Ein Mädchen aus Køge - Anne M. Weilandt - E-Book

Ein Mädchen aus Køge E-Book

Anne M. Weilandt

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Beschreibung

Die Liebe hört niemals auf.
Und sie verzeiht alles ...


Im Frühjahr 1888 kommt die junge Mari Jansson nach Kopenhagen, um sich zur Malerin auszubilden. Gut hundert Jahre später gibt eines ihrer Bilder in einem Sommerhaus an der Flensburger Förde dem Dänen Poul Schiøtz und der deutschen Touristin Hanne Weber Rätsel auf. Gehörte Mari Jansson zu den Freiluftmalern, die hier in Egernsund vor dem Ersten Weltkrieg die Sommer verbrachten? Hanne begibt sich auf Spurensuche. Aber nicht nur Mari Jansson, auch der charmante Best Ager Poul geht ihr nicht mehr aus dem Sinn ...

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Seitenzahl: 521

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

I HERBST 1885, KØGE BEI KOPENHAGEN

II

III FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND.

IV

V

VI FRÜHJAHR 1886, KØGE BEI KOPENHAGEN

VII

VIII

IX FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND

X FRÜHLING 1888, KØGE BEI KOPENHAGEN

XI FRÜHJAHR 1888, FREDERIKSBERG/KOPENHAGEN

XII FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND

XIII

XIV AUGUST 1920, SØNDERBORG, SØNDERBORG AMT, SÜDJÜTLAND

XV

XVI

XVII SOMMER 1890, FREDERIKSBERG/KOPENHAGEN

XVIII SOMMER 1890, KOPENHAGEN

XIX SOMMER 1890, FREDERIKSBERG/KOPENHAGEN

XX FRÜHJAHR 2017, SØNDERBORG/ALNOR-EGERNSUND, SÜDJÜTLAND

XXI SOMMER 1890, KOPENHAGEN

XXII FRÜHJAHR 2017, FUHLENDORF BEI HAMBURG

XXIII SPÄTSOMMER 1890, KOPENHAGEN

XXIV FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND

XXV

XXVI FRÜHJAHR 1891, KOPENHAGEN

XXVII

XXVIII SOMMER 1891, KOPENHAGEN

XXIX FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND

XXX SOMMER 1894, NØRREBRO, KOPENHAGEN

XXXI SOMMER 1894, KOPENHAGEN/KØGE

XXXII FRÜHJAHR 2017, DYBBØL BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND

XXXIII FRÜHJAHR 1914, KOPENHAGEN

XXXIV FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND

XXXV SOMMER 1914, ALNOR-EKENSUND BEI SONDERBURG, SCHLESWIG-HOLSTEIN

XXXVI

XXXVII FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND

XXXVIII FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND

DIE PERSONEN

GLOSSAR

QUELLEN

NACHWORT

ÜBER DIE AUTORIN

I

HERBST 1885, KØGE BEI KOPENHAGEN

Wie kalt und grau es heute wieder war! Die letzten warmen Tage schienen ewig her zu sein. Auf den Wiesen gegenüber dem Hafen weideten längst keine Kühe mehr, nur ein paar Fischernetze trockneten auf dem dürren Gras. Eine Windbö fegte schwarzgraue Regenwolken über den bleifarbenen Oktoberhimmel, zerrte an ihren Röcken und zwickte in ihre Wangen. Fröstelnd schmiegte Mari sich tiefer in ihr wollenes Umschlagtuch. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte angestrengt über die Mündung der Køger Au auf die Bucht hinaus. Weit draußen, wo Himmel und Wasser ineinander vergingen, lag Schweden, die Heimat des Vaters. Manchmal erzählte er den Geschwistern und ihr von dem Apfelhof, auf dem er aufgewachsen war. Einige Jahre noch, dann wollte sie endlich selbst nach Schonen hinüberfahren und die blühenden Apfelbäume am Meer mit eigenen Augen sehen, statt sich mit einem sehnsüchtigen Blick in die Ferne zu begnügen.

Ein scharfer Windstoß wirbelte Papierfetzen und Unrat von den Pflastersteinen des Hafenplatzes auf. Sonnenstrahlen schienen durch die Wolken, wie Lichtfinger strichen sie über das tiefblaue Wasser der Bucht. An einigen Stellen schimmerte es blaugrün auf. Sie musste dem Vater von dieser ungewöhnlichen Farbe erzählen. Vielleicht konnte er ihr helfen, sie mit ihren eigenen Farben nachzumischen?

Aage drückte ihre Hand. »Ich muss pieschen!«

Mari sah auf den kleinen Bruder nieder. »Warte, bis wir zuhause sind!«, sagte sie bestimmt.

Aage schob das Kinn vor. »Ich muss aber jetzt.«

Mari seufzte. Nun musste es schnell gehen. Sonst würde Aage seinem Drang freien Lauf lassen, bevor sie seinen Hosenlatz aufknöpfen konnte.

Sie blickte zu ihrer Schwester Ebba, die Aages andere Hand hielt. »Hilfst du mir grad?«

Gemeinsam lösten die Mädchen die Knöpfe aus den widerspenstigen Knopflöchern an den Hosenseiten. Dann hielt Ebba den Latz nach unten, damit Aage sein Geschäft verrichten konnte.

Ein Arbeiter rollte Fässer auf einer Schubkarre an ihnen vorbei und zwinkerte ihr zu. »Schön festhalten!«, sagte er.

Ebba lachte, Mari schlug die Augen nieder. Die Schwester war erst acht Jahre alt, deshalb erfasste sie noch nicht, welcher Hintersinn in den Worten des Mannes lag. Aber sie, die drei Jahre ältere, verstand, dass dies eine von jenen Bemerkungen war, mit denen Männer Frauen gern in Verlegenheit brachten. Außerdem erinnerte der vorbeieilende Arbeiter sie daran, dass sie gar nicht hier sein sollten. Die Mutter hatte ihr aufgetragen, das Senfpulver für ihr Fußbad aus der Apotheke zu holen und gleich im Anschluss nach Hause zu kommen. Aber wenn sie in der Nähe war, musste sie einfach zum Hafen vorlaufen und übers Wasser schauen. Hier unten fühlte sie sich dem Apfelhof in Kivik so nah, als wäre er nur einen kleinen Spazierweg von einer Viertelmeile entfernt. Der Hof kam ihr vor wie das Paradies, wo es nicht wie daheim dauernd Zank und Streit gab.

»Fertig!«, verkündete Aage.

Mari knöpfte seinen Latz zu und nahm ihn an die Hand. »Beeilen wir uns lieber! Und kein Wort zu Mutter, dass wir hier unten am Wasser waren«, fügte sie hinzu, während sie den belebten Hafenplatz überquerten und an den Lastseglern vorm Zollkontor und dem Haus des Hafenmeisters vorbei hasteten.

Ebba nickte.

Aage fragte: »Warum nicht?«

»Darum nicht!«, erwiderte Mari. Aage würde ihre Erklärung ohnehin nicht verstehen, plapperte aber gern aus, was er aufgeschnappt hatte. Die Mutter war sowieso gereizt genug gewesen, als sie gegangen waren. Sie wollte keinesfalls ihren Ärger auf sich ziehen.

»Ich kann nicht so schnell!«, quengelte Aage und blieb stehen.

Mari betrachtete ihn halb ärgerlich, halb mitleidig. Er konnte ja nichts dafür, dass die Mutter ihr den kleinen Bruder aufbürdete.

»Gut, ich trage dich bis zu den Bahngleisen«, sagte sie nachgiebig und nahm ihn auf den Arm. »Danach läufst du wieder, ohne zu murren, ja?«

Am Ende trugen Ebba und sie Aage abwechselnd den ganzen Weg an den Hintergärten der Häuser entlang bis zur Brogade.

Vor der Apotheke ließ Mari den Bruder erschöpft aus ihren Armen gleiten. »Die Stufen kannst du wohl selbst hinaufgehen«, sagte sie. »Na, los!«

Die Glocke über der Tür läutete, als sie eintraten.

Mari holte tief Luft. Inmitten der hohen, alten Schränke mit den vielen beschrifteten Schubladen kam sie sich immer klein und unbedeutend vor. Heute fiel außerdem nur wenig Licht auf die bunt bemalten Porzellankruken und braunen Gläser auf den Borden, die sonst den strengen Eindruck ein wenig abmilderten. Da fühlte sie sich gleich noch unbehaglicher. Und zu allem Überfluss stand nicht der Apotheker, sondern Hansen, sein Gehilfe, hinter dem Thresen. Mari mochte ihn nicht, sein Blick war so stechend und er schnarrte beim Sprechen. Nun, sie konnten nicht ewig am Eingang stehen bleiben, also nahm sie Aage an der einen und Ebba an der anderen Hand, ging zu Hansen vor und grüßte ihn höflich.

Er musterte sie eine Weile mit seinen kalten Augen, dann fragte er: »Na, Mari Jansson, du sollst wohl was an die Fru Apotheker ausrichten?«

Mari antwortete nicht, schlug stattdessen den Kleidersaum hoch und legte die zwanzig Øre aus der Tasche ihres Unterrocks vor Hansen hin. »Eine große Tüte schwarzes Senfpulver, bitte.«

Hansen hob die Brauen. »Bist du nicht ein bisschen jung für solche Mittelchen?«, schnarrte er sie an.

Die Röte schoss ihr in die Wangen. »Ich … aber«, stammelte sie.

Der Vorhang hinter Hansen wurde zur Seite geschlagen und die Frau des Apothekers trat neben ihn.

Mari und Ebba knicksten, Mari flüsterte dem Bruder zu, einen Diener zu machen.

