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Ein irischer Dorfpolizist E-Book

Graham Norton

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Beschreibung

Duneen liegt wirklich am Arsch der Welt, ganz, ganz unten im Süden Irlands. Große Dramen finden in dem schmucken, kleinen Ort nicht statt, und trotzdem könnten viele Leute hier ein bisschen glücklicher sein. Sergeant PJ Collins war nicht immer so dick. Brid Riordan hat früher nicht so viel getrunken. Und auch Evelyn Ross glaubte einmal, ihr Leben könnte einen Sinn haben. Dann bricht der Tag an, als auf dem Grund der Burke-Farm Knochen gefunden werden. Menschliche Knochen. Und es ist vorbei mit der Ruhe, für PJ und einige andere in Duneen. Alte Wunden brechen auf, alte Lügen kommen ans Licht, neue Konflikte entbrennen, und während PJ zum ersten Mal in seiner Karriere einen richtigen Fall zu lösen versucht, überrascht er viele, die ihn zu kennen glaubten – am meisten sich selbst. «Ein großartiger Roman mit schön konstruierter Geschichte und der tröstlichen Botschaft, dass man Liebe finden kann, selbst wenn alle äußeren Umstände dagegen sprechen.» (Evening Standard)

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Seitenzahl: 415

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Ähnliche


Graham Norton

Ein irischer Dorfpolizist

Roman

Aus dem Englischen von Karolina Fell

Über dieses Buch

Duneen liegt wirklich am Arsch der Welt, ganz, ganz unten im Süden Irlands. Große Dramen finden in dem schmucken, kleinen Ort nicht statt, und trotzdem könnten viele Leute hier ein bisschen glücklicher sein. Sergeant PJ Collins war nicht immer so dick. Brid Riordan hat früher nicht so viel getrunken. Und auch Evelyn Ross glaubte einmal, ihr Leben könnte einen Sinn haben.

Dann bricht der Tag an, als auf dem Grund der Burke-Farm Knochen gefunden werden. Menschliche Knochen. Und es ist vorbei mit der Ruhe, für PJ und einige andere in Duneen. Alte Wunden brechen auf, alte Lügen kommen ans Licht, neue Konflikte entbrennen, und während PJ zum ersten Mal in seiner Karriere einen richtigen Fall zu lösen versucht, überrascht er viele, die ihn zu kennen glaubten – am meisten sich selbst.

 

«Ein großartiger Roman mit schön konstruierter Geschichte und der tröstlichen Botschaft, dass man Liebe finden kann, selbst wenn alle äußeren Umstände dagegen sprechen.» (Evening Standard)

Vita

Graham Norton ist Großbritanniens bekanntester Talkmaster, mit zahlreichen Preisen und einer internationalen Fangemeinde, die seinen bissigen Humor liebt. Geboren ist er in Dublin, aufgewachsen in West Cork. Heute lebt Norton in London. «Ein irischer Dorfpolizist» ist sein erster Roman, war ein großer Kritikererfolg, schoss sofort in die britischen Top Ten (über 100000 verkaufte Exemplare) und wurde mit dem Irish Book Award for Popular Fiction 2016 ausgezeichnet. Eine Fernsehserie ist in Vorbereitung.

Für Rhoda – endlich eins, das du lesen kannst!

TEIL EINS

1

Es war in der Einwohnerschaft von Duneen weitgehend akzeptiert, dass, sollte ein Verbrechen geschehen und es Sergeant Collins gelingen, den Täter festzunehmen, dieser Verhaftung wohl kaum eine Verfolgung zu Fuß vorausginge. Die Leute mochten ihn durchaus, und es gab im Grunde keine Beschwerden, aber es sorgte dennoch für einige Beunruhigung, dass die Sicherheit im Dorf von einem Mann abhing, dem schon beim Gang zur Kommunion der Schweiß ausbrach.

An diesem speziellen Morgen jedoch wirkte niemand übermäßig besorgt. In der Main Street war, da sie die einzige Straße war, am meisten los. Das Dorf hatte den Wintereinbruch noch vor sich, und doch sah Susan Hickey aus, als wollte sie zu einer Expedition in die Arktis aufbrechen. Sie kauerte unbeholfen mit einer Drahtbürste an ihrem Gartentor und versuchte, ein paar Rostflecken zu entfernen. Gleichzeitig zählte sie mit, wie viele Weinflaschen Brid Riordan behutsam in die Recyclingtonne legte. Sechzehn! Schämte sich diese Frau denn überhaupt nicht? Auf der anderen Straßenseite, vor dem Pub, hustete Cormac Byrne einen sehr befriedigenden Schleimklumpen heraus und spuckte ihn in hohem Bogen in den Rinnstein. Drüben bei der Telefonzelle sah der schmuddelige schwarz-weiße Collie auf, der den Lyons von der Autowerkstatt gehörte, überzeugte sich davon, dass alles genauso uninteressant war wie vermutet, und legte seinen Kopf zurück zwischen die Pfoten.

Vor O’Driscolls Laden, Poststation und Café in einem, hing das Polizeiauto tief über den Reifen und erweckte den Eindruck, schon länger nicht mehr vom Fleck bewegt worden zu sein. Auf dem Fahrersitz, den Bauch hinter das Steuerrad gezwängt, saß Sergeant Patrick James Collins. Die Namen hatte er bekommen, weil der Vater seiner Mutter, Patrick, genau sechs Wochen vor der Geburt ihres Sohnes gestorben und weil seine Mutter ein Riesenfan von James Garner war, dem Schauspieler, der die Hauptrolle in den Detektiv-Rockford-Filmen spielte. Sein Vater hatte den Familiennamen beigesteuert. Rückblickend war die sorgfältige Auswahl seiner Taufnamen vergebliche Mühe gewesen, denn jeder kannte ihn einfach nur als PJ.

PJ Collins war nicht schon immer dick. Er hatte an langen Sommerabenden in der Gasse hinter dem Laden seiner Eltern in Limerick zusammen mit den anderen Kindern herumgetobt. Sie hatten mit Blechdosen gekickt, Verstecken und Blindekuh gespielt. Das schrille Gelächter, Bezichtigungen wegen Schummelns und gelegentliches Heulen hatten die ruhige Abenddämmerung erfüllt, bis das Klappern eines Kochsiebs oder das Zischen bratender Zwiebeln sie zum Abendessen nach Hause gerufen hatte. Er vermisste dieses Gefühl, einfach dazuzugehören. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es war, nicht aufzufallen oder beurteilt zu werden. Die Pubertät hatte für ihn eine Kombination aus Hunger und Trägheit mit sich gebracht, die zu einer fetten Schwarte und zum Ende seines Daseins als Mitglied der Clique geführt hatte. Er hatte das Genörgel seiner Mutter nicht gebraucht, um mitzubekommen, was geschah, aber irgendwie und trotz andauernder heimlicher Schwüre, sein Gewicht unter Kontrolle zu bekommen, wurde er einfach nur immer dicker und dicker, bis er beim Schulabschluss schließlich das Gefühl hatte, abzuspecken läge jenseits seiner Möglichkeiten.

Im Rückblick erkannte er, dass er sich hinter seinem Umfang versteckt hatte, um sich nicht all den Bewährungsproben der Pubertät aussetzen zu müssen. Er musste den Mut, ein Mädchen nach einer Verabredung zu fragen, gar nicht erst zusammenkratzen, denn welche von den Margarets oder Fionas mit ihren langen weißen Hälsen und dem schimmernden Haar würde sich auf der Tanzfläche von seinen warmen, klammen Händen festhalten lassen wollen? Die anderen Jungs versuchten, sich gegenseitig mit schicken Ledersohlen-Schuhen oder schrillen Aufklebern auf ihren Fahrrädern zu übertrumpfen, doch PJ wusste, dass er, ganz gleich, was er tat, niemals eine coole Erscheinung wäre. Übergewichtig zu sein, hatte ihn nicht unbedingt glücklich gemacht, aber es hatte ihm eine Menge Herzschmerz erspart. Es hatte ihn ungeschoren davonkommen lassen.

