Ein Kind mit geistiger Behinderung begleiten - Caroline Tost - E-Book

Ein Kind mit geistiger Behinderung begleiten E-Book

Caroline Tost

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Beschreibung

Wenn bei einem Kind eine geistige Behinderung diagnostiziert wird, bedeutet das für viele Eltern eine tiefgreifende Verunsicherung. Wie wird sich unser Kind entwickeln? Welche Förderung braucht es? Welche Hilfen stehen uns zu? Und wie können wir mit eigenen, herausfordernden Gefühlen umgehen und unser Kind so annehmen, wie es ist? Eltern erhalten Informationen zu Themen wie Therapieplanung, Schulwahl, Strukturierungshilfen, Erziehung, sexuelle Aufklärung und Selbstständigkeitsentwicklung für ihr Kind mit geistiger Behinderung in verschiedenen Lebensphasen. Praktische Fallbeispiele und Tipps unterstützen bei der Erarbeitung individueller Lösungsstrategien für den familiären Alltag und verhelfen allen Betroffenen zu neuer Stärke und Zuversicht.

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Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03215-0 (Print)

ISBN 978-3-497-61785-2 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61786-9 (EPUB)

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com/kali9 (Agenturfoto. Mit Models gestellt)

Satz: Katharina Ehle

Bildquellennachweis:

S. 6: © iStock.com/DenKuvaiev, S. 9: © iStock.com/LSOphoto, S. 40: © iStock.com/yacobchuk, S. 117: © iStock.com/monkeybusinessimages, S. 168: © iStock.com/Eleonora_os

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

 

1 Zu Beginn

2 Was bedeutet die Diagnose Intelligenzminderung? – Fachwissen für Eltern

Intelligenz, Intelligenzminderung, geistige Behinderung – einige Begriffserklärungen zu Beginn

Entwicklungsstörungen – erste Anzeichen für eine Intelligenzminderung

Beobachten und Testen – von der Vermutung zur Diagnose

Woher kommt das nur? – Mögliche Ursachen einer Intelligenzminderung

In die Schublade gesteckt? – Vom Sinn und Unsinn einer Diagnose

Was eine Intelligenzminderung nicht bedeutet

3 Hilfen für Ihr Kind

Die Grundlage von allem: eine sichere Bindung aufbauen

Die Entwicklung unterstützen – Therapie und Förderung planen

Sicherheit im Alltag finden – Strukturierung und Visualisierung gezielt nutzen

Teilhabe ermöglichen – Erziehung zur Selbstständigkeit

Herausforderndes Verhalten begrenzen – Ideen für eine gelingende Erziehung

Mit der Welt in Kontakt treten – Förderung von Sprache und Kommunikation

Über Sexualität aufklären – Wissen und Schutz vermitteln

Was die Gesellschaft leisten kann – soziale Hilfen ausschöpfen

Der Weg ins Erwachsenenleben – Ablösung zulassen und fördern

4 Hilfen für die ganze Familie

Angst, Wut, Trauer, Schuld – mit belastenden Gefühlen umgehen und die Diagnose verarbeiten

Wieder leben lernen – Selbstfürsorge für Eltern

Die Partnerschaft als Kraftquelle – wie Sie Ihre Paarbeziehung stärken

Raus aus dem Schatten – Geschwisterkinder im Blick behalten

Hilfreiche Kontakte aufbauen – der Umgang mit dem sozialen Umfeld

5 Service

Literatur

Adressen und Anlaufstellen

Register

1Zu Beginn

Wenn bei einem Kind eine geistige Behinderung festgestellt wird, führt das zu einer großen Verunsicherung. Alle Wünsche und Hoffnungen, die die Eltern für ihr Kind und die Familie hatten, scheinen sich urplötzlich in Luft aufzulösen. Viele offene Fragen stehen im Raum. Und viel zu oft werden die Eltern mit diesen Fragen allein gelassen. Obwohl weltweit etwa 1–3 % aller Kinder von einer geistigen Behinderung betroffen sind, bleiben die Kinder und ihre Familien in der Gesellschaft weitgehend unsichtbar. Beratungsangebote und Informationsmaterial sind rar gesät. Viele Eltern fühlen sich mit ihren Problemen alleingelassen.