Die Fru Apotheker lächelte sie an, dann wandte sie sich an den Gehilfen: »Jetzt geben Sie der Kleinen schon das Pulver, Hansen. Es ist sicher für deine Mutter, Mari?«

Mari nickte erleichtert, die freundliche Fru Apotheker konnte sie gut leiden.

»Fein!« Und während Hansen mit Messlöffel und Waage hantierte, fuhr sie fort: »Bitte richte deiner Mutter aus, dass ich sie die Tage zum Bügeln erwarte. Es hat sich allerhand Plättwäsche angesammelt.«

Mari knickste erneut. »Wie Fru Apotheker wünscht.«

Als die Frau des Apothekers hinausging, erhaschte Mari einen Blick auf das gebauschte Hinterteil ihres Kleides mit den feinen Schleifen und Bändern. Sie unterdrückte ein Lächeln. Vornehme Damen gebrauchten ein eigens angefertigtes Kissen, um ihren Rock auszupolstern, hatte die Mutter ihr erklärt, als sie im Nähzimmer der Fru Apotheker die Weißwäsche ordneten und Mari das Kissen mit dem Bindeband entdeckt hatte. Ein seltsamer Einfall, sich ein Kissen um die Hüften zu binden, statt es unter den Kopf zu legen! Aber da die Fru Apotheker nichts dabei fand, hatte es wohl seine Richtigkeit.

Hansen legte ihr die Tüte hin. »Macht siebzehn Øre«, sagte er.

»Mutter sagt, die Tüte kostet 34 Schilling«, wagte Ebba sich vor.

In Hansens Augen glomm ein Funkeln auf. »Niemand rechnet mehr in Schillingen!«, erklärte er kurz angebunden und legte Mari das Wechselgeld hin. »Und jetzt raus mit euch, ich habe zu tun.«

Der Himmel hing wie ein fahles Laken über dem Kirchturm und den Hausdächern der Kirkestræde, nur wenig Licht drang durch die tief hängenden Wolken.

Oder dämmerte es bereits? Wenn Mari die Sonne nicht sehen konnte, hatte sie immer Mühe, die Tageszeit abzuschätzen. Hoffentlich war es früher, als es schien! Sie lief vor den Geschwistern an der langen Fachwerkmauer des Böttcherhofs entlang und drückte das schwere Hoftor auf. Aus der Werkstatt drang Hämmern und Klopfen auf den gepflasterten Platz mit der Pumpe und dem stillen Örtchen hinaus. Mari schaute zum Hinterhaus hinüber und erschrak. Aus einem der Fenster im oberen Stockwerk hinter dem hölzernen Umgang schien bereits Licht! Aber zündete Madam Beck ihre Lampe nicht immer sehr rechtzeitig an? Und die Mutter wartete nicht unter der Haustür auf sie, also waren sie wohl gar nicht so lange fort gewesen, wie sie gefürchtet hatte.

In der Stube roch es nach geschmorten Zwiebeln, der Wassertopf stand auf dem Herd. Die Mutter saß am Tisch, die Waschbalge zu ihren Füßen, und nahm ihren Eintritt mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis.

Mari hielt sich nicht damit auf, aus den Holzpantinen zu schlüpfen und ihr Umschlagtuch abzulegen. Sie holte das Senfpulver und die Münzen aus ihrer Tasche und reichte sie der Mutter hin. »Bitte sehr, Mor! Die Fru Apotheker erwartet dich die Tage zum Bügeln.«

Die Mutter nickte und sah sie scharf an. »Ihr wart lange fort!«

Aage lief auf sie zu und drückte sich an ihre Röcke. »Ich musste pieschen, aber diesmal ist meine Hose trocken geblieben. Ebba hat den Latz gehalten.«

Die Mutter strich ihm lächelnd übers Haar, dann drehte sie sich zu Ebba: »Gut gemacht, und jetzt hilf ihm mit seinen Schuhen und der Jacke. Und du leg das Geld weg, Mari, und hol kaltes Wasser von draußen! Ich will die Balge aus dem Weg haben, bevor Vater heimkommt.«

Mari legte die Münzen in die Kruke für das Haushaltsgeld auf dem Regal und eilte aufatmend hinaus. Gut, dass Aage die Mutter abgelenkt hatte! Er war eben ihr Liebling und brachte sie fast immer zum Lächeln. Kein Wunder! Er war ja auch so niedlich mit seinen braunen, glänzenden Locken und dem fein geschwungenen Näschen. Da kamen Ebba und sie mit ihren einfachen blonden Zöpfen und den Allerweltsgesichtern nicht mit.

Die Mutter nahm Mari den gefüllten Eimer ab und mischte das heiße mit dem kalten Wasser. Dann rückte sie ihren Stuhl vor die Balge und tunkte die nackten Füße in das dampfende Senfbad. Schon bald rötete sich ihr Gesicht, Schweißperlen erschienen über ihrer Oberlippe.

»Steh nicht herum, Mari!«, sie tupfte ihr Gesicht mit dem Leintuch ab, das über der Stuhllehne hing. »Zünde die Lampe an und schneide Brot, Vater möchte sicher gleich essen, wenn er heimkommt.« Sie stöhnte leise und wischte sich wieder über ihr Gesicht.

Rasch legte Mari ihr Umschlagtuch fort. Wenn Mutter ein Senfbad nahm, weil ihre Tage ausblieben, tat man besser gleich, was sie sagte. Wer weiß, ob sie heute noch einmal so glimpflich davonkommen würde …

Die Lampe stand bereits auf dem Tisch. Mari brannte den Docht an und setzte das Lampenglas auf den Brenner. Dann drehte sie die Flamme höher und ging zum Küchenbord. Im Brotkasten lag ein halbes Roggenbrot.

»Soll ich das ganze Brot aufschneiden?«, fragte sie.

Wieder stöhnte die Mutter verhalten. »Nur die Hälfte«, antwortete sie matt. »Es gibt ja auch noch Kartoffeln und Zwiebeln.« Ihr Gesicht glühte, sie fächelte sich mit dem Leintuch Luft zu.

Mari beugte sich über den Brotlaib. Die Mutter tat ihr leid. Aber ihr Blutfluss musste in Gang gebracht werden, damit kein weiteres Geschwisterchen kam. Die Mutter hatte mit ihnen bereits mehr als genug zu tun, das sagte sie ihnen ja immer wieder.

Mari brachte das geschnittene Brot und deckte den Tisch auch mit Tellern und Besteck, ohne dass die Mutter sie darum gebeten hatte.

Ebba und Aage spielten auf dem Flickenteppich vorm Bett der Eltern mit der Schafherde, die der Vater für sie geschnitzt hatte. Der kleine Bruder war ganz ins Spiel versunken. Er war erst vier Jahre alt und verstand nicht, warum die Mutter mit den Füßen im heißen Wasser schwitzte.

Sie sah zu Ebba. Die Schwester hielt den Schäfer in der Hand und rief eifrig: »Kommt, auf!« über die kleine Herde hin. Ahnte auch sie schon, dass es ihnen beiden einmal wie der Mutter gehen könnte?

Im Vorraum ertönten die leichten, tanzenden Schritte des Vaters. Im Nu stand er in der Stube. Seine braunen Augen leuchteten, er lachte übers ganze Gesicht.

»Far!«, Mari lief ihm entgegen und umfasste seine Mitte.

Er drückte sie an sich und rief über ihren Kopf hinweg: »Was hab’ ich euch alle vermisst!«

Die Mutter trocknete die Füße ab und fuhr hastig in ihre wollenen Strümpfe. »Du bist früh dran, Alfred«, stellte sie in dem vorwurfsvollen Ton fest, in welchem sie oft mit dem Vater sprach.

Sein Lächeln schwand, er löste Maris Griff um seine Taille und wandte sich zur Mutter: »Nicht doch, ich habe wie immer den Abendzug genommen, Jørgine.« Kopfschüttelnd sah er von ihrem schweißnassen Gesicht zur Waschbalge und fuhr fort: »Waren wir nicht übereingekommen, dass du die Senfbäder sein lässt?«

»Weißt du was Besseres?«, fragte die Mutter scharf.

Sie nahm die Balge auf und kippte das Wasser in den Hof, dann machte sie sich am Herd zu schaffen.

Der Vater legte Mütze und Jacke ab und öffnete seine Ledertasche. »Seht mal, was ich für euch habe, Kinder!«, sagte er und hielt drei rotbackige Äpfel in die Höhe.

»Oh, Far!« Mari klatschte entzückt in die Hände, während Ebba und Aage begeistert auf ihn zustürmten.

Aage grub die Zähne in seinen Apfel, dass ihm der Saft das Kinn hinunterlief; auch Ebba biss kräftig ab.

Mari strich behutsam über ihren Apfel und sog begierig den süß säuerlichen Duft seiner Schale ein. »Riechen die Äpfel in Kivik wie dieser, Far?«

Sein Lächeln kam zurück. »Alle Äpfel riechen wie dieser, meine Mari«, erwiderte er.

Sie wollte widersprechen, aber Ebba war schneller als sie.

»Erzähl von Kopenhagen, Far! Hast du den König gesehen?«

»Nicht den König, Ebbalein, aber viele Menschen. Die Stadt brummt«, wandte er sich an die Mutter, »es gab einen Anschlag auf den Staatspräsidenten.«

Die Mutter drückte die Hände an die Brust. »Um Gottes willen, Alfred! Nimmt das Unglück denn kein Ende? Erst der verheerende Brand auf Schloss Christiansborg und jetzt dieses abscheuliche Verbrechen! Sicher weiß unser armer König vor Sorge nicht mehr ein noch aus!«

»Oh, Estrup ist mit dem Schrecken davongekommen«, wiegelte der Vater ab. »Die erste Kugel ist an seinem Jackenknopf abgeprallt und die zweite hat den Torpfosten seines Hauses getroffen. Trotzdem könnte es den Schützen den Kopf kosten. Dabei ist der junge Mann in meinen Augen ein Held.«

»Was sagst du da?«, fragte die Mutter entsetzt.

