Ein Jahr in Island - Tina Bauer - E-Book

Ein Jahr in Island E-Book

Tina Bauer

0,0

Beschreibung

»Ich sehe nur noch blau-weiß-rot. In jedem Fenster, in jedem Garten flattert die isländische Flagge: rotes Kreuz mit weißem Rand auf blauem Grund. Kinderwagen sind mit Fähnchen geschmückt. Backen sind mit den isländischen Farben bemalt. ›Til hamingju Ísland! Herzlichen Glückwunsch Island‹, begrüßt mich Sóley vor dem Café Paris am Austurvöllur.« Hinreißend erzählt Tina Bauer von einem Jahr zwischen Hotpots, Elfen und Vulkanen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 256

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tina Bauer

Ein Jahr in Island

Auswandern auf Zeit

Impressum

Titel der Originalausgabe: Ein Jahr in Island

Auswandern auf Zeit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Schroptschop – iStock

E-Book-Konvertierung: Konvertierungsdienstleister

ISBN (E-Book): 978-3-451-81150-0

ISBN (Buch): 978-3-451-06927-7

Inhalt

Prolog

maí

júní

júlí

ágúst

september

október

nóvember

desember

janúar

febrúar

mars

apríl

Anmerkungen

Für meine Eltern

Prolog

NICHT REDEN, SONDERN MACHEN! Wenn ich eines in Island gelernt habe, dann ist es, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, sich von neuen Ideen überraschen und mitreißen zu lassen und diese in die Tat umzusetzen. Geht nicht gibt es nicht bei den Isländern! Optimismus bestimmt den Charakter dieses Inselvolkes.

Mit ihrem sympathischen Nationalstolz und dem familiären Zusammenhalt ihrer Mini-Gesellschaft von gerade einmal rund 330000 Einwohnern haben die Isländerinnen und Isländer jüngst bei der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich auf dem Platz und in den Fanblöcken für weltweite Aufmerksamkeit und Begeisterung gesorgt. Eine kleine Insel ganz groß! Der mitreißende Hú-Schlachtruf verbreitete sich rasend schnell über Medien und soziale Netzwerke – und man wird davon schlicht mitgerissen!

Diese fröhliche Stimmung, dieses Gefühl, auch als kleine Nation etwas Großes erreichen zu können, sich nicht abbringen zu lassen von seinem Traum – das begeistert auch mich, seitdem ich das erste Mal in Island war. Vermutlich fasziniert mich vor allem das vollkommen andere Lebensgefühl, das ich – aufgewachsen unter achtzig Millionen in Deutschland – nur schwer nachempfinden kann. Meine Komfortzone verlassen zu haben und mich auf das Leben auf der Nordmeerinsel, die hellen Sommernächte und dunklen Wintertage, die manchmal schrullige, meist liebenswerte Art der Isländerinnen und Isländer einzulassen, ihre Mentalität und Gewohnheiten ein Stück näher kennenzulernen, war die beste Entscheidung bisher in meinem Leben. Immerhin ein kleiner Funke der isländischen Gelassenheit und des optimistischen Lebensmottos „þetta reddast!“ – das wird schon klappen! – ist auf mich übergesprungen.

Seit meiner Auswanderung auf Zeit in Island ist viel passiert. Ich bereise das Land jedes Jahr für mehrere Wochen. Intensiv unterhalte ich mich mit meinen isländischen Freunden über die Veränderungen im Land, schaue isländische Nachrichten und lese Meinungen auf Facebook. Der Tourismus boomt – das kurbelt die Wirtschaft und Kreativität der Isländer an, von denen so viele nach der Finanzkrise vor dem Nichts standen. Jedem sei der Erfolg gegönnt. Doch die Gier der Menschen kann auch vieles kaputt machen, wie die Isländer selbst nach dem Platzen der ersten Finanzblase erlebt haben. So suchen sie jetzt den Grad zwischen dem Fortschrift im Hotelbau und -gewerbe und dem Erhalt vor allem der Reykjavíker Altstadt und der grandiosen Natur. Eine Herausforderung, die es weiterhin spannend für mich macht, immer wieder Island zu besuchen und die Entwicklung zu beobachten.

Trotz dieser Veränderungen bleibe ich fasziniert – und meine in Island entstandenen Freundschaften sind längst ein Stück Heimat für mich.

maí

„WAS WAR DAS? WAR DAS EIN WAL? Bitte sagen Sie meinem Mann, dass das ein Wal war, er glaubt mir sonst nicht.“ Ganz aufgeregt ist die Frau, nimmt ihre Mütze ab, nestelt am Reißverschluss ihres roten Anoraks. Ja, das war ein Wal, tatsächlich! Als wir mit der Fähre Norröna morgens um acht Uhr in den Fjord von Seyðisfjörður einlaufen, streckt der Buckelwal direkt vor dem riesigen Koloss einer achtstöckigen Autofähre den Kopf aus dem Wasser. Als habe er nur darauf gewartet, die Neuankömmlinge auf der Insel zu begrüßen. Jetzt spüre ich: Ich bin wieder da – ich bin wieder in Island. Ich fühle mich willkommen und sofort wieder heimisch.