Durch meine Tätigkeit als Psychologin in einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) lernte ich zahlreiche Kinder mit geistiger Behinderung und ihre Familien kennen. Die Fragen, die sich bei der Diagnosemitteilung und im Behandlungsverlauf stellten, waren oft dieselben: Was bedeuten der IQ-Wert und die Diagnose Intelligenzminderung? Welche Therapien braucht mein Kind? Wie gehen wir mit herausfordernden Verhaltensweisen um? Welche sozialen Hilfen stehen uns zu? Wie können wir Angst und Trauer überwinden und unser Kind so annehmen, wie es ist?

Nicht jede dieser Fragen kann direkt beantwortet werden. Jedes Kind ist anders. Doch es gibt Ideen und Strategien, die vielen Familien helfen. Diese möchte ich Ihnen hier an die Hand geben. Im ersten Teil des Buches erhalten Sie kurz und verständlich Fachwissen zur Diagnose Intelligenzminderung. Dieses wird Ihnen helfen, Gespräche mit ärztlichen und therapeutischen Fachkräften besser zu verstehen und geeignete Therapieziele für Ihr Kind zu vereinbaren. Der zweite Teil des Buches widmet sich den Fördermöglichkeiten für Ihr Kind in vielen verschiedenen Bereichen. Praktische Fallbeispiele und Tipps sollen Ihnen als Inspiration dienen, um das Alltagsleben mit Ihrem Kind noch besser zu gestalten. Der dritte Teil des Buches widmet sich der gesamten Familie. Das Leben mit einem Kind mit geistiger Behinderung ist für alle Familienmitglieder eine riesige Herausforderung. Hier erfahren Sie, wie Sie mit der einschneidenden Diagnose umgehen und wie die gesamte Familie neue Stärke und Zuversicht gewinnt.

Das Buch ist so gegliedert, dass man es gut von vorn nach hinten lesen kann. Wer möchte, kann es jedoch auch wie ein buntes Buffet betrachten: Je nach Bedürfnis greifen Sie sich das Häppchen heraus, das Sie gerade brauchen. Damit Sie schneller zum Ziel gelangen, finden Sie am Ende ein Sachregister mit wichtigen Schlagwörtern.

Dieses Buch richtet sich an alle Menschen, die sich für Kinder mit geistiger Behinderung interessieren, diese betreuen, begleiten oder fördern. Es richtet sich ausdrücklich an Menschen aller Geschlechter, weshalb ich mich für eine geschlechtsneutrale Schreibweise entschieden habe. Vielleicht werden Sie dadurch einige neue oder weniger bekannte Begriffe kennenlernen. Nur bei einigen rechtlich geschützten Berufsbezeichnungen verwende ich die weiblichen und männlichen Formen. Auch hier sind jedoch stets Angehörige aller Geschlechter gemeint.

Alle Fallgeschichten und die Namen der Kinder sind frei erfunden. Sollten die Eltern der von mir behandelten Kinder dennoch Ähnlichkeiten entdecken, so ist dies nicht beabsichtigt.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und verbleibe mit den besten Wünschen für Ihre Familie!

Caroline Tost

im Juni 2023

2Was bedeutet die Diagnose Intelligenzminderung? – Fachwissen für Eltern

In diesem Kapitel erfahren Sie, was die Begriffe Intelligenzminderung und geistige Behinderung bedeuten, welche Entwicklungsstörungen damit einhergehen und wie psychologische Fachkräfte den Intelligenzwert messen. Zudem erhalten Sie Informationen über mögliche Ursachen der Beeinträchtigung. Am Ende folgen einige Gedanken zum Nutzen und den Grenzen der Diagnose „geistige Behinderung“.