Der Vater zuckte die Achseln. »Estrup hat den Anschlag selbst heraufbeschworen, meine ich. Weil er im Folketing keine Mehrheit für den Ausbau der Befestigung Kopenhagens bekommt, bringt er die Bürger mit seinen vorläufigen Finanzgesetzen gegen sich auf. Und weil er deswegen Unruhen und Aufruhr fürchtet, verbietet er auch noch das Tragen von Waffen. Das kann einem freien Mann wohl sauer aufstoßen!«

»Unser Präsident muss doch Ruhe und Ordnung im Land aufrechterhalten«, hielt die Mutter ihm vor, »außerdem ist er Gutsbesitzer wie dein seliger Vater.«

Der Vater lachte verächtlich auf. »Und deshalb soll ich wohl Verständnis für ihn aufbringen, Jørgine? Aber lassen wir das. Schaut lieber mal, was ich noch mitgebracht habe!« Mit raschen Schritten ging er zum Bett der Eltern hinüber und leerte seine Tasche. Münzen kullerten auf die Bettdecke, gefolgt von Geldscheinen, einem dicken, in braunes Papier eingeschlagenes Bündel, einigen Farbfläschchen und einem Päckchen Tee.

»Na, was sagt ihr?«, fragte der Vater stolz. »Diesmal hatte Jessen nichts an unserer Arbeit auszusetzen. Wir haben seine Fotografien sehr ansprechend koloriert, er freut sich auf die weitere Zusammenarbeit. Seine Worte! Und schließlich hat er mir einen ganzen Packen neue mitgegeben. Das gibt uns ordentlich zu tun, Mari!«

Mari nickte. Wie der Vater liebte sie Farben und half ihm gern beim Bemalen der Fotografien, die er vom Fotografen und Kunsthändler Jessen aus Kopenhagen mitbrachte.

Der Vater sammelte Scheine und Münzen ein und gab jedem von ihnen einen Øre. Das restliche Geld reichte er der Mutter zusammen mit dem Teepäckchen hin. »Der Tee, um den du gebeten hattest, und dein Haushaltsgeld, meine Liebe. Diesmal wird es sicher für eine ganze Weile reichen.«

Die Mutter kräuselte die Lippen. »Die paar Schillinge?!«

Ein Schatten ging über Vaters Gesicht, gefolgt von einem raschen Lächeln. Er legte den Arm um die Mutter und scherzte: »Seit zehn Jahren zahlen wir schon mit Kronen und Øre, es gibt neuerdings ein Theater, eine Telefonstation, eine elektrische Uhr und sogar eine Warmbadeanstalt in Køge. Aber meine liebe Frau rechnet noch immer in Reichstalern und Schillingen!«

Die Mutter wand sich aus seinem Arm. Sie legte das Teepäckchen ins Regal und das Geld in die Kruke. »Kronen oder Schillinge, jedenfalls kann ich bestimmt nichts zurücklegen, um Kleiderstoff zu kaufen. Dabei gäbe es einen Ausweg, wenn du nur wolltest.«

Bedrückt sah Mari von der Mutter zum Vater. Würden sie wieder anfangen zu streiten?

»Na, es wird auch so gehen«, erwiderte der Vater versöhnlich. »Hab’ ich nicht die Feuerstelle für dich aufmauern lassen und die teure Eisenplatte mit den herausnehmbaren Ringen gekauft, damit du einen ordentlichen Herd bekommst?«

»Nachdem ich jahrelang darum gebeten und gebettelt habe.«

Mari sah mitfühlend zum Vater. Warum war die Mutter nie zufrieden mit ihm?

Er ließ die Schultern sinken und schüttelte den Kopf. »Manchmal weiß ich nicht, warum du mich geheiratet hast, Jørgine.«

Die Mutter ließ ihren Blick über sie hingehen, dann sagte sie zum Vater: »Ich glaube, du weißt es sehr gut.«

Mari zog den Kopf ein. Wie so oft fühlte sie sich schuldig am Streit der Eltern, obwohl sie doch gar nichts Unrechtes getan hatte.

Die Mutter nickte ihr zu. »Lauf hinauf zu Madam Beck. Sie wartet sicher schon auf dich.«

II

Esther Beck faltete die Hände über ihrer Bibel. Wie immer fühlte sie, wie die Weisheit der alten Worte sie stärkte. Ja, alles im Leben hatte seine Zeit. Das Geboren werden, genauso wie das Sterben. Und sie war mehr als bereit, ihren Eltern zu folgen und zu ihrem Schöpfer einzugehen. Ihre Kräfte schwanden dahin, immer öfter musste sie einen der Böttchergesellen bitten, ihr mit der Stiege zu ihrer Stube zu helfen. Den schweren Kessel setzte sie nur noch mit Mühe auf den Dreifuß in der Feuerstelle, vom Anfeuern gar nicht zu sprechen. Nun, wenigstens half ihr die kleine Mari beim An- und Auskleiden. Die Bänder und Haken an Rock und Kleidertaille wollten ihre steifen Finger nicht mehr bewältigen. Immerhin brachte sie es noch fertig, mit der Zange ein Stück Zucker aus der silbernen Schale ihrer lieben Mutter zu nehmen und auf ihre Untertasse zu legen. Den Zucker sollte Mari bekommen, sie freute sich immer so über die Süßigkeit. Wo blieb sie nur? Das Feuer war bereits ausgegangen und in der Stube wurde es merklich kühl. Besser, sie kam ins Bett, bevor sie ganz durchgefroren war.

Es kratzte leise an der Tür, Esther wandte den Kopf. »Komm nur herein!« Sie lächelte Mari zu, die unter der Tür stand und knickste. »Da bist du ja.«

Die Kleine trat zu ihr an den Tisch, ihr Blick war unruhig. »Mutter sagt, Madam Beck wartet schon auf mich?«

»Nur, weil ich so froh über deine Hilfe bin, Mari«, erwiderte Esther Beck freundlich, »also, fangen wir an.«

Sie legte ihr Häubchen ab und zog die Nadeln aus ihrem Knoten, während Mari ihr Deckbett zurückschlug und den Nachttopf unterm Bett hervorholte.

»Vater war in Kopenhagen und hat uns Äpfel mitgebracht«, erzählte sie und fügte hinzu: »Und man hat auf den Präsidenten geschossen. Mutter meint, unser König ist deswegen sehr besorgt, aber Vater sagt, es macht weiter nichts.« Sie sah fragend zu ihr hinüber.

Esther blickte auf ihre Bibel hinunter. Das Mädchen sollte nicht merken, wie entsetzt sie war. Man sollte meinen, Hr. Jansson wäre zu verständig, um solch eine Schreckensnachricht vor seinen Kindern zu verkünden und das Leben eines Menschen als gleichgültig abzutun. Sie seufzte in sich hinein. Hatten die langen Jahre im Schuldienst sie nicht gelehrt, dass Eltern oft erstaunlich wenig über die Wirkung ihrer Worte auf ihre Kinder nachdachten? Umso mehr war es nun an ihr, sich ihre Antwort sorgfältig zurechtzulegen.

»Nun«, erwiderte sie schließlich, »sicher meinte dein Vater, dass Gott den Präsidenten zu sich genommen hat, wie er uns alle eines Tages zu sich nehmen wird.«

Mari trat mit der Bürste in der Hand hinter sie. »Dem Präsidenten ist nichts geschehen«, sie löste ihre Flechten und fuhr mit der Bürste durch Esthers Haar. »Aber Vater sagt, es wird den jungen Mann … den Kopf kosten«, fuhr sie stockend fort.

Esther hütete sich, genauer nachzufragen. Aus der Kjøge Avis würde sie noch früh genug die grausigen Einzelheiten des Anschlags erfahren. Jetzt wollte sie versuchen, Mari zu trösten.

»Das muss sich erst noch zeigen«, sagte sie sanft. »Jedenfalls sollten wir ihn und den Präsidenten in unser Gebet einschließen.«

Mari flocht Esthers Haar zum Nachtzopf und knüpfte ein Schleifenband um das Zopfende. »Den König auch?«, fragte sie.

»Selbstverständlich! Und jetzt erzähl mal, was ihr heute in der Schule gelernt habt.« Esther erhob sich, damit Mari ihr aus Rock und Oberteil helfen konnte.

Geschickt löste die Kleine die Haken und Bänder und führte sie in Hemd und Strümpfen in die Schlafkammer. »Wir haben malgenommen und geteilt und der Herr Lehrer hat aus der Bibel von Ruth und ihrer Schwiegermutter vorgelesen«, berichtete sie, während sie Esther ins Bett half und ihr die Strümpfe auszog.

Esther drückte ihren Arm. »Eine wunderbare Geschichte ist das! Eine treue Seele wie Ruth oder dich um sich zu haben, ist ein großer Segen, kleine Mari. Nun zünde noch die Kerze auf dem Nachttisch an und lösch die Lampe, bevor du hinausgehst. Und nimm deinen Zucker mit und vergiss auch das Beten nicht!«

»Nein, Madam Beck«, Mari knickste. »Danke, Madam Beck.« Zufrieden sprang Mari die Stiege zur Wohnung ihrer Eltern hinab. Sie half Madam Beck gern, genau so stellte sie sich die Großmutter im fernen Kivik vor. Anders als die Mutter hatte Madam Beck es nicht eilig. Sie hörte zu und spürte, wenn Mari etwas quälte, wie der Gedanke an den jungen Mann, der seinen Kopf verlieren sollte. Und sie hatte ihr wieder ein Stück Bruchzucker geschenkt! Mari schmeckte noch einmal der Süße des Zuckers nach, dann trat sie unter den hölzernen Umgang und lauschte zur Haustür hin. In der unteren Wohnung war es still, gottlob stritten die Eltern nicht mehr. Sie stieß die Tür auf und ließ ihre Holzpantinen im Vorraum, wie die Mutter es gern hatte, und ging auf Strümpfen in die Stube.