Vier Wochen ist es her, dass wir in Stuttgart gestartet sind: mein blauer Opel Corsa, bepackt mit Ela, einer islandbegeisterten Freundin, mir und einem kompletten Camping-Wander-und-ein-paar-persönliche-Dinge-Überlebenspaket für die Insel. Wir hatten Station in Hamburg, Kopenhagen und auf den Färöer Inseln gemacht. Denn anstatt mich in dreieinhalb Stunden mit dem Flugzeug nach Island beamen zu lassen, wollte ich schon lange den Weg auf die Insel im Nordmeer auskosten. Und jetzt haben wir unser Ziel erreicht. Ich habe mein Ziel erreicht: Island. Und diesmal sollen es nicht nur ein paar Wochen Urlaub auf der Insel sein.

Das erste Wochenende auf isländischem Boden ist einfach perfekt. Seyðisfjörður ist die östlichste Stadt Islands. Aber was heißt hier schon „Stadt“! Wie ein kleines Kind an seine Mutter schmiegt sich das Dorf im engen Fjord an die steilen Berge. Und wie ein überdimensionierter Fremdkörper in einer Spielzeugeisenbahn-Landschaft legt die riesige Fähre an. Vom Deck aus erinnern die Arbeiter am Kai an Miniaturfiguren – lediglich, dass sich die Männchen in ihren gelben Leuchtwesten und weißen Bauarbeiterhelmen bewegen. Hoch über den Köpfen und den roten, blauen, gelben, grünen Holzhäusern ragt die Gangway gleich einem weißen Riesenfinger über den Anleger. Wir begeben uns unter Deck, um wie alle anderen zu den Autos zu drängeln. Aber es dauert noch mindestens eine Stunde. Erst rollen Reisebusse und Wohnmobile von der Fähre, dann endlich dürfen wir von Bord. An Land beginnt das Spiel von vorne. Wieder reihen sich alle in eine Schlange, und ein Zollbeamter schickt seinen schwarzen Labrador den Autokorso entlang. Aufgeregt wedelt dieser mit dem Schwanz, dreht sich mehrmals um sich selbst – aber schlägt nicht an. Einige Wohnmobile werden dennoch in eine Garage gelotst. „Meinst du, die filzen uns auch?“ – „Quatsch, wo sollen wir denn in deinem Hausfrauen-Auto Drogen oder Essensrationen im Übermaß verstaut haben?!“ Ela bleibt gelassen, während meine Handinnenflächen etwas feucht sind. Eine Isländerin mit gelber Warnweste steht plötzlich neben mir. Ich kurble das Fenster herunter. „Góðan daginn, guten Tag. Haben Sie etwas zu verzollen? Wie lange bleiben Sie in Island?“ Zwei Fragen auf einmal. Erstere verneine ich. Um auf die zweite zu antworten, stammle ich etwas von einem Jahr. Die Frau knipst ein Loch in einen grünen Aufkleber und drückt ihn von innen an die Windschutzscheibe. „Velkomin til Íslands!“

Die meisten der Touristen, die mit der Fähre im Sommer zweimal in der Woche hier ankommen, nehmen den direkten Weg in Richtung Egilsstaðir und Ringstraße. „Diese führt einspurig in jede Richtung einmal um die Insel – 1336 Kilometer lang. Was aussieht wie eine deutsche Landstraße, ist die längste Straße Islands“, klärt uns Nick auf, den wir beim Einchecken in der Jugendherberge kennenlernen. „Schön, dass ihr zumindest eine Nacht hier bleibt.“ Nick kommt auch aus Deutschland und jobbt den Sommer über als Mädchen für alles in der hiesigen Jugendherberge. „Das machen viele hier so. Das isländische Jahr ist zweigeteilt: drei Monate Sommer und dann eben der Rest des Jahres. Den arbeite ich als Webdesigner in Reykjavík und Berlin, ein bisschen Musik mache ich auch noch nebenbei. Die Sommermonate aber werden ausgekostet. Hier in den einsamen Ostfjorden der Insel kriege ich den Kopf frei vom Rummel in den Städten.“ Ich muss an Claus denken, der in Reykjavík schon wartet. Vor einem Jahr hatte ich ihn während eines Urlaubs hier kennengelernt. Solange er den Sommer über in einem kleinen Familienhotel in den Westfjorden arbeitet, kann ich in seine Wohnung ziehen. Auch Claus, der sich sein Geld als Postbote in Reykjavík verdient, stammt aus Deutschland, und seit Jahren besucht er während der drei Sommermonate die Westfjorde. „Es leben viele Deutsche in Island“, sagt Nick. Kann er Gedanken lesen? „Auch wenn du Island entdecken und die Isländer kennenlernen willst: Es hilft, wenn man sich gelegentlich mit Landsleuten austauschen und so quatschen kann, wie einem der Schnabel gewachsen ist.“ Gut möglich. Bevor ich aber jetzt weiter über Wohnen und Arbeiten in Reykjavík nachdenke, möchte ich doch lieber die letzten Tage unserer vierwöchigen Reise genießen.