Intelligenz, Intelligenzminderung, geistige Behinderung – einige Begriffserklärungen zu Beginn

Beispiel

 

Emil (5 Jahre) ist das erste Kind von Familie Haase. Er war ein sehr pflegeleichtes und ruhiges Baby, das viel schlief. Als Emil im dritten Lebensjahr in den Kindergarten kommt, fällt den Eltern erstmals auf, dass er manche Dinge noch nicht kann, die andere, gleichaltrige Kinder bereits beherrschen. Emil spricht nur wenige Worte, er läuft oft unsicher und zeigt kein Interesse am Malen und Basteln. Es fällt ihm schwer, am Spiel der anderen Kinder teilzunehmen. Auch die Großeltern sagen des Öfteren, dass mit Emil etwas nicht stimmt; was für die Eltern sehr belastend ist. Als Emil mit vier Jahren immer noch deutliche Entwicklungsrückstände aufweist, verschreibt die Kinderärztin eine heilpädagogische Förderung und Logopädie. Die Eltern sind erleichtert. Sie hoffen, dass nun alles gut wird. Doch Emil macht weiterhin nur sehr kleine Entwicklungsfortschritte. Die Kinderärztin empfiehlt einen Intelligenztest bei einem Kinderpsychologen. Der Psychologe ist sehr freundlich. Er stellt den Eltern viele Fragen und führt einen Test mit Emil durch. Hinterher erklärt er den Eltern, dass Emils Ergebnisse im Vergleich zu anderen Kindern „weit unterdurchschnittlich“ sind. Es bestehe der Verdacht auf eine „Intelligenzminderung“. Die Eltern sind entsetzt. Im Internet finden sie den Begriff „geistige Behinderung“. Was bedeutet das? Wird Emil gar nichts lernen können? Kann er überhaupt eine „richtige Schule“ besuchen? Und wird er jemals selbstständig werden?

Wenn bei einem Kind eine geistige Behinderung bzw. eine Intelligenzminderung diagnostiziert wird, erleben viele Eltern eine große Unsicherheit bezüglich der Diagnose. Die meisten Eltern haben schon Menschen mit geistiger Behinderung gesehen und vielleicht auch zu ihnen Kontakt gehabt; doch ist jede Behinderung anders ausgeprägt, es bleibt unklar, was die Diagnose genau bedeutet. Um mehr innere Sicherheit zu erlangen und sich mit ärztlichen und therapeutischen Fachkräften angemessen austauschen zu können, benötigen Eltern ausreichendes Wissen. Eine erste Einführung in alle wichtigen Begriffe erhalten Sie in den folgenden Abschnitten.

Intelligenz – ein umstrittener psychologischer Begriff

Wissen Sie, was es bedeutet, intelligent zu sein? Natürlich, mögen Sie denken. Und vielleicht haben Sie das Bild einer Professorin, eines Erfinders oder einer Unternehmerin vor sich, die innovative Ideen haben und damit Erfolg, Geld und Ansehen erwerben.

Doch wie würden Sie Intelligenz genau definieren? Das ist schon schwieriger, mögen Sie nun denken. Mit diesem Problem sind Sie nicht allein. Tatsächlich gibt es in der psychologischen Forschung bis heute keine einheitliche Definition für den Begriff Intelligenz.

Intelligenz ist eine Umschreibung für die sinnvolle Anwendung von Wissen und die kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschen. Hier ein Beispiel für eine Definition:

„Die Fähigkeit zum Benutzen von Wissen, um zu schlussfolgern, Entscheidungen zu treffen, Ereignisse zu erklären, Probleme zu lösen, komplexe Ideen zu verstehen, rasch zu lernen und sich an umweltbezogene Herausforderungen anzupassen.“ (Gazzaniga et al. 2017, 470)