Der Vater und Ebba saßen am Tisch, der Vater tupfte Lasur auf eine Fotografie. Er ließ das Schwämmchen sinken und lächelte ihr zu. »Komm her zu uns! Dein Abendessen wartet schon auf dich.«

Mari setzte sich auf ihren Stuhl, vor ihr stand eine Tasse Milch und ein Teller mit zwei Schnitten Brot, belegt mit Kartoffeln und geschmorten Zwiebeln. Sie naschte ein wenig von den gebräunten Zwiebelringen, bevor sie in ihr Brot biss. Die Mutter briet die Zwiebeln in Schweinefett aus; ihre Würze war das Beste am ganzen Essen.

»Mutter bringt Aage zu Bett, es wurde Zeit für ihn«, verkündete Ebba. Ihre Augen glänzten. Sie war stolz darauf, dass sie als die Ältere länger aufbleiben durfte als der kleine Bruder.

»Hm.« Mari kaute. Hoffentlich wurde es auch für Ebba bald Bettzeit, gerade heute hätte sie den Vater gern noch ein bisschen für sich, bevor auch sie schlafen gehen musste. Sie wollte ihn ja bitten, mit ihr zusammen das geheimnisvolle Blaugrün des Meeres nachzumischen, das ihr so gefallen hatte. Da musste man ganz bei der Sache sein, Ebbas Geplauder würde sie dabei nur stören. Sie trank ihre Milch aus und stellte Teller und Tasse zum schmutzigen Geschirr in die Waschbalge.

Die Mutter kam aus der Kammer, sie war schon in Hemd und Umschlagtuch. »Aage schläft«, sagte sie zum Vater. »Und ich gehe auch zu Bett. Lass die Mädchen nicht zu lange auf, Alfred.«

»Mach dir keine Gedanken und ruh dich aus! «, erwiderte der Vater zärtlich.

Sah er auch, wie müde die Mutter war? Die Senfbäder setzten ihr immer zu, aber diesmal schien sie noch erschöpfter zu sein als sonst. Litt sie vielleicht Schmerzen?

»Gute Nacht, Mor«, sagte Mari. Heute wollte sie nicht nur den unglücklichen jungen Mann, den König und den Präsidenten in ihr Gebet einschließen, sondern Gott auch darum bitten, dass sie niemals ein Senfbad nehmen musste.

»Gute Nacht, Kinder.« Die Mutter legte sich ins Bett und drehte sich zur Wand, nur ihr weißblonder Schopf lugte noch unter der Decke hervor.

Der Vater seufzte leise, dann wandte er den Blick von ihr ab und schob Mari die Fotografien einer jungen Dame in einem rosengeschmückten Kleid hin. Sie saß in einem Sessel, neben ihr stand eine Topfpalme auf einem Blumenhocker.

»Ich denke mir ihr Kleid in zartem Rosenrot, die Rosen ein wenig kräftiger und ihr Haar in Dunkelbraun wie den Blumentopf und den Hocker. Siehst du, so«, er pinselte die Farben nebeneinander in die freie Ecke eines Stücks Papier, das er für seine Farbproben verwendete. »Und der Hintergrund … na, was meinst du, Mari?«, fragte er halblaut, um die Mutter nicht zu stören.

Ebba legte den Kopf schief. »Wie heißt die Dame, Far?«, fragte sie ebenso leise wie er.

»Oh, über die Namen seiner Kunden spricht Hr. Jessen nicht mit mir, Ebbalein. Ich weiß nur, dass die junge Dame dunkles Haar hat und für die Fotografie ein rosa Kleid trug. Und das wollen wir so wirklichkeitsgetreu wie möglich wiedergeben, nicht, Mari?«

Er betrachtete die wässrige, honigbraune Lasur, die sie mit einem Schwämmchen aufs Papier tupfte, und nickte anerkennend. »Lassen wir die Farbe erstmal so hell, nacharbeiten können wir immer noch.« Er wies auf die Fotografien vor ihr: »Fang du mit dem Hintergrund an, ich kümmere mich morgen um den Rest.«

Mari nahm sich die erste Fotografie vor.

»Ich möchte auch eine Fotografie anmalen«, sagte Ebba.

Der Vater schüttelte den Kopf. »Mal etwas Schönes aufs Papier!« Er riss sein Probeblatt entzwei und gab Ebba den unbenutzten Teil und einen Pinsel. Dann füllte er eine Tasse mit sauberem Wasser und stellte sie vor Ebba hin. »So, da hast du!«

»Nein, gib mir eine Fotografie, wie Mari!«, verlangte Ebba laut.

Die Mutter bewegte sich unruhig unter der Decke.

»Still!«, befahl der Vater. »Oder möchtest du auch schlafen gehen?«

»Aber …«

»Kein aber«, erwiderte er, hob die Schwester von ihrem Stuhl und ging mit ihr hinaus.

Alfred setzte sich wieder an den Tisch und legte die kolorierten Fotografien zwischen die Löschpapierseiten des Trockenbuchs. Er spürte die Müdigkeit in allen Knochen. Erst die Bahnfahrt nach Kopenhagen, dann das demütigende Warten im Hinterzimmer, während Jessen vorn im Atelier die Herrschaften ablichtete und versuchte, sie zu einer von Künstlerhand kolorierten Ausgabe ihrer Fotografie zu überreden. Und schließlich Jessen selbst, der seine Arbeit haargenau prüfte und die eigenen Kosten für Papier und Entwicklung von jeder eingelieferten Fotografie abzog, die keine Gnade vor seinen strengen Augen fand. Eine Partnerschaft nannte er ihre Zusammenarbeit, behandelte ihn aber wie einen Untergebenen. Und er nahm es hin, weil das Kolorieren der Fotografien seiner Künstlerseele besser bekam als das Überprüfen und Stempeln von Frachtbriefen im Hafenkontor. Heute hatte Jessen zum ersten Mal alle Fotografien anstandslos abgenommen und seine Arbeit sogar gelobt. Darauf hatte er sich eine Tasse Bohnenkaffee zu seinem Schmalzbrot gegönnt und die Äpfel für die Kinder und den extra feinen Tee für Jørgine gekauft. Und dennoch war sie wieder nicht zufrieden gewesen. Er rieb über seine schweren Augenlider. Hatte er denn ernsthaft etwas anderes erwartet? Als Mari geboren wurde, hatte sie ihn gedrängt, nach Kivik zurückzukehren und seinen Platz als Hoferbe einzunehmen, wie es ihm zustand. Sie wollte aus der Schusterwerkstatt ihres Vaters heraus und träumte davon, nach seiner Mutter die Hausfrau auf dem Apfelhof zu werden. Bis heute konnte oder wollte sie nicht verstehen, dass es über seine Kräfte gegangen wäre, den großen Hof zu bewirtschaften und gleichzeitig zu malen. Dabei hatte er ihr nie die Rückkehr nach Schweden versprochen, im Gegenteil. Trotzdem warf sie ihm immerzu vor, dass er durch ihre Ehe den besseren Teil erlangt hatte. Weil er es sich, wie sie sich ausdrückte, einfach heraus nahm zu malen, während sie ausschließlich für ihn und die Kinder da war. Und dazu kam die ständige Sorge, dass sich weiterer Nachwuchs einstellte. Ihr dürftiges Haushaltsgeld reichte ja jetzt schon kaum aus. Alfred unterdrückte einen Seufzer. Jørgine hatte in allem Recht, aber dass sie nie bemerkte, wie sehr auch er sich für die Familie anstrengte und Opfer brachte, war schwer zu ertragen. Kleiderstoff … Mit einem einzigen Wort hatte sie seine Hoffnung zerstört, die Arbeit im Hafenkontor bald ganz aufzugeben. Natürlich wollte er nicht, dass seine Familie in Lumpen ging, trotzdem nahm ihm die Aussicht auf weitere Jahre zwischen den derben Kerlen dort unten am Hafen allen Lebensmut.

Er schloss das Trockenbuch und legte die Bibel zum Beschweren auf den Deckel. Jørgine und er hätten nie heiraten sollen, dachte er bitter. Aber als dem Hochgefühl des Verliebtseins die Ernüchterung folgte, war Mari schon unterwegs gewesen. Ein Kind, das nicht sein sollte, und doch zu seinem schönsten Geschenk wurde, als er es zum ersten Mal in seinen Armen hielt; ein Bündelchen Mensch, zart und kräftig zugleich. War sie deshalb sein Liebling?

Das Herz ging ihm auf, als er zusah, wie sie schmale Farbstreifen aufs Probepapier malte, ganz und gar in ihr Tun versunken. Vor jedem Auftrag säuberte sie sorgsam ihren Pinsel und achtete darauf, dass die Farben nicht ineinanderliefen. Nein, er liebte sie mehr als ihre Geschwister, weil sie ein weiches Gemüt hatte und, wie er, empfänglich für die Schönheit von Formen und Farben war.

Er strich ihr zärtlich über den Scheitel und sagte: »Machen wir Schluss für heute, meine Mari.«

Sie legte ihren Pinsel hin und suchte seinen Blick. »Ich war heute am Hafen, um nach Schweden hinüberzusehen.«

Alfred hob die Brauen. Die Kinder sollten nicht allein ans Wasser gehen. Aber hatte er nicht selbst Mari einmal gezeigt, wo Schweden lag, und damit ihre Sehnsucht nach Kivik geweckt?

»So«, erwiderte er daher nur abwartend.

