Ein Mädchen namens Owl - Amy Wilson - E-Book

Ein Mädchen namens Owl E-Book

Amy Wilson

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Beschreibung

Owl wollte schon immer wissen, wer ihr Vater ist. Aber wenn man eine Mutter hat, die einem nichts darüber erzählen will, und eine beste Freundin mit eigenen Problemen, ist es schwierig, Zeit für Nachforschungen zu finden. Als Owl anfängt, seltsame Frostmuster auf ihrer Haut zu entdecken und Tränen aus Eis zu weinen, gerät ihre Welt aus dem Fugen. Könnten ihre seltsamen neuen Kräfte mit dem Vater zusammenhängen, den sie nie kennengelernt hat? Es stellt sich heraus, dass ihr Vater von übernatürlichen Mächten bedroht wird – auch Owl ist in Gefahr ...

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Seitenzahl: 301

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Amy Wilson

Ein Mädchen namens Owl

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister

© der deutschsprachigen Ausgabe:

von Hacht Verlag GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten

Text copyright © Amy Wilson 2017

Illustrations copyright © Helen Crawford-White 2017

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister

Lektorat: Diana Steinbrede

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

A Girl Called Owl bei Macmillan Children’s Books,

an imprint of Pan Macmillan, London 2017

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96826-702-9

 

www.w1-vonhacht.de

www.instagram.com/vonhacht_verlag

 

 

 

Für Lee

Jokul

Mir war, als säh ich jemanden

Auf dem See im Tanz,

Allein bis auf die Flut aus Eis,

Wie seiner Schritte Glanz.

 

Mir war, als säh ich Schattenspuk

In klirrend kalter Nacht,

Als Winterreif fiel grausam schön

Auf kühnster Blume Pracht.

 

Mir war, als säh ich dich, Jokul,

Ein Blinzeln – außer Sicht.

Der Zauber, den du hinterließ’t,

Blitzt auf im ersten Licht.

1

Wenn ihr später mal ein Kind habt, gebt ihm bloß nicht so einen blöden Namen.

Also nicht so was wie Apple, Melon oder Papaya.

Und auch nicht Owl.

Für mich kommt dieser Rat etwas zu spät. Denn sie hat es getan. Sie hat mich Owl genannt. Vor dreizehn Jahren hat sie das winzig kleine Baby – mich – angeguckt und beschlossen, dass Owl genau das Richtige ist.

Damals wusste sie wohl noch nicht, dass ich später mal weißblonde Haare haben würde, die wie Federn um mein Gesicht herumfliegen, egal, was ich damit anstelle. Dass meine Augenfarbe von Babyblau zu Blassbraun, fast Gelb wechseln und ich eine leichte Hakennase bekommen würde.

Das mit der Nase hätte sie sich allerdings denken können, die hab ich nämlich von ihr geerbt.

Ich mag Eulen. Ich finde sie echt schön. Aber, na ja, ich kann den Kopf nicht um 360 Grad drehen. Ich kann nicht fliegen. Und nein, ich gehe nachts nicht auf die Jagd.

All diese Fragen habe ich im Lauf der Jahre schon zu hören bekommen. Wenn ich das meiner Mutter erzähle, lacht sie nur.

»Siehst du!«, ruft sie dann und blickt mit einem Funkeln in den Augen von ihrem Tun auf. »Du hebst dich jetzt schon von der Masse ab. Du bist jetzt schon anders. Ist das nicht toll?«

Meine Mutter ist schön. Und das sage ich ganz unvoreingenommen, nicht nur, weil sie meine Mutter ist und deshalb ja schön sein muss. Sie ist wirklich schön. Sie hat große dunkle Augen, volles schwarzes Haar, und wenn sie lächelt, wenn sie lacht, ist es sehr schwer, nicht einzustimmen.

Ich gebe mir alle Mühe, nicht einzustimmen.

Sie heißt Isolde. Sie trägt bunte Kleider und klimpernde Armreifen. Sie duftet warm nach Vanille, Zimt, Orangen und schwarzen Johannisbeeren, und nach etwas Unergründlichem, das vermutlich einfach sie selbst ist.

Meine Freundinnen finden sie super.

Und das ärgert mich.

 

»Owl McBride!«

Ich schaue von meinem Tisch hoch. Mr Leonard hockt auf der Kante seines Pults, die Füße gekreuzt. Seine Hände liegen auf dem Pult, er tippt mit einem Finger darauf. Am Whiteboard hinter ihm ist ein Diagramm zu sehen, aber für mich sind das nur irgendwelche Schnörkel.

»Bist du bei der Sache?«

»Ja, Mr Leonard.«

»Ich meine, beim Unterricht, nicht bei deinen Kritzeleien?«

Die Klasse kichert, und ich werde rot.

»Ja. Entschuldigung, Mr Leonard.«

»Nicht so schlimm. Wenn du erklären kannst, was Pi ist.«

Es wäre jetzt ganz schlecht, zu sagen, dass es einen Film gibt, der so heißt. Aber seine Augenbrauen reizen mich dazu, es zu tun. Sie sehen aus wie zwei schwarze Balken, die ihm mit Edding zu hoch auf die Stirn gemalt wurden und sich unter seinen schwarzen Zottelhaaren verstecken wollen.

»Es hat mit dem Durchmesser eines Kreises zu tun, und der Umfang ist … wenn man ihn ausrechnet … das ist Pi.«

Ich lächele hoffnungsvoll, doch Mr Leonard lässt den Kopf hängen und seufzt.

