Schwanenschrei - Manfred Eichhorn - E-Book

Schwanenschrei E-Book

Manfred Eichhorn

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Beschreibung

Ein verschollenes Manuskript des Schriftstellers Kurt Tucholsky! Was hat es damit auf sich, dass es den pensionierten Kriminalhauptkommissar Klaus Lott auch nach vierzig Jahren nicht loslässt? Lott reist an den Tegernsee, zu Ilse, seiner ersten großen Liebe, und damit auch in seine eigene Vergangenheit. Ein Kriminalroman, der auch den Ausverkauf eines der schönsten Gebiete Deutschlands thematisiert.

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Manfred Eichhorn

Schwanenschrei

Ein Tucholsky-Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Olaf Gulbransson

ISBN 978-3-8392-5838-5

Vorspann

Am Bahndamm entlang wuchsen Wegwarten. Die junge Frau betrachtete sie lächelnd. Die Wegwarte ist eine Heilpflanze. Jetzt war sie eine Streckenwärterin.

Die junge Frau rupfte eine der Wegwarten von den Geleisen und drückte sie gegen ihren Handrücken. Ein Insektenstich. Gegen kleine Verletzungen half die Wegwarte. Gegen große nicht.

Die Regionalbahn fuhr hier jede Stunde. Eine Stunde müsste jetzt um sein.

Prolog

Rottach-Egern,

Samstag, 6. September 1969

Mary Tucholskys Hände zitterten. Sie stand an der Gartenpforte und blickte den Roßwandweg hinab, dem Postwagen hinterher. Den Brief, den sie eben erhalten und gleich gelesen hatte, hielt sie jetzt, mit all der anderen Post, unterm Arm geklemmt.

Eine Frechheit. Eine Unverfrorenheit. Und vor allem: eine Lüge.

Doch als ob dieser Brief nicht schon genug ihrer kostbaren Zeit geraubt hätte, kamen jetzt auch noch die beiden jungen Leute, die vor zwei Tagen schon bei ihr geklingelt hatten, um einen Termin bei ihr zu erbitten, die Straße hoch.

Ich werde die beiden wieder fortschicken!

Aber wenn jemand über Tucho schreiben will, kann ich das einfach nicht.

Sie gab ihrer Haushälterin ein Zeichen, dass sie nun den Tisch im Erkerzimmer decken könne. Mit Kaffee, Apfelstrudel und Sahne.

Politische Justiz in der Weimarer Republik am Beispiel der Schriften von Kurt Tucholsky. Das war das Thema der Abschlussarbeit des Mädchens, das, eingehängt in den jungen Mann, nun ihrem Haus, ihrem Tucholsky-Archiv, zusteuerte.

Das Mädchen hieß Ilse und war 18 Jahre alt. Eine Schülerin, der man wohl zugetragen hatte, dass die Witwe und Alleinerbin des großen Schriftstellers niemanden abweisen würde, der sich mit dem Werk Tucholskys beschäftigte. Auch wenn es sich, wie in ihrem Fall, nur um eine abschließende Schularbeit handelte.

Der junge Mann, der sie begleitete, war ein Jahr älter als das Mädchen und hieß Klaus Lott. Sein Berufsziel hatte mit Literatur wenig zu tun.

»Ich habe mich an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen einschreiben lassen«, hatte er ihr verraten, aber dann gleich eingeflochten, einiges von Tucholsky gelesen zu haben, zuletzt den Sammelband: Panther, Tiger und Co.

Der junge Mann gab sich schüchtern, aber interessiert; das Mädchen dagegen sprühte vor Begeisterung über die vollgestopften Bücherregale, wo auf jedem Buchrücken der Name Kurt Tucholsky prangte.

»Nur im Klo sind keine Bücher, sonst überall!«, sagte die Witwe und amüsierte sich über Ilses Staunen. Und verriet: »Unterm Dach liegen alle derzeit verfügbaren Ausgaben der Weltbühne, da finden wir einiges zum Thema Politische Justiz.«

Ilse griff jetzt nach Lotts Hand und drückte sie.

Diese Aufregung: Kurt Tucholsky! Allein der Name! Und nun saß sie der Frau gegenüber, die eine Zeit lang mit ihm gelebt und die er zur Alleinerbin bestimmt hatte.

Lott nickte Ilse zu, als müsse er den Grund ihrer Freude bestätigen. Auch er war ja von der Erscheinung der etwa 70-Jährigen angetan. In ihrem dunkelblauen Sommerkleid wirkte sie, trotz des ergrauten Haares, jugendlich. Die Dauerwelle zwar streng, doch die Augen, das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, enttarnten diese vorgetäuschte Strenge. Ihr Halsschmuck eine Perlenkette, dazwischen, wie zum Zeichen ihrer allgegenwärtigen Schaffensfreude, ihre Lesebrille.

Der Kaffee in Ilses Tasse wurde kalt. Mit Mühe zwang sie kleine Gabelstücke des Apfelstrudels in sich hinein. Zu sehr war sie von all den Schriften und Zeugnissen des großen Schriftstellers, durch das die Witwe sie jetzt führte, gebannt. Tucholsky sogar in Blindenschrift.