Nachdem Ela und ich die Schlafsäcke entrollt, eine Runde geduscht und ein Nickerchen nach einer unruhigen Nacht auf See gehalten haben, geht’s raus. Blau ist der Himmel, und für isländische Verhältnisse verbreitet die Sonne halbwegs angenehme Wärme. Was unsere Zimmergenossin gar nicht so empfindet: Dick eingepackt in Wollsocken, Fleecejacke, Mütze und Schal sitzt sie vor der Jugendherberge und sucht verzweifelt nach wärmenden Sonnenstrahlen. „Ist es im Mai hier eigentlich immer so kalt?“ – „Kalt? Heute ist es doch ziemlich warm.“ In T-Shirt, Jeans und Flip-Flops springt Nick im Garten herum und hängt Wäsche auf. Ela und ich finden das Mittelmaß an Klamottenschichten und ziehen los: einmal um die hellblaue Kirche herum, zwischen den bunten, mit Wellblech verkleideten Holzhäusern durch und zum Hafen. Dort türmen sich Berge schwarzer Fischernetze mit gelben Styropor-Bojen. Daneben stehen rostige Fässer mit giftig roter Flüssigkeit. Meterlange Röhren warten darauf, unter der Straße verlegt zu werden, damit das Schmelzwasser nicht den Straßenuntergrund wegspült. „Ordentlich sind die Isländer ja nicht gerade.“ – „Dafür gibt’s für uns genug zu fotografieren.“ Und damit unsere Digitalkamera-Chips mal wieder gesprengt werden, fahren wir noch ein Stück am Südufer den Fjord entlang.

Bald parken wir das Auto und gehen zu Fuß weiter. „Das ist aber auch ein Graus mit uns!“ Ela sieht mich schelmisch an und macht ein Foto von mir. „Da kommt man ja gar nicht gescheit vorwärts, ständig das Auto stoppen, raus, rein, zwei Meter fahren, nächster Fotostopp.“ Graue Häuserruinen, rostige Bagger, ein gusseiserener Ofen im Nichts vor blauem Himmel und Bergpanorama: Wir vergessen die Zeit. Aber unser Ziel ist klar: Skálanes, eine Unterkunft mit Café am Ende oder Anfang des Fjords – je nachdem, von wo man kommt. Stunden später sind wir da. Ein Golden Retriever begrüßt uns wie alte Bekannte. Sonst ist niemand zu sehen. Vorsichtig betreten wir das Café. Überall liegt Werkzeug und Baumaterial herum. Nebenan hören wir einen Mann telefonieren. „Hallo?!“ – „Ich habe schon auf euch gewartet. Ég er Óskar, ich bin Óskar. Vorhin bin ich an euch vorbeigefahren mit der neuen Saunatür auf meinem Pick-up.“ Obwohl noch kein offizieller Betrieb herrscht, macht Óskar uns einen Espresso und teilt sein letztes Stück Marzipankuchen mit uns.

Dann zeigt er uns die neue Sauna, den Hotpot, die Zimmer und den Garten, in dem Eiderenten brüten. „Hier habe ich meinen Ort gefunden.“ Der Glückliche. Mit seinem vierrädrigen Motorrad begleitet er uns auf unserem zehnminütigen Fußmarsch zum Vogelfelsen. Lundar! Wie Pinguine mit zu kurzen Flügeln flattern die Papageientaucher aufgeregt durch die Luft. „Clowns der Lüfte werden sie deshalb auch genannt.“ Óskar klettert den Hang ein Stück nach oben, wo es felsiger wird. Will er uns imponieren? Ich kann kaum hinschauen. Die schwarzen Vögel mit den roten Patschfüßchen und gelb-rot-weiß gestreiften Schnäbeln hingegen lassen sich zusammen mit den Möwen ins Meer stürzen, von den Windböen wieder emportragen, um dann elegant auf einem winzigen Felsvorsprung an der Steilwand zu landen.

Weitaus weniger elegant schleppen wir uns dann zurück zum Auto. Nach zwanzig Kilometern Fußmarsch, Millionen Mal auf den Kameraauslöser drücken und der Überdosis frischer isländischer Seeluft fallen wir am Abend in unsere Jugendherbergsbetten. Doch mitten in der Nacht schrecke ich hoch. Ich fasse mir an die Ohren: Alles noch dran. Aber ich höre nichts. Absolute Stille. Als ich mich auf den Flur zum Badezimmer schleiche, knarzen die alten Holzdielen. Erleichtert atme ich auf: Taub bin ich jedenfalls nicht, es ist nur so ungewohnt still. „Kannst du nicht schlafen?“ Ich fahre herum. „Musst du mich so erschrecken!“ Nick steht im Türrahmen zur Küche. „Komm, ich zeig dir was.“ Ich folge ihm zum Küchenfenster. Draußen dämmert es, obwohl es mitten in der Nacht ist. Am gegenüberliegenden Berghang, über den Häuserdächern leuchtet in mannshohen Lettern „Seyðisfjörður“. Darunter grasen Pferde und Schafe. Sonst ist niemand zu sehen. Friedliche Stille.

