Ein kleines Buch vom Leben auf dem Land - Agnes Ravatn - E-Book

Ein kleines Buch vom Leben auf dem Land E-Book

Agnes Ravatn

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Beschreibung

Nach langen Jahren in der norwegischen Hauptstadt Oslo zieht die Schriftstellerin Agnes Ravatn mit Mann und Baby für ein halbes Jahr aufs westnorwegische Land. Sie wollen in ihrer Elternzeit das Experiment machen, die Stadt gegen die Natur einzutauschen, und bekommen zu diesem Zweck ein gerade renoviertes altes Haus zur Verfügung gestellt, das schon lange im Besitz der Familie ihres Mannes ist. Dort hat Ravatn einen prominenten Nachbarn, den sie bereits seit Jahren kennt – den fast 40 Jahre älteren norwegischen Schriftsteller Einar Økland, der mit Frau und Kindern Jahrzehnte zuvor ebenfalls aus Oslo zurück in seine alte Heimat aufs Land gezogen war. Wie wird es ausgehen dieses Experiment? Gehen oder bleiben?

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Zum Buch

Nach langen Jahren in der norwegischen Hauptstadt Oslo zieht die Schriftstellerin Agnes Ravatn mit Mann und Baby für ein halbes Jahr aufs westnorwegische Land. Sie wollen in ihrer Elternzeit das Experiment machen, die Stadt gegen die Natur einzutauschen, und bekommen zu diesem Zweck ein gerade renoviertes altes Haus zur Verfügung gestellt, das schon lange im Besitz der Familie ihres Mannes ist. Dort hat Ravatn einen prominenten Nachbarn, den sie bereits seit Jahren kennt – den fast 40 Jahre älteren norwegischen Schriftsteller Einar Økland, der mit Frau und Kindern Jahrzehnte zuvor ebenfalls aus Oslo zurück in seine alte Heimat aufs Land gezogen war. Wie wird es ausgehen dieses Experiment? Gehen oder bleiben?

Zur Autorin

AGNES RAVATN wurde 1983 in Norwegen geboren. Sie ist eine preisgekrönte Journalistin, Essayistin und Autorin. Mit ihrem auch international erfolgreichen Roman »Das Vogeltribunal« kam sie 2018 auf die Longlist des Dublin Literary Award.

AGNES RAVATN

Ein kleines Buch vom Leben auf dem Land

Aus dem Norwegischenvon Julia Gschwilm

Die norwegische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »VERDA ER EIN SKANDALE. EI LITA BOK OM LIVET PÅ LANDET« bei Det Norske Samlaget, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Det Norske Samlaget

Copyright © der deutschen Ausgabe 2019 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, Münchennach einem Entwurf von Egli Haraldsen

Coverillustration: Agnes Ravatn

Redaktion: Frauke Brodd / write and read

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23215-3V002www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

»Ich dichte nicht für das Volk. Ich bin das Volk. Das Volk sind so viele, und in meinem Fall bin ich es.«

EINAR ØKLAND

Der Mond über Valestrand

Gestern bin ich mit den ersten Kisten hergefahren. Habe ein provisorisches Schlafzimmer im Speicher eingerichtet und unsere Kleidung in alten, abgeschabten Kommoden verstaut. Kurz darauf, als J in seinem Kinderwagen unter dem großen Baum eingeschlafen war, stand ich mit einem Rechen in der Hand und einem albernen Strohhut auf dem Kopf im Garten. Frisch gemähtes Gras lag in kleinen, verfilzten Haufen um mich herum, drei Adler kreisten hoch über uns, und ich dachte: Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?

Wir werden für ein halbes Jahr auf dem leerstehenden kleinen Bauernhof meiner Schwiegerfamilie leben.