Dies ist jedoch nur eine Definition von vielen, es gibt noch weitere. Das liegt daran, dass die Forschenden unterschiedliche Meinungen davon haben, welche Fähigkeiten und Leistungsbereiche zur Intelligenz gehören und welche nicht. Manche bestreiten sogar, dass es so etwas wie die „eine“ Intelligenz überhaupt gibt. Ein anderes Problem ist, dass man Intelligenz schlichtweg nicht genau messen kann. Anders als die Größe oder das Körpergewicht eines Menschen können wir Intelligenz nicht mit einem Maßband oder einer Waage bestimmen. Stattdessen müssen psychologische Fachkräfte Intelligenz beobachten, beschreiben und mit speziellen Tests untersuchen. Solche Intelligenztests unterscheiden sich jedoch untereinander. Sie sind fehleranfällig und können verfälscht werden (mehr zum Thema Intelligenztest erfahren Sie in Kap. 2 Beobachten und Testen – Von der Vermutung zur Diagnose).

Abb. 1: Die Verteilung der IQ-Werte in der Bevölkerung

Was bedeutet der IQ-Wert?

Um die Intelligenz von einzelnen Personen genauer beschreiben zu können, entwickelten psychologische Fachkräfte den Intelligenzquotienten (kurz: IQ). Der IQ ist ein Vergleichswert, der die Ausprägung der Intelligenz einer Person im Vergleich zur Gesamtbevölkerung beschreibt. Um den IQ-Wert zu berechnen, werden die Ergebnisse einer Person in einem Intelligenztest mit den Ergebnissen einer Normstichprobe von gleichaltrigen Personen verglichen. Liegt eine Person bei diesem Vergleich genau in der Mitte, erhält sie den IQ-Wert 100. Das bedeutet, dass etwa eine Hälfte der Bevölkerung eine niedrigere und die andere Hälfte eine höhere Intelligenz besitzt.

Vergleicht man die Intelligenztestergebnisse einer altersgleichen Bevölkerungsgruppe, so ergibt sich eine glockenförmige Kurve (s. Abb. 1). Wissenschaftlich spricht man von einer „Normalverteilung“. Wie Sie sehen, befinden sich die IQ-Werte der meisten Personen nah an der Mitte der Kurve. Man spricht hier vom durchschnittlichen Bereich bzw. vom Altersnormbereich. Dieser entspricht einem IQ-Wert zwischen 85 und 115. Nur wenige Menschen befinden sich etwas oberhalb der Kurve („überdurchschnittlich“: IQ zwischen 116 und 130) oder leicht unterhalb der Kurve („unterdurchschnittlich“: IQ zwischen 70 und 84). Menschen, die im unterdurchschnittlichen Bereich liegen, haben häufiger Lernschwierigkeiten (früher sprach man auch von einer „Lernbehinderung“). Nur ganz wenige Menschen erzielen Ergebnisse außerhalb der beschriebenen Bereiche. Etwa 2 % aller Menschen besitzen einen IQ über 130 und können somit als hochbegabt bezeichnet werden. Auf der anderen Seite gibt es ca. 2 % der Menschen, die einen IQ-Wert unter 70 erreichen. Sie können die Diagnose Intelligenzminderung bzw. geistige Behinderung erhalten.

Intelligenzminderung – eine medizinische Diagnose

Wenn Sie die Arztbriefe Ihres Kindes lesen, werden Sie als Diagnose eher den Begriff „Intelligenzminderung“ als die Bezeichnung „geistige Behinderung“ finden. Dies ist die offizielle Krankheitsbezeichnung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Praxis werden beide Begriffe oft gleichbedeutend verwendet.

Definition

Die WHO definiert die Intelligenzminderung als „eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z. B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten.“ (AWMF online 2021, 18)

Die Diagnosekriterien finden sich im internationalen Diagnosesystem der WHO, der sogenannten ICD-10 („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“, auf Deutsch „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“, 10. Version). Mithilfe dieses Systems kodieren ärztliche und psychologische Fachkräfte ihre Diagnosen für die Krankenkassen. Laut ICD-10 sollten für die Diagnose einer Intelligenzminderung folgende drei Kriterien erfüllt sein:

1. Ein weit unterdurchschnittlicher Intelligenzwert (IQ unter 70): Zur Bestimmung des IQ-Werts sollte ein standardisierter Intelligenztest verwendet werden. Bei grenzwertigen Ergebnissen (IQ-Wert knapp über oder unter 70) sollten mehrere Testungen erfolgen und ggf. sollte zunächst nur eine Verdachtsdiagnose vergeben werden.