Bevor wir uns am nächsten Morgen auf den Weg machen, tauschen Nick und ich noch unsere Telefonnummern aus – falls ich in einigen Wochen mal mit jemandem Deutsch quatschen möchte. Von Seyðisfjörður zuckeln wir die steile Straße auf die Hochebene Fjarðarheiði hinauf. In Egilsstaðir decken wir uns mit Proviant ein: endlich wieder isländisches Fladenbrot, flatkökur, mit gesalzener Butter, den quarkähnlichen skyr mit Blaubeergeschmack und zum Nachtisch Schokoriegel mit Lakritzkern – lecker! „Und das kannst du jetzt jeden Tag haben“, meint Ela etwas neidisch.

Eigentlich bin ich mir sicher gewesen, dass die Begrüßung durch den Wal und die Flugshow der Papageientaucher durch nichts zu toppen sein dürfte. Doch als wir uns dem Hochland nähern, steht auf einmal eine Herde Rentiere am Straßenrand und grast. Einfach so! Wir stoppen den Wagen, pirschen uns leise ran. Neugierig heben die Rentiere ihre Köpfe. Um die dreißig Tiere sind es, beigefarben, mit großartigen braunschwarzen Geweihen. Der Wind pfeift in den Ohren, die Sonne strahlt, ich halte den Atem an. Plötzlich galoppiert ein Tier mit ausladenden Schritten los, die anderen folgen ihm, und schon ist die Herde hinter den Hügeln verschwunden. Ich drehe mich um. Hinter unserem Wagen hat ein Traktor gehalten und ein hageres Männchen springt vom Bock. Das Gesicht vom Wetter gegerbt, die Haut erscheint wie die Rinde eines Baumes. „Góðan daginn. Ich bin Gústi“, begrüßt uns der Bauer. „Diese Teufelsbraten! Sie pirschen sich an und fressen unsere saftigen Wiesen ab“, schimpft er und zwinkert mit den Augen. Sóley, eine isländische Freundin in Reykjavík und wandelndes Landeskundelexikon, hatte mir schon einmal davon erzählt: Vor Jahrhunderten haben ihre Vorfahren Rentiere aus Norwegen nach Island gebracht, um von dem Fleisch leben zu können. Doch das Projekt ist gescheitert. „Die Rentiere haben nie die wirtschaftliche Bedeutung erlangt wie unsere Schafe. Jetzt leben noch ein paar Tausend von ihnen hier im östlichen Hochland“, erklärt Gústi. Und da um diese Jahreszeit noch wenig Touristen auf der Straße unterwegs sind, wagen sich die Tiere bis auf die bewirtschafteten Weiden vor. „Die sollen das noch genießen, bis wir im Herbst wieder auf Jagd gehen dürfen. Góða ferð – Gute Fahrt.“ Gústi schwingt sich auf seinen rostigen Traktor und tuckert davon.

Und auch wir fahren weiter, nehmen den nördlichen Weg auf der Ringstraße gen Westen bis Reykjavík. Endlich Reykjavík! Der Weg ist das Ziel? – Mag schon sein, doch ich will nun vor allem eines: ankommen in meinem neuen Zuhause. Lange genug hatte ich gehadert, ob ich mich wirklich auf ein neues, anderes Leben in Island einlassen kann und soll. Wohnung, Büro, sichere Jobaufträge und ein gewachsenes Netzwerk aufgeben? Freunde und Familie dreitausend Kilometer entfernt wissen? Ja! Schließlich ist Island mit seiner brodelnden, Lava spuckenden Landschaft und der kreativ-pulsierenden Hauptstadt Reykjavík, den verrückten, skurrilen Isländern momentan genau der richtige Ort für neue Herausforderungen.

Und dann erhebt sich wie ein Wachtturm die hellgraue Hallgrímskirche über die Dächer der Stadt, in der die Hälfte aller 330000 Isländer lebt. Reykjavík – nach stundenlanger gemütlicher Fahrt über Land bei maximalen neunzig Stundenkilometern ist die Stadt endlich auf der anderen Seite des Fjords in Sicht. Reykjavík ist Kontrastprogramm zum Rest der Insel. Einige Kilometer pflügt sich ein sechsspuriger Highway quer durch die Hauptstadt. Industriegebiete, Autohäuser, Fastfood-Restaurants und Tankstellen säumen die Piste. Lediglich die Altstadt hat ihren Reiz.

„Velkomin til Íslands!“ Claus begrüßt uns typisch isländisch: „Bitte die Schuhe ausziehen.“ Mit Grausen erinnere ich mich an frühere Erfahrungen mit dieser Sitte. Bei meiner ersten Reise nach Island forderte die Ankunft gleich in der ersten Unterkunft ein Höchstmaß an Selbstbewusstsein – außerdem möglichst geruchsresistente Mitmenschen. Denn um beim aufgegebenen Gepäck Gewicht zu sparen, hatte ich meine Wanderschuhe angezogen. So badeten meine Füße auf dem Weg vom hochsommerlichen, dreißig Grad heißen Deutschland bis nach Island stundenlang in schweißnassen Socken und entsprechenden Schuhen. Erschrocken las ich das Schild am Eingang der Jugendherberge: „Bitte Schuhe ausziehen!“ Darunter reihte sich ordentlich ein Paar Schuhe ans nächste. Also gut, dann eben auch meines – was mir ziemlich unangenehm und peinlich war. Damals gewöhnte ich mir an, stets ein zweites Paar Socken griffbereit zu halten.