Das Leben als Polizist behagte PJ. Er fühlte sich durch die Uniform und das Auto kein bisschen fremdartiger als ohnehin schon immer, und die strikte professionelle Distanz, die er zwischen sich und den Nachbarn aufrechtzuerhalten hatte, stellte für ihn keine große Herausforderung dar. Er starrte aus dem Fenster auf den langen, niedrigen Hügel, über den die Touristen zu der Küste und der Schönheit weiterfuhren, die ihnen dort versprochen worden war. In Duneen hielten die Leute nicht an. Zur Verteidigung der Durchreisenden sei gesagt, dass dazu auch kaum ein Grund bestand. Nichts hob das Dorf von irgendeinem anderen ab. Eingezwängt in ein sanftes grünes Tal, war die Straße von unregelmäßigen Reihen zwei- und dreistöckiger Häuser gesäumt, die vor langer Zeit in den Pastelltönen gestrichen worden waren, bei denen man gewöhnlich an Babykleidung denkt. Am Ende der Main Street führte eine alte Brücke über den Fluss Torne. Jenseits davon wachte eine gedrungene graue Kirche über einen niedrigen Hügel. Keine lebende Seele konnte sich an Zeiten erinnern, in denen es auch nur ein winziges bisschen anders ausgesehen hätte. Die Zeit verging nicht in Duneen; sie versickerte.

PJ tupfte mit dem befeuchteten Zeigefinger die Toastkrümel von seinem Oberschenkel auf, hob den Finger zum Mund und seufzte. Gerade elf Uhr vorbei. Noch gute anderthalb Stunden bis zum Mittagessen. Welcher Tag war noch mal? Mittwoch. Schweinekoteletts. Er ging davon aus, dass es auch den Rest Crumble vom Abend davor geben würde, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er ihn vorm Schlafengehen noch schnell im Stehen vor dem hohen Kühlschrank aufgegessen hatte. Bei dem Gedanken daran, wie seine Haushälterin Mrs. Meany die leere Kuchenform in der Spüle finden würde, errötete er leicht. Sie würde vor sich hin schimpfen, während sie die Form unter heißem Wasser spülte, und gleichzeitig schon planen, welches Zuckerzeug sie als Nächstes aus dem Hut zaubern würde, um ihn in Versuchung zu führen. Ohne sie wäre er garantiert nur halb so dick. Ganz bestimmt würde ihm ein Sandwich zum Mittag genügen. Er brauchte keine zwei Hauptmahlzeiten und schon gar keine zwei Nachtische. Das warme Frühstück jeden Morgen aß er nur, weil sie es ihm vor die Nase stellte, bevor er protestieren konnte. Sein Arm zuckte, als er sich vorstellte, wie er die Kühlschranktür gegen ihre schmale Gestalt knallen ließ, sodass sie auf den Boden fiele, fortan nicht mehr imstande, ungläubig die Augen aufzureißen, wenn sie seinen Teller abräumte. «Tja, da muss man nicht fragen, ob Ihnen das geschmeckt hat, Sergeant!»

Ein Klopfen an der Seitenscheibe unterbrach seine rabiate Träumerei. Es war Mrs. O’Driscoll selbst, die aus dem Laden gekommen war. Normalerweise war es ihre Tochter, Maeve, oder das magere polnische Mädchen, dessen Namen er vergessen hatte, nach dem erneut zu fragen ihm jedoch zu peinlich war. Er drehte den Zündschlüssel, drückte auf die Taste, um das Fenster herunterzulassen und räusperte sich. Er hatte seit seinem Abschied von Mrs. Meany um Viertel vor neun mit niemandem gesprochen.

«Das Wetter ist wieder recht schön geworden.»

«Ja, Gott sei Dank. Ich habe Ihnen eine Tasse Tee gebracht, um Ihnen das Aussteigen zu ersparen.»

Mrs. O’Driscoll entblößte ihre kleinen, gepflegten Zähne und lachte. Sie war einfach nur freundlich, und doch klang sie für PJ wie eine Frau, die einen fetten, in den Fahrersitz gequetschten Mann wie ihn auslachte, während sie sich in ihrer eigenen schlanken Figur aalte. Sie streckte ihm eine dampfende Tasse samt Untertasse entgegen. Dann schoss ihr anderer Arm vor und hielt ihm einen Teller mit einem marmeladebestrichenen Scone vors Gesicht.

«Sie sind frisch aus dem Ofen, und die Marmelade ist von der Pfarrersfrau.»

«Sie sind zu freundlich», sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. Wusste irgendjemand, dass ein simpler Scone eine derartige Gefühlsverwirrung hervorrufen konnte? Er fühlte sich gleichzeitig bevormundet, wütend, gierig, hungrig und unterlegen.

«Lassen Sie es sich schmecken, und keine Sorge, ich schicke Petra in einer Minute, um den Teller abzuholen. Sie machen ja bestimmt kurzen Prozess damit!» Noch ein Lachen, dann eilte sie über den Gehweg zurück in den Laden.

PJ stellte die Teetasse auf den Beifahrersitz und nahm den Scone in die Hand. Er zwang sich, ihn mit zwei Bissen aufzuessen statt mit einem, und leckte sich die Marmelade aus den Mundwinkeln. Teller abgestellt, Untertasse hochgenommen, schlürfte er einen Schluck Tee. Im Radio stellte der Moderator Quizfragen zu Kinofilmen. Nennen Sie die originalen Ghostbusters. Tja, das ist nicht schwer. Bill Murray, Dan Aykroyd und … wie hieß noch mal der andere? Er schloss die Augen, um sich den Schauspieler vorzustellen, doch stattdessen beschwor er das grinsende Gesicht Emma Fitzmaurices herauf. Sie hatten sich damals zu Ghostbusters verabredet. Er spürte die Verlegenheit durch seinen Körper wallen, als hätte das alles erst am Abend zuvor stattgefunden. Seine unbeholfenen Bemühungen, sich schräg auf den schmalen Kinosessel zu setzen, damit er versuchen konnte, ihr den Arm um die Schultern zu legen. Und wie sie ihn dann angesehen und gelacht hatte. Ohne sich wenigstens ein bisschen Mühe zu geben, seine Gefühle nicht zu verletzen, es war einfach nur blanker Spott. Warum hatte sie seine Einladung überhaupt angenommen? Ganz gleich, wie peinlich oder demütigend ein Nein hätte sein können, es wäre immer noch besser gewesen, als geradeaus auf die Leinwand zu starren und dabei die Tränen zu unterdrücken, während neben ihm ihre Schultern zuckten. Diesen Fehler hatte er niemals wieder begangen.

Erneut wurde an die Seitenscheibe geklopft. Er drehte sich um und erwartete … wie zum Teufel hieß sie gleich noch? … doch stattdessen hatte er ein Gesicht vor sich, das er nicht kannte. Einen großen Mann Ende vierzig mit wettergegerbter Haut und einem rasierten Schädel, der die Kahlheit verbergen sollte, die viel zu früh eingesetzt hatte. Er trug eine hellgelbe Warnweste, und unter den Arm hatte er einen Schutzhelm geklemmt. PJ vermutete, dass er auf der Baustelle oben hinter der Grundschule arbeitete, wo eine neue Wohnsiedlung errichtet wurde. Die Scheibe glitt herunter.

«Sergeant. Der Vorarbeiter hat mich runtergeschickt. Wir haben da oben was gefunden.» Der Bauarbeiter hob die Hand in die ungefähre Richtung der Schule.

Das war ein gutes Gefühl. Er wurde gebraucht. Nach einem Schluck Tee in aller Ruhe sah PJ auf und fragte: «Und was genau?»

Die Ermittlung hatte begonnen.

«Vielleicht ist es auch gar nichts. Einer von den Jungs hat gesagt, einfach weitermachen, aber ich und der Vorarbeiter dachten, da sollte besser mal jemand einen Blick drauf werfen.»

«Richtig so, ich fahre rauf. Wollen Sie mitfahren?»

«Oh danke. Das mach ich.»