Warum, das wissen wir selbst nicht so recht. Wir hatten von anderen gehört, die während der Elternzeit nach New York, Buenos Aires, Bangkok zogen. Als unser Sohn gerade geboren war, diskutierten wir darüber, wo wir hinziehen sollten. London? Paris? Bis wir beide riefen: »Valestrand?!«

Diesen Traum hatten wir von Zeit zu Zeit immer mal wieder gehabt: der Zivilisation den Rücken kehren und aufs Land ziehen. Ich wegen einer klischeehaften Vorstellung, der Wegzug aus der Stadt würde automatisch »Ruhe zum Schreiben« bedeuten. Wittgenstein hatte seine Hütte in Skjolden, C. G. Jung seinen Turm in Bollingen, Montaigne seinen Turm im Périgord – und ich mein altes Bauernhaus in Valestrand. Mein Lebensgefährte, weil sein Vater auf diesem Hof aufgewachsen war, der nunmehr seit zwanzig Jahren leer stand und an dem keiner aus der Familie Interesse hatte. Wir auch nicht, bislang, aber man könnte es ja mal ausprobieren, oder?

Warum jetzt aus Oslo weg, nach fast zehn Jahren? Davor hatte es uns nach Bergen verschlagen, wie die meisten anderen, die dort studiert und ihre ersten Jobs gefunden hatten. Etwas anderes als die Stadt war eigentlich nie in Frage gekommen, und jetzt saßen wir in unserer hart erkämpften Wohnung fest, mit unseren jeweiligen Arbeitsplätzen im Zentrum von Oslo, unseren guten Freunden und unserem im Großen und Ganzen sehr angenehmen Leben. Aber plötzlich auch mit diesem halben Jahr Elternzeit, um etwas anderes auszuprobieren, näher an den Großeltern zu sein, zu sehen, wie wir in einem völlig anderen Ökosystem zurechtkämen.

Valestrand liegt ganz im Norden des Landkreises Sveio, ganz im Süden von Hordaland, und besteht aus Valevåg und Tittelsnes, zur großen Verwirrung aller Beteiligten. Sind Valevåg und Tittelsnes zwei Gemeinden im Ballungsraum Valestrand, oder sind es zwei Ballungsräume in der Gemeinde Valestrand? Ist Tittelsnes ein Teil des Ballungsraums Valevåg, so wie es bei Wikipedia steht, und ist Valevåg ein Ballungsraum südlich der Gemeinde Valestrand, wie es auch bei Wikipedia steht?! Am besten, man denkt gar nicht darüber nach. Fakt ist, dass hier insgesamt ungefähr siebenhundert Einwohner leben.

Wir haben uns dafür entschieden, allen zu sagen, dass wir in Valevåg wohnen. Hier liegt Valenheimen, die Schweizervilla, in der Fartein Valen sein ganzes Erwachsenenleben lang gewohnt und komponiert hat. Die Extrem-Metal-Band Enslaved kam von hier. Hier gibt es einen Cholerafriedhof, einen stillgelegten Fähranleger, eine Baumschule und einen Hof aus dem 16. Jahrhundert mit siebzehn denkmalgeschützten Bauten, auf dem das erste Fahrrad des Landes zusammengeschraubt wurde.

Der Hof, auf dem wir wohnen, gehört der Großmutter von H, meinem Lebensgefährten, aber sie wird bald sechsundneunzig und wohnt schon seit zwanzig Jahren im örtlichen Pflegeheim. Mein Schwiegervater und sein Bruder haben die verlassenen Gebäude über die vielen Jahre hinweg instand gehalten. Wir haben es mit einem leeren weißen Haus aus den 1880er Jahren zu tun, einem roten Schuppen und einer Werkstatt sowie mit vielen Tausend Quadratmetern Kultur- und Naturland.

Wir haben kein fließendes Wasser, kein Bad und keine Küche, noch nicht, aber wir haben eine kleine Außenküche mit Grill und Spülbecken unter dem Kastanienbaum im Garten, einen Wasserkocher und Feuchttücher für J. Hinter dem Haus gibt es reife Himbeeren. Ein hinkendes Rotkehlchen leistet uns im Garten Gesellschaft. Das Mobilfunknetz ist miserabel. Drinnen werden Wände, Dach und Fußböden fertig, Zimmer für Zimmer. Mein Schwiegervater und sein Bruder sind Tag und Nacht im Einsatz, um das Haus bewohnbar zu machen. Die Küche liegt in flach verpackten Stapeln bereit, morgen kommt der Elektriker. Der Vater eines Freundes war hier, um die Rohre zu verlegen.