So auch jetzt: Schnell husche ich zurück zum Auto und kruschtele ein Paar frisch gewaschene Socken aus meiner Tasche. Löcher im großen Zeh oder kindische Hello-Kitty-

Aufdrucke? Zweitrangig – Hauptsache geruchsneutral! Auf trockenen Sohlen flitze ich den anderen hinterher die Treppe hoch in Claus’ Dachgeschosswohnung. „Luxus für den Preis!“, schnappe ich auf. „Die günstigsten Wohnungen in Reykjavík liegen meist im Keller, dunkle Räume, kleine Fenster.“ Das klingt ja vielversprechend! Claus jedenfalls hat eine fantastische Aussicht auf die Hallgrímskirkja, direkt vor der Haustür auf den Park ums Kjarvalmuseum und zur Rechten aufs Meer – zumindest sieht man einen klitzekleinen Streifen blauen Wassers an diesem Tag. Ich stehe am Fenster: mein Ausblick für die nächsten Wochen!

„Schön, dass du wieder zurück bist!“ Sóley ist da. Ich falle ihr in die Arme. Sie ist mein Erste-Hilfe-Island-Anker für die ersten Wochen. „Ich freue mich, euch alle wiederzusehen!“ Doch bevor es sentimental werden kann, drückt Claus jeder von uns ein Schnapsglas in die Hand. „Brennivín, schwarzer Tod, das macht munter“, führt er uns Neuankömmlinge in diese isländische Lebensweise ein. „Skál!“ Claus grinst, und wir verziehen unsere Gesichter, als wir den klaren isländischen Kümmelschnaps in einem Zug hinunterkippen. Skál!

„Góðan daginn, Tina!“ Leicht verkatert nach der abendlichen Velkomin-Brennivín-Orgie stehe ich am nächsten Tag im Foyer des internationalen Flughafens Leifur Eiríksson in Keflavík. Ela checkt für ihren Rückflug ein. „Góðan daginn, Tina!“ Irritiert drehe ich mich um. Björg steht vor mir – nein, nicht Björk die Sängerin. Björg, Claus’ Nachbarin, die gestern Abend spontan mitgefeiert hat, obwohl sie sich nur ein bisschen Zucker borgen wollte. „Góðan daginn, Björg! Gaman að sjá þig!“ Schön, dich zu sehen – auch wenn ich ehrlich gesagt nicht so erfreut bin, meine neue isländische Bekannte mit verquollenen Augen und schalem Geschmack im Mund zu begrüßen. Björg hingegen ist das blühende Leben. „Ich hole eine Freundin ab. War schön gestern bei euch. Ich hoffe, wir feiern jetzt öfters mal zusammen. Skál!“ Spricht’s und ist auch schon um die Ecke verschwunden, wo die ankommenden Fluggäste erwartet werden. „Ich hab das Ticket“, holt mich Ela aus meiner verkaterten Langsamkeit. Das ist Island, hat Sóley mich schon vorgewarnt: „Überall triffst du jemanden – manchmal auch im unpassendsten Moment. Und wenn du mit Isländern unterwegs bist, kennt sowieso jeder jeden oder jemanden, der jemanden kennt. Schließlich sind wir alle miteinander verwandt.“

Doch ich, ich fühle mich plötzlich etwas verloren. Ela sitzt im Flugzeug zurück nach Deutschland, es ist fast Mitternacht, aber richtig dunkel wird es nicht. Vom Flughafen fahre ich knapp eine Stunde zurück nach Reykjavík. Die karge, schwarze Lava-Landschaft der Reykjanes-Halbinsel auf der einen Seite, das Nordmeer auf der anderen ziehen an mir vorbei. Hier lebe ich also jetzt – und bringe Freunde zum Flughafen, bleibe selbst aber da. Ein komisches Gefühl, wie damals, als mich meine Eltern an meinen Studienort begleitet hatten und anschließend erstmals ohne mich nach Hause fuhren. Ich fühle mich frei – und zugleich drückt ganz tief drinnen ein beklemmendes Gefühl gegen meine Brust. Habe ich etwa schon Heimweh? Ich drehe die Musik voll auf, bis das Autoradio scheppert, gröle in die taghelle Nacht. Tränen kullern meine Wangen hinunter. Die Freude überwiegt. Es wartet so viel Neues auf mich, das es in den nächsten Monaten zu entdecken gilt. Þetta er æðislegt! Das ist wunderbar!