2. Einschränkungen im adaptiven Verhalten: Neben einem weit unterdurchschnittlichen Intelligenzwert bestehen deutliche Defizite bei der Bewältigung alltäglicher Anforderungen. Diese betreffen konzeptionelle Fertigkeiten (z. B. Lesen, Rechnen, Sprache), soziale Fertigkeiten (z. B. Kontaktaufnahme, Spielverhalten) und praktische Fertigkeiten (z. B. Selbstversorgung, Gefahreneinschätzung). Diese sind jeweils im Vergleich zu den durchschnittlichen Fähigkeiten gleichaltriger Kinder zu bewerten.

3. Die Auffälligkeiten bestanden bereits vor dem 18. Lebensjahr: Mit diesem Kriterium wird die Intelligenzminderung von später auftretenden hirnorganischen Erkrankungen abgegrenzt (z. B. einer Demenz). In seltenen Fällen kann eine Intelligenzminderung jedoch auch noch nach dem 18. Lebensjahr diagnostiziert werden.

Ausnahmen und Sonderfälle

Wie Sie bereits sehen konnten, unterliegt die Diagnose einer Intelligenzminderung einigen Unsicherheiten. Intelligenztests weisen Ungenauigkeiten auf und IQ-Werte können sich von Untersuchung zu Untersuchung leicht unterscheiden. Zudem können manche Kinder aufgrund einer stark verzögerten Entwicklung oder zusätzlicher Einschränkungen (z. B. körperliche Behinderung, Sehbehinderung) gar nicht getestet werden. Auch die Einschätzung der adaptiven Fähigkeiten ist sehr subjektiv und hängt davon ab, was Eltern und Betreuende berichten. Das ICD-10 lässt den diagnostizierenden Fachleuten deshalb einige Freiheiten. Letztlich entscheidet der klinische Eindruck der ärztlichen bzw. psychologischen Fachkräfte – also die persönliche Beobachtung des zu beurteilenden Kindes und die Interpretation seines Verhaltens –, ob eine Diagnose vergeben wird oder nicht.

Beispiel

 

Júlia (12 Jahre) erreicht bei einem Intelligenztest einen IQ-Wert von 68. Die erziehungsberechtigten Großeltern berichten, dass Júlia eine Lernförderschule besucht und dort Noten zwischen 2 und 3 erzielt. Júlia hat mehrere Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig trifft. Zudem singt sie im Jugendchor der Gemeinde. Júlia kann sich alleine waschen und anziehen und einfache Mahlzeiten zubereiten. Aufgrund der altersgerecht entwickelten adaptiven Fähigkeiten vergibt die Psychologin trotz eines IQ-Werts von 68 lediglich eine Verdachtsdiagnose auf Intelligenzminderung. Sie empfiehlt den Großeltern, Júlia vor dem 18. Geburtstag erneut testen zu lassen, um die Diagnose zu festigen oder auszuschließen.

Nils (ebenfalls12 Jahre) erreicht bei einem Intelligenztest einen Gesamtwert von 71. Die Eltern berichten, dass er nach der dritten Klasse aufgrund unzureichender Leistungen die Lernförderschule verlassen musste und nun eine „Schule mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ besucht. Nils hat das Lesen erlernt; er kann das Gelesene jedoch nicht verstehen und wiedergeben. Beim Waschen und Anziehen benötigt er stets die Anleitung und Kontrolle der Eltern. Nils traut sich nicht, alleine das Haus zu verlassen, da er sich oft verläuft. Wenn er mit anderen Kindern spielen möchte, vereinbaren die Eltern das Treffen und begleiten ihn. Aufgrund der vielfältigen Einschränkungen im alltäglichen Leben vergibt der Psychologe die Diagnose „Intelligenzminderung“, obwohl der IQ-Wert leicht über 70 liegt.