»Ich kann wohl froh sein«, sagt er, während er aufsteht und zum Whiteboard geht, »dass du wenigstens die richtigen Begriffe kennst, auch wenn du keine Ahnung hast, wie man sie anwendet.«

Er bearbeitet das Whiteboard mit einem blauen Stift und malt noch mehr Schnörkel. Ich male sie in mein Heft ab. Der Rest der Klasse macht dasselbe. Mallory neben mir lacht immer noch.

»Schscht!«, zische ich sie an, während mein Stift über das Blatt fährt und abwegige mathematische Formen zeichnet, mit denen ich nichts anfangen kann.

 

Es war eine Eule. Das Gekritzel in meinem Matheheft. Ich zeichne andauernd Eulen. Kleine Eulen, große Eulen, welche mit großen Kringelaugen, welche, die aus dem Himmel herabstürzen. Sie sind überall am Rand meiner Hefte. Sie sind auf Post-it-Zetteln in meinem Zimmer verteilt. Ich habe überall Zeichnungen von Eulen, Bilder, sogar kleine Tonfiguren.

Ich behaupte nicht, dass sie gut sind. Wahrscheinlich würdet ihr bei einem Besuch sogar schreiend aus meinem Zimmer laufen. Sie sind ganz schön heftig.

Meine Mutter findet sie toll. Fantastisch. Sie denkt, dass ich mich damit ausdrücke.

Dass ich immer wieder mich selbst zeichne.

Als Mallory meine neueste Eule sieht, verdreht sie bloß die Augen. Sie hat mir vor ein paar Wochen zum Geburtstag eine Karte mit einem Papageitaucher drauf geschenkt.

»Vielleicht mal was anderes?«, hat sie auf die Karte geschrieben. »Jetzt, wo du dreizehn bist?«

Aber ich heiße ja nicht Puffin.

Und es muss einen Grund geben.

Irgendeinen Grund dafür, dass meine Mutter mich Owl genannt hat.

2

Irgendwo muss ich einen Vater haben. Jeder hat einen Vater.

Aber meine Mutter will mir einfach nicht verraten, wer es ist. Es gibt keine Fotos, keine Urkunden mit seinem Namen darauf. Nichts. Und immer, wenn ich sie nach ihm frage, verschleiert sich ihr Blick, und sie sagt, dass er ein wunderschöner Mann war, der ihr ein wunderschönes Geschenk hinterlassen hat. Dann geht sie langsam davon und schwelgt in Erinnerungen, während ich allein in der Küche bleibe, wo das Essen anbrennt. Nur so als Beispiel.

Als ich kleiner war, hat sie mir Geschichten davon erzählt, wie sie sich in einem magischen Winterland aus ihrem alten Märchenbuch begegnet sind, und die haben mir sehr gefallen, denn für mich war es wirklich magisch, und ich war noch ein Kind. Aber als ich älter wurde, hat es mich allmählich geärgert, denn ich wollte richtige Antworten.

Also machte sie Schluss mit den Märchen und wich mir stattdessen aus. Das ist auch der Hauptgrund für die meisten unserer Auseinandersetzungen.

Das und die Sache mit meinem Namen.

Eine befriedigende Diskussion mit meiner Mutter zu führen, ist praktisch unmöglich. Während man das erste Argument vorträgt, macht sie ein ernstes Gesicht. Sie denkt darüber nach, nickt und erzählt einem dann etwas, was total an der Sache vorbeigeht.

»Meine Süße«, sagt sie jetzt, während ich mich nach der Schule aus meinem Schal wickele, und wehrt meinen neuesten Versuch ab, etwas über meinen Vater rauszukriegen. »Nicht alles braucht ein Etikett oder einen Namen. Manches bleibt einfach ein Rätsel, und wenn wir es noch so gern ergründen wollen …«

Lächelnd schenkt sie Jasmintee in zwei Porzellantässchen und schiebt mir eine über die Küchentheke zu.

»Das heißt, du weißt gar nicht, wer er ist?«

»Doch, ich kenne ihn«, sagt sie, nimmt ihre Tasse und schaut in die dampfende bernsteinfarbene Flüssigkeit. »Ich hab dir schon von ihm erzählt, Owl, du hast mir nur nie geglaubt.«

»Wenn du ihn kennst, muss er ja auch einen Namen haben«, sage ich. »Und den kannst du mir verraten. Oder?«

Sie trinkt einen Schluck.

»Trink, Owl!«, sagt sie, als ihre Tasse leer ist. »Der Tee schmeckt nur, solange er heiß ist.«

Ich trinke einen Schluck.

»Ich habe dir nichts zu geben als diesen Moment«, sagt sie dann. »Das ist alles. Du und ich in der Küche, wie wir unseren Tee trinken.«

Die Tassen sind innen mit einem jadegrünen Drachen verziert, der auf dem weißen Untergrund für immer und ewig seinen eigenen Schwanz jagt und sich selbst mit Feuer anspeit.

Manchmal komme ich mir ein bisschen vor wie dieser Drache.

 

»Wer braucht schon einen Vater?«, sagt Mallory später seufzend am Telefon, als ich ihr von meinem neuesten missglückten Versuch berichte.

Sie hat gut reden. Ihr Vater ist vermutlich gerade draußen und wäscht das Auto. Ich schaue aus dem Fenster, als könnte meiner da draußen stehen, nach mir Ausschau halten und darauf warten, dass ich ihn bemerke. Trockenes Herbstlaub fällt von den Bäumen an der Straße, und ein kleiner Schauer läuft mir über den Rücken; Mitte November, und der Winter ist da. Schon bald werden Frost und Eis über die Dächer fegen, sich an Bäumen hinabwinden und die grauen Gehwege funkeln lassen. Bei der Vorstellung werde ich ganz kribbelig. Das Bedürfnis, zu erfahren, woher ich komme, ist fast überwältigend.