»Als der Himmel aufriss, schimmerte das Meer so blaugrün, wie ich es noch nie gesehen habe. Ich möchte die Farbe nachmischen, aber ich treffe den richtigen Ton nicht.« Sie wies auf das Probeblatt. »Meine Streifen werden entweder zu grün oder zu blau.«

Alfred nickte. »Beginnen wir damit, ein ordentliches Grün zu mischen. Weißt du noch, wie es geht?«

Mari nickte auch. »Man braucht blau und gelb zu gleichen Teilen.«

»Genau, nimm für den Anfang fünf Tropfen von jeder Farbe.«

Sie stellte die Fläschchen mit der Eiweißlasur vor sich hin und tropfte erst Blau und dann Gelb in eine saubere Mulde der Mischpalette. Als die Farben zu einem satten Grün zusammenflossen, lächelte sie ihn an. »Farben zu mischen, ist ein bisschen wie zaubern, nicht Far?«

Alfred erwiderte ihr Lächeln. »Nur, wenn man nicht weiß, wie es geht. – Und jetzt geben wir vorsichtig mehr Blau zum Grün, bis die Mischung stimmt.«

Er holte einen Teelöffel vom Küchenbord, träufelte Farbe aufs Löffelblatt und ließ ein wenig Blau ins Grün laufen. »Na?«

»Mehr!«, verlangte Mari.

Alfred senkte abermals den Löffel.

Mari sog rasch den Atem ein, dann schüttelte sie den Kopf. »Noch mehr!«

Wieder tropfte Farbe in die Mulde, ein kleiner Juchzer entfuhr ihr. »Jetzt ist die Farbe richtig, Far!«, sagte sie und klatschte leise in die Hände. »Sieht das Meer vor Kivik manchmal auch so aus?«

Alfred säuberte den Löffel. »In meiner Erinnerung ist es blau oder grau«, sagte er langsam. Er tunkte einen sauberen Pinsel in die angemischte Farbe, strich sie aufs Papier und verwischte sie mit einem Schwämmchen. »Aber vielleicht habe ich auch vergessen, welche Farbe das Meer vor Kivik hat. Ich war ja schon so lange nicht mehr dort.«

Mari verzog enttäuscht das Gesicht. »Schade! Weißt du es wirklich nicht mehr, Far?«

Er hob die Schultern und wies zum blaugrünen Fleck auf dem Probeblatt. »Kümmern wir uns lieber um diese wunderhübsche Farbe hier. Wie sie wohl heißen mag?«

Die Kleine sah sinnend auf das Papier nieder. »Seegrün«, erwiderte sie schließlich bestimmt. Alfred klopfte ihr auf die Schulter. »Ja, seegrün passt genau. Und jetzt wird es Zeit, vom Meer zu träumen«, sagte er und stand auf. »Komm, gehen wir schlafen!«

Mari folgte dem Vater zum Küchenbord. Sicher wollte er wie jeden Abend die goldene Reiseuhr aufziehen, die er zusammen mit seiner Staffelei aus Kivik mitgebracht hatte. Sie zeigte nicht nur die Zeit an, mit ihrem Läutwerk konnte man sich auch wecken lassen.

»Bitte, Far, darf ich die Uhr aufziehen?«, bat sie.

Der Vater reichte ihr den winzigen Schlüssel, mit dem man den ebenso winzigen Stift auf der Rückseite der Uhr herumdrehen konnte. Er schaute ihr zu, wie sie behutsam das Läutwerk aufzog, schien aber nicht ganz bei der Sache zu sein. Dachte er darüber nach, welche Farbe das Meer vor Kivik hatte?

»Ich möchte gern einmal nach Kivik hinüberfahren«, sagte sie. »Mit dir.«

Der Vater seufzte. »Ich kann nicht zurück.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Warum nicht?«

»Aus Rücksicht auf eure Tante Lovisa. Du weißt vom Kivik meiner Kindertage, Mari, aber Kivik ist viel mehr als der Duft von Äpfeln und der Wind von See, der mit den Blüten und Blättern der Bäume spielt. Kivik ist auch die Sorge um die nächste Ernte, die Dienstleute, das Geld. Und ich bin nun mal zum Malen gemacht, also ging ich fort.«

Mari kämpfte mit den Tränen. »Aber du liebst Kivik doch.«

»Wäre ich dortgeblieben, hätte ich mich um den Hof kümmern und das Malen aufgeben müssen«, erwiderte der Vater ernst. »Und wer weiß, vielleicht hätte ich Kivik irgendwann dafür gehasst«, fügte er, mehr zu sich selbst, hinzu. »Jedenfalls kümmern sich nun eure Tante und ihr Mann um den Hof.«

»Und die Großmutter«, sagte Mari.

Der Vater lächelte. »Noch ein wenig, mag sein. Nein, die Hauptlast tragen Tante und Onkel. Und Tante Lovisa schreibt immer wieder, wie sehr der Onkel sich um den Hof bemüht. Er pflanzt Bäume, die einen besseren Ertrag bringen sollen und erneuert die Lagerschuppen. Das kostet viel Geld, deshalb fürchtet er, dass ich eines Tages meinen Teil des Erbes fordern könnte und den Hof in Schwierigkeiten bringen würde. Am liebsten hätte er wohl, dass die Tante mir nicht mehr schreibt, sehen mag er uns sicher erst recht nicht. Deshalb bleiben wir besser hier. Das verstehst du doch, Mari?«

Sie nickte. Ja, sie verstand, dass der Vater seine Schwester so lieb hatte wie sie Ebba und Aage. Und sie verstand auch, dass der Vater der Mutter Kummer bereitete, weil er sich nichts aus Geld machte. Dabei kam man ja gar nicht ohne Geld aus. War alles so schwierig, wenn man erwachsen war? Sie dachte an den unglücklichen jungen Mann, der auf den Präsidenten geschossen hatte, und sagte: »Ich mag nicht erwachsen werden, Far.«

»Das suchen wir uns nicht aus, meine Mari«, der Vater nahm ihr Uhr und Schlüssel ab. »Aber keine Sorge, erwachsen zu sein, hat auch viel Gutes.«

Sie sah ihn zweifelnd an. »Was denn?«

Er zwinkerte ihr zu. »Nun, keiner sagt einem mehr, wann man schlafen gehen soll. Man sagt es sich einfach selbst!«

Und das soll alles sein?, dachte Marie, erwiderte aber nur: »Gute Nacht, Far!« und gab dem Vater wie jeden Abend einen Gutenachtkuss, damit er ihre Enttäuschung nicht bemerkte.

III

FRÜHJAHR 2017, ALNOR-EGERNSUND BEI SØNDERBORG, SÜDJÜTLAND.

Das Wasser im Stieltopf simmerte. Poul Schiøtz schaltete die Herdplatte aus und gab zwei Löffel Pulverkaffee zu der Milch in seinem Becher. Er hob den Blick, sein Gesicht spiegelte sich in der Glastür des Küchenschranks. Direkt verschlafen sah er aus, obwohl er heute länger liegengeblieben war als sonst. Oder machte das verschattete Licht vor der Wand ihn blasser als gewöhnlich? Sogar seine Augen schienen mehr grau als blau. Vielleicht lag es auch eher daran, dass seine ehemals hellblonden Haare mittlerweile fast alle Farbe verloren hatten. Er schob das Kinn vor und strich einige Male prüfend über die raue Haut an Hals und Wangen. Sollte er noch mal ins Bad gehen und sich rasieren? Immerhin war heute Ostersonntag. Nach kurzem Zögern goss er das heiße Wasser in seinen Becher und rührte um. Wozu die Mühe? Er erwartete keinen Besuch; bei der Gartenarbeit und auf seiner Spazierrunde mit Skipper würden die paar Bartstoppeln niemanden stören.

Er sah zu seinem Hund hinüber: »Was, mein Alter?«

Skipper erhob sich von seiner Decke beim Herd und streckte sich gähnend.

»Na sowas, dein Fell ist schon wieder ganz struppig«, sagte Poul. »Dabei hab’ ich es doch gerade ausgekämmt.« Er lächelte zu ihm hinüber. »Wir sind schon zwei richtige Zausel, hm?«

Dicht gefolgt von seinem Hund trug er Frühstücksbrot und Kaffeebecher zum Küchentisch. Beim Hinsetzen stieß er mit einem Knie an die steife Knickfalte in der Wachstuchdecke. Kaffee schwappte aus dem Becher über das Muster aus blauen und rosa Hortensienblüten.

Zum Kuckuck mit der vermaledeiten Decke! Poul riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle und tupfte den Kaffee auf. Die Tischdecke war eine der letzten Anschaffungen seiner Mutter gewesen. Sie begeisterte sich fürs Praktische; und was gab es Praktischeres als ein Tischtuch, das nicht in die Wäsche musste? Na, praktisch oder nicht, jedenfalls mahnte ihn sein kleines Missgeschick, das altbackene, verblichene Tuch endlich wegzuwerfen. Mit dem Rauchtisch seines Urgroßvaters und der fadenscheinigen Sesselgarnitur seiner Großeltern gleich dazu! Für den Anfang, wohl gemerkt. Drei Generationen Schiøtz vor ihm hatten das Sommerhaus der Familie mit ihren Möbeln und ihrem Hausrat angefüllt. Wie ihr Nachlassverwalter kam er sich bisweilen vor.

