer akuten Erkrankung, als sie täglich am Sauerstoffgerät hing, wie ein Schutzschild vor sich hergetragen. Aber auch ein anderes Zitat von Martin Walser war ihm aus der Zeit von Ellis Kuraufenthalt in Bad Dürrheim in Erinnerung geblieben:

Es gibt keinen schrecklicheren Unterschied als der zwischen einem Kranken und einem Gesunden.

Damals hatte sie ihr Kranksein kultiviert. Ihren Kuraufenthalt mit den Kurberichten großer Literaten in Einklang gebracht: Goethe in Marienbad, Hesse in Baden und Nietzsche und Rilke in Maria Sils. Nur so ertrage ich das hier, hatte sie erklärt. Lott sah Elli jetzt vor sich, wie sie ihm auf dem Hof des Kurhauses entgegen kommt und sich schon als Gesunde ausgibt. Ihre Schritte knirschen auf dem Kiesweg, der durch die Blumenrabatte mit den Frühjahrsblühern führt. Und dann wird sie schneller und schneller, sie läuft auf ihn zu, und je näher sie ihm kommt, desto schneller wird sie. Sie spielen jetzt eine Szene, wie in einem Film, in der ein Liebespaar sich auf einem Bahnsteig nach Jahren wieder trifft. Das war, fast auf den Tag genau, vor einem Jahr gewesen. Warum war es mittlerweile wieder so selbstverständlich geworden, dass Elli gesund und an seiner Seite war. Warum nahm er es nicht täglich als Geschenk, für das man sich gefälligst zu bedanken hat.

Lott musste an der nächsten Ampel halten. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schaudern. Wo war Flaubert heute Morgen gewesen? Der Hund war nicht wie üblich zu ihm ans Bett geschlichen, um sich eine erste Streicheleinheit abzuholen. Und er war ihm beim Weggehen nicht bis zur Tür gefolgt, wie er das immer tat.

Das Schlimme war nur, er hatte es nicht einmal bemerkt.

Lott zog sein Handy aus der Tasche und rief Elli an.

»Ist was mit Flaubert?«, fragte er.

»Es ist der Rücken«, antwortete Elli. »Aber das weißt du doch.«

Lott wusste es nicht. Aber er tat so, als ob er es wüsste, und drückte das Gespräch nach einigem Hin und Her schließlich weg.

Irgendwo im Hinterkopf, wie man so schön sagt, hatte er die Nachricht über Flauberts bedenklichen Zustand abgelegt.

Die Ampel schaltete auf Grün. Er legte den ersten Gang ein und fuhr los. Wenig später nahm er die Einfahrt zum Parkplatz der Landespolizeidirektion. Im selben Moment jaulte sein Handy: Forever Young, dieses vorgegaukelte Versprechen auf die ewige Jugend, Lisas Geburtstagsgeschenk. Der Klingelton hatte das Zeug zu einem Ohrwurm. Auf dem Display sprang ihm der Name der Tochter entgegen.

»Lisa?«, fragte er dennoch.

»Wer sonst«, antwortete Lotts Tochter amüsiert. Ein Zeichen, mit dem Lisa wieder einmal anklingen ließ, dass ihr Vater jener Generation angehörte, für die die Erfindung des Tastentelefons schon eine Revolution war.

»Ich komme heute Abend. Schau zu, dass du rechtzeitig aus der Firma kommst«, sagte sie schnoddrig.

Lott versprach es und legte auf.

Was sollte ihn daran hindern.

Zwar erdrückte ihn derzeit die Verwaltungsarbeit, wie die ganzen letzten Wochen schon. Aber heute war um 18 Uhr Schluss. Das nahm er sich fest vor und konnte es also versprechen. Es lag hoffentlich nichts vor, was ihm Überstunden abverlangt hätte.

Bis zum augenblicklichen Zeitpunkt zumindest nicht.

Was erwartete ihn denn?

Ein Hamsterrad, das er am Laufen halten musste: Beginnend mit der Frühbesprechung. Die Tagesabläufe miteinander abstimmen. Den Ablaufkalender erstellen. Danach die PC-Nachrichten aus dem zentralen Computer sichten. Das Einlesen neuer Fälle, sofern sie seinem Aufgabenbereich zufielen. Größere Wirtschaftsdelikte und Verfahren, die eine normale Polizeidirektion überfordern würde, lagen bis gestern nicht vor.

Und sonst?

Das Dezernat für Sonderfälle war derzeit mit 15 Personen besetzt. Alles Leute im gehobenen Dienst. Vorwiegend Hauptkommissare. Zuständig für Korruptionsfälle im eigenen Haus oder auch bei einer der Stadtverwaltungen im Ländle. Man ist ja neutraler als die Kollegen vor Ort. Immer eine größtmögliche Neutralität zur Schau stellen, hieß die Devise.