»… und verdammt nervig«, schaltet sich Mallorys Stimme dazwischen. »Ehrlich, du brauchst keinen Vater, Owl.«

»Doch«, widerspreche ich aus tiefster Überzeugung. »Wenigstens seinen Namen …«

»Du bist ziemlich auf Namen fixiert.«

»Ach, wie das wohl kommt?«

»Hey, so toll ist Mallory auch nicht. So heißt Burg Möwenfels aus ›Dolly‹ im Original.«

Auch wieder wahr. Aber immer noch besser als mein Eulenname.

Der Rest unserer Unterhaltung dreht sich um Justin. Mallory redet viel über Justin. Sie ist davon überzeugt, dass sie Seelenverwandte sind, obwohl er mit Daisy zusammen ist.

»Morgen eine Doppelstunde Englisch«, sagt sie beim Abschied. »Eineinhalb Stunden!«

Da sind wir mit Justin zusammen im Kurs. Was bedeutet, dass sie bei jeder Frage miteinander wetteifern und versuchen, sie so kompliziert und literarisch wie möglich zu beantworten, und ich sitze stumm daneben und komme mir ein bisschen blöd vor. Wenn Englisch vorbei ist, habe ich meistens ein paar neue Eulen.

Entnervt werfe ich das Handy aufs Bett und gehe ans Fenster. Ich murmele der geschnitzten Eule auf dem Bettpfosten zu, dass Jungs alles kompliziert machen. Während ich mit meinen Gedanken noch woanders bin, bewegt sich draußen etwas zwischen den Bäumen, etwas Dünnes, Gebeugtes mit Spinnenbeinen; es wirkt so fremd und fehl am Platz, dass ich schon Gänsehaut bekomme, ehe ich kapiert habe, was es ist. Ich gehe so nah ans Fenster, dass die Scheibe von meinem Atem beschlägt, aber ich sehe nur noch Schatten.

Ich habe viel Fantasie. Wahrscheinlich war es nur ein Fuchs. Mit einer schnellen Bewegung ziehe ich die Vorhänge zu und sage mir, dass ich total kindisch bin.

 

Noch mal zu den Legenden, die meine Mutter mir immer erzählt hat. Das alte Buch hat sie seit Jahren nicht mehr herausgeholt, und irgendwie fehlt es mir. Ich würde es nie zugeben, aber manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, stelle ich mir vor, die Geschichten wären wahr und mein Vater käme wirklich aus einer wunderbaren Fantasiewelt. Ich weiß noch, wie anders ihre Stimme klang, wenn sie mir von diesen seltsamen Orten berichtete, wie sich ihr Blick verschleierte, wenn sie von Feen und Elfen erzählte, von sprechenden Bäumen und fürchterlichen Königinnen. Manchmal machte es mir ein wenig Angst – als hätte ich sie an diese andere Welt verloren.

Es war dort ewiger Winter. Der tiefste, kälteste, der blaueste Winter. Der Winter der Welt. Der Himmel veränderte sich mit dem Wechsel von Tag zu Nacht und wiederum von Nacht zu Tag, doch die Sonne war eine kalte weiße Scheibe am Himmel, und der Mond schien heller in der Dunkelheit, strahlte jedoch keine Wärme aus.

Die Totenstille schrie ihr in den Ohren.

In dem bitterkalten Wind brannte ihr der Atem in der Brust.

Er fand sie auf der Lichtung zwischen den Bäumen, die hoch um sie aufragten, schwarze Rinde, weiß vom Frost. Ihr Atemhauch hatte sie verraten, das Knacken der Zweige unter ihren Stiefeln, als sie sich umdrehte, wieder und wieder, und darauf wartete, dass ihr etwas vertraut vorkam.

Nichts war vertraut.

Seine Haut war blau-weiß, als hätte er noch nie den Sommer gesehen. Seine Augen waren Spiegel in der Morgendämmerung, und der Frost des Landes hing ihm im dunklen Haar. Als er die Hand ausstreckte, erwartete sie, eine eisige Kälte darin zu finden.

Doch so war es nicht.

Er zeigte auf den Weg, den er gekommen war, und sein Griff wurde fester. Sie holte Luft, um ihn mit Fragen zu bestürmen, doch als sie den Mund öffnen wollte, schüttelte er den Kopf und legte ihr einen Finger auf die Lippen.

»Nicht hier, nicht jetzt.«

»Aber warum bin ich hier und was ist das für ein Ort und wo geht es nach Hause und wo bin ich und wer bist du?«

Er sah sie aufmerksam an, zog die Hände zurück, und da war ihr kälter als je zuvor, und sie schlang die Arme um ihren Körper, doch schnell hatte er sein Gewand aufgeknöpft und es ihr um die Schultern gelegt.

Wieder nahm er ihre Hand.

»Und jetzt?«

»Jetzt rennen wir.«

Sein Gewand war dunkelgrau und schwer. Es war rau und weich, wie Schurwolle es an sich hat, und obwohl Frost herrschte und der Wind ihr in den Ohren heulte, war ihr nicht kalt.

3

Am nächsten Tag haben wir einen Neuen in der Klasse. Er heißt Alberic. Er hat einen kastanienbraunen Irokesen.

Einen echten Irokesen.

Als Alberic hereinkam, sah Mr Varley ihn lange an, und um seine Lippen zuckte es, als hätte er am liebsten gesagt, Alberic solle auf der Stelle nach Hause gehen und sich die Haare abrasieren.