PJ fiel ein, dass er die Tasse und die Untertasse in der Hand hielt, und natürlich war da auch noch der Teller. Das war unangenehm. Das war nicht der gewandte moderne Polizeibeamte, der er sein wollte. Er zögerte einen Moment, dann rief er sich ins Gedächtnis, dass er ein Sergeant war und dieser Mann ein einfacher Arbeiter. Er streckte ihm das Geschirr entgegen.

«Würden Sie das hier mal schnell für mich in den Laden zurückbringen, guter Mann?»

Der Bauarbeiter rührte sich nicht. Würde er nein sagen? War er beschränkt? Doch dann nahm er wortlos die Sachen, brachte sie in den Laden, kehrte zurück und stieg auf der Beifahrerseite ein. Als er im Auto saß, schien er viel breiter zu sein, als er auf der Straße gewirkt hatte. Ihre Schultern berührten sich. Als Sergeant Collins den Motor anließ und zurückstieß, legte er die Hand hinter den Beifahrersitz, damit er besser durch die Heckscheibe sehen konnte. Das umständliche Manöver, die Nähe eines anderen warmen Körpers – mit einem Schlag fühlte er sich zurückversetzt in die Dunkelheit des Kinos, neben Emma. Aber dieses Mal, dachte PJ, lacht keiner.

Das Auto rollte mit sattem Reifenknirschen auf dem Kies rückwärts und fuhr nach einem glatten Gangwechsel schnell die Straße entlang, den Hügel hinauf zum östlichen Teil des Dorfes, vorbei an der Schule und weiter bis zu dem Gelände, das einmal der Bauernhof der Burkes gewesen war. Susan Hickey und der Collie sahen auf, als der Polizeiwagen verschwand und nur die Wolke aus uraltem Staub zurückließ, die er aufgewirbelt hatte. Sergeant Collins entschlüpfte ein Grunzen. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich gut. Er fühlte sich wie ein Gewinner.

2

Noch bevor das Motorengeräusch des Polizeiautos verhallt war, wurde die Tür des O’Driscoll-Ladens geöffnet, und Evelyn Ross trat auf die Straße. Mit ihrem hellroten Wollmantel, dem Weidenkorb und der dunkelblauen Baskenmütze wirkte sie auf der Hauptstraße von Duneen völlig fehl am Platze. Groß, mit kastanienbraunem Haar und diesen feinen Gesichtszügen, die es sehr schwer machten, ihr Alter zu schätzen – um die vierzig? –, war dies der Typ Frau, der Tennispartys in den Hamptons organisierte oder die Reiter vor einer Jagd mit Glühwein von einem Tablett versorgte, und nicht der Typ Frau, der an der Telefonzelle und der Tankstelle vorbeitrottete, ohne etwas anderes in seinem Korb zu haben als eine kleine Tüte Haferflocken und den wöchentlichen Southern Star. Sie ging mit sorgsamen Schritten über das kurze Stück mit unebener Pflasterung und knöpfte ihren Mantel auf. Es war unglaublich mild für Ende November. Der Collie folgte ihr ein paar Meter, doch dann schwenkte er Richtung Heimat auf den Vorplatz der Tankstelle ab. Susan Hickey sah nicht einmal auf.

Im Dorf und in den Ortschaften in der Nähe war Evelyn, was man «allseits bekannt» nennen könnte. Ohne dass sie prominent gewesen wäre, wusste doch jeder, wer sie war, und wenn nicht, bekam er es bald erzählt. Sie war eins der Ross-Mädchen von Ard Carraig. Es waren drei. Abigail, Florence und die Jüngste, Evelyn. Alle unverheiratet, lebten sie in dem großen Haus mit der Natursteinfassade etwa eine Meile außerhalb des Dorfes.

Ihre Eltern waren mit ihrem florierenden Bauernhof und anscheinend irgendwelchen Geldanlagen die wohlhabendsten Leute in der Region gewesen. Robert Ross hatte das Land eingebracht und seine Braut Rosemary, die einzige Tochter eines Bankmanagers in Cork, die Aktien. Alle hatten sich gefragt, wie die zarte junge Frau aus der großen Stadt auf dem Bauernhof zurechtkommen würde, aber sie war tatsächlich aufgeblüht. Bald gab es kaum noch ein Komitee oder einen Vorstand, die sich nicht rühmen konnten, Rosemary Ross als Mitglied zu haben.

Das junge Paar war überglücklich gewesen, als seine erste Tochter Abigail auf die Welt gekommen war, doch auch wenn sie es niemals aussprachen, hatte sich diese Freude in spürbare Enttäuschung verwandelt, als es auch beim dritten Mal ein Mädchen wurde. Das war doch ungerecht. Wo blieb ihr Sohn? Nach Evelyn folgten zwei Fehlgeburten und dann nichts mehr. In Robert machte sich das Gefühl breit, seine Frau litte unter seinem Verlangen nach ihr und einem Sohn. Die innigen feuchten Küsse wurden keusch, kaum dass sich ihre Lippen berührten, wenn er das Licht ausgeschaltet hatte. Zwei Menschen voller Liebe lagen in der Dunkelheit, doch beide glaubten, den anderen enttäuscht zu haben. Manche Ehen sind ein Lodern der Leidenschaft, andere sterben, und ein paar ziehen sich einfach zurück wie ein verwundetes, bezwungenes Tier.

Seltsamerweise war es der Krebs, der ihre Ehe wieder zum Leben erweckte. Während Rosemarys letzter Monate entdeckten sie und Robert, dass es ihre Liebe noch immer gab; dass sie nur unter Schichten von Missverständnissen und verpassten Gelegenheiten begraben war und darauf wartete, zutage gefördert zu werden wie diese perfekt erhaltenen Moorleichen. Natürlich blieben ihre Gefühle unausgesprochen, doch jede unaufgefordert gebrachte Tasse Tee mit zu viel Milch, jede tropfende Untertasse, die von abgearbeiteten, schmutzigen Fingern auf ihren Nachttisch neben ihren Rosenkranz gestellt wurde, sagten ihr, dass er sie noch immer liebte. Und in jenen dunklen, endlosen Stunden vor der Morgendämmerung erlaubte sie ihm, ihren mageren Körper zu halten, wenn sie schluchzte, und er begriff, dass auch sie ihn noch immer liebte.

Evelyns erster Schultag nach der Beerdigung ihrer Mutter war schwierig. Die meisten Mädchen gingen ihr aus dem Weg, unsicher, was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollten, und dann waren da noch die paar, die unter anderem hatten wissen wollen, ob sie die Leiche gesehen hatte. Es war eine Erleichterung, wieder beim Tor von Ard Carraig anzukommen, und als sie die baumgesäumte Zufahrt zum Haus entlangtrottete und ihr der Ranzen schwer auf dem Rücken hing, erlaubte sie es sich zu weinen. Sie hatte den ganzen Tag keine einzige Träne vergossen und wusste, dass ihre Mutter stolz auf sie gewesen wäre, aber jetzt, als sie die dunklen Fenster vor sich sah, war alles zu viel. Alles schien grau und trostlos und würde es für immer bleiben, weil ihre Mammy gestorben war.

Während sie um das Haus herum in den Hof ging, spürte sie, wie der frostige Wind ihre feuchten Wangen trocknete. Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie versuchte, den Moment hinauszuzögern, in dem sie die kalte, düstere Küche betreten musste. In der kein Radio lief und kein auf dem Kuchendraht auskühlendes Gebäck seinen Duft verbreitete. Als sie an der Hintertür war, bemerkte sie einen Lichtschein in der Werkstatt hinten am Hof. Über die Jahre sollte sie noch häufig diesen kurzen Weg nachvollziehen und jede Einzelheit durchdenken. Das Dutzend Schritte über die glatten Pflastersteine, ihre kleine Hand, mit der sie die schwere Holztür aufschob, von der die Farbe abblätterte, der Schatten auf dem Boden, der sich langsam von einer Seite zur anderen bewegte, die Arbeitsstiefel mit dem schmutzigen Sohlenprofil und einem offenen Schnürsenkel, die Hände, die noch am Morgen ihren Kopf gestreichelt hatten und nun schlaff herabhingen. Das Knarren des Stricks. Damit endeten ihre Erinnerungen. Sein Gesicht konnte sie nie sehen. Das Gesicht ihres Vaters, der einer Welt nicht ins Gesicht sehen konnte, in der es seine Rosemary nicht mehr gab.