Was bedeutet die Kodierung?

Damit ärztliche und psychologische Fachkräfte ihre Leistungen bei der Krankenkasse abrechnen können, müssen sie ihre Diagnosen mit einem Code nach ICD-10 kennzeichnen. Betrachten wir als Beispiel den Code F70.0G. Das „F“ bezeichnet das übergeordnete ICD-10-Kapitel der „Psychischen und Verhaltensstörungen“. Die „7“ steht für das Kapitel der Intelligenzstörungen. Es beginnen also alle Diagnoseschlüssel für Intelligenzminderungen mit „F7“. Die darauffolgende Ziffer bezeichnet den Schweregrad der Intelligenzminderung. Die „0“ in unserem Beispiel steht hier für „leichtgradig“ (Näheres zur Einteilung der Schweregrade finden Sie weiter hinten in Kap. 2 Schweregrad und Intelligenzprofil). Mit der Zahl hinter dem Punkt wird angegeben, ob zusätzlich zur Intelligenzminderung eine behandlungsbedürftige Verhaltensstörung vorliegt. In unserem Beispiel besagt die „0“, dass keine solche Störung vorliegt. Der Buchstabe „G“ besagt schließlich, dass die Diagnose „gesichert“ ist. Ein „V“ bedeutet, dass es sich um eine Verdachtsdiagnose handelt und weitere Untersuchungen notwendig sind. Ein „A“ bedeutet, dass die Diagnose ausgeschlossen wurde. In diesem Fall liegt keine Intelligenzminderung vor.

ICD-11:

Das Diagnosesystem ICD wird regelmäßig aktualisiert und angepasst. Gerade wird eine neue Version eingeführt – das ICD-11. Die Intelligenzstörungen werden dort mit dem Code 6A00 verschlüsselt. Bis dieses neue Kodierungssystem in der Praxis angewendet wird, wird es aber noch einige Jahre dauern (AWMF online 2021, 18).

Geistige Behinderung – ein sozialrechtlicher Begriff

Auch wenn der medizinisch korrekte Fachbegriff „Intelligenzminderung“ heißt, so wird im Alltag häufig von „geistiger Behinderung“ gesprochen. Dieser Begriff entstammt der pädagogischen Forschung und dem Sozialrecht. Er hat sich im Sprachgebrauch durchgesetzt. Laut SGB IX, § 2 Abs. 1 Satz 1 gelten Menschen als behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist.“ (AWMF online 2021, 18) Menschen mit geistiger Behinderung sind demnach Personen, die aufgrund von Defiziten in der Intelligenzentwicklung in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt sind und Anspruch auf besondere Unterstützung haben.

Der Begriff geistige Behinderung wurde 1958 durch die damals begründete „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ entwickelt, um veraltete Bezeichnungen wie „Idiotie“ oder „Debilität“ zu ersetzen (Biewer / Koenig 2019, 37). Auch für die geistige Behinderung gibt es keine einheitliche Definition. Heutzutage vertreten viele Forschende zudem eine ganz neue Ansicht: Nicht der Mensch selbst ist es, der „behindert“ ist. Vielmehr sind es die gesellschaftlichen Bedingungen, die diesen Menschen an seiner Teilhabe „behindern“. Eine besonders anschauliche Beschreibung der geistigen Behinderung liefert Barbara Senckel (2017, 23):

„Ein Mensch mit Intelligenzminderung ist in der Fähigkeit beeinträchtigt, Reize, die er aus der Umwelt oder seinem Körperinneren aufnimmt, in sinnvolle Informationen umzuwandeln und angemessen darauf zu reagieren. Es fällt ihm schwerer als einem ‚normal Begabten‘ […], seine Wahrnehmungen zu organisieren und zu verstehen, Handlungen zu planen und durchzuführen, den Erfolg zu bewerten und aus seinen Erfahrungen zu lernen, also sein Verhalten bei Misserfolg zweckmäßig abzuwandeln. Konkret bedeutet das: Ein geistig behindertes Kind braucht viel länger, um elementare Zusammenhänge zu erfassen und Handlungsabfolgen zu begreifen.“

Wer ist betroffen?