Es ist Mittsommer. Hs Elternzeit beginnt morgen, und ich werde schreiben. Kurz nach Neujahr geht es zurück in die Wohnung in Oslo.

Südlich von unserem Haus verläuft eine schmale Landstraße mit Weideland auf beiden Seiten. Nach hundert Metern stößt man auf einen überwachsenen Pfad in ein kleines Waldstück. Man kommt zu einem Gatter. Der Weg auf der anderen Seite des Gatters ist weich von grünem Moos. Man geht eine steile Blumenwiese hinauf und steht auf einem Grundstück. Hier wohnen Einar und Liv Marit Økland. Hier ist sein Elternhaus, ehemals weiß, jetzt kirschrot und mit Anbauten, die sich in alle Himmelsrichtungen ausdehnen. Hier ist sein Fischteich, mitten im Garten, der in der Abendsonne glänzt. Hier sind die Obstbäume, Beerensträucher, Steintreppen und Sitzplätze. Die Schieferplatten zwischen den Häusern, die sie in einem Sommer selbst verlegt haben, weil Einar den Gedanken nicht ertragen konnte, Arbeiter auf dem Grundstück zu haben, während er dasitzen und schreiben sollte. Hinter dem Haus sind die Berge, manche knallgrün und manche völlig kahl. Schöne, urzeitähnliche Schafe laufen dort herum, wie schwarze, braune und graue Wollknäuel auf schlanken Beinen vor dem Birkenwäldchen am Horizont.

Wenn man läutet, taucht eine Gestalt in einem der Fenster auf, man hört Pantoffeln über den Boden oder die Treppe hinunterklacken, bevor die Tür aufgerissen wird: »Hoi!« Das ist die üblichste Begrüßung. Man tritt ein in den Flur, und Einar Økland nimmt einem die Jacke ab. Er ist siebenundsiebzig Jahre alt, schlank und normal groß, oft mit kariertem Hemd und Strickjacke bekleidet. Die Hosenfarbe ist unvorhersehbar, mal orange, mal rot, gelb oder blau. Sein Haar ist grau und halblang und von der hohen Stirn nach hinten gestrichen. Trotz seiner schweren Michael-Caine-artigen Augenlider erinnert er an einen Fuchs.

Vom Flur aus geht man durch eine Schiebetür, aber bevor man in den Wohnbereich kommt, stößt man auf seinen Schreibtisch. Er steht links an der Wand nach Osten, mitten im engsten Durchgang des Hauses: Hier führen eine Treppe nach oben und eine nach unten, und hier müssen alle, die ins Haus oder aus dem Haus wollen, vorbei. Das spricht dafür, dass er die Wahrheit sagt, wenn er seine stärkste Karte als Autor ausspielt: Es stört ihn nicht, gestört zu werden.

Auf dem Schreibtisch steht ein iMac, der in regelmäßigen Abständen ein »Plonk!« von sich gibt. Dann liegt eine neue E-Mail im Posteingang. Sie kann von Jan Erik Vold sein, der Hilfe beim Ausfüllen der Steuererklärung braucht, oder von diversen Internetauktionsseiten, die mitteilen, dass neue Kaufobjekte erhältlich sind, die Øklands sorgfältig ausgewählten Suchwörtern »ungewöhnlich«, »ungewöhnliche« und »ungewöhnliches« entsprechen. (»So erwische ich die Idioten, die keine besseren Beschreibungen abgeben können, die, die nicht wissen, was etwas wert ist, aber dennoch in der Lage sind, zu erkennen, dass das Ding irgendwie ungewöhnlich ist«, hat Einar mir erklärt.)

Am Schreibtisch vorbei kommt man in den Wohnbereich. Links stehen in einem hellen Erker ein großer, weißer, ovaler Esstisch und Regale voller Bücher und LPs. Oben auf den Regalen stehen diverse Skulpturen und Einars große Aschenbechersammlung. Weiter hinten ist die Sitzgruppe: selbst geschreinerte Sofas und Lehnstühle, die Liv Marit mit Marimekko-Stoffen bezogen hat, ein alter Jøtul-Ofen, Stapel von Birkenholz aus dem eigenen Wald. Noch mehr Bücherregale mit Skulpturen obendrauf. Kunst, überwiegend graphische Drucke, bedeckt die Wände.