Wir verstummten alle und warteten, was passieren würde. Dann nickte Mr Varley und wandte sich wieder zur Klasse.

»LEUTE!«, brüllte er. »Das hier ist Alberic!«

Mr Varley brüllt gern. Zum Glück habe ich nur morgens bei der Anwesenheitskontrolle mit ihm zu tun; wenn ich eine ganze Stunde bei ihm hätte, würde ich wahrscheinlich einen Herzinfarkt kriegen. Einen Vorteil hat es aber: Wenn er einen anbrüllt, weil man zu spät kommt, achtet niemand so richtig darauf.

Alberic ist in meinem Erdkundekurs. Er geht nach mir in den Raum, läuft an mir vorbei und setzt sich ganz hinten in die Ecke ans Fenster. Ich lasse mich auf meinem gewohnten Platz nieder, ihm gegenüber, und schaue zu, wie alle anderen hereinkommen und kurz überlegen, wo sie sich hinsetzen sollen, jetzt, da er die Ordnung durcheinandergebracht hat.

Er fängt sich ein paar böse Blicke von den Jungs ein, vor allem von Conor.

Conor gehört zu den Jungs, die echt nett sein können, wenn man sie allein trifft, inmitten ihrer Kumpels aber sind sie absolute Idioten. Er mag es, wenn alles seine Ordnung hat und er alles im Griff hat.

Alberic, der auf Conors Stammplatz sitzt und mit dem Irokesen und dem zur Schau getragenen Selbstbewusstsein ziemlich beeindruckend wirkt, streut hier mal ordentlich Sand ins Getriebe.

Die Stunde fängt ja richtig gut an.

Er hat ganz seltsame kupferfarbene Augen, und ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er am Fenster sitzt, aber als er mich anschaut, scheinen sie wie ein Leuchtfeuer.

Und er schaut mich weiter an.

Zuerst war das ein gutes Gefühl, aber jetzt weiß ich nicht, wo ich hingucken und was ich machen soll, und meine neueste Eule hat plötzlich einen Irokesen.

Was einer Eule überhaupt nicht steht.

4

»Was läuft da mit dir und dem Neuen?« Mallory holt mich auf dem Weg zu Physik ein, drängt sich nah an mich und flüstert: »Kennst du den von irgendwoher?«

»Nein!«

Sie wirft einen Blick über die Schulter. »Der ist ganz schön heftig, oder? Im Moment starrt er dich gerade angestrengt nicht an …«

»Ich ignoriere ihn.«

»Du wirst rot!«

Ich senke den Kopf und packe sie am Arm. Meine Haut kribbelt von so viel ungebetener Aufmerksamkeit.

»Aua! Wo warst du denn? Du bist ja eiskalt.«

Ich ziehe die Hand weg und schaue auf meine Finger. Andere drängeln sich an mir vorbei, aber ich nehme sie kaum wahr, denn im Licht der Leuchtröhren ist meine Haut blau-weiß und glitzert, als hätte mir jemand Raureif auf die Handrücken gesprüht. Ich bewege die Finger, und das Prickeln verstärkt sich, meine Arme unter dem Pulli fangen an zu kribbeln.

»Was ist das?«, flüstert Mallory und beugt sich näher heran. Schnell ziehe ich die Hände weg und stecke sie tief in die Taschen.

»Nichts!«

Was war das?

»Los, wir kommen sonst zu spät.« Während ich Mallory zum Physikraum scheuche, weiche ich ihrem Blick aus und sage mir, dass blaue Finger das Normalste der Welt sind.

 

»Was ist?«, fragt Mallory später auf dem Heimweg. Sie starrt mich an. »Seit wir losgegangen sind, hast du kaum ein Wort gesagt – brütest du irgendwas aus? Deine Hände waren vorhin so was von kalt.«

»Mir geht’s gut. Der Neue war ein bisschen komisch …«

»Aber so sind die Jungs, oder? Die sind alle irgendwie komisch. Justin hat mir heute zugezwinkert, während er Hand in Hand mit Daisy vorbeilief.«

»Bah. Und du magst ihn immer noch?«

»Das Herz will, was das Herz will«, sagt sie in fürchterlich schmalzigem Ton und klimpert mit den Wimpern.

»Du bist schlimm.«

Sie lacht und beteuert, dass sie in Wirklichkeit viel zu anständig ist, um irgendwas mit Justin anzufangen, denn dann könnte sie sich nicht mehr im Spiegel angucken. Die Sonne steht tief am Himmel, und unser Atem bildet Wölkchen in der Luft. Heute Morgen hat es zum ersten Mal in diesem Winter gefroren, und jetzt ist es immer noch eiskalt, alles ist in einen tief hängenden silbernen Nebel getaucht. Ich betrachte meine Hände. Ich kann nicht vergessen, wie sie sich angefühlt haben, wie sie aussahen. Was war das bloß?

»Ich weiß genau, was mit dir los ist«, sagt Mallory so unvermittelt, dass ich zusammenzucke.

»Was denn?« Ich verschränke die Arme und verstecke die Hände, als sie mich anschaut.

»Dein Vater! Ich weiß, dass dir das zu schaffen macht … Du solltest einfach deine Mutter fragen und das mit ihr ein für alle Mal klären.« Sie hakt sich bei mir unter.

