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Der Tod eines berühmten Parfümeurs wirft Fragen auf …
Der fesselnde vierte Band der historischen Cosy Crime-Reihe
Kaum sind Amory Ames und ihr Ehemann Milo in Italien ankommen, um endlich etwas Ruhe zu finden, erreicht Milo ein beunruhigender Brief von seinem ehemaligen Kindermädchen, Madame Nanette. Ihr Arbeitgeber, der berühmte Parfümeur Helios Belanger, ist nur wenige Tage zuvor verstoben und Madame Nanette ist überzeugt, dass jemand nachgeholfen hat. Sofort reisen Amory und Milo nach Paris, um der Sache auf den Grund zu gehen. Dabei stoßen sie auf Geheimnisse, die besser nie entdeckt worden wären und die sie selbst in Gefahr bringen. Können die beiden den Mörder fassen, bevor sie selbst zum Ziel werden?
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Amory Ames und die Schatten von Paris.
Erste Leser:innenstimmen
„Cosy Crime in den 1930er-Jahren – so gemütlich und dabei trotzdem spannungsgeladen!“
„Die britische Ermittlerin Amory Ames ermittelt in diesem Band in Paris. Eine tolle Umgebung und ein spannender Mordfall sorgen für fesselnde Lesestunden.“
„Ich liebe historische Krimis wie diesen: kluge Charaktere, ein mysteriöser Mordfall und ein atmosphärisches Setting.“
„Amory Ames wird so langsam aber sicher zu meiner Lieblingsdetektivin. Mit Feingefühl und Cleverness deckt sie dieses Mal einen Mordfall in Frankreich auf. Sehr unterhaltsam!“
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2022
Kaum sind Amory Ames und ihr Ehemann Milo in Italien ankommen, um endlich etwas Ruhe zu finden, erreicht Milo ein beunruhigender Brief von seinem ehemaligen Kindermädchen, Madame Nanette. Ihr Arbeitgeber, der berühmte Parfümeur Helios Belanger, ist nur wenige Tage zuvor verstoben und Madame Nanette ist überzeugt, dass jemand nachgeholfen hat. Sofort reisen Amory und Milo nach Paris, um der Sache auf den Grund zu gehen. Dabei stoßen sie auf Geheimnisse, die besser nie entdeckt worden wären und die sie selbst in Gefahr bringen. Können die beiden den Mörder fassen, bevor sie selbst zum Ziel werden?
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Amory Ames und die Schatten von Paris.
Erstausgabe 2017 Überarbeitete Neuausgabe Dezember 2022
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98637-919-3
Copyright © 2017 by Ashley Weaver Titel des englischen Originals: The Essence of Malice
Copyright © 2021, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2021 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Amory Ames und die Schatten von Paris (ISBN: 978-3-96817-592-8).
Übersetzt von: Claudia Voit Covergestaltung: ARTC.ore Design / Wildly & Slow Photography unter Verewendung von Motiven von shtterstock.com: © Mihai-Bogdan Lazar, © Flower Studio, © Marc Venema Korrektorat: Dorothee Scheuch
E-Book-Version 06.09.2023, 14:35:16.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Für meine wunderschöne Nichte Larson Rose Lea.
Deine Tante hat dich lieb, Lolly!
Comer See, Italien
April 1933
Falls diese Dummheit meinen Mann nicht ohnehin das Leben kostete, würde ich ihn eigenhändig umbringen.
Es war ein herrlicher Vormittag im Frühling am Ufer des Comer Sees, aber gedanklich war ich weder beim Wetter noch bei dem atemberaubenden Ausblick aufs Wasser, das sich vor einer Kulisse aus dunstig-blauen Bergen vor mir ausbreitete. Stattdessen schirmte ich mir die Augen gegen die Sonne ab und beobachtete vom Balkon des Ferienhauses aus, wie sich ein Wasserflugzeug absenkte und dann weit über dem See hinwegglitt. Am Steuerknüppel saß mein Mann Milo, was mir, gelinde gesagt, so gar nicht behagte.
Am Morgen hatte noch nichts auf einen so gefährlichen Zeitvertreib hingedeutet. Während Milo sich ausgeschlafen hatte, war ich nach dem Frühstück am Strand spazieren gegangen. Als ich eine Stunde später wieder ins Ferienhaus kam, fand ich eine hastig hingekritzelte Notiz von Milo: Er sei draußen und fliege ein Wasserflugzeug. Ich musste die Nachricht zweimal lesen, um mich zu vergewissern, dass ich sie nicht missverstanden hatte. Da er, soweit ich wusste, noch nie im Leben ein Wasserflugzeug oder sonst irgendetwas geflogen war, fand ich die Vorstellung etwas beunruhigend.
Völlig überrascht war ich allerdings nicht. Erst gestern hatte Milo sich beschwert, dass es noch zu kalt zum Wasserskifahren sei, und so hatte er offenbar zu anderen, drastischeren Mitteln gegriffen, um seine körperliche Unversehrtheit aufs Spiel zu setzen.