Ich kenne Einar seit zehn Jahren. Weihnachten 2009 war ich zum ersten Mal bei ihm und Liv Marit zu Hause, um ihn für ein Porträt zu seinem siebzigsten Geburtstag im Monat darauf zu interviewen. Da saßen wir bis zum Morgengrauen zusammen und tranken seinen Lieblingsschnaps, Sliwowitz. Seitdem habe ich sie immer besucht, wenn ich in der Nähe war.

Jetzt sitze ich im Marimekko-Sessel und Einar im Ledersessel. Draußen im Garten ist es stockfinster, mit Ausnahme des sporadischen kurzen Aufflackerns einer Taschenlampe. Jeden einzelnen Abend, wenn es dunkel geworden ist, geht Liv Marit mit einer Taschenlampe bewaffnet und mit etwas, das aussieht wie eine Pistole, nach draußen. Dann läuft sie in dem riesigen Garten herum und erschießt alle Schnecken, die sie findet.

Als wir den Mond erahnen können, der dabei ist, hinter den Bergen aufzugehen, beginnt Einar zu erzählen, wie er einmal die Kniescheiben eines Lehrers zertrümmern wollte. Der Lehrer hatte Einars Sohn im Klassenzimmer an den Haaren vom Stuhl hochgezogen, und kaum hatte Einar davon erfahren, packte er spontan einen Hammer ein und nahm ein Taxi zu dem Lehrer nach Hause, um Blutrache zu üben, wie er es nennt. Auf dem Weg zum Taxi dachte er darüber nach, dass der Lehrer den Rest seines Lebens invalide sein und sowohl sich selbst als auch Einar hassen würde, während Einar im Gefängnis sitzen und wissen würde, dass er das Richtige getan hatte.

Wir werden leider nie erfahren, wie die Literaturgeschichte ausgesehen hätte, wenn der Lehrer an diesem Nachmittag irgendwann in den frühen Achtzigerjahren tatsächlich zu Hause gewesen wäre. Aber das war er nicht, und Einar und sein Hammer mussten unverrichteter Dinge von dannen ziehen.

Das ist also jetzt der Plan: auf dem Land leben, näher am Meer und den Bergen sein, anfangen, die Motorsäge zu benutzen – und Einar besuchen.

Solange man mit sich selbst leben kann

Wir sind jetzt sechs Personen in Regenkleidung, das Durchschnittsalter beträgt sechzig, und wir stehen wie Kindergartenkinder da und starren gebannt in einen Bach. Unser Guide steht auf der anderen Seite und stampft mit schweren Stiefeln am Ufer herum. »Da ist eine!«, entfährt es mir, und die anderen drehen sich blitzschnell um.

Ursprünglich waren wir siebzehn, aber elf sind umgekehrt. Am Cholerafriedhof, dem eigentlichen Ziel der Führung, ist Einar Økland, der Guide, einfach vorbeigerannt. Eifrig schreitet er den steilen Pfad hinauf und verschwindet. Die Autoritätsgläubigsten folgen ihm, während eine große Ausbrechertruppe sich verweigert. »Wir kehren um!«, ruft ihr Wortführer, aber Einar hört nichts, er denkt nur an das, was er uns zeigen will: die Babyflundern.

Die Wendung, die dieser Spaziergang nahm – eine organisierte kleine Wanderung, so richtig mit Annonce in der Lokalzeitung, zum einzigen Cholerafriedhof des Landkreises, mit dem bekannten Autor Einar Økland als Guide und mit all den an seinen Namen geknüpften Erwartungen anschaulicher Schilderungen der grausamen Schicksale unschuldiger Opfer, die dadurch bei den an diesem regnerischen Augusttag Erschienenen ausgelöst worden waren –, liegt ganz auf der Linie seiner Poetik. Der Guide dieses Abends ist bekanntermaßen ein ausgesprochener Gegner von Dramatik, sowohl im Leben als auch in der Literatur, und somit auch im Zusammenhang mit organisierten kleinen Wanderungen. Er will, dass es ihm die ganze Zeit gut geht. Und gut heißt für ihn offenbar gerade, uns einen kleinen Bach zu zeigen, weit, weit vom eigentlichen Ziel des Ausflugs entfernt, einen Bach, in dem neugeborene Flundern leben. Und wenn jemand fest auf den Wall neben dem Bach stampft, kann es sein, dass sie herausschnellen. Da versteht es sich wohl von selbst, dass diese Sensation die Führungsteilnehmer doch bitte wirklich zu interessieren hat.