Ich stecke die Hände in die Taschen. »Das hab ich doch längst versucht!«

»Wirklich? Hast du ihr wirklich mal ins Gesicht gesehen und sie direkt nach seinem Namen gefragt? Hast du ihr mal gesagt, dass du nicht lockerlässt, bis du weißt, wie er heißt?«

Da ist vielleicht was dran. Aber wir können nicht mehr weiterreden, denn Conor und seine Kumpels holen uns ein und versuchen uns auf die Straße zu schubsen. Oder in einen Mülleimer. Oder gegen einen Laternenpfahl.

Jungs!

 

Als ich ins Haus komme, wirkt meine Mutter irgendwie zwielichtig. Wortwörtlich. Sie ist oben im Atelier, schwaches Abendlicht fällt zum Dachfenster herein, während sie Winterlandschaften auf großes Kartuschenpapier zeichnet. Berge und tiefe Täler, wo sich einzelne Häuser zwischen hoch aufragende Baumgerippe kauern; gefrorene Wasserfälle und einsame Adler hoch über verwucherten Wäldern. Sie hat einen neuen Auftrag. Die Einzelheiten habe ich nicht mitbekommen, aber sie geht ganz darin auf, deshalb fange ich nicht von Vätern an. Wenn ich sie jetzt darauf anspreche, würde sie mir nur noch mehr Märchen erzählen, das sehe ich an dem Funkeln in ihren Augen, als sie mich anschaut.

»Owl! Hattest du einen schönen Tag, mein Schatz?«

Ich nicke und lasse die Schultasche auf den mit Farbe beklecksten Holzfußboden fallen.

»Ich hab Suppe gekocht!«, sagt sie, als fiele ihr das gerade erst ein. »Ich mache das hier noch schnell fertig, dann können wir essen … Hast du Hausaufgaben auf?«

»Jaaa«, seufze ich und hole meine Mathebücher raus. Ich habe hier oben meinen eigenen Schreibtisch direkt an ihrem. Ich setze mich ihr gegenüber, und als sie den Kopf über ihre Arbeit beugt, sehe ich zwischen all den schwarzen Haaren ein paar graue. Sie hat einen Bleistift hinters Ohr gesteckt, und auf der einen Wange ist ein Kohlestrich, und anscheinend hat sie sich hastig angezogen: Sie trägt den Pulli auf links. Ich schaue ihr eine Weile beim Zeichnen zu. Es hat etwas Magisches, wie ein Bild entsteht. Geschickte Hände. Ich betrachte meine eigenen. Sie haben die gleiche Form wie ihre. Breite Handfläche, lange Finger.

Ich muss sie fragen. Mallory hat recht – ich muss es einfach wissen.

»Mum?«

»Hmm?«

Sie blickt nicht auf. Ich atme tief durch, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Meine Brust zieht sich zusammen, als ich mir vorstelle, wie die Worte herauskommen, wie ich mich beim Versuch, ihr Verständnis zu gewinnen, verhasple. Ich habe sie schon so oft gefragt, und nie hat sie mir eine richtige Antwort gegeben. Wie kann ich sie davon überzeugen, dass ich es jetzt wissen muss? Ich bin drauf und dran, damit herauszuplatzen, aber es erscheint mir zu groß, zu wichtig. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

»Nichts.«

Da blickt sie doch auf. Ich krame nach meinem Taschenrechner.

»Ah, Mathe«, murmelt sie. »Soll ich dir einen Nachhilfelehrer suchen, Owl? Mallorys Mutter hat was von einem Nachhilfelehrer gesagt …«

»Ich komm schon klar«, sage ich. »Los, an die Arbeit.«

 

Als es endlich Suppe gibt, ist es schon spät. Sie hat sich in ihren Zeichnungen verloren, und ich habe mich in die Winterwelt, die sie erschuf, hineinziehen lassen, eine Welt wie die, von der sie mir so oft erzählt hat, als ich klein war und noch an so etwas wie Magie glaubte.

Als sie einen neuen Horizont erreichten, dämmerte der Abend. Das Land unter ihnen senkte sich, und Baumgerippe führten auf ein weites Tal, wo sich in die flachen Ausläufer eines gewaltigen Gebirgszugs eine Kuppel kauerte. Er sah sie an, und dann durchbrach ein gellendes Heulen die Stille, dass selbst das Eis von den Ästen der Bäume fiel. Sie drehte sich um, wollte sehen, woher dieser traurige, sehnsüchtige Warnruf kam.

Ihr Gefährte fuhr zusammen, und wenn es einen Zauber gab, der sie für die lange Reise miteinander verbunden hatte, so war er jetzt gebrochen. Voller Angst sah er sie an.

»Die Winterwölfe. Lauf!«

Er drängte sie vorwärts, den Hang ins Tal hinunter. Sie kraxelte und rutschte auf dem weichen Schnee hinab, bis sie unten anlangte, und als sie sich umdrehte, stand er mit dem Rücken zu ihr. Fünf Wölfe standen vor ihm, Schulter an Schulter, so groß wie er, ihr graues Fell kräuselte sich im Wind, der Blick ihrer scharfen blauen Augen glitt von ihr zu ihm.

»Was soll das?«

»Sie ist mein Gast.«

»Sie ist kein Feenwesen. Wir sind dagegen. Sie bringt Gefahr.«

»Sie stellt keine Gefahr dar. Gebt mir einen Tag – ich habe hier noch nie Gesellschaft gehabt. Gönnt es mir ein einziges Mal, danach kehrt sie in ihre Heimat zurück.«

Die Wölfe schwiegen, und obwohl sie reglos dastanden, sah das Mädchen die Kraft in den Muskeln der Tiere. Sie konnte sich die Jagd ausmalen. Ihre stumme, grausame Entschlossenheit, ihre Schnelligkeit, ihre List.