In den Räumen harrte die Erinnerung aus vielen Jahren, in denen Mary Tucholsky das Archiv aufgebaut hatte. Tucholskys Nachruhm, so schien es, ist allein ihr Werk.

»Ich arbeite 16 Stunden am Tag«, sagte die Witwe beiläufig, während sie aus einem der Regale einen Sammelband hervorholte.

»Politische Justiz«, murmelte sie, »da werden wir fündig.«

Sie blätterte darin, lächelte Ilse wie einer Komplizin zu, als sich Marys Stimmung plötzlich veränderte.

»Sie kennen doch Tucholskys Treppe?«, fragte sie suggestiv.

Ilse nickte. Und sagte: »Schreiben – sprechen – schweigen.«

»Von Schreien ist da keine Rede! Das Wort Schreien kommt in seiner Treppe nicht vor. Und schreit ein Schwan überhaupt?«

Ilse und Lott schauten sich verwundert an.

Mary Tucholsky ging zum Fenster und blickte hinaus.

Warum fange ich jetzt davon an? Was haben die jungen Leute damit zu tun! Vielleicht weil die Sache kriminell ist? Und dieser junge Herr …?

»Ich verstehe Sie nicht«, meldete sich Ilse kleinlaut.

Mary Tucholsky hob und senkte die Achseln, unschlüssig, ob sie über das, was sie in der vergangenen Stunde umtrieb, reden sollte. Der Brief, den sie bekommen hatte. Ein Hans Müller bot ihr darin ein bislang unveröffentlichtes Manuskript von Tucholsky an. »Es ist Kurt Tucholskys Vermächtnis, umfasst 150 Seiten und heißt ›Schwanenschrei‹. Geschrieben im letzten Jahr in Hindas.« Sie hätte es für einen Scherz gehalten! Aber Name und Adresse des Absenders waren ihr ein Stich ins Herz gewesen: Florhofgasse 1 in Zürich. Das war die Anschrift der Ärztin Dr. Hedwig Müller gewesen, Tucholskys Nuuna, die Freundin seiner letzten Jahre. Über die Florhofgasse war einst Tuchos ganze Post gegangen. Ein Versteckspiel vor den Nazis, die nicht wissen durften, dass er in Schweden lebte. Aber Tucho hatte sich auch Nuuna in vielen Briefen anvertraut.

Mary Tucholsky wendete sich wieder den beiden jungen Leuten zu.

»Schreit ein Schwan überhaupt?«, sagte sie noch einmal, suggestiv fragend. Und fügte an: »Außerdem weiß ich nicht, wie Tucholsky überhaupt zu Schwänen stand.«

Ilse schaute sie ratlos an.

»Jemand hat mir ein Manuskript angeboten. Für unverschämt viel Geld natürlich. Tucholskys letzte Schrift, angeblich sein Vermächtnis. Und das soll Schwanenschrei heißen.« Marys Stimme überschlug sich. »Nicht Schwanengesang sondern Schwanenschrei!«

Ihre Lippen begannen zu beben, dann seufzte sie: »Was wissen wir schon über Schwäne?«

»Man sagt, Schwäne wären einander treu, auch über den Tod hinaus«, erklärte Ilse zögerlich.

Mary lachte auf. »Schwanenschrei! Für diesen Unsinn gibt es nur ein einziges Wort: indiskutabel!«

Dann aber drängte die Witwe die beiden zu einem abrupten Aufbruch.

»Die Arbeit wartet«, erklärte sie.

Ilse verstand und bedankte sich.

»Wenn Ihnen noch Material für Ihre Arbeit fehlt, rufen Sie an.«

»Das mach ich bestimmt«, sagte Ilse.

Bereits der Tür zugewandt, hielt Mary Tucholsky die beiden noch einmal zurück und flüsterte: »Ich bitte Sie beide, verlieren Sie kein Wort darüber, was ich Ihnen über dieses angebliche Manuskript erzählt habe.«

Lott und Ilse nickten. Beide ein wenig stolz, nun Geheimnisträger zu sein.

Im selben Moment zog die Witwe ein schmales Bändchen aus dem Regal neben ihr, schrieb etwas auf das Schmutzblatt und reichte es dem jungen Mann.

»Vielleicht lösen Sie ja einmal einen solchen Fall«, sagte sie lächelnd und gab Lott die Hand. »Leben Sie wohl.«

Lott grinste, wurde rot und verabschiedete sich artig.

Draußen zeigte er Ilse das Buch. Es hieß: Nachher. Auf der Innenseite die Widmung:

Für Klaus Lott, der irgendwann ein Kriminalkommissar sein wird.

Herzlich

Mary Tucholsky

Rottach, 6.9.69

*

Kapitel 1 – Der Anruf

Lott erkannte ihre Stimme sofort. Und das nach mehr als 40 Jahren.

»Ilse?«

»Klaus? Ja grüß dich Gott!«

Lott erstarrte. Das waren auch damals schon ihre Grußworte gewesen. Und wie damals zog sie das Wort Gott dabei ganz nach oben, wo es allem Anschein nach ja auch hingehörte.

Ihre Stimme war der Jubel selbst.