Ach, er hatte es satt.

Wer ermittelte schon gerne gegen die eigenen Kollegen. Und musste sich dann den Vorwurf, dem »Landjägerverfolgungskommando« anzugehören, gefallen lassen.

Das war der Jargon für die Interne.

Lott nahm die Treppe, die zu seinem Büro im zweiten Stock hochführte. Er hatte heute auf den Aufzug verzichtet. Eine kleine Selbstkasteiung. Nach wenigen Stufen bereits aber machte ihm seine von Arthrose geplagte Hüfte zu schaffen. Eine einzige unachtsame Bewegung und schon meldete sie sich mit ihrer generativ-arthrotisch bedingten Kapselverdickung, ihrer Gelenkspaltverschmälerung und Pfannenrandusur im Bereich des rechten Acetabulumdaches zurück.

Lott musste für einen Augenblick stehen bleiben.

Da kam Hilbinger, sein Chef, ihm entgegen. Lott tat, als suche er nach irgendetwas in seinen Taschen, um sich Mitleidsfragen nach seinem Gesundheitszustand zu ersparen.

Hilbinger grinste.

Das war nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Lott kannte dieses Hilbinger-Grinsen nur allzu gut. Dahinter verbarg sich doch stets eine kleine, nicht wirklich bös gemeinte Gemeinheit.

Erst grüßten sie sich noch.

Aber dann?

»Sie dürfen zur Abwechslung mal wieder einen Mord aufklären«, sagte Hilbinger fast triumphal und nicht ohne den Schalk verbergen zu wollen, der ihm im Nacken saß.

Lott schaute seinen Chef nur an.

Der rückte dann auch gleich heraus mit der Sprache.

»Den hier«, feixte Hilbinger und hielt ihm das Foto eines toten Luchses hin.

»Soll das ein Witz ein?«

»So lustig ist das gar nicht«, antwortete Hilbinger, plötzlich ernst. »Der Luchsdame haben sie nämlich beide Vorderpfoten abgeschnitten und alles so drapiert, dass wir es finden mussten.«

»Wo?«

»Im Schönbuch, also direkt vor unserer Haustür.«

»Dafür sind wir nicht zuständig«, sagte Lott abwehrend und gab seinem Chef das Foto zurück.

»Sind wir doch«, widersprach Hilbinger.

Lott schaute ihn fragend an. Und wehrte sich weiter dagegen: »Für Artenschutzdelikte wie illegale Tötungen von Luchs, Fischotter oder Uhu sind nicht wir, sondern …« Lott zögerte. Er wusste im Augenblick nicht, wer für derartige Fälle zuständig war.

»Artenschutzdelikte sind Umweltdelikte«, klärte Hilbinger auf. »Deshalb hat man uns damit betraut.«

Lott schüttelte, es nicht wahrhaben zu wollen, den Kopf.

»Vielleicht auch deshalb«, erklärte Hilbinger und reichte dem Kollegen ein Schriftstück, verpackt in einer Klarsichtfolie.

Lott las den in Schönschrift hingemalten Text:

Die Schwalben sind fort

Heute jagt diese Katze

Fallende Blätter

»Was soll das?«, entfuhr es Lott.

Hilbingers Schulterzucken war zunächst die Antwort. Dann schnaufte er tief durch und sagte: »Der Fall birgt noch eine andere Absurdität.«

Lott horchte.

»Es gibt im Schönbuch keine Luchse.«

*

Ein schönwüchsiges Waldgebiet mit wilden, vielfältigst zerrissenen Schluchten, mit Feldungen und sanften Wiesentälern auf den ebenen Stellen. Ein jagdlustiges Waldgebiet, und aus der Tiefe des stillen Klosters ertönt abendliches Geläut.

Lott hatte über den Schönbuch gelesen, damals, als sie nach Tübingen zogen. Ein paar Jahre war das jetzt her. Und mit Elli hatte er dort, im Schönbuch, kleine Wanderungen unternommen. Vom ehemaligen Zisterzienserkloster Bebenhausen aus.

Mit Tabletten musste er auch damals schon seine Hüftschmerzen klein halten, damit ausgedehnte Spaziergänge erst möglich wurden. Lott erinnerte sich daran. Einstmals hatte man den Schönbuch Norgewald genannt und später Schainbuch. Ein Buchenwald also. Zumindest vor rund tausend Jahren noch. Die Mutter des Waldes ist die Buche.