»Sobald wir heulen, muss sie verschwinden. Wir geben dir einen Tag. Aber bedenke, dass dies nicht die natürliche Ordnung ist. Daraus erwächst Gefahr, und eines Tages wirst du dafür bezahlen.«

In einer hilflosen Geste breitete er die Arme aus, und die Tiere senkten die Köpfe. Und sie bewunderte ihn. Die Kraft in seinen Armen und Beinen, die Haltung seines Hauptes. Er war so still und reglos wie die Wölfe selbst; einen Mann wie ihn hatte sie nie zuvor gesehen.

5

Als ich aufwache, ist es dunkel, und meine Mutter hält nicht so viel vom Heizen, deshalb ist es eiskalt in der Wohnung. Noch im Bett ziehe ich mir dicke Socken an und setze eine Mütze auf, dann mummele ich mich in meine Decke ein und wanke zum Fenster hinüber.

Es war eine Nacht voller Träume. Von heulenden Wölfen und von blauen Fingern, die Eis auf Fenster malen. Von schneebedeckten Bergen und Alberics seltsamen kupferfarbenen Augen. Und als ich jetzt aus dem Fenster schaue, scheint die Welt mit mir im Einklang. Wölfe sind zum Glück nicht da, aber alles in der dunklen Straße, jedes Dach, jeder Balken und jeder Baum, ist mit zartem Raureif bedeckt. Die Autos glänzen sauber und weiß unter einem perlmuttschimmernden Himmel, und nur eine einzige Fußspur ist auf den glitzernden Gehwegen zu sehen, auf denen immer noch Herbstlaub liegt, das jetzt eingerollt und steif gefroren ist. Alles ist so still und schön. Durch die Geschichten meiner Mutter hat der Winter für mich wohl schon immer etwas Magisches gehabt. Der ganze Schmutz unter Schnee und Eis verborgen. Alles scheint möglich.

Mein Magen knurrt. Er schreit nach Haferbrei.

Ich schleife die Decke mit in die Küche. Der Wasserkocher läuft schon, und meine Mutter schaut mit abwesendem Blick aus dem Fenster.

»Jetzt ist er richtig da«, sagt sie. »Gestern hat er sich angekündigt, aber dieser Morgen ist wirklich traumhaft, oder?«

»Traumhaft«, sage ich, schlurfe zum Schrank und hole die Haferflocken heraus. Ein paar rieseln auf den Boden. »Aber es wär schon toll, wenn wir eine Mikrowelle hätten. Oder eine Heizung.«

»Die Heizung ist an, und warte, ich koche den Haferbrei.« Sie nimmt mir die Haferflocken aus der Hand. »Kümmer du dich um den Tee. Konntest du keinen Pulli finden? Mit der Decke ist es ein bisschen umständlich, oder?«

»Das geht schon«, sage ich, wickle sie fest um mich herum und mache mich daran, Becher und Milch zu holen. »Gemütlich.«

»Das meiste ist ja Einbildung«, sagt sie. »Man fängt an zu zittern, dann verkrampft sich der Körper, und selbst wenn man eigentlich gar nicht friert, denkt man, man würde frieren.«

»Mir ist aber wirklich körperlich kalt«, sage ich und gieße kochendes Wasser über die Teebeutel. Was wäre wohl, wenn meine Mutter je meine vereisten Hände sähe? War das echt? Könnte es noch mal passieren, einfach so?

»Mensch, Owl, du verbrühst dich noch«, schimpft sie und kommt herbei, als ich mühsam die Decke hochhalte, während ich den Tee umrühre. »Gib mal her.« Sie zieht mir die Decke weg.

»Hey!« Vor Schreck lasse ich den Löffel fallen. Meine Mutter legt die Decke über die Stuhllehne und wendet sich wieder dem Haferbrei zu. Dabei sagt sie irgendetwas, was ich nicht mehr höre, denn meine Haut bringt mich um – sie spannt sich, und etwas Blasses, Glitzerndes überzieht meine Fingerspitzen bis hoch zur Schulter. Es kringelt sich in meinem Nacken und wandert dann über die Kopfhaut, wie Sehnen aus Stahl, die mich einwickeln. Ich schaue zu meiner Mutter, ohne zu atmen, ohne mich zu rühren. Es passiert. Genau jetzt. Fast als hätte ich es vorausgesehen. Was soll ich tun? Sie rufen? Weglaufen? Stocksteif stehen bleiben, bis es vorübergeht? Geht es überhaupt vorüber? Was ist das?

Um mich herum wird es dunkler in der Küche, und es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben, als wäre ich an einem anderen Ort gefangen, an dem alles größer wirkt. Ich sehe Risse in den Bodenfliesen, die mir noch nie aufgefallen sind, die Bleistiftmarkierungen an der Wand, wo wir mich über die Jahre gemessen haben. Der Haferbrei blubbert und spritzt, eine Geräuschlawine, die mich zu ersticken droht, und meine Mutter steht einfach da, in unserer normalen Küche und unserer normalen Welt, und gestikuliert mit dem Löffel, während sie redet, aber wenn sie sich umdrehen würde … was würde sie dann sehen? Würde sie schreien? Ich stelle mir vor, wie ihr der Löffel aus der Hand fällt, wie der Haferbrei überkocht, ihre Augen sich weiten vor Angst und Schreck. Und es gäbe kein Zurück. Wenn sie das hier sähe, wäre nichts je wieder normal. Ich schaue auf meine Arme, in der Hoffnung, dass ich es mir nur eingebildet habe, überwältigt vom Erblühen des Winters. Doch da breiten sich Kristalle wie Blumen über meine Unterarme aus.

Sie sind wunderschön.