»Wie geht’s dir? Was machst du? Arbeitest du noch?«

Sie fragte, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Klaus, ich weiß, das klingt geradezu ungeheuerlich, dass ich mich nach so langer Zeit, in der wir nichts, aber auch gar nichts voneinander gehört haben, jetzt bei dir melde.«

»Ich bin überrascht, eigentlich sprachlos«, stammelte Lott, fasste sich dann aber und fragte: »Wo lebst du denn jetzt?«

»Du wirst es nicht glauben, am Tegernsee«, antwortete Ilse. »In Rottach-Egern.«

Lott schluckte. Mit einem Male kamen ihm vertraute Bilder aus einer, wie ihm schien, fernen Vergangenheit hoch. Dennoch konstatierte er eher reserviert:

»Dann hat sich ja dein Traum erfüllt.«

Ilse schwieg, atmete aber hörbar. Eine Antwort darauf wollte sie ihm nicht geben, sagte aber stattdessen, nach einem Moment des Innehaltens, zögerlich: »Ich wende mich mit einer Bitte an dich.«

»Was kann ich für dich tun?«, fragte Lott mit scheinbar nachlässiger Routine, aber seine Hände zitterten dabei und sein Mund wurde trocken.

»Ich weiß, du bist ein berühmter Kriminalkommissar.«

Lott wehrte ab: »Berühmt sind nur die Kommissare im ›Tatort‹.«

»Doch, doch, ich hab dich gegoogelt, so nennt man das doch heute.«

Lott lächelte und gestand: »Das Internet ist auch nicht meine Welt, zumal ich seit diesem Jahr nicht mehr im Dienst bin.«

»Du bist in Rente?«

»Ich gehöre zum Glück noch zu denen, die mit 60 in Pension gehen dürfen, meine Nachfolger haben es da weit weniger gut, die müssen bis 62 und länger durcharbeiten.«

»Dann hättest du ja jetzt Zeit!« Ilses Ton geriet wieder ins Jubeln.

Lott schwieg, dann klopfte er vorsichtig an: »Um was geht es denn, Ilse?«

»Meine Tochter ist verschwunden.«

Ich habe auch eine Tochter, dachte Lott, fragte aber: »Hast du sie als vermisst gemeldet?«

»Die Polizei hier hält das für einen Witz.«

»Warum?«

»Du kennst die Verhältnisse hier nicht.«

Lott schluckte. Waren die Polizisten am Tegernsee denn so anders als hier?

»Deine Tochter ist wie alt?«, fragte er dann.

»35.«

Lott schwieg. Die Pause geriet ins Endlose.

Ilse durchbrach schließlich die Stille.

»Ich weiß, was du jetzt denkst, aber dem ist nicht so. Meine Sorge ist nicht unbegründet. Ich glaube, ihr ist etwas zugestoßen.«

»Worauf gründest du deinen Verdacht?«

»Die Sache ist etwas mysteriös. Es geht um das Tucholsky-Manuskript. Meine Tochter hat es angeblich gefunden.«

»Du meinst …« Mein Gott, wie lange war das denn her!

Ilse half ihm auf die Sprünge: »Du erinnerst dich? Das verschollene Manuskript, Kurt Tucholskys angebliches Vermächtnis. Wir waren bei Mary Tucholsky …«

»Schwanengesang«, unterbrach Lott Ilses Erklärung und korrigierte sich gleich selbst: »Nein, Schwanenschrei. Natürlich erinnere ich mich. Es waren unsere letzten gemeinsamen Tage.«

Ilse seufzte laut ins Telefon.

Lott wähnte sich in einem Film, den er vor 40 Jahren gesehen hatte.

Dann, nach weiterem Schweigen, fragte sie leise flehend: »Kommst du?«

»Lass mich eine Nacht darüber schlafen«, wich Lott aus.

»Okay, ruf mich an. Meine Nummer hast du ja jetzt auf deinem Display.«

Sie drückte ohne Gruß das Gespräch weg. Lott hielt den Hörer noch in der Hand, als Elli, seine Frau, zu ihm trat.

»Wer war das?« Ellis Frage klang misstrauisch.

»Ilse Steenpaß, eine Jugendfreundin, wir hatten vier Jahrzehnte lang keinen Kontakt mehr.«

»Und jetzt ruft sie dich an? Geht es um ein Klassentreffen?«

»Ihre Tochter ist verschwunden.«

»Und du sollst sie suchen?«

»Ja.«

»Mach dich doch nicht lächerlich.«

Elli gab sich plötzlich aufgewühlt, räumte geräuschvoll das Frühstücksgeschirr in den Schrank und schlug die Tür beim Hinausgehen ein klein wenig zu heftig zu. Das war ganz und gar nicht Ellis Art, die seit jeher unter Harmoniesucht litt. Der häusliche Friede, er war in Gefahr.

Lott legte das Telefon auf die Station zurück, starrte aus dem Fenster seiner Tübinger Wohnung, hinüber zu den Baumwipfeln, über denen sich ein spätes Gewitter zusammenbraute. Es war Mitte September.

Seit ein paar Wochen befand er sich im Ruhestand. Als Leiter des Dezernats für Sonderfälle bei der LPD Tübingen hatte er sich verabschiedet. Er war jetzt 60 Jahre alt, und sein Leben war an jenem Punkt angelangt, von dem er erwartete, noch mindestens ein Jahrzehnt lang in Ruhe und relativer Bescheidenheit sich mit all den Dingen beschäftigen zu können, für die ihm in seinen Dienstjahren die Zeit gefehlt hatte.