Er trank einen großen Schluck Kaffee. Und wenn er schon übers Aufräumen nachdachte: Warum stieg er nicht endlich in seinen Volvo, um seinen Plattenspieler aus der Stadtwohnung zu holen und Lene ihre Bücher zu bringen? Als sie im letzten Herbst von Sønderborg ins Sommerhaus nach Alnor gezogen waren, hatte Lene voller Pläne gesteckt. Das Haus wollte sie umgestalten, den Garten neu anlegen und endlich lesen, lesen, lesen. Stattdessen war sie kurz vor Weihnachten wieder in ihre Stadtwohnung zurückgekehrt, weil sie ihr gewohntes Leben vermisste. Mit spitzen Fingern nahm Poul das durchtränkte Küchenpapier auf. Ihn vermisste sie offenbar genauso wenig wie ihren Bücherkarton oben im Schlafzimmer. Dafür fehlte sie ihm umso mehr. Trotzdem vermied er es, in ihren wenigen Telefonaten von sich zu sprechen. Er wollte sie nicht bedrängen, zu groß war die Furcht, sie ganz zu verlieren. Er warf den feuchten Papierklumpen in den Abfalleimer und trocknete seine kaffeebefleckten Finger am Geschirrtuch. Am besten ließ er den Karton, wo er war.

Seine Vorfreude aufs Aufräumen schwand, plötzlich fühlte er sich müde und ausgelaugt. Sie hätten doch beide wissen können, dass Lene sich hier draußen mit ihm langweilen würde. Sie brauchte Abwechslung, die ewig gleiche Aussicht auf die stille Förde, die er so schätzte, hatte sie regelrecht deprimiert. Und ihre Freundinnen, die Mädels, konnte er ebenso wenig ersetzen wie ihre Arbeitskolleginnen. Er war nun mal ein nüchterner Zahlenmensch, während sie vor Lebenslust nur so übersprudelte.

Wie soll es zwischen uns gehen?, hatte er sie gefragt, als sie sich kennenlernten. Probieren wir’s doch aus, erwiderte sie mit herausforderndem Lächeln. Ihre Augen strahlten ihn an, hingerissen ließ er alle Vorsicht fahren und machte ihr einen Antrag. Und ihre Ehe ging gut, bis sie sich hier zur Ruhe setzten.

Weil sie die meiste Zeit mehr nebeneinanderher statt miteinander gelebt hatten? Poul ließ die Hände sinken. Als Buchprüfer war er viel unterwegs gewesen und Lene hatte den Kindergarten und ihre Mädels gehabt. Er schob das Geschirrtuch über dem Griff der Backofenklappe zurecht. Sie mussten endlich vernünftig miteinander sprechen. Aber wenn er anrief, war sie immer gerade auf dem Sprung.

Er setzte sich wieder hin und schaltete das Radio ein. Das kleine weiße Koffergerät auf dem Tisch hatte ihm geholfen, während langer Arbeitsstunden über Kontoblättern und Bilanzen in Schwung zu bleiben. Jetzt sorgten Musik und Plaudereien dafür, dass die Stille im Haus erträglich blieb. Ein Rauschen übertönte die Stimme des Ansagers. Poul suchte auf der Sendeskala nach einem besseren Empfang. Das Rauschen blieb, er drehte die Antenne weiter zum Fenster, bis die Radiostimme klarer wurde. Munter wünschte der Ansager fröhliche Ostern mit 8-6-6-0 Skanderborg. Wie immer hob das schwungvolle Lied über die Freuden des Provinzlebens Pouls Laune. Vor sich hin summend zerteilte er sein Wurstbrot.

Skipper beobachtete ihn gespannt. Sein Schnauzhaar zitterte.

Poul schüttelte den Kopf. »Oh nein. Das ist mein Frühstück. Du hattest schon, richtig?«

Skipper heftete seine bernsteingoldenen Augen weiter auf Pouls Frühstücksbrett.

Poul gab seinem bittenden Blick nach. Er reichte Skipper eine Ecke Brot mit Rullepølse. »Hier, ausnahmsweise! Und jetzt wieder ab mit dir auf die Decke!«

Im Nu vertilgte Skipper Brot und Wurst, macht aber keinerlei Anstalten, sich zu bewegen.

Seufzend erhob Poul sich zum zweiten Mal. Er nahm Skipper beim Halsband und führte ihn zu seiner Decke neben dem Herd. »Leg dich!«, sagte er sanft.

Skipper kam aus dem Tierasyl, vorher hatte er in Rumänien auf der Straße gelebt. Neben einer festen Hand brauchte er vor allem Geduld.

Poul drückte leicht auf sein Hinterteil. »Leg dich!«, wiederholte er.

Zögernd streckte Skipper sich auf der Decke aus.

»Gut so. Und jetzt bleib!« Poul kehrte zum Tisch zurück. Den Blick wachsam auf Skipper gerichtet, nahm er ein paar Schlucke von seinem Kaffee und schob ein Stück Brot hinterher.

Oh, er verstand seinen Gefährten gut. Natürlich war eine Rullepølseschnitte zu salzig und zu fettig, um gesund zu sein, dafür schmeckte sie umso köstlicher.

Von nebenan erklang Mozarts Alla Turca. Poul stellte das Radio aus, kauend öffnete er die Verbindungstür zur Wohnstube. Auf dem Rauchtisch lagen die Zeitungen der letzten Tage. Er kramte sein Smartphone unter den aufgeschlagenen Seiten der Sønderborg Avis hervor. Auf der Anzeige leuchtete die Nummer seiner Schwester auf.

Er hob das Telefon ans Ohr. »Na, du?«

»Fröhliche Ostern, großer Bruder!« In Sigrids munterer Begrüßung schwang ein Lächeln mit. »Frühstückst du gerade?«

Poul schluckte den letzten Happen Brot hinunter. »Ja. Und ihr?«

»Längst erledigt. Wir haben gleich nach dem Gottesdienst gefrühstückt. Warst du auch schon zur Kirche?«

»Ich hab’ lieber ausgeschlafen.«

»An Ostern?« Sigrid klang halb erstaunt, halb missbilligend.

Poul zuckte mit den Achseln. »Mir war danach.«

Jedenfalls mehr, als Lene beim Gottesdienst neben sich zu vermissen und vor der Kirche unliebsame Fragen nach ihrem Fernbleiben zu beantworten.

»Naja.« Das Lächeln kehrte in Sigrids Stimme zurück. »Sehen wir uns nachher?«

Poul hätte sich gerne vor der Antwort gedrückt. Die Schwester meinte es gut mit ihm, aber er war nun mal nicht in Feiertagsstimmung. Und beim Kaffeebesuch gute Laune heucheln mochte er auch nicht.

»Ich denke nicht, tut mir leid.«

»Mir tut es leid für dich.« Eine kleine Schärfe stahl sich in Sigrids Stimme. »Willst du alle Feiertage allein verbringen?«

»Ich bin nicht allein, ich habe Skipper«, verteidigte er sich.

»Herrgott, Poul, Skipper ist ein Hund!« Jetzt klang Sigrid wirklich verärgert.

»Deshalb gefällt er mir ja so.«

Sigrid seufzte. »Mach dich nur lustig über mich. Übrigens würden Preben und die Kinder sich auch freuen, dich zu sehen.«

Nun, sein Schwager wohl, aber Mads und Rikke? Bestimmt würden die jungen Leute den Nachmittag lieber mit ihren Freunden verbringen als mit ihrem Onkel. Davon abgesehen hatte er sich schon am Neujahrsabend im fröhlichen Familienkreis fehl am Platz gefühlt.

»Lass gut sein, Si, mir ist nicht nach Gesellschaft. Aber grüß die Drei lieb von mir.«

Sigrid ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Schließlich sagte sie zögernd: »Lene kommt auch. Vielleicht magst du sie ja sehen.«

Poul schloss seine Hand fester ums Telefon. Dass Sigrid sich in seine Ehe einmischte, würde Lene und ihn bestimmt nicht näher zueinander bringen, im Gegenteil.

»Ich denke, Lene und ich sollten besser allein miteinander reden.«

Wieder seufzte sie. »Ich wollte nur helfen.«

Ihr Bemühen um sein Wohlergehen rührte ihn. »Ich weiß, lass trotzdem gut sein. Du, mein Kaffee wird kalt.«

Sie lachte widerwillig. »Typisch Poul Schiøtz, stur wie immer. Darf ich Lene wenigstens von dir grüßen?«

»Ja, natürlich, und nichts für ungut, Si.«

Mads fragte im Hintergrund: »Soll ich den Geschirrspüler anstellen, Mor?«

»Ja, bitte«, rief Sigrid ihrem Sohn zu, dann wandte sie sich wieder an ihn: »Na, gut, ich muss weiter. Lass dich bald mal blicken.«

»Versprochen!«

»Ich nehme dich beim Wort! Wiedersehen, Poul«, sagte sie und legte auf.

Skipper wartete unter der Küchentür auf ihn. Zerstreut fuhr Poul ihm im Vorbeigehen über den struppigen Kopf. War es falsch gewesen, Sigrids Einladung abzulehnen? Er könnte die Gelegenheit nutzen, Lene um ein Gespräch zu bitten, statt sie mit seinem Fernbleiben vor den Kopf zu stoßen. Er reichte Skipper noch ein Stück von seinem Brot. Den Rest steckte er sich in den Mund, seinen lauwarmen Kaffee trank er in einem Zug hinterher. Noch war nichts entschieden. Wenn er sich mit der Gartenarbeit dranhielt, wäre er auf jeden Fall rechtzeitig zum Osterkaffee in Sønderborg. Er stellte Kaffeebecher und Brettchen in die Spüle und nahm das wattierte Arbeitshemd vom Haken bei der hinteren Küchentür, die auf den Garten hinausging.

Skipper sah ihn prüfend an.

Poul streifte das karierte Hemd über seinen Pullover. »Ganz Recht, wir gehen in den Garten.«

Ein Windstoß fegte über den Rasen, als sie sich dem Schuppen näherten. Die Schuppentür fiel mit einem scharfen Knall ins Schloss. Zitternd drückte Skipper sich gegen Pouls Beine.