Was die Pflanzenwelt betraf, war Elli die Kundige. Das Heidekraut, das von Mitte August an unter dunkelgrünen Kiefern auf dem Bromberg erblüht, darauf machte sie ihn aufmerksam, wie auch auf das Breitblättrige Wollgras, das bei der Fruchtreife seine schneeweißen Haare zeigt. Eine Zierde der sumpfigen Moorwiesen im Schönbuch. Teufelskralle und Knabenkraut, Gemeines Leinkraut – Linaria vulgaris –, Schwarze Königskerze, zur Familie von Leinkraut und Fingerhut gezählt, die Echte Königskerze, die über zwei Meter groß wachsen kann. Adlerfarn und Waldschachtelhalm.

Von Elli konnte man lernen.

Auch, was die Tierwelt des Schönbuchs betraf, zeigte sich Elli kundig. Das Rotwild vor allem hatte es ihr angetan. Das Revier der Hirsche. Aber auch Baum- und Edelmarder, Fuchs und Eichhörnchen, bis hin zum Wasserfrosch und Feuersalamander. Eine Lanze brach sie für das Wildschwein. Die gleichmäßig schwarzgraue Färbung im Winter verlieh ihm den Namen Schwarzwild. Einst betrachteten die Grundstücksbesitzer der Schönbuchgemeinden den Schwarzkittel als ihren Feind, weil in den ersten Nachkriegsjahren das Wildschwein großen Schaden auf den Fluren anrichtete. Im Waldgebiet aber erweist es sich vielfach nützlich, denn durch das Aufbrechen des Bodens schafft es für verschiedene Holzarten ein günstiges Keimbett für die herabfallenden Samen. So zumindest stand es in dem Buch: Eine Wanderung durch den Schönbuch, von Walter Hahn aus dem Jahre 1956.

So reich die vielgestaltige Tierwelt auch war, Luchse beherbergte der Schönbuch nicht.

*

Hauptkommissarin Britta Zorn wartete bereits am zugeteilten Dienstfahrzeug auf ihn. Sie war neu im Team des Sonderdezernats. Lott kannte sie nur flüchtig. Ein guter Ruf beim BKA, das sie aus familiären Gründen verlassen musste, war ihr vorausgeeilt. Ausbildung zur Profilerin in den USA, als Forensikerin in den Speziallabors des Bundeskriminalamtes und der gerichtsmedizinischen Institute eine Koryphäe. Für das Dezernat für Sonderfälle bei der LPD Tübingen war sie eindeutig überqualifiziert. Als alleinerziehende Mutter einer mittlerweile zehnjährigen Tochter war ihr jedoch keine andere Wahl geblieben, als die Karriereleiter erst einmal in die Ecke zu stellen.

Der Aufgabenbereich beim BKA ließ sich mit denen einer verantwortungsvollen Mutter nicht mehr unter einen Hut bringen. Hilbinger hatte gemunkelt, dass da kein Mann an ihrer Seite wäre, der ihr einen Teil häuslicher Routine abnehmen könnte.

Der Mann hat sich mit einer anderen aus dem Staub gemacht, was mich, angesichts dieser Karrierefrau, nicht wundert.

Bei Hilbinger blühten ganzjährig Klatsch und Tratsch. So liebenswürdig er sich gab, man musste aufpassen. Er war eine Petze.

Britta Zorn war von kräftiger Statur, dabei hochgewachsen und machte, wie sie so am Wagen stand, den Eindruck einer Sportlerin vor Beginn eines Wettkampfes. Ihr fein geschnittenes Gesicht wirkte hoch konzentriert, die Nase hielt sie, so sah es zumindest Lott, gegen den Wind wie ein Spürhund gerichtet. Ihr Teint glich einer glatten Fläche, fern von jedem hingestreichelten Verputz. Ihr dunkles, glattes Haar reichte bis zum Halsansatz. Eine Frisur, die an einen Bubikopf erinnerte, war nicht unbedingt zu erkennen.

Lott wusste aus ihrer Akte, dass sie im April ihr 33. Lebensjahr vollendet hatte. Ein Widder also. Auf Widder kann man sich verlassen. Viel mehr wusste er nicht über die hervorstechenden Eigenschaften dieses Tierkreiszeichens.

Die neue Kollegin empfing ihn mit einem flüchtigen Lächeln. Und reichte ihm wie abwesend die Hand.

»Dann wollen wir mal«, sagte sie lapidar und setzte sich wie selbstverständlich auf den Fahrersitz. Lott nahm es dankbar zur Kenntnis. Er ließ sich gerne chauffieren.

»Von einem Tatort kann man ja nicht sprechen«, erklärte Britta Zorn, kaum dass sie den Parkplatz verlassen hatten, »den Fundort aber haben wir bereits abgesteckt.«

»Waren Kollegen von der KTU dabei?«, fragte Lott.