Bücher lesen, die er schon immer lesen wollte, Orte besuchen, die in seiner Sehnsuchtsdatei gespeichert lagen. Städte, die in Reichweite lagen. Wien, Paris, Rom. Und einmal vielleicht noch über den großen Teich nach New York. Venedig sehen und nicht gleich sterben. Aber auch das Ländle mit all den kleinen und großen Sehenswürdigkeiten, die quasi vor der Haustür lagen. Diese abzuklappern wie bis vor Kurzem die Termine in seinem Dienstplan, war doch eine sinnerfüllte Aufgabe.

Allerdings war er in seinem Pensionistendasein noch nicht wirklich angekommen. Gab sich noch allzu geschäftig, hatte noch dies und jenes zu erledigen, Steuergeschichten, Krankenkasse, eigentlich hatte er Angst vor dem Stillstand. Dabei war ihm dieses zu erwartende Leben, diese vorgegaukelte Freiheit in letzter Zeit wie ein Luftschloss vor der Nase herumgetanzt. Vor allem, seit Ellis Gesundheit mehr und mehr zu wünschen übrig ließ. Ihre immer häufiger auftretenden Panikattacken, als Folge ihrer Atemwegserkrankung, eine ständige Bedrohung darstellten.

Mit Elli ein paar Wochen auf eine Nordseeinsel, Langeoog, Wangerooge, oder auch auf einem dieser schwimmenden Seniorenheime durch das Mittelmeer schippern. Das würde ihren Bronchien guttun.

Auch was Flaubert betraf, dem in die Jahre gekommenen Golden Retriever, hatte er bereits Pläne geschmiedet. Ausgedehnte Spaziergänge, soweit die eigene lädierte Hüfte es zuließ, über die Wacholderwiesen der Schwäbischen Alb.

Zudem hatte Lott vor, von Tübingen wegzuziehen, wieder nach Ulm zurück, wo er geboren und aufgewachsen war und die meisten seiner Dienstjahre als Erster Kriminalhauptkommissar absolviert hatte. Dort waren doch seine und irgendwie auch Ellis Wurzeln. 30 ihrer Ehejahre hatten sie in der Münsterstadt verbracht.

Und nun dieser Anruf, der mit einem Male alle Pläne wieder hintenanstellte, wenn nicht gar über den Haufen warf.

Elli kam zurück. Ihr Gesicht zeigte rote Flecken, und sie atmete hektisch.

»Was wollte diese Frau wirklich von dir?«

»So wie ich gesagt habe, ich soll ihr helfen, ihre verschwundene Tochter zu suchen.«

»Gibt es dort, wo sie wohnt, keine Polizei? Wo wohnt sie überhaupt?«

»Am Tegernsee.«

Elli lachte schrill auf. Ihre Miene verfinsterte sich, ihre Augen blinzelten dabei aufgeregt.

Lott lächelte gequält und schüttelte den Kopf. »Elli, wir haben uns mehr als 40 Jahre weder gesprochen noch gesehen, auch nie geschrieben. Nicht einmal eine Karte zu Weihnachten oder zum Geburtstag.«

»Ihren Geburtstag weißt du also noch?«

»12. Mai«, antwortete Lott.

»Du kannst dir doch sonst keine Geburtstage merken.«

»Vier Monate nach mir. Das Datum hat sich mir irgendwie eingeprägt.«

»Soso«, zischelte die Ehefrau.

»Bist du etwa eifersüchtig?« Lott horchte auf.

»Du hast mir nie von ihr erzählt«, klagte Elli mit einem nicht zu überhörenden Vorwurf in der Stimme.

»Wir waren nur ein halbes Jahr zusammen. Ich war 19 und sie ein Jahr jünger oder auch älter, ich weiß es nicht mehr. Es war vor deiner Zeit.«

»Trotzdem hättest du mir doch irgendwann einmal von ihr erzählen können. War diese Liebe so einschneidend für dich gewesen, dass du sie ein Leben lang vor mir verschweigen musstest?«

»Elli, du siehst Gespenster.«

»Aber warum hast du nicht?«

»Anfänglich wollte ich dich vermutlich nicht beunruhigen damit. Und später war Ilse einfach kein Thema mehr. Ich hatte sie vergessen.«

»Oder verdrängt.«

»Wenn du so willst, bitte.«

»Aber was wollte sie wirklich von dir, nach 40 Jahren, wie du sagst. Das mit ihrer Tochter ist doch Unfug. Schließlich gibt es doch am Tegernsee auch so etwas wie eine Polizei.«

»Sie hat eine Vermisstenanzeige bei den Kollegen dort aufgegeben, aber die tun nichts, meinte Ilse. Deshalb hat sie mich gebeten zu kommen.«

Elli lachte künstlich. »Das ist doch ein Vorwand!«

Lott konnte nicht anders, als Elli sofort zu umarmen.

Sie waren beide in den Zeiten der sexuellen Revolution zusammengekommen, hatten gegenseitig jeden Seitensprung toleriert, Eifersucht war ein Fremdwort gewesen. Und nun, da die Gelegenheiten mehr als rar geworden waren, eiferte sie, wie man in Bayern sagt.