Außerdem wusste ich ganz genau, wer ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte: André Duveau, unser Nachbar hier am See. Er bewohnte das Ferienhaus direkt neben uns und teilte die Vorlieben meines Mannes für Autorennen, Glücksspiel und offenbar auch dafür, das eigene Leben zu riskieren. Kein Wunder, dass sie sich so schnell angefreundet hatten.
Mir blieb beinahe das Herz stehen, als die Maschine im Sturzflug auf das Wasser zusteuerte. Instinktiv klammerte ich mich an den Rand des steinernen Blumentopfs auf dem Podest vor dem Geländer. Gerade als ich dachte, das Flugzeug würde ins Wasser stürzen, hob sich die Nase und es stieg wieder auf. Unwillkürlich fragte ich mich, ob Milo wusste, dass ich auf dem Balkon stand, und mich absichtlich erschreckte.
Ich sah zu, wie das Flugzeug in die Höhe stieg, bis ich den Anblick nicht mehr ertragen konnte, dann drehte ich mich um und ging zurück ins Ferienhaus. Wenn Milo so wild entschlossen war, sich umzubringen, dann musste ich ihm nicht auch noch dabei zusehen.
Keine Stunde später näherten sich Schritte dem Wohnzimmer, in dem ich ein französisches Modemagazin las und hoffte, im Sommer nicht Trauer tragen zu müssen.
Mein Mann betrat das Zimmer, gefolgt von André Duveau. Beide waren leger gekleidet, hemdsärmelig und mit in die Stiefel gesteckter Hose – vermutlich der obligatorische Fliegerdress.
In den Wochen unter der Mittelmeersonne war Milo braun geworden. Der dunkle Teint brachte das schwarze Haar zur Geltung und ließ die blauen Augen noch heller erscheinen. Doch ich war nicht in der Stimmung, mich erweichen zu lassen, nur weil er mit dem vom Wind zerzausten Haar so gut aussah. Ich achtete penibel darauf, mir meine Erleichterung, dass er wieder wohlbehalten im Haus angekommen war, nicht anmerken zu lassen.
„Du hast es also an einem Stück zurückgeschafft, ja?“, fragte ich und legte die Zeitschrift weg.
„Du hast meinen Zettel gefunden.“ Milo lächelte. Er kam zu mir, beugte sich herunter und hauchte mir einen Kuss auf die Wange, bevor er sich mir gegenüber in den Sessel fallen ließ. Von meiner gespielten Gleichgültigkeit ließ er sich nicht täuschen.
„Du hättest dir keine Sorgen machen müssen, Liebling. Du weißt doch, nichts bringt mich so sicher auf den Boden der Tatsachen zurück wie du.“
Ich verkniff mir einen bissigen Kommentar und wandte mich an unseren Gast. Nun tat ich nicht mehr, als hätte mir der Ausflug nichts ausgemacht. „Eigentlich müsste ich sehr böse auf Sie sein, Mr Duveau.“
Er lächelte. „Dann möchte ich Sie in aller Förmlichkeit um Verzeihung bitten, Mrs Ames. Ich wäre am Boden zerstört, wenn ich bei Ihnen in Ungnade fallen würde.“
Trotz seines französisch klingenden Namens hatte er kaum einen Akzent, denn er hatte den Großteil seiner Kindheit in England verbracht, wie er uns erzählt hatte. Derzeit lebte er unter anderem in Paris, aber am liebsten zog er sich nach Como zurück. Er besaß ein großzügiges Ferienhaus und mehrere Flugzeuge, die er regelmäßig flog.
„Natürlich kann ich Ihnen nicht allein die Schuld geben“, sagte ich zu Mr Duveau, während er Platz nahm. „Milo tut immer, was er will.“ Wenn man bedachte, dass Milo zu Leichtsinn neigte, konnte ich von Glück reden, dass er sich nicht schon früher in die Lüfte erhoben hatte.
Wie gut, dass wir nicht mehr lange in Como bleiben würden. Wir hatten das Ferienhaus nur für vierzehn Tage gemietet und wollten noch diese Woche zurück nach London. Nach einem Monat auf Capri hatten wir gerade die Heimreise antreten wollen, als Milo plötzlich nach einem Zwischenstopp am Comer See war. Natürlich hatte ich nichts dagegen gehabt, unseren Aufenthalt in Italien zu verlängern. Die Zeit hier war sehr angenehm und dank der Bekanntschaft von Mr Duveau sogar noch schöner.
„Dann verzeihen Sie mir also?“, fragte Mr Duveau augenzwinkernd.