Anfangs wusste niemand so genau, was aus den drei Ross-Töchtern werden würde. Frauen aus dem Dorf waren zu ihnen ins Haus gekommen, um für sie zu kochen, und mehrere Männer hatten sie bei der Planung der Beerdigung unterstützt, doch bald wurde den Leuten klar, dass ihre Anwesenheit weder gebraucht wurde noch erwünscht war. Die älteste Tochter, Abigail, übernahm die Verantwortung auf eine Art, die einen beinahe zu dem Gedanken verleiten konnte, sie hätte auf genau diese Situation gewartet. Sie kümmerte sich um die Verpachtung des Landes an einen Bauern aus der Umgebung, und mit diesem Geld konnte Florence auswärts eine Ausbildung zur Lehrerin machen. Evelyn führte den Haushalt, obwohl sie die Jüngste war, und übernahm den größten Teil des Putzens und Kochens. Sie hatte gedacht, dieses Arrangement würde irgendwann wieder enden, doch irgendwie fand sie nie den richtigen Zeitpunkt, um Abigail allein zu lassen; und dann, als Florence nach Duneen zurückkehrte, um in der Dorfschule zu unterrichten, schien es, als wären sie eben einfach dazu bestimmt, zusammenzubleiben, aneinandergefesselt durch Schwermut und ihr großes Haus, das keine einzige glückliche Erinnerung mehr barg.

Sechsundzwanzig Jahre später jedoch, als sie mit ihrem Weidenkorb die gleiche Zufahrtsstraße entlangging, dachte Evelyn Ross nicht an die Vergangenheit. Abigails Ladys sollten am Nachmittag zum Bridge kommen, und Evelyn überlegte, welches Abendessen sie auf dem Servierwagen mit dem Tee ins Wohnzimmer rollen sollte. Vielleicht würde sie das gute China-Porzellan mit den gelben Rosen nehmen. Oder war das übertrieben? Würde Abigail die Augen verdrehen? Evelyn beschloss, sich darum nicht zu kümmern. Das Geschirr war hübsch, und überhaupt, wozu schonten sie es? Welche Gelegenheit auf Ard Carraig wäre je besonders genug, um seine Benutzung zu rechtfertigen?

Als sie im Haus war, hängte sie ihren Mantel an den Ständer neben der Gefriertruhe, schaltete das Radio an und begann das Mittagessen vorzubereiten. Sie warf einen Blick auf die Uhr. 12:15. Florence wäre bald von der Schule zurück, und sie hatte es immer eilig. Die Suppe dampfte auf der Herdplatte, und die Sodabrot-Scheiben waren auf einen Teller gefächert, als sie das vertraute Pling der Fahrradklingel hörte, mit dem Florence hastig ihr Rad an die Wand neben der Hintertür lehnte. Gleich darauf eilte sie mit einem Schwall kalter Luft herein.

Von den drei Schwestern galt Florence als die hübscheste. Sie trug ihr hellbraunes Haar schulterlang und mit einem Seitenscheitel. Evelyn beneidete sie um ihre «Kurven», wie das in den Zeitschriften genannt wurde, allerdings tat Florence nichts, um ihre Vorzüge hervorzuheben. Die Schottenröcke und dicken Strickpullover, die den größten Teil ihrer Garderobe ausmachten, ließen sie immer ein wenig nach Schülersprecherin aussehen. Sie schien stärker außer Atem zu sein als gewöhnlich. Evelyn spürte sofort, dass sie Neuigkeiten mitbrachte.

«Riesenaufregung!»

«Was ist los?»

«Also, ich war gerade mit Geographie durch, als das Polizeiauto vorbeigerast ist.»

Florence hängte ihren Anorak über eine Stuhllehne und setzte sich. Sie nahm ein Stück Brot und legte eine Pause ein, um die Spannung zu steigern.

«Und?»

«Ich dachte mir zuerst nichts dabei, aber als ich gerade eben gegangen bin, habe ich es oben bei der Neubausiedlung stehen sehen. Ich wollte nicht neugierig erscheinen, also bin ich nicht raufgeradelt, aber als ich durchs Dorf kam, habe ich ein paar von den Bauarbeitern vor dem Laden gesehen, also hab ich angehalten und gefragt, was los ist. Da kommst du nie drauf!»

«Stimmt. Keine Chance», sagte Evelyn, während sie drei Suppenteller aus der Anrichte nahm. Dieses Spiel hatten sie schon öfter gespielt.

«Sie haben etwas gefunden, als sie die Fundamente ausgehoben haben, und sie glauben, es ist eine Leiche!»

Die Suppenteller zerschellten klirrend auf dem Boden, die Scherben flogen in sämtliche Richtungen auseinander.

3

Duneen hatte es irgendwie fertiggebracht, dem Internet durch die Maschen zu schlüpfen. Kein 4G, kein 3G, überhaupt kein Empfang. PJ starrte auf sein nutzloses Handy und wusste nicht recht, was er als Nächstes tun sollte. Es bestand kaum ein Zweifel daran, dass die Bauarbeiter eine Leiche ausgegraben hatten oder zumindest Teile davon. Den ersten Verdacht hatten lange weiße Knochen erregt, doch inzwischen hatten sie auf dem großen Hügel aus dunkler Erde Gesellschaft von etwas bekommen, das eindeutig ein menschlicher Schädel war.

Es war PJ bewusst, dass ihn der Vorarbeiter und die übrigen Männer, die in der Nähe herumstanden, erwartungsvoll ansahen. Sie standen vollkommen unbeweglich da, jeder mit der vorgeschriebenen neongelben Jacke, weiße Schutzhelme in prekären Winkeln auf dem Kopf. PJ hätte ein Würdenträger bei der Visite sein können oder der Pfarrer, der gekommen war, um die Arbeiten zu segnen. Er versuchte, den Schweißtropfen zu ignorieren, der ihm seitlich an der Nase hinabrann. Dies war ganz klar der Augenblick, um seine Autorität auszuüben, doch in Wahrheit wollte er nur eine übergeordnete Stelle kontaktieren. Das hier würde die Ermittlungen von Detectives erfordern, den Coroner, die Rollen mit dem Plastikband, das von der Garda Síochána, der irischen Nationalpolizei, bei Großereignissen benutzt wurde. Er musste irgendwo welches haben, aber nur Gott wusste, wo. Unklare Erinnerungen an seine Ausbildung in Templemore sagten ihm, dass man unter keinen Umständen einen Tatort unbewacht zurücklassen sollte, doch er wusste genauso, dass seine Knochen bleich wie die da unten wären, bis hier durch Zufall ein hochrangiger Polizeibeamter vorbeikäme. Er wandte den Blick von den Ausgrabungen ab, sah zur Schule hinüber, zog sein Notizbuch heraus, um Zeit zu gewinnen, und hoffte dabei inständig, den Eindruck zu vermitteln, dass er einem genau vorgeschriebenen Prozedere folgte.

Auf keiner Baustelle war es jemals so still gewesen. Eine Holztaube gurrte leise in einem Baum in der Nähe, und in der Entfernung hörte man einen Traktor im Leerlauf. Einer der Bauarbeiter unterdrückte ein Husten. Sollte er die menschlichen Überreste liegen lassen und weggehen, um Meldung zu machen, oder sollte er vor Ort bleiben und jemand anderen beauftragen, die Welt da draußen über das aufregendste Vorkommnis zu informieren, das es in seiner gesamten Berufslaufbahn je gegeben hatte? Mit einem Mal war er sicher. Er schlug das Notizbuch auf und sah den Vorarbeiter an.

«Haben Sie hier ein Seil?»

«Haben wir.»