Sie sind der reine Wahnsinn.

Ich reiße die Decke vom Stuhl, werfe sie über und flüchte in mein Zimmer. Ich mache die Tür zu, lehne mich dagegen, und ein heißes Schluchzen entfährt mir.

Langsam lasse ich die Decke sinken, atme tief durch und schaue ängstlich an mir hinab. Meine Haut ist wieder normal. Normal und kalt, ich habe Gänsehaut. Ich setze mich aufs Bett.

Was war das?

Es sah aus wie Raureif. War es Raureif? Aber wie kann Raureif einfach so auf meiner Haut entstehen? So etwas gibt es doch garantiert nicht – oder ist es jemals in der Geschichte der Menschheit jemandem gelungen, sich selbst zu gefrieren? Davon habe ich noch nie gehört. Es ist unmöglich.

»Das ist wie in Mums Märchen«, sage ich zu der Eule auf dem Bettpfosten. Der Gedanke gefällt mir nicht.

»Bescheuert«, sage ich laut.

Die Eule sieht mich mit ihren runden Holzaugen unheilvoll an, das ist alles andere als beruhigend.

»Owl? Kommst du?«, ruft meine Mutter.

»Ja«, antworte ich und schnappe mir meinen dicksten Pullover.

»Ich hab es mir bloß eingebildet«, sage ich zu der Eule. »So etwas kann gar nicht passieren. Oder?«

Die Eule blinzelt mit einem leisen Klacken.

Ich zucke zurück, mir stockt der Atem. Langsam und schaudernd beuge ich mich wieder vor.

»Hast du gerade geblinzelt?«, flüstere ich.

Sie antwortet nicht. Logisch. Ich starre sie an, bis mir die Augen wehtun und mir schwindelig wird. Dann atme ich auf. Die Eule bewegt sich nicht, sie macht gar nichts. Sie ist aus Holz, verdammt! Meine Mutter ruft mich noch mal, und ich gehe zurück in die Küche. Ich werde nicht weiter darüber nachdenken. Ich werde überhaupt nicht nachdenken.

Und wenn meine Mutter merkt, dass irgendwas nicht stimmt, werde ich ein paar vernünftige Antworten über meinen Vater verlangen. Damit nehme ich ihr den Wind aus den Segeln.

 

Zum Glück ist meine Mutter von ihrem neuen Projekt immer noch ziemlich beansprucht, sodass ich nach dem Haferbrei fünf Minuten im Internet recherchieren kann, wobei ich die völlig normale, reglose Holzeule im Auge behalte. Der Tag hat gerade erst angefangen, trotzdem kommt es mir vor, als hätte ich heute schon tausend Jahre hinter mir. Gefrorene Haut, zwinkernde Eulen – was kommt noch alles?

Mensch mit Raureif auf Haut: nur lauter Informationen über Erfrierungen, darunter ein paar echt abstoßende Fotos von Füßen.

Gefrorener Mensch: alles über Kryonik und wie man Menschen einfriert, um sie wieder zum Leben zu erwecken.

Raureif auf Haut: ein paar schräge Schönheitskuren und irgendwas über urämischen Frost, der mit einem schlimmen Nierenleiden zu tun hat. Deshalb gucke ich unter »Nierenleiden« und stelle fest, dass ich das nicht habe: Dann wäre ich richtig krank und hätte noch andere Symptome.

Mir geht es gut.

Und im Moment ist der Raureif auch gar nicht da. Falls es überhaupt Raureif war. Was ja gar nicht sein kann, denn so etwas gibt es bei Menschen nicht.

 

Als ich in der Schule ankomme, habe ich keine Lust, mich mit irgendwas anderem zu beschäftigen. Es gelingt mir so gerade noch, den ganzen Vormittag Mallorys besorgte Blicke und die Gegenwart des merkwürdigen Alberic über mich ergehen zu lassen. Ich schaue angestrengt in meine Bücher, höre so gut zu wie noch nie und schaffe es dann, dass wir in der Mittagspause mit Conor am Tisch sitzen, was eine private Unterhaltung unmöglich macht; er versucht die ganze Zeit, Mallory Chips zu klauen, und lästert über Alberic, der zum Glück nirgends in Sicht ist.

»Der Typ ist echt nicht normal«, sagt er, als hätten Mallory und ich danach gefragt. »Redet mit keinem, hängt nur alleine rum, dazu dieser irre Blick. Bestimmt hat er irgendwas Krankes angestellt und musste deshalb die Schule wechseln.«

»Zum Beispiel?«, fragt jemand.

»Was weiß ich«, sagt Conor und wirft die Haare zurück. »Vielleicht hat er die Sezierfrösche gefuttert oder so.«

Igitt. Ich höre weg und versuche mein Thunfisch-Sandwich zu essen. Auf einmal schmeckt es eklig und irgendwie froschig.

»Owl«, sagt Mallory schließlich. Sie hat mich auf dem Weg zu Erdkunde abgefangen. »Was hast du denn?«

»Mir geht’s gut«, sage ich lächelnd.

»Ich glaub dir kein Wort. Was ist los? Hast du deine Mutter nach deinem Vater gefragt? Hat sie dir was erzählt?«

»Zweimal nein.«

Bei den Spinden drängt sie mich mit entschlossener Miene in die Ecke. Mallory ist klein, einen Kopf kleiner als ich. Sie hat die braunen Haare ordentlich zurückgebunden. Ihre Schuluniform ist immer makellos, im Gegensatz zu meiner.