Laut verschiedenen Studien haben etwa 0,6 % bis 3 % aller Menschen eine geistige Behinderung. Männer sind etwas häufiger von Intelligenzminderungen betroffen als Frauen (AWMF online 2021, 12). Als Ursache hierfür wird u. a. das männliche Geschlechtschromosom (Y-Chromosom) angesehen, welches Gendefekte auf dem weiblichen X-Chromosom nicht ausgleichen kann.

Welche Bezeichnung sollten wir verwenden?

Bei dieser Vielzahl von Begriffen haben Sie sich vielleicht bereits gefragt, welches denn nun die korrekte Bezeichnung für die Besonderheit Ihres Kindes ist. Neben der unklaren Definition der Begriffe gibt es das Problem, dass einige Bezeichnungen als diskriminierend empfunden werden. Manche Eltern und Betroffene empfinden bereits den Begriff „geistige Behinderung“ als abwertend und benutzen stattdessen lieber Bezeichnungen wie „besonders“, „beeinträchtigt“ oder „Kind mit Handicap“. Andere Eltern verwenden lieber die Bezeichnung „geistige Behinderung“, da diese die Schwere der Einschränkungen ihres Kindes besser verdeutlicht. Welche Umschreibung Sie nutzen wollen, können und müssen Sie selbst entscheiden.

Eine ausführliche Erläuterung und Diskussion der einzelnen Begrifflichkeiten find Sie unter https://de.wikipedia.org/wiki/Geistige_Behinderung#Alternativen_f%C3%BCr_den_Begriff_%E2%80%9Egeistig_Behinderte%E2%80%9C,_Interpretations-_und_Zuordnungsprobleme.

In eigener Sache: Weshalb ich von „Kindern mit geistiger Behinderung“ spreche

Ich persönlich benutze die Begriffe geistige Behinderung und Intelligenzminderung weitgehend gleichbedeutend und verwende sie in diesem Buch der besseren Lesbarkeit wegen abwechselnd. Es ist mir bewusst, dass der Begriff „geistige Behinderung“ nicht mehr unbedingt zeitgemäß klingt und von einigen Menschen als unpassend empfunden wird. Ich benutze ihn jedoch, da ich keinen besseren Begriff finden konnte, der von allen Menschen verstanden wird und der dem Schweregrad der Einschränkungen durch eine Intelligenzminderung gerecht wird. Wichtig ist mir, nicht von „den Behinderten“, sondern von „Menschen mit Behinderung“ zu sprechen. So wird deutlich, dass die Behinderung nur eines von vielen Merkmalen ihrer Gesamtpersönlichkeit ist.

Entwicklungsstörungen – erste Anzeichen für eine Intelligenzminderung

Die wenigsten Eltern wissen bereits bei der Geburt ihres Kindes, dass dieses eine geistige Behinderung entwickeln wird. Die Diagnose einer Intelligenzminderung ist meist das Ende eines langen Diagnostikprozesses. Viele Eltern erleben geradezu eine Odyssee von Terminen bei Fachärztinnen und -ärzten, Untersuchungen und Tests, bis eine Diagnose feststeht. Den Eltern fallen zunächst meist gewisse Verzögerungen in der Entwicklung ihres Kindes auf. Diese betreffen nicht nur die kognitive Entwicklung, sondern auch andere Bereiche wie die Motorik, die Sprache und die sozialen Fähigkeiten des Kindes. Eine geistige Behinderung zeigt sich im Kindesalter zunächst in Form eines Entwicklungsrückstands gegenüber altersgerecht entwickelten Kindern. Dieser beträgt anfangs nur einige Monate oder Jahre. Je älter das Kind wird, desto größer und auffälliger wird jedoch der Abstand zu gleichaltrigen Kindern. Mit Erreichen des Erwachsenenalters bleibt dann ein gewisser Entwicklungsrückstand bestehen.