«Gut, ich möchte, dass Sie diesen Bereich hier damit absperren, von der Stelle um die Knochen bis zur anderen Seite der Baugrube. Können Sie das für mich tun?»

«Kein Problem.»

«Außerdem müssen Sie mir dafür sorgen, dass absolut niemand diesen Bereich betritt», er begann zu seinem Auto zu gehen, «bis ich mit den …!»

Shit! Er hatte das Wort vergessen. Wie war es noch? Bitte, bitte, bitte, flehte er in Gedanken.

«Forensikern wiederkomme!», verkündete er ein bisschen zu laut und mit einem breiten Lächeln, das niemand verstand, abgesehen von ihm selbst.

 

Das Gebäude, das als Polizeiwache von Duneen diente, hatte sein Dasein als Bungalow eines pensionierten Lehrers angefangen; eine Schachtel mit Kieselrauputz, einer Tür in der Mitte und rechts und links davon je einem großen rechteckigen Fenster. Das ehemalige Wohnzimmer mit seinem pfirsichfarben gekachelten Kamin und der Decke mit Strukturputz beherbergte nun PJs Dienstsitz, die übrigen Zimmer waren seine Wohnräume. Einige Möbel hatten zur Grundausstattung gehört, die anderen waren eine Mischung aus Funden in Trödelläden und ein paar Stücken, die seine Schwester nicht genommen hatte, als ihre Eltern gestorben waren. Es war die Art planloser Inneneinrichtung, mit der man in einem heruntergekommenen Bed and Breakfast oder einem Altenheim rechnen kann. Nicht unbequem im Grunde, aber auch nicht besonders geeignet, um sich zu Hause zu fühlen.

PJ stellte das Auto in der kurzen Zufahrt ab. Hinter dem Haus lag ein langer, schmaler Garten, der sich bis zum Fluss erstreckte, was bedeutete, dass er in den meisten Wintern überschwemmt war, allerdings hatte es das Wasser bisher noch nie bis durch die Hintertür geschafft. Von Entschlossenheit erfüllt, manövrierte der Sergeant seine Massen mit relativer Geschwindigkeit um das Auto herum und zu dem schmalen Glasvordach. In der Luft hing der Geruch nach gebratenen Schweinekoteletts.

Mrs. Meany, ein Geschirrhandtuch in der Hand, erwartete ihn in der Diele. Die alte Dame war PJs Vollzeit-Haushälterin, wohnte allerdings allein in einem Cottage am anderen Ende des Dorfes. Sie hatte eine ganze Reihe von Jahren in Duneen als Pfarrhaushälterin gearbeitet, doch dann hatte sich Miss Roberts, die Direktorin des Hotels in Ballytorne, zur Ruhe gesetzt und Mrs. Meany gebeten, sich um sie zu kümmern, weil sie sonst niemanden hatte. Als Anreiz hatte sie ihr das Cottage in Aussicht gestellt. Das Arrangement hatte sich sehr gut für Mrs. Meany geeignet. Sie mochte das kleine Cottage und das Gefühl, dass es ihr ganz allein gehörte. Niemand konnte es ihr wegnehmen, und wie ein Tier, das seine Duftmarken setzt, hatte sie jede verfügbare Oberfläche mit oftmals abgestaubten Porzellanfiguren und kleinen Glasornamenten vollgestellt. Nach Miss Roberts’ Tod hatte sie für mehrere Leute im Dorf gekocht und geputzt, bevor sie als Vollzeitkraft in der Polizeiwache angefangen hatte.

«Da sind Sie ja, Sergeant. Ich habe schon angefangen zu denken, es wäre etwas passiert.» Sie wedelte mit dem Geschirrhandtuch und drehte sich zur Küche um.

«Nun, nach Lage der Dinge, Mrs. Meany …» Er hörte seine eigene Stimme. Er klang ärgerlich. Warum klang er ärgerlich? «… ist tatsächlich etwas passiert.»

Die alte Dame drehte sich mit angemessen schockiertem und fasziniertem Gesichtsausdruck um.

Erfreut von ihrer Reaktion, fuhr PJ fort. «Ich habe gerade eine Leiche gefunden.»

«Sie haben was?»

«Eine menschliche Leiche!»

Er hatte sein Leben lang darauf gewartet, diese Worte aussprechen zu können, und es fühlte sich genauso gut an, wie er es sich immer vorgestellt hatte.

«Gott steh uns bei!», keuchte Mrs. Meany und hob beide Hände zum Hals, als würde sie den Kragen einer imaginären Strickjacke enger um sich ziehen. «Wo?»

«Ich habe keine Zeit. Ich muss Cork informieren», verkündete er und ging in sein Büro, während Mrs. Meany vor der Küchentür einen seltsamen kleinen Tanz der Unsicherheit aufführte, wie eine Figur vor einem Wetterhäuschen, die sich nicht entscheiden kann, ob es Regen oder Sonnenschein geben wird.

 

Als PJ den Hörer auflegte, überkam ihn eine merkwürdige Ernüchterung. Unterstützung war unterwegs, das war genau, was er wollte, was er brauchte, doch wenn sie erst einmal eingetroffen war, wäre es nicht mehr sein Fall. Er wäre einfach ein weiterer nutzloser Mann, der am Schauplatz herumstand, eine Art Verbrechens-Butler im Dienst derjenigen, die herausfinden würden, wessen Leiche dies war und was den Tod verursacht hatte. Handelte es sich überhaupt um ein Verbrechen? Die Anzugträger aus Cork würden noch mindestens eine Stunde brauchen, bis sie im Dorf angekommen waren. Gab es etwas, das er noch tun konnte? Womöglich knackte er diesen Fall ja in den nächsten sechzig Minuten. Er lächelte über seinen eigenen Wahnwitz.

Es klopfte an der Tür, und bevor er etwas sagen konnte, kam Mrs. Meany herein, die ein dampfendes Tablett balancierte. PJ schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück.

«Keine Zeit fürs Mittagessen heute, Mrs. Meany.»

«Kein Mittagessen?» Ihre Stimme klang, als hätte er verkündet, am Nachmittag Selbstmord begehen zu wollen. «Wollen Sie nicht wenigstens einen kleinen Bissen essen, bevor Sie gehen?», sagte sie mit gesenktem Kopf wie ein Hund, der zwischen den Ohren gekrault werden will. Sie stellte den Teller auf den Schreibtisch und zog Messer und Gabel aus ihrer Schürzentasche.

«Es tut mir leid, Mrs. Meany, aber ich muss zurück zu der Baustelle. Sie schicken ein paar uniformierte Jungs, um den Tatort zu sichern.»

Erneut zog Mrs. Meany ihre imaginäre Strickjacke enger zusammen.

«Burkes Hof? Haben Sie die Leiche dort gefunden?»

«Genau.» PJ zog seine Jacke wieder an.

«Was für eine Leiche war es?»

«Nur Knochen … ist zu früh, um was Genaues zu sagen.»

Die alte Dame hielt sich am Schreibtisch fest und schluckte Luft wie ein grauhaariger Goldfisch. Ihre Stimme war bloß noch ein Flüstern. «Jesus, Maria und … Könnte es Tommy Burke sein?»

Der Sergeant trat einen Schritt zurück in den Raum.

«Der Knabe, dem der Bauernhof gehört hat? Der ist bestimmt nicht tot.»

«Nein?» Ihre Augen verengten sich.

«Er ist einfach abgehauen, oder? Nachdem er Ärger wegen eines Mädchens hatte, war’s nicht so?»

«Das dachten wir alle, aber im Dorf hat nie wieder jemand etwas von ihm gehört oder gesehen, und es muss jetzt siebzehn … nein, mehr, weil Sie ja seit beinahe fünfzehn Jahren hier sind, also muss es eher zwanzig Jahre her sein, dass er verschwunden ist. Es würde schrecklich viel Sinn ergeben, wenn sich herausstellt, dass er die ganze Zeit oben auf dem Bauernhof war.» Sie strich sich eine graue Haarsträhne hinters Ohr und rieb sich langsam über die Schläfe. «Man darf überhaupt nicht daran denken. Allein in der Kälte und Einsamkeit all die Jahre und nicht einmal einen Grabstein.»