»Mallory!«

»Ich mache mir Sorgen. Du bist so anders.«

Ich spüre, wie sich meine Verwirrung über alles in meinem Kopf anstaut, während Mallory mich besorgt ansieht. Aber das ist ja kein normales Problem, von dem man der besten Freundin erzählt und zu dem sie dann etwas sagt, das einem weiterhilft. Es geht nicht um einen Schwarm oder einen Streit mit der Mutter. Was könnte sie schon dazu sagen? Was könnte sie tun?

»Bitte, Owl …«

»Du würdest mich für verrückt halten. Außerdem ist ja auch gar nichts.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Dann erzähl mir von dem Garnichts. Sei verrückt. Kein Problem. Dann weiß ich es wenigstens.«

»Nicht hier«, sage ich, als jemand mich anstößt und ich bemerke, wie Alberic zum Klassenzimmer geht. Mit seinem Irokesen ist er ja nicht zu übersehen. »Nach der Schule?«

»Okay. Und dann erzählst du mir alles?«

Ich nicke.

»Und bis dahin machst du dir einfach keine Sorgen mehr. Egal, was es ist, das wird schon.«

Mallory ist wirklich die Beste. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir helfen kann, aber sie wird es auf jeden Fall versuchen.

6

»Du sagst also, dass du so was wie magische Eiskräfte hast.«

»Das ist nichts Magisches!«, blaffe ich und verschränke die Arme. »Man kann eigentlich nichts damit anfangen … und wahrscheinlich hab ich es mir sowieso nur eingebildet.« Ich hätte es nicht erzählen sollen. Wenn ich darüber rede, fühlt es sich realer an.

»Das glaubst du aber nicht im Ernst, oder? Sonst würdest du dir nicht solche Sorgen machen. Warum probierst du es nicht einfach aus? Probier doch mal, ob du es mir zeigen kannst.« Sie versucht freundlich zu sein, aber ich merke, dass es ihr schwerfällt. Mallory hat ziemlich ausdrucksstarke Augenbrauen, und jetzt gerade drücken sie eine Menge aus.

Wir sind bei der Gasse an ihrem Haus angelangt, und es ist niemand zu sehen, ich könnte es also versuchen, aber ich weiß ja gar nicht, wie es funktioniert. Es ist wie Niesen oder ein plötzlicher Sturm, der einfach über mich kommt. Ich versuche es Mallory zu erklären, aber sie lässt nicht locker.

»Also, zum ersten Mal ist es passiert, als ich dich wegen Alberic aufgezogen hab, und dann noch mal, als deine Mutter dir die Decke weggerissen hat … Ich weiß nicht, hat es was mit Überraschung zu tun oder mit der Körpertemperatur? Wenn ich dir jetzt zum Beispiel die Mütze abnehme …« Sie reißt sie mir vom Kopf und wirft sie über die Schulter, dann macht sie einen Schritt zurück und sieht mich mit leuchtenden Augen an. »Nein?«, fragt sie nach einer Weile, als nichts passiert.

»Nein.«

Sie hebt die Mütze auf und gibt sie mir zurück.

»Tja, was es auch ist, anscheinend hat es gerade keine Lust zu spielen.«

»Du glaubst aber nicht, dass ich mir das nur ausdenke, oder?« Ich atme langsam aus, meine Brust tut weh, weil ich die Frage so lange zurückgehalten habe. Ich stelle sie mir schon, seit ich Mallory versprochen habe, ihr alles zu erzählen. Ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen sollte und wie sie reagieren würde, dazu diese schreckliche Angst, es könnte plötzlich wieder auftreten und sie zu Tode erschrecken, oder es könnte etwas Schlimmes anrichten, zum Beispiel sie in einen Eiszapfen verwandeln.

»Nein«, sagt sie schließlich. »Ich glaube nur, dass es eine logische Erklärung geben muss, auf die wir noch nicht gekommen sind. Tut es weh, wenn es passiert?«

»Eigentlich nicht. Es fühlt sich nur merkwürdig an.«

»Und du läufst ja auch nicht rum und tust anderen weh, es eilt also nicht wahnsinnig. Wir kriegen das schon raus.« Sie sieht mich ein wenig zweifelnd an, dann leuchten ihre Augen auf. »Vielleicht hat es was mit deinem Vater zu tun!«

»Was denn? Dass er vielleicht ein Schneemann ist?«

Ich will es mit einem Lachen sagen, aber das schlägt fehl, denn so witzig finde ich es nicht. Visionen von seltsamen Wesen, die sich im Schatten verstecken, Eis auf meiner Haut, das fühlt sich alles so echt an, aber wie kann das sein?

»Das wird schon«, sagt Mallory im Weitergehen. »Wahrscheinlich liegt es nur an der plötzlichen Kälte und daran, dass du müde bist und dir Sorgen machst. Vielleicht ist es eine Art elektrischer Ladung, oder du hast irgendwelche Hautprobleme oder Stress, von dem du zittern musst. Aber du musst deine Mutter unbedingt dazu bringen, dir etwas über deinen Vater zu erzählen, auch wenn er kein Schneemann ist. Ich meine, was kann schon passieren?«

»Ich werd’s versuchen«, sage ich, hauptsächlich damit sie zufrieden ist. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr und drehe mich ruckartig zu den Kastanienbäumen um, die ihre langen Arme über die Friedhofsmauer neigen. Halb rechne ich damit, dass das schauderhafte graue Wesen dort hockt und mich anstarrt, doch es ist nur Laub, das von den grauen Ästen in die Gasse weht. Ich zwinge mich zu lächeln und drehe mich wieder zu Mallory um. Hoffentlich hat sie nichts gemerkt.

»Reden wir nachher weiter?«