Die neue Kollegin lachte laut auf.

»Hallo?«, sagte sie dann, in genau dem Ton und der Art, womit man neuerdings allein schon die Frage infrage stellte. »Es handelt sich bei dem Opfer um ein Tier, nach unserer Gesetzgebung also um eine Sache, da macht man nicht so viel Wind und Aufhebens darum.«

Lott war sich im Unklaren darüber, wie Britta Zorn das meinte. Bedauerte sie nun die Tatsache, dass Tiere als Sache behandelt und dadurch Verfehlungen mit einem geringen Strafmaß geahndet wurden, oder empfand sie es schlichtweg als Zumutung, dass man sie mit derlei Kleinkram behelligte. Ein toter Luchs in einem fremden Revier.

»Natürlich war ein KTler dabei, aber erst drei Tage, nachdem der Luchs gefunden wurde. Da hatte der Regen der vergangenen Tage bereits alle brauchbaren Spuren vernichtet.«

Sie hat also doch ein Herz für Tiere, dachte Lott. Und die Kollegin ärgert sich nun, dass man nicht mit den standardisierten Methoden wie bei einem herkömmlichen, an einem Menschen begangenen Mordfall vorgegangen war. Auch Hilbinger war anscheinend nicht der Meinung, dass Umweltkriminalität ernst genommen und untersucht werden sollte wie jede andere Straftat auch. Nur so war seine Halbherzigkeit in dieser Sache zu erklären. Dass er Lott und die neue Kollegin damit beauftragte, war denn auch eher dem Interesse der Presse geschuldet, die daraus eine Story machen könnte, bei der die LPD nicht gerade gut wegkommen würde.

Britta Zorn lenkte den Wagen in Richtung des ehemaligen Zisterzienserklosters und parkte unmittelbar davor.

»Nicht einmal hundert Meter von hier entfernt wurde das Tier abgelegt«, sagte sie und stieg aus.

Lott folgte ihr.

Der Fundort war mit einem Absperrband abgesteckt.

»Nicht weiträumig genug«, meinte die Kollegin und fügte mürrisch an: »Aber das ist nun auch egal. Da findest du keine forensischen Quellen mehr.«

Der Boden war tatsächlich tief, der Weg, der bis zur Lichtung führte, die als Fundort des Luchses abgesteckt worden war, schien reichlich befahren zu sein.

»Der ganze Forstverkehr scheint hier vorbeizuziehen«, bemerkte die neue Kollegin sarkastisch.

»Es muss demnach sehr schnell gegangen sein«, mutmaßte Lott. »Der oder die Täter haben die Tierleiche dennoch in einer bizarren Inszenierung abgelegt und mit dieser merkwürdigen Botschaft versehen. Er las sie laut vor:

»Die Schwalben sind fort

Heute jagt diese Katze

Fallende Blätter.«

»Ach ja, diese drei Zeilen«, stöhnte Britta Zorn auf und warf noch einmal einen Blick darauf.

»Ein Haiku«, konkretisierte Lott.

»Was bitte?«, hakte die Kollegin nach.

»Eine japanische Gedichtform, die aus 17 Silben in der Abfolge fünf-sieben-fünf besteht«, antwortete Lott. Und gab Ellis Wissen darüber preis.

Britta staunte. Und schenkte Lott ein anerkennendes Lächeln, das allerdings schnell wieder verflog, denn rasch hatte sich wieder ein Unbehagen in ihr breitgemacht, das jedem noch so flüchtigen Lächeln standhielt.

»Wieder so ein Wichtigtuer«, schimpfte sie. »Einer, der ein noch so unappetitliches Verbrechen mit einem Gedichtlein garnieren, um nicht zu sagen, es schönreden will.«

Im selben Moment fuhr ein Pick-up der Forstverwaltung heran. Ein Mann in Jägerkluft stieg aus, betrachtete das abgesteckte Areal und fluchte: »Eine schöne Bescherung.« Dann erst stellte er sich vor. »Stadler, vom Regierungspräsidium der Tübinger Forstdirektion.« Er gab der Kollegin und Lott die Hand.

»Die Presse hat von dem toten Luchs Wind bekommen. Seither steht das Telefon bei uns nicht mehr still. Luchse im Schönbuch! Diese Affen! Ich habe ihnen zu erklären versucht, dass es hier keine Luchse gibt, außer diesem toten, der irgendwo, nur nicht hier getötet wurde. Aber die Damen und Herren von der Presse glauben mir nicht. Die wittern eine Story und wollen sich diese nicht nehmen lassen.«

»Hilbinger wird wohl eine Erklärung an die Presse abgeben müssen«, warf Lott ein.