Elli sträubte sich halbherzig gegen Lotts Umarmung, ließ es dann aber geschehen, und als sie sich wieder von ihm befreit hatte, wisperte sie: »Bei mir hast du nur einen Konkurrenten, und das ist der Tod. Du aber ziehst die Weiber noch immer an. Sie spüren dein Testosteron.«

Lott fühlte sich geschmeichelt, erwiderte aber. »Du weißt doch am besten, wie es um mein Testosteron bestellt ist …«

Elli unterbrach: »Das zwischen uns hat sich halt aufgebraucht.«

»Es hat sich überhaupt aufgebraucht oder auf eine keusche Lebensfreude reduziert«, beruhigte Lott seine Frau.

Elli atmete tief durch und fragte vorsichtig an: »Wirst du fahren?«

»Ich werde eine Nacht lang darüber schlafen«, antwortete Lott.

Kapitel 2 – Der See

Hinter Finsterwald sah er den See. Er musste jetzt anhalten. Einfach weiterfahren, das ging nicht. Er stellte den Wagen an einer Einbuchtung ab und ging die wenigen Schritte zum Ufer hinunter. Das war er also, der Tegernsee, den er vor mehr als 40 Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Er blickte zum gegenüberliegenden Ufer. Die Namen wurden ihm wieder geläufig. Bilder und auch Wörter, vor so langer Zeit aufgesogen und irgendwo abgelegt in einem hinteren Winkel seines Vertrautheitsgedächtnisses. Jetzt tauchten sie plötzlich wieder auf; wie versunkene Schätze aus dem Meer plötzlich irgendwo an Land gespült werden. Kaltenbrunn. Gmund. Und wenn er in Richtung Rottach-Egern schaute, der Wallberg.

Jetzt konnte er auch die Erinnerungen nicht mehr im Zaum halten. Sie galoppierten los wie Pferde, die man ein Leben lang im Verschlag gehalten hatte und nun plötzlich freiließ: Der »Roßtag« am ersten Septembersonntag. Die Wanderung auf dem Leberghöhenweg. Das Ludwig-Thoma-Haus auf der Tuft’n und das Olaf-Gulbransson-Museum, in dem er ein Bändchen des norwegischen Karikaturisten erstanden hatte und es sich von der Witwe des Künstlers, Dagny Gulbransson, signieren ließ. Der Friedhof in Egern mit den Gräbern der Dichter Ludwig Thoma und Ludwig Ganghofer. Und dem Opernsänger Leo Slezak. Vom ersten Kuss bis in den Tod sich nur von Liebe sagen. Ach ja. Da war er also mit Ilse davorgestanden, die Grabinschrift lesend, und hatte gemeint, dass dies auch für ihn und Ilse gelten könnte. Eine Liebe, die ein Leben lang halten würde, die von Vergänglichkeit nichts weiß und die selbst den Tod überdauerte. Dass diese Liebe sich nach einem halben Jahr wieder aus dem Staub gemacht hatte, war nicht der Plan gewesen.

Man denkt oft, die Liebe sei stärker als die Zeit. Aber immer ist die Zeit stärker als die Liebe. Eine Tucholsky-Weisheit, an die sich Lott jetzt erinnerte. Er hatte nicht viel von diesem Schriftsteller gelesen, aber dieser Satz war ihm im Gedächtnis geblieben. Vielleicht, weil er eine Brücke zu Ilse war. Eine geheime Brücke, von der Elli nichts wusste, vielleicht nichts wissen durfte, die ihn aber in manchen Nächten, über die Jahrzehnte hinweg, in das Stückchen Vergangenheit führte, über das er nie gesprochen hatte. Nicht einmal, als Elli ihm das »Sudelbuch« schenkte, was ihm im Nachhinein grotesk erschien. Diese Verteidigung der Barriere zwischen Ilse und seinem folgenden Leben, die Ilses Anruf nun durchbrochen hatte.

Lott ging zum Wagen zurück, stieg ein und fuhr die wenigen Kilometer bis Bad Wiessee. Fußgänger drängten dort im Zentrum über die Straße, Kurgäste, Einheimische. Und eine Anzahl verschleierter Frauen, die der Kurklinik zuströmten.

Lott grinste. Die Zeit hat auch hier nicht haltgemacht. Linker Hand tauchte jetzt Abwinkel auf, auch dort war er mit Ilse gewandert. Gab es überhaupt einen Fleck im ganzen Tal, der ihn nicht an Ilse erinnern würde?

Er würde sie wiedersehen. Aber es würde kein Besuch werden, um Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Ilse hatte ihn gerufen, weil sie seine Hilfe brauchte. Ihre Tochter war verschwunden, die auf der Jagd nach einem bislang unbekannten Manuskript des Dichters Kurt Tucholsky gewesen war. Von dieser Jagd aber war sie nicht wieder heimgekehrt. Ihm aber hatte einst Mary Tucholsky das Geheimnis um dieses mysteriöse Manuskript anvertraut.

Ihm und Ilse.

Vor 40 Jahren.