Elas Flugzeug konnte starten. Zum Glück! Denn nur wenige Wochen zuvor saßen Hunderttausende auf den Flughäfen dieser Welt fest. Eyjafjallajökull – der mittlerweile berühmteste isländische Vulkan hatte wild gespuckt und mit seiner Asche Europas Luftraum lahmgelegt. Aktueller Witz unter Isländern: „UK Prime Minister Gordon Brown wanted cash from Iceland. But there is no c in the Icelandic language, so we gave him ash.“ Gestern Abend hatten Sóley, Björg und Claus jedoch erzählt, dass sie in Reykjavík kaum etwas von der Asche mitbekommen hatten. „Der Wind hat die Aschewolke die ganze Zeit nach Osten gepustet. Außer den rund achthundert isländischen Bauern und ihren Familien, die direkt unterhalb des Vulkans wohnen, ist auf der Insel niemand betroffen gewesen.“ Doch die Menschen im Süden hatten in den vergangenen Wochen nichts zu lachen. Grauschwarz ist die Luft dort bis jetzt. Kein Himmel, keine Sonne zu sehen – und das seit Wochen! „Da hat der Vulkan sicherlich viele Menschen in Angst und Schrecken versetzt?“ – „Im Gegenteil. Wir Isländer leben schließlich schon seit Jahrhunderten mit diesen Naturgewalten. Wir rechnen damit und sind gut vorbereitet – im Gegensatz zum Rest der Welt. Die betroffenen Familien wurden gleich nach dem Ausbruch evakuiert. Niemandem ist etwas zugestoßen.“ Stolz schwingt mit in Sóleys Erzählung. Stolz darauf, ein Teil dieses kleinen, unerschrockenen Inselvölkchens zu sein: „Die Isländer haben wieder gezeigt, dass sie zusammenhalten, vor allem wenn eine Naturkatastrophe passiert. Hunderte Freiwillige sind in den vergangenen Wochen von Reykjavík mit Reisebussen in den Süden gefahren und haben den Bauern geholfen, die Asche von ihren Häusern und Ställen zu fegen.“ – „Was war mit den Schafen, Kühen und Pferden?“ – „Da der Vulkan genau zu der Zeit ausgebrochen ist, in der die Lämmer geboren werden, platzten die Ställe aus allen Nähten. Normalerweise lassen die Bauern die Tiere gleich nach der Geburt der Lämmer raus auf die Wiesen. Doch das ging nicht. So wurden viele Schafe zu befreundeten Bauern in andere Landesteile verfrachtet. Umgekehrt kam sauberes, ohne Asche verschmutztes Futter in den Süden für die verbliebenen Tiere.“ – „Möglicherweise wird der Vulkan einige Existenzen zerstört haben?“ – „Vielleicht. Aber so ist das eben. Das Leben geht weiter, dann eben anders. Þetta reddast. Alles wird gut.“ Die Isländer nehmen’s gelassen und amüsieren sich, während der Rest Europas Stressflecken bekommt, weil ein paar Tage lang kein Flugzeug fliegt.

Offiziell heißt es zwar, der Ausbruch sei jetzt vorbei. Doch die Asche kümmert das wenig, sie hängt weiter in der Luft. Grund genug, mir das Naturspektakel aus der Nähe anzuschauen. Bei strahlend blauem Himmel und Sonnenschein breche ich in Reykjavík auf. Ein bisschen fühle ich mich wie auf den Spuren Leifur Eiríkssons. Der Isländer, nach dem der internationale Flughafen benannt ist und der in Bronze gegossen vor der Hallgrímskirkja in Reykjavík steht, hat um 1000 n.Chr. Neufundland entdeckt. Und ich mache mich nun immerhin auf, die spektakuläre Natur Islands zu entdecken. Je näher ich nach anderthalb Stunden Autofahrt dem Eyjafjallajökull im Süden der Insel komme, umso mehr verdunkelt sich der Himmel. Anfangs erinnert es an gelblich-graue Sandstürme, die wie Mini-Tornados über die abgemähten Felder wirbeln. Das ursprüngliche Weiß der in Plastik eingehüllten Heuballen tendiert inzwischen eindeutig gegen Schwarz. Und schon hat der feine graue Aschestaub auch den Weg durch die Lüftungsschlitze meines Autos geschafft und sich auf die Armaturen gelegt. Draußen wird es dunkler und dunkler. Die Sonne findet keinen Weg mehr durch die Aschewolke. Es ist wie im Hollywood-Blockbuster ‚2012‘ – Weltuntergangsstimmung.

Direkt unter dem Vulkan, vor der Brücke über den Fluss Skógá stoppe ich den Wagen neben den Autos einiger Touristen. Sie fotografieren sich gegenseitig, ihre Gesichter eingehüllt in Tücher wie Beduinen bei einer Wüstenwanderung. Kurz springe ich aus dem Auto – und sofort weiß ich, warum alle Mund und Nase bedeckt halten. Die Asche knirscht zwischen meinen Zähnen. Und in Sekundenschnelle fühle ich Schmirgelpapier in den Augen anstelle meiner Kontaktlinsen. Doch ganz ohne Touristen-Allüren und selbst gesammelter Vulkanasche fahre ich nicht wieder zurück nach Reykjavík. „Pure Iceland“ steht weiß auf Dunkelblau auf dem Etikett der Wasserflasche, die ich jetzt mit der Asche fülle. Es ist gespenstisch still, als verschlucke die Aschewolke jegliches Geräusch. Die Touristen sind längst wieder in ihre Autos gestiegen und davongefahren. So alleine ist es ein beklemmendes Gefühl. Ich mache mich schnell auf den Rückweg.