PJ sah erschrocken, dass sich die Augen der alten Frau mit Tränen gefüllt hatten.

«Oh, Mrs. Meany, jetzt beunruhigen Sie sich doch nicht. Wir können noch überhaupt nicht wissen, wer es ist oder wie die Knochen dorthin gekommen sind. Kochen Sie sich erst mal in Ruhe einen Tee, und später weiß ich vielleicht schon mehr.» Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie behutsam Richtung Tür.

«Danke, Sergeant. Ich weiß auch nicht. Der Gedanke daran … an ihn. Ich weiß einfach nicht.» Sie zog die Tür hinter sich zu.

Sergeant PJ Collins wagte kaum zu atmen. Kein Anzugträger in Sicht, nicht mal die Uniformierten waren schon eingetroffen, und er hatte eine Spur. Er malte sich aus, wie er, einen Fuß auf dem Erdhaufen, dorthin deutete, wo das Bauernhaus früher gestanden hatte, und das übrige Team auf Trab brachte.

Er nahm eines der Schweinekoteletts in die Hand und biss ein großes Stück ab.

4

Eine schlaffe Frühlingszwiebel hing über den Rand eines der Weidenkörbe, in denen das frische Gemüse in der O’Driscoll-Laden-Café-Poststelle dargeboten wurde. Sie teilte sich den Platz mit einer verschrumpelten roten Paprika, während der Korb darüber Karotten in Beuteln enthielt, an denen sich Kondenswasser niedergeschlagen hatte. Auf dem Fußboden lag ein Sack Kartoffeln. Braune Papiertüten hingen an einer Schnur, um eifrigen Kunden eine eigene Wahl aus dem verlockenden Angebot zu ermöglichen. Der Vertriebsbeauftragte, von dem der Umbau erläutert worden war, hatte etwas von «französischer Marktatmosphäre» erzählt und versucht, sie zu so einem Aufbackofen für gefrorene Baguettes zu überreden. Bei diesem Vorschlag war für Mrs. O’Driscoll Schluss gewesen. Es gab in Duneen keinen Bedarf für Pariser Weißbrot. Sie hatten die tägliche Lieferung an geschnittenem Brot, und ihre Tochter Maeve verdiente sich mit ihrem selbstgebackenen Sodabrot etwas dazu, vielen Dank auch.

Bei O’Driscolls erledigte niemand so etwas wie einen Großeinkauf. Man kam vorbei, um einen vergessenen Liter Milch oder dringend benötigtes Toilettenpapier zu besorgen; es war die Art Laden, in dem man sämtliche Zutaten für ein ausgiebiges irisches Frühstück bekam, aber eine recht magere Auswahl hatte, wenn es um eine Hauptmahlzeit ging. Sie verdienten ihr Geld durch ihre langen Öffnungszeiten, weil die Leute, wenn es zu spät oder zu früh war, um die vierzig Minuten nach Ballytorne, die nächste größere Stadt, zu fahren, bereitwillig ein bisschen mehr zahlten.

Mrs. O’Driscoll gefielen die Vormittage am besten. Das Wechselgeld in die Kasse zählen, den Aufsteller hinausbringen, die Zeitungslieferung hereinholen. Danach war der Tag von regelmäßigen Aktivitätswellen durchsetzt – wenn die Leute zur Arbeit gingen, eine leichte Welle um die Mittagszeit und natürlich wenn die Kinder von der Schule abgeholt wurden.

Dieser Nachmittag bildete keine Ausnahme, nur dass die kleine Müttergruppe immer größer zu werden schien und es mit dem Aufbruch nicht eilig hatte. Bis Viertel nach vier waren es schon wenigstens acht plus ihre gelangweilten Kinder, die ignoriert wurden, wenn sie an den Ärmeln und Röcken ihrer Mütter zogen. Das Zentrum der Gruppe war Susan Hickey, immer noch in dicke Kleidungsschichten gewickelt, um sich vor dem bevorstehenden Winter zu schützen. Ihr kleines, rundes Gesicht mit dem geschürzten Mund, der an den Knoten eines Luftballons erinnerte, war rot und verschwitzt von einer Mischung aus Wärme und Aufregung. Ihr Neffe arbeitete oben an der Neubausiedlung, und er hatte seiner Tante alles erzählt. Ein Riesenberg Knochen – es könnte sich geradezu um ein Massengrab handeln. Überall dort wimmelte es von Polizei, ein paar Beamte waren sogar aus Cork runtergekommen. Unterschiedliche Laute der Umstehenden signalisierten Bestürzung und Anerkennung. Eine Frau legte ihrem Sohn die Hände über die Ohren.

Hinter dem Tresen saß Mrs. O’Driscoll in stummer Betrachtung ihrer gleichermaßen stummen Registrierkasse. Es störte sie nicht, wenn sich die Kunden unterhielten, aber die meisten dieser Frauen hatten überhaupt nichts gekauft. Die arme Petra versuchte, um sie herumzufegen; die Sache konnte sie natürlich nicht interessieren, denn die Burkes waren schon lange weg, als sie nach Duneen gekommen war. Eine geflüsterte Vermutung drang von dem hastig einberufenen Hexenzirkel bis zu Mrs. O’Driscoll.

«Glaubst du, unser Tommy war eine Art Serienmörder?»

Dies wurde mit einem Geräusch beantwortet, als würde die Luft aus einer gigantischen Luftmatratze gelassen. Mrs. O’Driscoll konnte sich nicht länger zurückhalten.

«Oh, Herrgott noch mal. Wenn dieser Junge ein Mörder gewesen wäre, hätte er dann nicht mit seinem eigenen Vater angefangen?»

Alle Blicke wandten sich ihr zu. Sie forderten mehr, und Mrs. O’Driscoll öffnete widerstrebend den Mund und suchte nach Worten.

«Big Tom war der Einzige in dieser Familie, der was Schlechtes an sich hatte. Der junge Tommy war vielleicht ein bisschen beschränkt, aber er war garantiert kein irischer Jack the Ripper.»

Die Frauen drängten sich vor der Kassentheke zusammen, um mehr zu erfahren. Susan Hickey gefiel es nicht sonderlich, wie ihr auf solche Weise die Expertenrolle entrissen wurde.

«Nun», sagte sie laut, «die Polizei wird ihn bestimmt in England aufspüren, um ihm ein paar Fragen zu stellen.»

Darauf folgte allgemeines Nicken. Mrs. O’Driscoll verdrehte die Augen. Sie wusste, dass es Susan Hickey gewesen war, die sich gegen eine Weinlizenz für das Café ausgesprochen hatte.

«In England? Wer hat Ihnen das denn erzählt, Susan?»

«Das weiß doch jeder.»

«Soweit ich weiß, hat keine Menschenseele etwas von ihm gehört, seit er weg ist. Er könnte überall sein.»

Eine kleine Frau, deren Haar einmal blond gewesen war, hob die Hand wie bei einer Ausschusssitzung. «Glaubt ihr nicht … dass er eine von den Leichen da oben sein könnte?»

Die Luftmatratze ließ mit einem scharfen Geräusch Luft ab. Die Richtung, in die sich diese Geschichte entwickelte, gefiel ihnen.

Plötzlich hallte ein lautes Krachen durch den Laden, gefolgt von dem schrillen Geheul eines Kindes. Die Mütter sahen sich nach ihren diversen Schützlingen um.

«Fintan, wo bist du?» Die Reaktion waren laute, bebende Schluchzer. «Fintan! Was hast du angestellt?» Als die Mutter des Jungen um ein Regal kam, war die Antwort klar. Ein tränenfeuchtes Gesicht starrte vom Boden empor, umgeben von wenigstens einem Dutzend Dosen Reisbrei.

«Oh, Mrs. O’Driscoll, das tut mir sehr leid. Fintan, was sagst du zu Mrs. O’Driscoll?»