Hinter dem Ort Weißach bog die Straße nach Rottach-Egern ab. Er las das Ortsschild. Und spürte, wie Schweißtropfen auf seiner Stirn perlten. Sonnenmoosstraße. Er vergewisserte sich, kramte den Notizzettel mit ihrer Adresse hervor und prägte sich die Hausnummer ein. An der nächsten Ampel musste er rechts abbiegen. Wenige Minuten noch, dann würde er Ilse, die vor mehr als vier Jahrzehnten seine Geliebte gewesen war, wiedersehen. Sein Herz klopfte. Der Klingelton seines Handys aber war lauter: Forever Young.

Elli war dran, fragte, ob er schon dort wäre.

»Ja«, sagte Lott, »ich bin soeben am Tegernsee angekommen.«

Elli atmete laut durchs Telefon und legte auf.

*

Sie umarmten sich, drückten ihre Körper aneinander. Eine Berührung nach so vielen Jahren empfand Lott als fremd und vertraut zugleich. Als sie einander wieder losließen, schaute er ihr tief in die Augen. Er wollte etwas sagen, aber da verschloss sie ihm den Mund. Ihr Kuss war hingehaucht, ein flüchtiges Tasten nach den Lippen des anderen. Danach war jede Bewegung geziert. Von beiden. Jeder hatte Angst davor, dem anderen zu nahe zu treten. Vier Jahrzehnte wogen schwer.

Lott wusste als Erster etwas zu sagen. »Du hast dich kaum verändert.«

»Du dich aber auch nicht«, antwortete Ilse.

Daraufhin lachten beide los, ertappt bei der jeweiligen Lüge.

Ilse brachte eine bereits offene Sektflasche und zwei Gläser, schenkte ein und sagte: »Willkommen in meinem Leben.«

Lott sagte nichts, stieß mit ihr an und nippte am Glas. Er mochte keinen Sekt, schon gar nicht um diese Tageszeit, trank jetzt aber aus Gefälligkeit.

Sie setzten sich gegenüber und schwiegen einander an. Jeder suchte im anderen etwas, das die 40 Jahre überdauert hatte.

Beide wurden fündig.

Es war das jeweilige Lächeln.

Ilses straffe Haut, die nur von wenigen Fältchen durchzogen war, fiel ihm auf. Ihr makelloser Teint, ihr Lippenrot, die gepflegten Hände, das von Friseuren rundum gewartete Haar, das kastanienbraun schimmerte. Sie musste viel Zeit und Aufwand für dieses Aussehen investiert haben.

Lotts Blick fiel, als er sich von Ilse kurz abwandte, jetzt auf das Porträtfoto einer jungen Frau. Es hing in einem hellen, schmalen Holzrahmen über einer bemalten Bauerntruhe.

»Ist das deine Tochter?«

»Ja, das ist Marie.« Ilse lächelte stolz. Wurde dann aber schnell wieder ernst.

»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«, fragte Lott.

»Bevor sie nach Japan geflogen ist, das war vor sieben Wochen. Aber telefoniert haben wir vor genau 29 Tagen miteinander. Sie hat mich gleich nach ihrer Rückkehr vom Münchner Flughafen aus angerufen.«

»Was hat sie gesagt?«

»Mama, ich bin wieder da.«

»Und weiter?«

»Ich hab sie gefragt, ob ich sie vom Flughafen abholen soll. Da hat sie gelacht, und ich habe mir vorgestellt, dass sie den Kopf dabei schüttelt, während sie mir zu verstehen geben wollte, dass sie schon allein zurechtkomme.«

»Mehr nicht?«

»Bevor sie das Gespräch weggedrückt hat, machte sie noch eine etwas dubiose Andeutung wegen des Manuskripts.«

»Was genau hat sie gesagt?«

»Mama, die Dinge sind nicht so, wie sie sind. Und wie sind sie, habe ich zurückgefragt. Sensationell! Das hat sie richtig in den Hörer gebrüllt. Ich war neugierig. Ja, ich platzte förmlich vor Neugierde. Tuchos verschwundenes und wieder aufgetauchtes Manuskript war ja schließlich meine Baustelle gewesen. Aber sie hat mich hingehalten, hat: Überraschung, Mama!, gebrüllt und dann einfach aufgelegt.«

»War sie dabei allein, oder war jemand bei ihr?«

»Ich glaub, jemand hat im Hintergrund ihr Gespräch mitangehört. Ich hab das gespürt, man spürt so etwas ja, wenn etwas so gefiltert rüberkommt. Ein Freund vielleicht, der sie abgeholt hat. Sie klang auf jeden Fall schrecklich aufgedreht. Aber das lag wohl auch an dem Umstand, dass sie jetzt wieder hier war, nach sechs Wochen, in denen wir lediglich ein paar Mal miteinander telefoniert hatten.«

»Du sagtest, sie wäre wegen des Manuskripts nach Tokio geflogen?«

»Es ist eine Spur, hatte Marie gesagt. Die erste halbwegs glaubwürdige, seit ich ihr den Floh mit dem Tucholsky-Manuskript ins Ohr gesetzt habe. Schwanenschrei. Das Gerücht darüber geistert nun seit vier Jahrzehnten immer wieder durch die literarische Gerüchteküche. Kannst du dich noch erinnern? Damals, als wir bei Mary Tucholsky waren.«

»Natürlich erinnere ich mich«, entgegnete Lott. »Das hab ich dir doch schon am Telefon gesagt. Es gab Apfelstrudel zum Kaffee, und dich hat sie durchs ganze Archiv geführt, nur weil du ein Referat über Tucholsky halten solltest.«

Ilse schnaufte. Dann stand sie plötzlich auf, holte das Foto von der Kommode und reichte es Lott.