Aufgezogen wie die Figur einer Spieluhr hopse ich durch die Wohnung. Es ist vier Uhr morgens – und ich bin hellwach. Dabei habe ich doch vor gefühlten dreißig Minuten erst die Augen geschlossen. Es dämmert schon wieder. Der von Sóley versprochene Zauber der Sommermonate zeigt schon seine Wirkung. Ich bin trotz wenig Schlaf nicht müde. Der isländische Sommer, in dem es nicht dunkel wird, versprüht seine magische Energie. Dann nutze ich diese eben, um meine mitgebrachten Habseligkeiten endlich auszupacken.

Wanderklamotten, Zelt, Gaskocher, Isomatte und Schlafsack verstaue ich in Reichweite unter dem Bett – schließlich lockt der Sommer zu einigen Wochenendausflügen. Wörterbuch und Selbstlern-Sprach-CD sollten auch nicht zu tief in der Schublade verschwinden. Außerdem will ich mich so bald wie möglich für einen Sprachkurs anmelden, um mehr als nur meinen Kaffee auf Isländisch zu bestellen. Vorher sollte ich jedoch ausgiebig testen, ob ich das überhaupt noch kann. In der Hoffnung, dass meine Sprachkenntnisse zumindest ausreichen, schwarze Müllsäcke zu besorgen, schwinge ich mich in meine Klamotten und mache mich bald auf den Weg in die Stadt. Müllsäcke vor den Fenstern sind laut Sóley nämlich die günstigste und typisch ausländische Variante, im Sommer die Zimmer abzudunkeln, um wenigstens ein bisschen schlafen zu können.

Ich nehme den leichten Anstieg zur Hallgrímskirkja, deren Kirchturm wie eine Raketenspitze vor dem Start in den Himmel ragt. Die Bauweise ist den scharfkantigen, sechseckigen Basaltsäulen nachempfunden, die in Island häufig vorkommen. Vor der Kirche grüße ich mein Entdecker-Vorbild Leifur, vor dessen Statue sich schon Touristen fürs Gruppenbild positioniert haben. Geradeaus geht’s den Skólavörðustígur runter – mit Blick auf das Meer. Mein Herz pocht. Die Sicht ist so klar, dass ich von hier aus sogar den Gletscher Snæfellsjökull auf der Halbinsel Snæfellsnes sehe. Er scheint auf dem Wasser zu schweben. An der nächsten Querstraße biege ich nach rechts ab und blicke direkt auf die Esja, den Hausberg der Reykjavíker entlang der gegenüberliegenden Uferseite des Fjords. Ich gehe die Straße runter aufs Meer zu. Drei Querstraßen weiter biege ich ab und bin mitten auf dem Laugavegur. Hier in der einzigen Einkaufsstraße der Stadt reihen sich in den zweistöckigen, bunten Altstadthäusern Restaurants, Cafés, Läden und Gästehäuser aneinander. Die Autos schleichen durch die Straße – sehen und gesehen werden lautet hier die Devise. Prompt stoppt ein schwarzer, blankpolierter Jeep direkt vor mir. Die Beifahrerin lässt die Fensterscheibe herunter und hält mit ihrer Freundin auf dem Bürgersteig ein Schwätzchen. Dass sich hinter dem Kaffeekränzchen auf der Straße ein Stau bildet, scheint weder die beiden Frauen noch die übrigen Autofahrer zu stören. Und ich kann gemütlich die Straße überqueren. Entspannt bummle ich den Laugavegur und seine Verlängerungen Bankastræti und Austurstræti entlang, schaue obligatorisch für einen Islandbesuch in beliebte Läden rein und entdecke einige neue Geschäfte.

Im Supermarkt kaufe ich schwarze Plastikmüllsäcke – ohne meine Sprachkenntnisse unter Beweis zu stellen. Dann biege ich links ab auf den Platz Austurvöllur. Die Wiese vor dem Parlament Alþingi ist bunt gesprenkelt mit vielen Grüppchen isländischer Sonnenanbeter. Denn kaum lässt sich die Sonne blicken und kaum kraxelt das Thermometer auf zweistellige Temperaturen, zieht es die Isländer zum fröhlichen Sit-in auf diesen Platz. Und was ich dort zu sehen bekomme, ist besser als Kino! Ich setze mich auf eine Parkbank, belausche die drei Obdachlosen auf der Bank neben mir, die sich über die hohen Alkoholpreise aufregen. Vor mir auf der Wiese hat sich eine Gruppe Teenager niedergelassen. Sie albern miteinander herum, während fröhliche Reggaemusik aus ihrem Kassettenrecorder wummert. Eine junge Mutter in knallroten Stöckelschuhen, knappem Blümchenrock und Nuckelflasche unterm Arm begrüßt eine Freundin. Dann dreht sie sich um, drückt dem jungen Vater, der lässig mit einer Bierflasche auf der Wiese hockt, die Babyflasche in die Hand, macht auf dem Absatz kehrt und zieht mit ihrer Freundin von dannen.