»Das soll er auch gefälligst tun. Und er soll betonen: Es gibt im Schönbuch keine Luchse!«

*

Natürlich hatte Hilbingers Pressesprecher die Nachricht über den Luchs-Tod per Polizeibericht, der für alle Polizeistationen im Bundesgebiet einsehbar war, auch über die Presseagenturen verbreitet. Als eine schlichte, nüchterne Nachricht. Die einen überflogen sie, andere gingen kopfschüttelnd darüber hinweg und wieder andere traf die Nachricht wie ein Stich ins Herz.

*

Der Anruf kam aus Cham im Bayerischen Wald. Eine Frau Sonnenschmitt.

»Es ist unsere Tess«, hatte sie ins Telefon gehechelt. Als könnte der Luchs, weiblichen Geschlechts, dadurch wieder lebendig werden.

Frau Sonnenschmitt war, wie sie kundtat, bei der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald angestellt. Und außerdem aktives Mitglied beim LBV, dem Landesbund für Vogelschutz in Bayern.

»Was sind das für Menschen, die so etwas machen?« Ihre Stimme klang aufgekratzt. »Dies ist ein abscheuliches Verbrechen!«

Dann bat sie um Einzelheiten. Lott unterrichtete sie über den Sachverhalt.

»Wir hatten Tess besendert, dann aber den Kontakt verloren«, erklärte Frau Sonnenschmitt die Vorgehensweise mit den Luchsen im Nationalpark. »Da hatte ich schon befürchtet, dass wieder etwas Schreckliches passiert war.«

»Sie sagen wieder?«, hakte Lott nach.

»Im Mai letzten Jahres wurden bereits zwei Luchse getötet. Auch damals haben die Wilderer ganz gezielt deren vier abgeschnittene Vorderbeine so hinterlegt, dass sie gefunden werden mussten.«

Lott vernahm, wie Frau Sonnenschmitt schluckte.

»Obwohl das Bayerische Umweltministerium eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt hat, hatten die Täter keine Konsequenzen zu fürchten. Die Polizei tappt, wie man so schön sagt, noch heute im Dunklen.«

»Hatte der oder hatten die Täter eine Botschaft bei den getöteten Tieren hinterlassen?«

»Außer den abgeschnittenen Vorderbeinen nichts.«

Ein Trittbrettfahrer, dachte Lott.

»Das aber war ein Fressen für die Presse. Die beiden Luchse machten Schlagzeilen, waren mit einem Male in aller Munde und entfachten von Neuem die Diskussion, ob es Sinn macht, dass die Luchse hier wieder heimisch werden.«

Frau Sonnenschmitt schwieg jetzt. Und Lott wusste auch nichts zu sagen. Die Ungeheuerlichkeit der Vorfälle legte sich schweigend über das unterbrochene Gespräch. Lott meinte, Frau Sonnenschmitt weine lautlos.

Dann aber wisperte sie leise: »Ich muss ja die Tess heimholen.«

»Wir sind im Augenblick noch dabei, Beweismittel zu suchen. Menschliche oder auch andere DNA. Eventuell Fingerabdrücke. Vielleicht haben die Täter ja eine Signatur hinterlassen.«

»Woraus schließen Sie, dass es mehrere Täter waren?«

»Nein, das wissen wir noch nicht. Vieles spricht auch für einen Einzeltäter. Wie zum Beispiel das Schriftstück, das bei der Tierleiche gefunden wurde.«

Frau Sonnenschmitt horchte.

»Er hat ein dreizeiliges Gedicht hinterlassen.«

Lott las vor:

»Die Schwalben sind fort

Heute jagt diese Katze

Fallende Blätter«

Frau Sonnenschmitt weinte jetzt wirklich. Lott hörte sie schluchzen.

Dann sagte sie: »Ich komm zu Ihnen.«

*

Britta Zorn hatte recherchiert: Im vergangenen Jahr hatte das Thema Wilderei tatsächlich für Schlagzeilen gesorgt. Die Zeitungen, vor allem die in Bayern, waren voll davon. Die grausamsten Fälle waren die von Frau Sonnenschmitt geschilderten, nämlich das Ablegen der vier Luchspfoten im Landkreis Cham. Darüber hinaus gerieten andere Fälle von Artenschutzdelikten an die Öffentlichkeit: So die Vergiftung eines Uhus im Landkreis Regensburg, das absichtliche Abbrennen eines Sumpfohreulenbrutplatzes im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen und der Fang eines Sperbers mit einem Fangeisen im Landkreis Forchheim.