»Bitte finde meine Marie. Die Ehe, die ich geführt habe, war nicht immer leicht, da war Marie mir immer ein Lichtstrahl gewesen. Und ist es noch immer.«

Lott betrachtete das Bild der jungen Frau. Dunkelbraunes kurzes Haar, braune Augen, ein herausfordernder Mund mit geschwungenen Lippen. Lott glaubte, in dieser Aufnahme auch die Züge der Mutter zu erkennen.

»Ich habe natürlich noch jede Menge Fotos, auf denen die ganze Marie zu sehen ist. Sie ist größer als ich, hat eine etwas kräftigere Figur, wie ich sie in ihrem Alter nicht hatte, aber die hat sie wohl von ihrem Vater geerbt.«

Ilse lächelte bitter. Über ihre Wangen kullerten einzelne Tränen, die sie mit dem Handrücken stoppte und wegwischte. Dann machte sie Anstalten, sich zusammenreißen zu wollen, und sagte mit burschikosem Anstrich: »Jetzt führe ich dich aber erst einmal durchs Haus und zeig dir auch, wo du schläfst.«

»Soll ich nicht ins Hotel?«

Ilse schüttelte vehement den Kopf. »Wir haben hier sechs Gästezimmer. Du kannst dir auch gerne ein anderes aussuchen, wenn dir das, was ich für dich gedacht habe, nicht gefällt. Aber Hotel kommt nicht infrage. Das Haus hier ist so groß. Wir könnten uns darin ohne Anstrengung wochenlang aus dem Weg gehen.«

Lott errötete und folgte Ilse ins für ihn vorgesehene Gästezimmer. Es war geräumig mit zwei Fenstern und einer Balkontür nach Süden. Rustikal möbliert, mit einem bemalten Bauernschrank an der Seite und einem wuchtigen Doppelbett in der Mitte. Original Tegernseer Möbelschreinerarbeit.

Lott sah sich um. So, hatte er damals, als er mit Ilse zusammen war, geträumt, würde ich gerne wohnen. Aber der Traum hatte sich so schnell wieder aufgelöst wie der Frühnebel an jenem Tegernseer Frühherbsttag, an dem sie gemeinsam zum Roßwandweg gewandert waren, um Mary Tucholsky zu besuchen.

»Ich hol dir dein Gepäck«, bot Ilse sich an und riss Lott aus seinen Gedanken.

»Lass nur, ich mach das schon«, wehrte Lott ab, ging durchs Zimmer und öffnete die Tür zum Balkon. Er machte einen Schritt nach draußen und atmete kräftig durch. Und hörte vom Fuß des Wallbergs her das brunftige Röhren der Hirsche.

*

Als sie sich später in dieser Wohnlandschaft, die Ilse als ihr Wohnzimmer bezeichnete, wieder gegenübersaßen, suchten beide nach einem Anfang.

»Erzähl mir von deiner Tochter«, sagte Lott schließlich.

Ilse wehrte ab. »Lass uns erst über uns reden.«

Aber dann schwieg sie.

Und Lott auch.

Sie schauten einander an und flohen dann den gegenseitigen Blick. Ein Glastisch stand zwischen ihnen. Vielleicht hätte Ilse sonst nach seiner Hand gegriffen oder er nach der ihren.

Ilse schien Lotts Gedanken zu ahnen. Lächelnd sagte sie: »Es war wie Glas zwischen uns.«

Lott verstand nicht.

»Es ist die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky. Klaus Bellin hat sein Buch über die beiden so genannt. ›Es war wie Glas zwischen uns‹.«

Lott lächelte und versprach: »Ich werde es lesen.«

»Zwischen uns steht nicht Glas, sondern stehen vier Jahrzehnte«, seufzte Ilse. »Auch zu viel Erinnerung lässt sich manchmal schwer in Worte packen.«

Lott half ihr auf die Sprünge: »Wir haben uns getrennt, ohne miteinander Schluss zu machen.«

Ilse griff den Faden auf: »Die Anrufe wurden seltener, und plötzlich gab es sie überhaupt nicht mehr.«

»Ich wohnte noch bei meinen Eltern, aber zum Telefonieren bin ich immer zur Telefonzelle gegangen. Die sollten schließlich nicht mithören, was ich alles zu dir sage. Wenn du mich angerufen hast, musste ich meine Mutter immer aus dem Zimmer bitten.«

»Gab es die Telefonzelle plötzlich nicht mehr?« Ilse lächelte herausfordernd, ohne auf eine Antwort zu warten.

»Ich, liebe Ilse, ich war es, der zuletzt angerufen hat«, wehrte sich Lott.