»Na, alles ist gut!« Poul klopfte ihm aufmunternd den Rücken. Skipper fürchtete sich vor lauten Geräuschen, weiß der Himmel, was ihm in Rumänien widerfahren war.

Er stieß die Schuppentür auf und hakte sie an der Wand fest. Auf der Werkbank standen Osterglocken und Veilchen aus dem Baumarkt neben seinen selbst geschreinerten, noch unlackierten Nistkästen. Anfangs wollte er sie im Internet verkaufen. Dass Lene nach Sønderborg zurückkehrte, verleidete ihm allerdings die Freude an seinem neuen Zeitvertreib.

Nachdem sie fort war, gingen die Wintertage einer wie der andere dahin. Lesen mochte er nicht, er verbrachte die langen Abende lieber vorm Fernseher oder besuchte das italienische Restaurant im Ort, wenn die Einsamkeit unerträglich wurde. Ein paar Mal spielte er mit Per von nebenan Badminton im Sportcenter; die Einladungen zum Abendessen mit ihm und seiner Frau Tine schlug er jedoch aus. Sicher hätten die Nachbarn ihn nach Lene gefragt, und er hatte keine Lust, sich zu erklären. Ja, Lene und er lebten getrennt, aber nur, weil Lene wieder arbeitete. Warum sollte sie jeden Tag die Autofahrt von Alnor auf sich nehmen, wo sie es von ihrer Wohnung in Sønderborg nur ein paar Minuten zum Kindergarten hatte? Oh, er konnte sich Per und Tines zweifelnde Gesichter gut vorstellen. Vielleicht würden sie ihn insgeheim sogar bemitleiden? Da blieb er lieber allein!

Poul nahm seine Arbeitshandschuhe von der Werkbank und fuhr einige Male über die glatt gehobelten Dächer der Vogelhäuschen. Schade, dass er sich nicht aufgerafft hatte, sie zu bemalen. Im Weißdorn bei der Schuppenwand brüteten bereits die Blaumeisen; in diesem Frühjahr wurden seine bunten Häuschen nicht mehr gebraucht.

Er streifte die Handschuhe über und brachte die Pappkästen mit den Osterglocken und Hornveilchen in den Garten, danach trug er Spaten, Pflanzschaufel und eine Papiertüte mit behauenen Ziegelsteinen zur Magnolie vor der Terrasse. Lene und er hatten den kleinen Tulpenbaum mit den dunkellila Blüten gemeinsam gepflanzt. Wie das Bäumchen würden sie hier Wurzeln schlagen und aus dem Sommerhaus ihr neues Heim machen, hatte Lene begeistert erklärt. Und im Frühjahr könnten sie die kahle Fläche ums Pflanzloch mit Hornveilchen und Osterglocken füllen. So viel zu Lenes Plänen, dachte er mit schiefem Lächeln. Aber vielleicht würde es sie freuen, dass er ihren Wunsch nach ein paar Farbtupfern um den Baum erfüllte?

Er kniete nieder. Prüfend schaute er von den beiden dicht befüllten Kartons zur Erde um den Baum. Im Baumarkt war ihm die Beetfläche viel größer vorgekommen als hier draußen. Na, dann mussten die Osterglocken und Veilchen eben eng zusammenstehen. Er setzte die Pflanzen in die Erde und füllte die Zwischenräume mit Erde auf. Dann wischte er sich die Hände sauber und begutachtete zufrieden sein Werk. Er faltete die leeren Kartons zusammen und warf eines der flachen Pappstücke Richtung Maschendrahtzaun, der das Grundstück vom Strandweg bei der Förde trennte. »Hol!«, rief er Skipper dabei zu.

Skipper sauste los und kehrte mit der Pappe im Maul zu Poul zurück.

»Feiner Hund! Nochmal?« Poul täuschte einen Wurf vor und verbarg die Pappe hinter seinem Rücken.

Skipper sprang um ihn herum. Als Poul keine Anstalten machte, zu werfen, bellte er ihn einige Male an.

Poul schmunzelte. »Schon gut, da hast du!« Rasch drehte er sich herum und schleuderte die Pappe Richtung Küchentür.

Skipper stürzte dem Karton nach.

Eine Weile vergnügten die beiden sich mit Werfen und Holen. Schließlich behielt Poul den durchweichten Pappkarton bei sich. »Aus, der taugt nicht mehr zum Spielen.«

Er sammelte die leeren Blumentöpfe ein und trug sie mit den Pappen zu den Mülleimern im Schuppen.

Skipper folgte ihm hechelnd.

Poul füllte ihm die Wasserschale unterm Gartenhahn. Während der Hund trank, leerte er die Papiertüte, drückte die hellen Ziegelsteinbrocken in die lockere Erde und wischte mit dem Hemdsärmel einige Erdkrumen von den Steinen. Dann sah er auf seine Armbanduhr. Halb zwei durch. Wenn er sich beeilte, konnte er auch noch das Wildblumenbeet anlegen und wäre trotzdem pünktlich zum Osterkaffee in Sønderborg. Na, mal sehen …

Er stand auf, streckte sich und griff nach seinem Spaten. Die Bienen- und Schmetterlingsweide sollte sich nach Lenes Wunsch am Maschendrahtzaun entlangziehen und großzügig bemessen sein. Die kleinen Nützlinge konnten jede Unterstützung dringend brauchen, hatte sie gemeint. Wie er, dachte er, halb spöttisch, halb ernsthaft. Selten in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt wie in den letzten Monaten. Er sah zum grauen Himmel auf. Während er hier stand und Trübsal blies, konnte es jeden Moment anfangen zu regnen. Also los!

Von der Gartenpforte ausgehend, maß er das Beet mit großen Schritten ab. Als er die ersten Grassoden ausgestochen hatte, kam eine Radfahrerin in Windjacke und blauen Freizeithosen die Trapgade herab. Poul hielt inne. Auf seinen Spaten gestützt, schaute er der Frau entgegen. Niemand Bekanntes, soweit er sah. Eine Touristin vom Campingplatz vielleicht?

IV

Hanne Weber stieg vom Rad und untersuchte den Vorderreifen ihres Fahrrads. Ein Plattfuß, und das schon nach dem Stückchen Weg vom Campingplatz. Hier, bei der ehemaligen Fischersiedlung am Rande des Örtchens, sollte ihre Tour doch erst richtig losgehen! Sie schaute in ihrem Fahrradkorb nach der Luftpumpe, aber die hatte sie offenbar in der Hütte liegen lassen. Zu dumm!

Langsam schob sie ihr Rad weiter und blickte suchend nach rechts und links. Neben neueren Häusern duckte sich auch die eine oder andere Kate malerisch unter ihr Reetdach. Nur zeigte sich leider niemand, den sie um Hilfe bitten konnte. Bei diesem feuchtkühlen Osterwetter blieben die Leute natürlich in ihren warmen Stuben.

Aber dort, bei der Kate mit dem Blechdach und dem in die Jahre gekommenen roten Volvo im Carport, zeigte sich endlich jemand in seinem Garten. Erleichtert umrundete Hanne die Ecke und schob ihr Fahrrad zum Maschendrahtzaun, der das Grundstück vom Sandweg trennte. Hoffentlich würde ihr holpriges Dänisch sie nicht im Stich lassen. Auf dem Campingplatz sprachen viele Gäste Deutsch, da hatte sie ihre mühsam angelernten Sprachbrocken noch nicht gebraucht.

Der große, schlanke Mann hinter der Hecke sah fragend zu ihr hinüber.

Sollte sie ihn siezen oder duzen? In Dänemark sagte man gemeinhin Du, aber galt das auch für sie als Touristin? Sie war ja nicht aus Dänemark und er sollte sie auf keinen Fall für unhöflich halten. Außerdem wirkte er ein wenig unnahbar, wie er sie so über seinen Spaten hinweg mit erhobenen Brauen musterte. Er war nicht rasiert, trotzdem fand sie, dass ein Anzug ihm besser stehen würde als sein grobes Arbeitshemd. Und dass ein Sie passender wäre als ein Du.

Sie holte tief Luft und lächelte ihn an. »God dag, kan De hjælpe mig? Min cykel …« Hanne brach ab. Nicht einmal zwei Sätze brachte sie zustande und schon fehlte ihr das erste Wort. Stumm wies sie auf ihren platten Vorderreifen.

Der Mann legte seinen Spaten weg. »Guten Tag. Ich nehme an, Sie brauchen eine Luftpumpe?«, antwortete er auf Deutsch.

»Ja, ja.« Hanne nickte erleichtert. »Bitte entschuldigen Sie mein schlechtes Dänisch. Ich übe noch.«

Ein belustigtes Funkeln erhellte seine blaugrauen Augen. Er öffnete die hölzerne Gartenpforte für sie. »Bitte, kommen Sie herein.«

»Danke, mange tak«, erwiderte sie und schob ihr Fahrrad den Plattenweg zum Schuppen hinauf.

Vor dem Holzhäuschen lag ein Hund im Gras. Als sie näherkam, stand er auf. Sein raues Fell war bunt gefleckt und um den Hals trug er ein selbstgestricktes Tuch in allen Farben des Regenbogens.

Ein Schnauzer?, überlegte Hanne. Nun, zumindest musste er einen Schnauzer in seinem Stammbaum haben.

Sie hielt bei der Schuppentür. Als sie den Fahrradständer mit lautem Klacken herunterklappte, wich der Hund an die Schuppenwand zurück.

Sein Herrchen schnalzte beruhigend. »Nå, kom så, Skipper.« Er wandte sich zu ihr. »Skipper kommt aus dem Tierasyl und ist manchmal ein bisschen ängstlich.«

Hanne errötete. »Tut mir leid, dass ich Ihren Skipper erschreckt habe.«

»Halb so schlimm. Für gewöhnlich siegt seine Neugier bald über die Furcht«, beruhigte er sie. »Sicher wird er gleich vorkommen, um Sie näher kennenzulernen. Ich bin übrigens Poul Schiøtz.« Er streckte ihr die Hand hin.