Auch ich breche wieder auf – mir ist bei gerade mal fünfzehn Grad nämlich langsam ziemlich frisch. Als ich an der riesigen, mit Grünspan besetzten Bronzestatue auf dem Platz vorbeigehe, liest ein amerikanischer Tourist seiner Frau gerade aus seinem Reiseführer vor: „Jón Sigurðsson ist der isländische Nationalheld schlechthin. Er ist Vorkämpfer für Islands Unabhängigkeit von Dänemark. Am 17. Juni, seinem Geburtstag, feiern die Isländer ihren Nationalfeiertag.“

Ich fühle mich zwar in Sachen Alltagsleben in Island noch etwas abhängig von Sóley und Co. – auch wenn ich immerhin schon mal die neuen Handmade-Jalousien eigenständig gekauft habe. Aber ich freue mich auch darauf, in den nächsten Monaten meinen eigenen Unabhängigkeitskampf gegen deutsches Sicherheitsdenken und feste Lebenspläne zu führen – für mehr Gelassenheit in jeglicher Hinsicht. Þetta reddast! Das wird schon!

júní

ICH SEHE NUR NOCH BLAU-WEISS-ROT. In jedem Fenster, in jedem Garten flattert die isländische Flagge: rotes Kreuz mit weißem Rand auf blauem Grund. Kinderwagen sind mit Fähnchen geschmückt. Backen sind mit den isländischen Farben bemalt. „Til hamingju Ísland! Herzlichen Glückwunsch, Island“, begrüßt mich Sóley vor dem Café Paris am Austurvöllur. Den heutigen Schlachtruf haben mir auf dem Weg dorthin schon x Mal wildfremde Passanten entgegengerufen. Es ist der 17. Juni – Nationalfeiertag in Island. „Anlass, wieder mal selbstbewusst unsere Heimat zu feiern.“ Der Tag ist prädestiniert dafür, tiefer in die Wikingerseele zu blicken. Denn Nationalstolz ist für Isländer kein Fremdwort. „Ó fögur er vor fósturjörð – O wie schön ist unser Mutterland“, erklingt es auch gleich in tiefem Bariton.

Ein Männerchor hat an der nächsten Straßenecke Position bezogen. Junge, durchaus fesche Wikinger schmettern das Volkslied. „Das hat Sveinbjörn Sveinbjörnsson getextet“, klärt mich Sóley auf. „Aha!?“ – „Der hat auch die isländische Nationalhymne komponiert.“ Und als wäre das das Stichwort, stimmen die gut aussehenden Isländer in weißem Hemd und schwarzem Anzug inbrünstig „Ó guð vors lands! – O Gott unseres Landes!“ an. Und schon bildet sich eine Menschentraube, und alle singen mit – Sóley auch. So viel Nationalbewusstsein ist mir schon fast peinlich. „Komm, lass uns weiterziehen.“ – „Was denn? Macht doch Spaß!“ Ich bin mir nicht sicher, ob sie ernsthaft empört ist, weil ich so abrupt aufbreche, oder ob es die ironische Selbstgefälligkeit einer Isländerin per se ist. „Du musst uns verstehen: Was haben wir 330000 Isländer denn schon zu bieten, was weltweit von großem Interesse ist? Viel ist das nicht. Da müssen wir uns wenigstens gelegentlich selbst auf die Schulter klopfen und besingen, wie gut wir sind und dass Island das schönste Fleckchen Erde ist.“ – „Wo du Recht hast, hast du Recht.“ – „Wir wissen ja, dass wir am Arsch der Welt auf einer Insel leben und nur durch das Aschemonster Weltruhm erlangt haben.“ – „Wo du Recht hast, hast du Recht.“ – „Eben, also ein Grund mehr zum Feiern.“

Und wie! Um die nächste Ecke spielt eine Band auf einem Hausdach. Ein Oldtimer-Korso mit Cadillacs, Alfas und Porsches rollt vorbei – selbstverständlich ebenfalls mit blau-weiß-roten Fähnchen verziert. Die Gehwege sind gestopft voll mit Menschen, die Kinder ausgestattet mit Zuckerwatte in der einen Hand und einem Luftballon in der anderen. Darauf prangen Stier, Riese, Drache und Adler – auf blau-weiß-rotem Wappen natürlich. In Zeitlupe ziehen Performance-Künstler an uns vorbei. Und eine Blaskapelle marschiert in lautstarkem Einsatz durch die Straßen.

Doch so langsam reicht mir diese Reizüberflutung. Ich sehe nur noch blau-weiß-rot. „Sóley, ich brauche eine Auszeit.“ – „Jetzt schon? Der Sommer hat doch gerade erst angefangen!“ – „Außerdem ist mir kalt.“ Und das, obwohl ich Strumpfhose unterm Sommerrock und Strickjacke überm T-Shirt trage. Die Mittsommersonne scheint zwar noch hell um neun Uhr abends, aber: „Der isländische Sommer ist wie ein Kühlschrank, den man sechs Wochen offen lässt. Das Licht ist die ganze Zeit an und das Gefrierfach taut, aber richtig warm wird es nie“, zitiert Sóley den isländischen Schriftsteller Hallgrímur Helgason. Ja, genau. „Aber du wirst dich akklimatisieren.“ Ich nehme sie beim Wort und ziehe meine dünne Strickjacke noch etwas enger um die Schultern.