Aber geht es ihm gut? Und, was mich besonders interessiert, geht es ihm hier gut? Das frage ich ihn, als wir nach dem Ausflug zu ihm nach Hause kommen, unsere Regenkleidung aufgehängt haben und er Wein in die Gläser einschenkt.

Zuvor am selben Tag hatte ich nämlich auf dem Nachbarhof in der Küche gestanden und unruhig nach dem Haken Ausschau gehalten. Denn es musste irgendwo einen Haken geben, einen für das menschliche Auge unsichtbaren Haken. Der Grund dafür war ein Gedanke, der mir durch den Kopf schoss: Ließe es sich vielleicht tatsächlich hier leben?

Die Morgensonne hatte während unseres Frühstücks draußen im Garten wunderbar geschienen. Danach hatte ich Brot gebacken und Suppe mit Kräutern und Grünkohl aus dem Garten gekocht und hinterher eine Tarte mit hiesigen Blaubeeren gebacken – ja, das klingt verdammt gewollt, und mir ist klar, dass so eine Beschreibung in einem gedruckten Buch nur die intellektuelle Variante eines Posts in den sozialen Medien ist. Aber wenn sich schon kein Redakteur eines Frauenmagazins hierherbemüht, um eine Lifestyle-Reportage über mich zu schreiben, dann muss ich das eben selbst in die Hand nehmen. Ich bin übrigens doch stärker, als man meinen sollte, von dem zwanghaften Drang unserer Zeit geprägt, sein Leben um der sozialen Medien willen zu leben, denn als ich eines Nachmittags mit dem Fahrrad ans Wasser fuhr und dabei an all den hübschen kleinen Bauernhäusern vorbeisauste, mit ihren hübschen kleinen Gärten, ihren Rosenbüschen und frisch gemähten Hügeln, dachte ich auf einmal: Warum in aller Welt wollen sie es so schön haben, wenn sie nicht darüber schreiben oder es zeigen können?

Während ich also in der Küche stand und mein perfektes ländliches Instagram-ohne-Internet-Dasein auslebte, suchte ich verzweifelt nach dem Haken.

Na ja, bald würde der Herbst dunkel und feucht und garstig daherkommen, aber das wäre ja keine große Überraschung. Wir haben kein Auto und sind ziemlich eingeschränkt, wenn wir irgendwo hinfahren wollen. Aber das wollen wir ja gar nicht. Und es gibt hier in der Gegend vielleicht nur wenige Kinder im Alter unseres Sohnes. Aber das eilt auch nicht. Bis jetzt gibt er sich damit zufrieden, seinem Stoff-Ferkel das Ohr abzukauen.

Allerdings muss ich gestehen, dass mich ab und zu die Angst streift, »vergessen« zu werden. Jeder weiß, dass man, will man als Künstler halbwegs über die Runden kommen – zumindest wenn das Talent nur so lala ist –, unbedingt ein Teil der Szene sein muss. Auf Partys gehen, Kontakte knüpfen, sich bei Journalisten einschleimen, die einen groß rausbringen wollen, ständig dafür sorgen, seinen Namen warm zu halten. Jetzt, nach dem Umzug aufs Land, bin ich tot. Und diejenigen, die das Glück hatten, mich zu treffen, während ich noch lebte, und die mich mochten, werden sich längst jemand Neuen gesucht haben: den nächsten frischen Wind aus Westnorwegen, mit einem noch schärferen Blick als meinem, jünger, mit schickerer Kleidung und natürlicherer Schminke. Zur Kulturelite zu gehören ist wahrlich kein Zuckerschlecken.

Zurück in Einars Wohnzimmer. Er und Liv Marit und ihre beiden kleinen Kinder sind 1974, nach vierzehn Jahren in der Hauptstadt, aus Oslo weggezogen. Dort war Einar einer von vielen Fischen im riesigen Wasser der Profil