Anscheinend war alles, was Fintan zu sagen hatte, ein langgezogener Schreckensschrei, den er ausstieß, während ihn seine Mutter an der Hand vom Ort des Verbrechens wegzog. Mrs. O’Driscoll tat die ausführlichen Entschuldigungen mit einer Handbewegung ab, während sie hinter der Theke herauskam, und rief nach Petra, die ihr helfen sollte. Insgeheim war sie sehr zufrieden. Ohne dass ein Schaden entstanden war, hatte der Vorfall den sinnlosen Spekulationen der Mütterrunde ein Ende gesetzt.

Nachdem alles wieder aufgeräumt und der Laden leer war, nahm sie erneut ihren Posten hinter der Kasse ein. Drahtig, aber stark hockte sie auf einem hohen Stuhl, den Rücken leicht gebeugt von Jahren hinter der Registrierkasse, und ihr ungeschminktes Gesicht verriet nichts. Sie war keine Frau, von der man eine Umarmung oder ein tröstliches Schulterklopfen zu erwarten hatte, aber ihr Blick besaß dennoch genügend Wärme, um zu vermitteln, dass man sich in der Not auf sie verlassen konnte. Respekt einflößend, aber nicht zu sehr, ließ sie das Weltgeschehen mit dem ihr eigenen Sinn für das, was gut und richtig war, an sich vorüberziehen. Sie half denjenigen, von denen sie glaubte, sie wären zumindest imstande, den Versuch zu machen, sich selbst zu helfen, zögerte jedoch nicht, über Menschen zu urteilen, die ihrer Meinung nach selbst für ihr Unglück verantwortlich waren. Einen Laden zu führen, eine Poststelle und ein Café zeigte ihr sämtliche Facetten des menschlichen Daseins.

Sie sah ein Polizeiauto vorbeifahren. Seine Warnleuchte blinkte orange, und es fuhr den Hügel hinauf zu Burkes altem Bauernhof. Sie fragte sich, was in aller Welt dort vorging. Ein Stechen zuckte ihr durch den Magen; ein Unwohlsein, das von den Geheimnissen herrührte, die ausgegraben werden und den Frieden dieses Dorfes stören könnten. Natürlich war sie sich der diversen Dramen bewusst, die über die Jahre stattgefunden hatten, doch irgendwie hatten sie sich hinter den Kulissen abgespielt. Die Skandale hatten sich in Grenzen gehalten. Was aber würde geschehen, wenn diese Knochen die ganze Gemeinde ins Scheinwerferlicht stellten?

Sie kaute an der Seite ihres Daumennagels und dachte an den kleinen Tommy Burke und seine Mutter. Sie selbst war damals noch ein Kind gewesen, doch sie hatte nur zu gern hinten im Laden gesessen und so getan, als würde sie Hausaufgaben machen, während sie in Wahrheit jedes Wort belauschte, das die Erwachsenen sagten. Und wenn geflüstert wurde, umso besser.

Niemand hatte geglaubt, dass Mrs. Burke jemals ein Kind bekommen würde, doch dann, nach zehn Jahren Ehe, kam die wundersame Nachricht von ihrer Schwangerschaft. Es war nicht nur ihr Bauch, der dicker wurde, sie blühte insgesamt auf. Über die Ladentheke hinweg oder nach der Messe auf der Kirchentreppe sah man an ihr ein neues, strahlendes Lächeln. Sie explodierte geradezu vor Glück. In den Wochen vor dem Geburtstermin traf man nur Mr. Burke im Dorf. Seine Frau ruhte sich aus. Unter Kopftüchern wurde getuschelt, schlechte Neuigkeiten schienen in der Luft zu liegen, doch dann kam die freudige Nachricht von der Geburt des Kindes. Ein Junge, Tom, der nach seinem Vater genannt und Little Tommy gerufen wurde, während der Vater ab diesem Zeitpunkt Big Tom hieß.

Es dauerte ein paar Wochen, bis irgendjemand die junge Mutter zu sehen bekam, und der kleine Junge schien sehr schmächtig. Die kopftuchtragenden Mütter der Gemeinde sprachen erneut mit gedämpften Stimmen die Prognosen durch. Keine erwartete, dass Little Tommy gut gedeihen würde. Mrs. Burke wurde wieder zu einer bemitleidenswerten Gestalt.

Die Zeit setzte sie alle ins Unrecht. Das Baby wuchs schnell, wurde zu einem kräftigen kleinen Schuljungen, und das Lächeln kehrte in das Gesicht seiner Mutter zurück. Doch es sollte nicht lange bleiben.

Die meisten Dorfbewohner hätten gesagt, dass Big Tom den Bauernhof vertrunken hatte, aber Mrs. O’Driscoll hatte ihre Eltern darüber reden hören. Sie wusste, dass mehr dahintersteckte. Er hatte einen großen Teil des Grundbesitzes verspielt und den Rest heruntergewirtschaftet. Sie erinnerte sich an Little Tommy, der kaum groß genug gewesen war, um über die Ladentheke zu sehen, und an seine Mutter, die mit hochrotem Gesicht stotternd um einen Kredit gebeten hatte. Damals hatte Mrs. O’Driscoll ihre Eltern zum ersten und einzigen Mal streiten hören. Ihr Vater streckte ihrer Mutter das Kassenbuch entgegen und fragte sie, ob sie verrückt geworden wäre. Warum hatte sie sich bereit erklärt, diese Burke anschreiben zu lassen? Ihre Mutter hatte zurückgeschrien. Hatte er kein Herz? Das war einfach christliche Nächstenliebe. Das hätte jeder gemacht.

Zu sterben war die einzige vernünftige Entscheidung, die Big Tom je getroffen hatte. Wie sich herausstellte, hatte er ohne das Wissen seiner Frau oder seines Sohnes, der inzwischen achtzehn Jahre alt und selbst so weit war, den Bauernhof zu führen, eine Lebensversicherung abgeschlossen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatten sie ein bisschen Geld auf der Bank. Der andere Glücksfall, der ihnen widerfuhr, war diese schlimme Sache draußen auf Ard Carraig mit Robert und Rosemary Ross. Die Ross-Töchter hatten Land und brauchten Geld. Little Tommy besaß nicht genug, um einen Bauernhof zu kaufen, aber er konnte eine angemessene Pacht zahlen. Alle freuten sich, dass diese beiden düsteren Geschichten eine Art Happy End bekamen. Mrs. Burke starb in dem Wissen, dass ihr Sohn gut zurechtkam. Er rührte nie einen Tropfen Alkohol an und interessierte sich nicht für Pferderennen.

Nach dem Tod seiner Mutter veränderte sich Tommy. Er hatte schon immer schwer gearbeitet, nun aber gab es nichts anderes mehr in seinem Leben. Er versuchte ständig, irgendjemandem irgendetwas zu verkaufen, und alles, über das er reden wollte, war Land. Was es kostete, wer es besaß, wer verkaufte, wo es lag. Sein leidenschaftlicher Wunsch, seinem Vater in nichts zu gleichen, schien eine unheilvolle Wendung genommen zu haben. Jedem gefiel es, wenn ein junger Mann zielstrebig war, doch das war etwas anderes. Es bedeutete ihm zu viel. Es war nicht mehr normal. Ein gutaussehender Bursche wie Tommy sollte Freunde haben und zur Sperrstunde aus dem Pub torkeln. Mrs. O’Driscoll wusste noch, dass sie gedacht hatte, er wäre wohl niemals zufrieden, und wie zu erwarten, hatte es böse geendet.

Die Ladentür wurde geöffnet und holte Mrs. O’Driscoll in die Gegenwart zurück. Eine spätnachmittägliche Brise ließ die Papiertüten an den Gemüsekörben rascheln. Sie kannte den Mann in dem Anzug nicht, der hereinkam, aber nach beinahe vierzig Jahren hinter der Ladentheke wusste sie, was für ein Typ Mann er war, und er gefiel ihr nicht. In die Auswahl dieser Krawatte war zu viel Zeit gesteckt worden, und sein Lächeln hätte besser gepasst, wenn er eine Gruppe behinderter Kinder beim Ausflug vor sich gehabt hätte.