Genau wie Frau Sonnenschmitt sagte auch Britta jetzt: »Was sind das für Menschen, die so etwas machen?«

»Gibt es irgendwelche Erkenntnisse von Seiten der KTU?«, fragte Lott.

Britta schüttelte den Kopf.

»War auch nicht zu erwarten«, gab Lott klein bei.

»Die Luchsdame lag mindestens 24 Stunden im Freien. Und das im wahrsten Sinne des Wortes bei Wind und Wetter, denn es hatte zu der Zeit heftig geregnet. Und in der ersten Phase ist ja auch so gut wie nichts passiert.«

Hilbinger kam dazu.

»Ich habe einer Pressekonferenz zugesagt«, vermeldete er. »Und bitte Sie beide, mit dabei zu sein. Herr Stadler vom Regierungspräsidium der Tübinger Forstdirektion wird auch anwesend sein.«

»Wann?«, fragte Lott.

Hilbinger schaute auf seine Armbanduhr. »In einer Stunde.«

»Wir müssen uns erst vorbereiten«, warf Britta ein.

»Dann tun Sie das«, antwortete Hilbinger und ging.

Lott schaute ihm hinterdrein.

»Die Luchsdame ist ihm auf den Magen geschlagen«, sagte er, der Kollegin zugewandt. »Umwelt- und Artenschutzdelikte! Die sind auch für Hilbinger eine Nummer zu kleine Fälle, um damit vor die Presse treten zu wollen.«

»Ich versteh ihn«, nahm Britta Partei für den Chef. »Wir können da doch nur verlieren.«

»Also, was sagen wir?«

»Wir könnten die Forderung nach einer kleinen Polizeieinheit stellen, die sich ausschließlich um Naturschutz-Kriminalität kümmert«, schlug Britta vor.

Lott hob die Augenbrauen.

»War ein Scherz«, beschwichtigte Lotts neue Kollegin.

*

Das Interesse von Seiten der Presse an der getöteten und im Schönbuch abgelegten Luchsdame garte auf Sparflamme. Ein einziger Journalist hatte sich im Konferenzraum eingefunden. Ein freier Mitarbeiter der Tübinger Nachrichten. Der hatte auch, wie sich gleich herausstellte, diese Pressekonferenz im Auftrag des lokalen Chefredakteurs eingefordert. Nun saß der allein in der Reihe, mit gezücktem Schreibmaterial und erwartungsvollem Blick auf die vier Beamten an der Stirnseite des Konferenzraums.

»Nicht doch der Weber!« Hilbinger schlug die Hände vors Gesicht. Den konnte er leiden wie’s Zahnweh. Hilbingers Gesicht sprach Bände. Es würde nicht das erste Mal sein, dass Weber den Chef der LPD auflaufen ließe. Der war penetrant wie ein ätzender Geruch, den man nicht loswird.

Hilbinger bewahrte aber Haltung und hieß den Journalisten herzlich willkommen.

»Es freut mich, dass Sie die gesamte Tübinger Presse, wenn nicht die ganze baden-württembergische Zeitungslandschaft, heute vertreten.«

Weber grinste und nickte.

»Dann wollen wir mal!«

»Entspricht es den Tatsachen, dass in Bebenhausen, unweit des Klosters, die Leiche eines Luchses gefunden wurde?«

»Das ist richtig«, antwortete Lott an Hilbingers Stelle. »Der Fundort der Leiche entspricht aber keineswegs dem Tatort.«

Der Forstverwalter fiel ihm ins Wort: »Damit keine Missverständnisse aufkommen, es gibt im ganzen Schönbuch keinen einzigen Luchs.«

»Bis auf diesen toten«, warf der Journalist ein.

»Wie gesagt«, fuhr Lott fort, »Tatort und Fundort sind nicht identisch. Der, oder besser gesagt, die ermordete Luchsdame war im Naturpark Bayerischer Wald zu Hause. Jemand hat sie dort getötet und hier bei uns im Schönbuch abgelegt. Weiß Gott oder der Teufel, warum! Im Übrigen gab es bereits im vergangenen Jahr, Sie werden das vielleicht schon recherchiert haben, einen ganz ähnlichen Fall. Damals wurden im Naturpark Bayerischer Wald zwei Luchse getötet. Und auch damals haben die Wilderer ganz gezielt deren vier abgeschnittene Vorderbeine so hinterlegt, dass sie gefunden werden mussten.«

»Wer tut denn so was?«, entfuhr es dem Journalisten. Aber anders als bei Britta und Frau Sonnenschmitt trat an Stelle eines Entsetzens bloße Sensationsgier zutage.

»Und wie ist der Stand der Ermittlungen?«, fragte Weber herausfordernd.

Britta Zorn spürte, es war höchste Zeit, dass sie das Gespräch übernahm.