»Angenehm, Hanne Weber. Ich komme vom Campingplatz.«

Poul Schiøtz nickte. »Das dachte ich mir schon. Na, dann wollen wir mal sehen.« Er betrat den Schuppen und kramte in einem der Kästen auf dem Wandregal herum.

Hanne betrachtete die liebevoll gestalteten Vogelhäuschen auf der Werkbank. Jedes hatte etwas Besonderes, einen kleinen Gartenzaun etwa oder einen Balkon. Und wenn sie erst bunt lackiert waren, würden sie gleich nochmal so hübsch aussehen!

»Hoffentlich ist es nur das Ventil«, sagte Poul Schiøtz über die Schulter. Er nahm ein Fahrradventil aus dem Kasten und bückte sich nach der Luftpumpe am Herrenrad vorm Regal. Dann trat er zu Hanne und wies auf ihr Rad. »Darf ich?«

»Gern, aber ich will Ihnen natürlich keine Umstände machen.«

Statt einer Antwort drückte er ihr Ventil und Pumpe in die Hand, stellte den Fahrradkorb ins Gras und hob das Rad an. Er drehte es herum, so dass es auf Sattel und Lenker zu stehen kam, und beugte sich über den Vorderreifen. Mit den Fingerkuppen auf dem Mantel drehte er ihn langsam einmal rundherum.

»Keine groben Splitter oder Einschnitte, soweit ich fühlen kann«, stellte er fest und schraubte das Ventil heraus.

Hanne beeilte sich, ihm das neue Ventil anzureichen und die Pumpe bereitzuhalten. Poul Schiøtz war so eifrig bei der Sache, da wollte sie ihm nicht nachstehen.

Während er den Reifen aufpumpte, näherte Skipper sich zögerlich ihrem Fahrrad.

Hanne stand ganz still, als er erst an ihrer Hand schnupperte, und sie danach leicht mit der Schnauze anstupste. Fragend sah sie Poul Schiøtz an.

»Streicheln Sie ihn ruhig«, sagte er.

Hanne beugte sich zu Skipper und strich über seinen Rücken. »Was du für hübsche Augen hast, richtig golden sehen sie aus.« Sie sah zu seinem Herrchen hoch. »Er ist kein reinrassiger Schnauzer, nicht?«

Poul Schiøtz schraubte die Kappe aufs Ventil. »Nein, wahrscheinlich ist sein Stammbaum so bunt wie die Farben seines Halstuchs.«

Hanne ließ ihre Hand noch einmal über Skippers raues Fell wandern. »Dein Tuch ist auch sehr hübsch«, bemerkte sie.

»Meine Nichte hat es für ihn gestrickt«, erklärte Poul Schiøtz. »Es sollte Skipper aufmuntern. Eine Bekannte ihrer Mutter hat ihn in Rumänien von der Straße geholt und nach Dänemark gebracht. Im Tierasyl war er erst der Schüchternste von allen.«

»Der Ärmste, sicher hat er Schlimmes erlebt.«

Sein Herrchen lächelte. »Wenn Skipper sich wohl fühlt, kann er ein richtiger Rabauke sein.«

Hanne schmunzelte. »Tja, auf der Straße muss man sich eben durchsetzen können.«

»Mag sein«, pflichtete Poul Schiøtz ihr bei. »Und er braucht seinen Auslauf. Die Familie meiner Schwester wollte Skipper ein Zuhause geben, aber in ihrer Stadtwohnung mit dem kleinen Garten fühlte er sich nicht wohl.«

Hanne sah auf seinen Ehering. »Ah, deshalb lebt er jetzt hier draußen bei Ihnen und Ihrer Frau.«

»Ja«, erwiderte er knapp, sein Gesicht verschloss sich. Er brachte die Luftpumpe in den Schuppen. »Nun müssen wir abwarten, ob sich die Luft im Reifen hält«, sagte er, als er wieder zu ihr trat, und rieb sich die Hände. »Mir scheint, hier draußen ist es ein bisschen kühl zum Herumstehen. Wie wär’s mit einem Kaffee in der Küche?«

Hanne hütete sich, sich noch einmal wegen der Umstände zu entschuldigen, die sie ihm machte. »Ein Kaffee wäre jetzt genau das Richtige«, stimmte sie ihm zu.

Im Haus war es still. Poul Schiøtz’ Frau zeigte sich nicht, als sie in die Küche kamen.

»Hier drinnen ist es fast so frisch wie draußen«, stellte Poul Schiøtz fest. Er hängte sein Hemd an den Haken bei der Tür und drehte an dem Ventil des kleinen Heizkörpers unterm Fenster. »Behalten Sie um Gottes willen die Schuhe an!«, forderte er Hanne auf, als sie sich nach den Schnürsenkeln ihrer Sportschuhe bückte. »Auf dem Estrich ist es sogar im Hochsommer fußkalt.«

»Ja, wenn Sie meinen.« Sie schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie über sein Hemd.

Skipper drängte sich an ihr vorbei und tapste zu seiner Decke beim Herd.

Poul Schiøtz umrundete den Küchentisch und trat vor die Spüle. »Da sehen Sie’s. Von Schüchternheit ist keine Rede mehr.« Er nahm einen Stieltopf vom Abtropfbrett, füllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf den Herd. »Ich fürchte, ich kann nur Pulverkaffee anbieten. Meine Frau arbeitet in Sønderborg, für mich allein lohnt sich der Aufwand mit der Kaffeemaschine nicht.«

»Wie schade, dass Sie den Feiertag ohne Ihre Frau verbringen müssen.«

Hanne setzte sich an den Küchentisch. Sollte sie nach Fru Schiøtz’ Arbeit fragen? Nein, lieber nicht. Als sie seine Frau im Garten erwähnte, war Poul Schiøtz’ Antwort recht schmallippig ausgefallen. Und am Ende ging Fru Schiøtz sie ja auch nichts an.

Er zuckte mit den Schultern. »Man gewöhnt sich daran.«

Hanne nickte. Auf der Suche nach einem unverfänglichen Gesprächsstoff ließ sie ihren Blick durch die kleine Küche schweifen. Viel gab es nicht zu sehen. Der Herd und die schlichte Spüle mit dem Abtropfbrett eigneten sich ebenso wenig zum Anknüpfen eines Gesprächs wie der Küchentisch mit seinen vier Stühlen und der abgegriffenen Wachstuchdecke. Überhaupt wirkte der Raum recht kahl und karg. Ein Regal mit hübschen Dosen oder Kochbüchern oder wenigstens einen Blumentopf auf der Fensterbank suchte man vergeblich. Eine dänische Küche hatte sie sich ganz anders vorgestellt, gemütlicher, mit mehr hygge eben. Der einzige Blickfang war das altmodische Küchenbüfett mit den glänzenden Messingbeschlägen und den geschwungenen Holzrahmen um die Glasscheiben des Aufsatzes.

»Wie schön, Ihr Büfett ist noch eine richtig feine Tischlerarbeit. Und das alte Holz strahlt solch eine Wärme aus, da kommen unsere modernen Einbauküchen nicht mit.«

Poul Schiøtz schob eine der beiden Türen des Unterschranks auf und nahm zwei Kaffeebecher heraus. »Das Büfett stammt von meinen Großeltern. Sie haben es nach dem Ende der deutschen Besatzungszeit von ihren ersten neuen Kronenscheinen anfertigen lassen.«

Hanne bereute augenblicklich, dass sie sich nur mit einem kurzen Abriss zur Geschichte Dänemarks auf ihre Reise vorbereitet hatte.

»Und warum gab es neue Geldscheine?«, fragte sie. »Tut mir leid, ich kenne mich mit den Einzelheiten der dänischen Geschichte nicht aus.«

Poul Schiøtz stellte die Becher und ein Glas mit Pulverkaffee auf ein Tablett und holte eine Packung Milch aus dem Kühlschrank.

»Dänemark musste die Kosten der deutschen Besatzung auslegen, deshalb war bei Kriegsende viel Geld im Umlauf«, erklärte er. »Man wollte eine Inflation verhindern und die Vermögen von Schwarzmarkthändlern und Kriegsprofiteuren abschöpfen. Mit den neuen Scheinen verloren die alten auf einen Schlag ihre Gültigkeit.«

Er betrachtete das Kaffeegeschirr auf dem Tablett. »So, ich glaube … Ah, Löffel! Ach, und nehmen Sie Zucker zum Kaffee?«

»Nein, besten Dank«, erwiderte Hanne betont höflich.

Wie immer, wenn von Deutschlands Vergangenheit die Rede war, überkam sie ein Gefühl von, ja, was? Scham? Jedenfalls Verlegenheit, der Wunsch, sich zu erklären.

Sie räusperte sich. »Seltsam, wie gegenwärtig der Krieg manchmal noch ist.« Sie suchte seinen Blick. »Ich wünschte, ich könnte die Vergangenheit ändern. So kann ich nur sagen, wie leid mir das Unrecht tut, das damals geschehen ist.«

Poul Schiøtz schüttelte den Kopf. »Für mich ist der Krieg vorbei«, sagte er.

Er legte zwei Löffel zu den Bechern und nahm eine bunt geblümte Blechdose aus dem Schrank. »Mögen Sie Kekse? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie alt diese hier sind, aber wenn Sie probieren wollen?«

Mit der Keksdose unterm Arm, dem Stieltopf in der einen und dem Tablett in der anderen Hand kam er zu ihr an den Tisch. Er setzte den Topf auf eine Bastmatte und schob Hanne den Pulverkaffee hin.