«Einmal Camel Lights, bitte.»

Sie griff hinter sich nach der Schachtel.

«Oh, und Streichhölzer.»

Mrs. O’Driscoll verdrehte die Augen. Er hielt sich wohl für einen tollen Kerl, aber reich würde er sie garantiert nicht machen.

5

Abigail stand ein paar Minuten an der offenen Haustür und sah den Lichtern der Autos nach, die sich über die Zufahrtsallee entfernten. Das Astwerk der Bäume fing die Strahlen der Scheinwerfer ein und hob sich gegen den schwarzen Himmel ab. Sie atmete einige Male tief durch und betrachtete ihren Schatten vor sich auf dem Kies. Diese Stille. Sie mochte diese Zeit am Abend.

Üblicherweise ging Florence mit einem Buch und einem kleinen Glas Milch als Erste zu Bett, und dann, wenn Evelyn den Frühstückstisch gedeckt hatte, verschwand auch sie nach oben. Abigail genoss die halbe Stunde, in der sie das Haus für sich hatte. Sie hatte durchaus nichts gegen Menschen; aber sie brauchte sie einfach nicht. Manchmal erschien ihr diese Eigenständigkeit wie eine Charakterschwäche. Stimmte vielleicht irgendwas nicht mit ihr? Aber meistens sah sie darin eine Stärke.

Man brauchte keinen Doktor Freud, um darauf zu kommen, dass ihre emotionale Zurückhaltung eng mit dem Tod ihrer Eltern zusammenhing. Sie hätte gesagt, dass sie beide gleichermaßen geliebt hatte, doch in Wahrheit hatte sie vor allem ihren Vater vergöttert. In ihrer frühesten Erinnerung ging sie an seiner Riesenhand mit unsicheren Schritten in zu großen Gummistiefeln über ein gepflügtes Feld. Sie hatten zusammen die Kälber gefüttert. Abigail hatte auf seinem Schoß gesessen, als er den Traktor auf die hintere Koppel fuhr. Selbst als Florence und Evelyn dazukamen, änderte sich nichts an ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Daddy. Während die anderen Mädchen lieber mit der Mutter im Haus waren oder im Garten spielten, blieb Abigail an der Seite ihres Vaters. Mit ihrem ernsten Gesichtchen unter dem geraden Pony wurde sie ein vertrauter Anblick, wo immer Robert Ross auch auftauchte. Die Arbeiter auf dem Bauernhof fingen an, sie «der Schatten» zu nennen, als wäre sie ein treuer Collie.

Natürlich fehlte er ihr, nachdem er gestorben war, doch was ihr das Herz brach, war die Erkenntnis, dass er sie nicht genug geliebt hatte, um nicht zu gehen. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie traurig gewesen, aber da war noch ein anderes Gefühl. Eine Energie und Stärke, die sie durchfloss, als sie sich darauf vorbereitete, zur Teilhaberin an der Seite ihres Vaters zu werden. Gemeinsam würden sie Ard Carraig führen. Als sie in den Tagen, nachdem Evelyn seine Leiche entdeckt hatte, in die Kissen heulte, schmerzte es sie am meisten, dass ihr Vater nicht die gleiche Vorstellung von der Zukunft gehabt hatte wie sie selbst. Zum ersten Mal in ihrem erst kurzen Leben wurde ihr bewusst, dass sie allein war. Ein solcher Schmerz kann in einem jungen Herzen merkwürdige Dinge anrichten.

Abigail trat ins Haus zurück und zog die schwere Eingangstür hinter sich zu. Sie schloss ab und legte die dicke Messingkette vor. Auf ihrem Weg durch den Flur schaltete sie die Lampe auf dem langen Eichentisch aus. In einer hellblauen Schale lagen ein paar Schlüsselbunde und einige Lotterielose. Daneben standen aus unterschiedlichen Jahren gerahmte Fotos der drei Schwestern in Schuluniform und ein größerer Silberrahmen mit einem Hochzeitsfoto von Rosemary und Robert. Abigail war oft stehen geblieben, um diese Gesichter zu betrachten, hatte nach einem Zeichen oder einem Hinweis gesucht, nach etwas, das die Trauer voraussagte, die sich auf sie legen sollte. Da war nichts. Das Lächeln so zukunftssicher, in Erwartung all der Freude, die sie bringen würde. Florence in ihrem Erstkommunionskleid und dem Schleier. Gott, sie sah ihrer Mutter derartig ähnlich.

Abigail ging weiter ins Wohnzimmer und stellte den Kaminschirm vor die verglühenden Scheite. Das polierte Holz der Beistelltischchen schimmerte golden im Schein der Lampen. Sie machte ihre Runde durch den Raum, schaltete eine nach der anderen aus, dann brachte sie ein vergessenes Weinglas in die Küche. Sie stellte es auf die Ablauffläche, damit sich Evelyn am Morgen darum kümmerte. Im Wegdrehen erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in der nachtschwarzen Fensterscheibe. Sie hielt inne und starrte sich an. Das geisterhafte Bild, das in der glatten Dunkelheit schwamm, zeigte ihr deutlich die Ringe unter ihren Augen und die tiefen Falten auf ihrer Stirn. Abigail war nicht eitel, dennoch war sie betroffen. Wann war sie so alt geworden? Noch keine fünfzig, aber ein Gesicht wie eine alte Vettel. Das war unfair. Sie fühlte sich immer noch wie ein Schulmädchen, das nur das Haus hütete und darauf wartete, dass die Erwachsenen zurückkamen. Sie rieb sich die Augen und ging zum Schrank hinüber, um sich ein Wasserglas herauszunehmen. Zeit zum Schlafengehen.

Der Abend war eine Katastrophe gewesen. Niemand hatte die geringste Lust auf Bridge gehabt. Sie wollten alle bloß tratschen und über die Knochen spekulieren. Selbst Mavis, die immer nur im Flüsterton sprach, hatte sich dazu hinreißen lassen, vor der Runde der Spielerinnen zu kreischen: «Es war in den Sky News!»

Big Tom, Little Tommy, Sergeant Collins. Die Namen wurden in der Runde weitergegeben, als würden sie Stille Post spielen. Die eigentliche Bridgerunde war nicht in Gang gekommen, und dann hatte sich auch noch Evelyn zum Narren gemacht. Wie konnte man vergessen, die Teeblätter in die Kanne zu geben? Die Situation war Abigail peinlich. Sie wusste natürlich, was ihre Schwester durcheinandergebracht hatte, und ganz bestimmt würden sich die anderen am nächsten Tag das Maul zerreißen, aber keine hätte es gewagt, vor ihnen etwas dazu zu sagen.

Wirklich, dachte sie, als sie die Treppe hinaufging, ich bin nur froh, dass dieser Tag heute vorbei ist.

Alles an Abigail zeigte die praktisch veranlagte Frau, von ihrem kurzgeschnittenen grauen Haar bis zu ihren flachen braunen Schuhen. Sie genoss nicht nur die Einsamkeit der Abende, sondern auch die gleichbleibenden Abläufe. Die vertrauten Gewohnheiten, die sie über Jahrzehnte hinweg entwickelt hatte. Ein Haushalt, der nach ihren Regeln geführt wurde. Das Klicken der Lichtschalter begleitete ihren Weg bis hinauf zum obersten Stockwerk und den Flur entlang bis zu ihrem Zimmer. Als sie die letzte Lampe ausschaltete, sah sie überrascht, dass unter Evelyns Zimmertür Licht herausfiel. Abigail zögerte. Normalerweise wäre sie verärgert. Ihre Schwestern wussten, dass sie es nicht mochte, wenn sie das Licht brennen ließen, doch an diesem Abend war es anders. Sollte sie zurückgehen und leise anklopfen? Flüsternd nachfragen, ob alles in Ordnung war? Ihr war natürlich klar, dass sie das tun sollte, aber in Wahrheit befürchtete sie, Evelyn könnte nein sagen oder mit tränenüberströmtem Gesicht an die Tür kommen. Und was sollte sie dann tun?