»Wir sind der Meinung, dass Umweltkriminalität ernst genommen und untersucht werden sollte wie jede andere Straftat auch. Umweltdelikte sind ein besonderer Fall, da es in der Regel keine Zeugen gibt und sie an abgelegenen Stellen geschehen. Und weil man bei der Aufklärung nur selten mit Zeugen rechnen kann, verlassen wir uns hauptsächlich auf forensische Hilfe, um dadurch so viele Indizien und Informationen wie möglich herauszubekommen.«

»Und wie stellen Sie das an?«, fragte Weber verbissen.

»Bei richtig durchgeführter CSI, der Begriff dürfte Ihnen geläufig sein, es ist die Abkürzung für crime scene investigation, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fall gelöst werden kann, bei 80 Prozent. Der CSI muss allerdings direkt nachdem eine Tat bekannt geworden ist, erfolgen und sollte nur von speziell ausgebildeten Mitarbeitern durchgeführt werden. Forensische Quellen können eine Schlüsselrolle im entsprechenden Fall spielen. Nach diesen Indizien muss akribisch gesucht werden, was wir auch tun, sofern man uns lässt. Eine gute CSI kann nämlich schon mal ein oder zwei Tage harte Arbeit bedeuten, aber hier liegt auch die Crux. Je länger man damit wartet, umso größer sind die Chancen, dass Beweise verschwinden, dass DNA, Finger- oder Fußabdrücke und andere Hinterlassenschaften des Verdächtigen zerstört werden …«

Weber fiel ihr ins Wort: »Wir reden aber schon über den gleichen Fall, nämlich über den toten Luchs und nicht über ein Kapitalverbrechen?«

»Ganz richtig«, stimmte Britta ihm zu. »Denn wissen Sie, manchmal verwischen oder verwittern Spuren. Manchmal auch durch aasfressende Tiere. Aber nicht nur die Ergebnisse einer gut durchgeführten CSI sind von Bedeutung …«

»Wollen Sie mich verarschen?«, brüllte Weber.

»Keineswegs«, antwortete Britta Zorn gelassen. »Auch die oft im Zusammenhang damit stehenden Hintergrundinformationen früherer ähnlicher Fälle sowie die Analyse möglicher lokaler Konflikte …«

Wie von einer Tarantel gestochen, fuhr Weber jetzt hoch. Sein Kopf war rot angelaufen. Der Stuhl, auf dem er saß, kippte nach hinten. Er fixierte die vier Beamten an der Stirnseite des Raums, und zwar einen nach dem andern, dann schrie er: »Verarschen kann ich mich selber!«

Und rauschte aus dem Konferenzraum.

Ein kurzer Moment der Stille, einer Stille wie nach einem heftigen Gewitter, das reinigend herniedergegangen war, füllte den Konferenzraum. Dann brach Hilbinger in ein schallendes Gelächter aus. Und steckte Lott damit an. Britta wunderte sich. Alles, was sie sagte, hatte doch Hand und Fuß gehabt. Ratlos blickte sie in die Männerrunde.

»Der Weber ist und bleibt eben ein Idiot!«

Hilbinger schaffte Klarheit und Britta hatte dafür nur ein Achselzucken übrig.

Lott trat an Stadlers Seite und fragte ihn: »Ich dachte, bei Ihnen wäre das Telefon heiß gelaufen. Und nun saß allein dieser Hampelmann da?«

»Ist es auch«, wunderte sich der Forstbeamte.

»Der Weber ist eine Hyäne«, erklärte Hilbinger. »Der hat bestimmt ein paar seiner Spezeln gebeten, kräftig Wind zu machen.«

»Glaube ich nicht«, erwiderte Lott. »Der Termin war wohl Webers Taktik. Er wollte einen Vorsprung vor den Kollegen herausschinden. Die Öffentlichkeit wie die Presse haben durchaus ein Interesse an der toten Tess.«

»Glauben Sie das wirklich?«, hakte der Polizeichef nach.

Lott nickte.

»Die wirkliche Pressekonferenz steht uns also noch bevor«, murrte Hilbinger und unterstrich seinen Unmut mit einer abwertenden Geste.

*

Der Fall hatte jetzt einen Namen. Tess. Man könnte einer Soko den Namen geben, benannt nach der Luchsdame aus dem Bayerischen Wald. Aber von der Bildung einer Sonderkommission für dieses Umweltdelikt war man weiter entfernt als die Erde vom Mond. Allein die Logistik dafür würde bei Weitem den vorgegebenen Rahmen sprengen. Also blieb der Fall bei ihnen, beim Dezernat für Sonderfälle, zu deren Aufgabenbereich eben auch Umweltdelikte zählten.