Sie widersprach nicht. Stattdessen sagte sie: »Ich hatte mich in einen Kommilitonen verliebt.«

»Du gingst doch noch zur Schule!«

»Ich war gerade fertig damit und hab gleich zu studieren begonnen. Fred war mir schon zwei Semester voraus. Aber das ging nicht lange. Er wollte nach Berlin, ich aber nicht. Da habe ich gemerkt, dass das mit Fred nur ein Strohfeuer war. Damals wollte ich dich anrufen, zu dir zurückkommen vielleicht, wenn du gewollt hättest. Jeden Tag hab ich an dich gedacht, aber dich anrufen, das hab ich mich nicht getraut.«

Nun war es Lott, der seufzte. »Bei mir war das ähnlich. Bis ich Elli kennenlernte, mit der ich bis heute verheiratet bin.«

»Vom ersten Kuss bis in den Tod sich nur von Liebe sagen«, zitierte Ilse, nicht ohne Ironie, die Inschrift auf Slezaks Grabstein.

»Wenn du so willst? Im Großen und Ganzen war das schon so.«

»Dann warst du deiner Frau die ganze Zeit über treu?«

Lott stockte. »Das nicht gerade, weißt du, es waren die wilden 70er und da fanden die 68er eigentlich erst statt. Freie Liebe oder wie immer wir den Quatsch auch nannten. Es waren die Ausreden für einen Seitensprung, für außereheliche Erfahrungen, wie wir das auch nannten. Ehrlich gesagt hockte tief in uns aber immer auch der kleine Teufel Eifersucht. Und im Grunde genommen waren wir auch nicht besser als die Spießer, die den Fasching brauchen, um legitim eine Sau rauszulassen.«

Ilse sagte eine Weile nichts, dachte wohl über Lotts Äußerungen nach. Dann fragte sie, um bewusst das Thema zu wechseln: »Und beruflich, wie ging es da weiter mit dir? Steil bergauf, kann ich mir denken.«

»Damals, unmittelbar nach unserer Zeit, habe ich in Villingen-Schwenningen an der Polizeihochschule studiert. Sechs Semester lang bis zum Abschluss. In Ulm kletterte ich dann wirklich die Karriereleiter hoch bis zum Ersten Kriminalhauptkommissar im Dezernat für Kapitalverbrechen.«

»Leiter der Mordkommission also«, fügte Ilse bewundernd ein.

»Wenn du so willst, ja. Nach der Polizeireform, die einiges durcheinandergebracht hat, bin ich zur Landespolizei nach Tübingen gewechselt und habe dort das Dezernat für Sonderfälle geleitet.«

»Aber in Ulm hast du jede Menge Mordfälle gelöst? Ich habe das gegoogelt.«

Lott fühlte sich geschmeichelt, dass Ilse, die in einem anderen Revier zu Hause war, davon gelesen hatte.

»Ich habe da jeweils eine Soko geleitet. Ja, es ist richtig, Ulm hat mich nie ganz losgelassen.«

»Und der Tegernsee?«

»Der ruhte wohl, um es etwas schmalzig auszudrücken, in den Regalen meiner Erinnerung, Und das mehr als 40 Jahre lang.«

»Bis vor zwei Tagen«, korrigierte Ilse ihn lachend.

Lott legte eine kleine Pause ein, ehe er bei Ilse nachhakte: »Und was war mit dir? Gab es da auch eine berufliche Karriere?«

»Mich hat der Tegernsee nicht losgelassen«, antwortete Ilse. »Dort hab ich den Max Strasser kennengelernt. Er war damals schon ein erfolgreicher Bauunternehmer und Lokalpolitiker, hatte die Firma von seinem Vater übernommen. Er hätte genauso gut von der Schule weg gleich in Rente gehen können, so viel Geld hatten die. Aber der Max war ein Macher. Er hat den Tegernsee mit Zubauen helfen.«

Lott glaubte, einen Vorwurf darin zu hören. Und fragte direkt: »Da schwingt doch eine leise, aber nicht zu überhörende Kritik mit. Hast du ihn denn nicht geliebt?«

»Ich glaub, ich hab ihn mehr bewundert als geliebt. Nicht so, wie man einen Dichter bewundert. Nicht so, wie Mary ihren Tucholsky bewundert hat. Es war mehr der Respekt vor einem, der solch eine Macht hat. Der mit entscheiden konnte, wer wo was bauen durfte oder nicht.«

»Dann hast du ihn wegen des Geldes geheiratet?«

»Das nicht gerade. Er hatte Charme. Außerdem bot sich mir plötzlich die Möglichkeit, am Tegernsee leben zu dürfen. Und das ohne jede Einschränkung, wie ich glaubte.«

»Hast du zu Ende studiert?«

»Das schon, mein Studium an den Nagel hängen, kam nicht infrage. Ich habe sogar promoviert.«

»Lass mich raten, dein Thema war Kurt Tucholsky?«

»Nein, das ging aus irgendwelchen Gründen nicht. Ich glaube, da gab es zu viel Konkurrenz und schon einige Anwärter darauf. Mein Thema hieß: Die literarisch-politische Publizistik in der Nachkriegszeit 1945-1950. Da hab ich freilich Tucholsky nicht außen vor gelassen. Hab immer wieder einen Spagat zur WeimarerRepublik gewagt.«

»Dann muss ich dich wohl mit Frau Doktor anreden?«

Ilse lachte. »Nein. Niemand im Tal weiß davon. Und Mary Tucholsky, die es gewusst hat, hat es mit ins Grab genommen.«

»Warum hast du ein Geheimnis daraus gemacht?«