Im Folgenden lernen Sie einige typische Verhaltensweisen im Kindergarten- und Vorschulalter kennen, die auf eine starke Entwicklungsverzögerung im Sinne einer Intelligenzminderung hinweisen können. Diese müssen nicht bei jedem Kind auftreten; sie werden in der Praxis jedoch häufig beobachtet. Vielleicht finden Sie Ihr eigenes Kind in einigen Beispielen wieder.

Spielen: Das Kind spielt nicht mit altersgerechten Spielsachen, sondern bevorzugt Spielsachen für kleinere Kinder. Es hantiert mit Bauklötzen, Autos oder Steckspielzeug. Spielsachen für Kinder seines Alters nutzt es zweckentfremdet. Zum Beispiel spielt es mit dem Puppenhaus keine Rollenspiele, sondern stapelt die Möbel übereinander oder reiht die Püppchen in einer Reihe auf.

Kontakt zu anderen Kindern: Das Kind meidet größere Kindergruppen. Wenn mehrere Kinder zusammen sind, sucht es eher Kontakt zu deutlich jüngeren Kindern, beobachtet diese oder spielt neben ihnen. Um mit gleichaltrigen Kindern in Kontakt zu treten und an Gruppenaktivitäten teilnehmen zu können, benötigt es die Hilfe einer erwachsenen Bezugsperson.

Sprache: Das Kind beginnt verspätet zu sprechen und macht nur geringe Fortschritte. Es fällt ihm schwer, die Regeln der Grammatik und des Satzbaus korrekt anzuwenden, und es kann sich nur wenige neue Wörter merken. Es wiederholt oft, was andere sagen (Echolalie) und benutzt immer wieder dieselben Phrasen (z. B. „Das ist ja ein Durcheinander.“).

Körpermotorik: Die motorische Entwicklung ist verzögert. Das Kind krabbelt spät und lernt erst spät zu laufen. Es zeigt Probleme mit dem Gleichgewicht und der Koordination. Das Kind erlernt erst spät mit dem Roller, Laufrad oder Fahrrad zu fahren. Es benötigt hierzu sehr viel Zeit zum Üben.

Alltägliche Abläufe: Das Kind fordert immer die gleichen Alltagsroutinen ein und ist dabei weniger flexibel als andere Kinder seines Alters. Es ist verwirrt und stark verunsichert, wenn sich alltägliche Abläufe ändern. Besondere Tage wie Weihachten, Geburtstag oder Fasching lösen Angst oder widerwilliges Verhalten aus.

Konzentration und Aufmerksamkeit: Das Kind kann sich nur sehr kurz konzentrieren. Es ist unruhig, läuft viel umher und wechselt oft zwischen verschiedenen Spielen. Es fällt ihm schwer, am Tisch sitzenzubleiben. Wenn es Aufgaben erfüllen soll, erschöpft es schnell oder verweigert die Mitarbeit.

Handlungsplanung: Das Kind zeigt wenig Eigeninitiative und Kreativität. In Kindergruppen bringt es selten Spielideen ein und macht meist nach, was die anderen Kinder vormachen. Es fällt ihm schwer, mehrteilige Handlungen selbstständig auszuführen. Hierzu benötigt es eine schrittweise Anleitung einer erwachsenen Bezugsperson (z. B. beim Anziehen und Zähneputzen).

Schulnahe Fähigkeiten: Das Kind zeigt auch im Alter von sechs bis sieben Jahren noch wenig Interesse an Buchstaben und Zahlen. Farben und Formen kann es noch nicht korrekt benennen oder verwechselt und vergisst diese häufig. Bei schulvorbereitenden Aktivitäten im Kindergarten ist es schnell überfordert.

Gedächtnis: Das Kind kann sich nur schwer neue Inhalte merken. Wichtige Informationen müssen häufig wiederholt werden.

Malen: Das Kind zeigt lange Zeit wenig Interesse am Malen und anderen feinmotorischen Tätigkeiten. Es kritzelt nur Striche und Kreise und zeichnet erst spät erkennbare Figuren (z. B. einen Kopffüßler).