Auch wenn bislang außer ein paar Reifenspuren, Fußabdrücken und wohl unerheblicher, weil nicht zuzuordnender DNA Spuren vorlagen, von denen die meisten, verwittert und verwischt, kaum Anhaltspunkte zuließen, war Lott in dieser Sache zuversichtlich, denn er hatte mit Britta Zorn eine Kollegin an seiner Seite, die ohne eine Signatur des Täters und mit nur mageren forensischen Quellen diese Ermittlung zum Erfolg bringen würde.

Lott baute auf sie, obwohl er sie erst seit ein paar Stunden kannte. Sie war eine beeindruckende Frau. In jeder Hinsicht.

Nach der Pressekonferenz hatten sie noch einmal die vorliegenden Fakten gesichtet, mit der Erkenntnis, dass sie auch mit der Ermittlungsplanung, deren Ziel es war, eine vorausschauende, rationelle und effiziente kriminalpolizeiliche Ermittlung vorzubereiten, noch ganz am Anfang standen. Handlungsziele festzulegen und eine sinnvolle Organisation und Koordination der Kräfte und Mittel zu gewährleisten, hatte dabei Priorität. Und, so wie es im Lehrbuch stand: Den Weg der Wahrheitsfindung zu bestimmen sowie die Taktik des Vorgehens bei der Ermittlung festzulegen.

Vielleicht galt es, eine erste Version aufzunehmen, zumindest in eine vorläufige Ermittlungsplanung. Im nächsten Moment verwarf er den Gedanken aber wieder, denn für Artenschutzdelikte war das deutlich zu hoch gegriffen.

Britta Zorn hatte sich bereits ihre Jacke übergezogen. War auf dem Sprung in den Feierabend. Sie kam an Lotts Schreibtisch und reichte ihm die Hand.

»Britta«, sagte sie. »Ich will, dass wir uns duzen.«

Lott griff nach ihrer Hand, drückte sie ein wenig zu fest und sagte so nebenbei wie möglich: »Klaus.«

Dabei hätte er sie, zum Anlass für dieses Du, gerne geküsst, wie es früher einmal Brauch gewesen war. Aber das war früher so, heute nicht mehr.

Lott ließ ihre Hand los und sah ihr nach, wie sie aus dem Büro zur Treppe eilte.

Er schaute auf sein Handy. Es war kurz vor 18 Uhr.

In wenigen Minuten war der Eichelhäher dran, um aus der Wanduhr heraus seinen klangvollen Lockruf kuku-kuku loszulassen. Zu jeder vollen Stunde ein anderer Vogel aus Lisas sinnigem Geschenk, der einem mit eigener Stimme die Uhrzeit mitteilte. Garrulus glandarius, so des Eichelhähers lateinischer Name. Lott hatte eine besondere Beziehung zu diesem buntgefiederten Uhr-Bewohner. Eichelhäher galten als die Waldpolizei.

Er würde ihn heute verpassen.

Dafür würde Lisa bereits auf ihn warten.

*

Sie kamen zu dritt angereist. Frau Sonnenschmitt hatte den Vorsitzenden des LBV, Herrn Doktor Norberts, sowie Doktor Hernandez, einen Forensiker, der in Südspanien für die Regierung von Andalusien als Leiter der Abteilung Forensik im Kampf gegen Vergiftungen und Wilderei arbeitete, dabei.

Sie hatten, wie Frau Sonnenschmitt gleich berichtete, im Hotel Hirsch in Bebenhausen Quartier bezogen. Morgen würden sie zurückreisen. Mit Tess im Gepäck.

Ein glücklicher Umstand war, dass sie unmittelbar vor der wirklichen Pressekonferenz bei der LPD eintrafen. Und Hilbinger nicht faul war, die drei Naturschützer mit in diese Pressekonferenz einbinden zu wollen. Alle drei stimmten dem Wunsch Hilbingers zu.

Britta nützte die Zeit davor, sich mit dem Leiter der Abteilung Forensik auszutauschen, der, wie sie gleich in Erfahrung brachte, über einen umfangreichen Erfahrungsschatz bei Schutzprogrammen für den iberischen Luchs, Greifvögel und Eulen sowie bei der Wiederauswilderung von verletzten Greifvögeln und Delfinen verfügte.

Für die Pressekonferenz hatte Hilbinger diesmal denSaal, wie er den Schulungsraum nannte, gewählt, weil der über ein Podest verfügte, das die ganze Breite des Raumes an der Kopfseite einnahm. Eine kleine Theaterbühne, die für eine jegliche Kasperliade herhalten musste. Und die meisten Pressekonferenzen waren eine solche. Lott konnte ein Lied davon singen.