„Ja“, antwortete ich gnädig. „Ich denke schon.“
Wieder lächelte er. Wie schwer es doch war, Mr Duveau lange böse zu sein. Genau wie mein Mann verfügte er über die unwiderstehliche Kombination aus verblüffend gutem Aussehen und Unmengen an Charme. Das helle Haar war immer ein wenig vom Wind zerzaust, egal, ob er in der Luft gewesen war oder nicht, und in der kurzen Zeit, seit ich ihn kannte, hatte ich schon so einige Frauen wegen der doppelten Anziehungskraft aus dunklen Augen und schelmischem Grinsen erröten sehen.
„Ich hingegen werde mir die Vergebung erst noch verdienen müssen“, sagte Milo. „Meine Frau hält nichts von Flugzeugen.“
„Ich weiß die Vorteile von Flugzeugen durchaus zu schätzen“, erwiderte ich. „Was mir nicht gefällt, ist die Vorstellung, dass mein Mann Hunderte Meter über dem Boden herumsaust.“
„Ich versichere Ihnen, Mrs Ames, Ihr Mann hat das Zeug zu einem hervorragenden Piloten. Noch ein paar Flüge und wir qualifizieren uns vielleicht für die Schneider-Trophy.“
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass Milo sich das Fliegen womöglich noch zur Gewohnheit machen oder gar an Flugzeugrennen teilnehmen würde. Falls es so weit kommen sollte, hätte ich ein paar Takte mit ihm zu reden, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.
„Bleiben Sie zum Mittagessen, Mr Duveau?“, fragte ich.
„Das klingt verlockend, aber ich habe leider keine Zeit. Morgen früh reise ich zurück nach Paris, und ich muss mich davor noch um einiges kümmern.“
„Oh, ich wusste nicht, dass Sie schon so bald abreisen“, sagte ich.
„Das hatte ich auch nicht vor, aber da ist etwas … etwas, das meine Aufmerksamkeit erfordert.“
Eine Frau, dachte ich sofort. Da er so sorgsam vermied, den Grund für die plötzliche Abreise zu nennen, tippte ich auf eine Liebesangelegenheit. Sicher freute sich die Glückliche, dass er alles stehen und liegen ließ, um zu ihr zu fliegen. Was für eine romantische Geste.
„Wie schade, dass Sie wegmüssen“, sagte ich. „Aber ich wünsche Ihnen eine gute Reise.“
„Danke. Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe das Gefühl, alte Freunde zurückzulassen. Da fällt mir ein: Ich habe Ihnen ein Abschiedsgeschenk mitgebracht.“ Bisher war mir die kleine Schachtel, die er mir nun hinhielt, gar nicht aufgefallen.
Ich öffnete sie und fand darin ein in Samt gebettetes Glasfläschchen. Es war Parfum. Ich nahm den Flakon aus der Schachtel und sah ihn mir genauer an. Das Glas war in Facetten geschliffen und schimmerte im Licht, das durch die großen Fenster hinter mir fiel. „Wie schön.“ Ich nahm den Stöpsel heraus und ein schweres, blumiges Aroma stieg mir in die Nase.
„Der Duft ist brandneu“, erklärte Mr Duveau. „Sie werden eine der ersten Frauen sein, die ihn tragen.“
„Das ist aber nett von Ihnen“, sagte ich und betupfte mir mit dem Stöpsel das Handgelenk. Das Parfum roch herrlich, auf beruhigende Weise vertraut und doch exotisch.
„Mir ist aufgefallen, dass Sie Gardenie tragen. Da dachte ich, dieses Parfum könnte Ihnen gefallen. Es heißt Shazadi. Es hat einen blumigen Duft, aber mit einer warmen, sinnlichen Note, die zu Ihnen passt.“
„Danke. Ich werde es sicher gern tragen.“
Er lächelte. „Das hoffe ich. Jetzt muss ich mich aber verabschieden. Es hat mich gefreut, Sie beide kennenzulernen. Vielleicht sehen wir uns mal in London?“
„Das würde uns freuen“, sagte ich.
„Und beim nächsten Mal setzen wir uns in ein Jagdflugzeug, was, Ames?“, sagte er. Dann zwinkerte er mir zu und ging.
Als ich relativ sicher sein konnte, dass er weg war, wandte ich mich an meinen Mann. „Ich weiß, es bringt nichts, dich zu bitten, so etwas Leichtsinniges zu unterlassen, aber du könntest dich wenigstens persönlich verabschieden, bevor du mich zur Witwe machst.“
Wie ich geahnt hatte, winkte Milo ab. „Du machst dir zu viele Gedanken, meine Schöne. Wasserflugzeuge sind absolut sicher. Das ist kaum anders als Auto fahren.“
Ich hatte nicht vor, ihm zu widersprechen. Über die Jahre hatte ich gelernt, wann sich eine Diskussion lohnte und wann nicht. Ich konnte nur hoffen, dass nun, da André Duveau weg war, Milo der Zugang zu diesem speziellen Laster verwehrt blieb.
„Abgesehen von der Sache mit dem Flugzeug ist es schade, dass Mr Duveau abreisen musste“, sagte ich. „Er ist sehr charmant.“
Ich wedelte mit dem Handgelenk vor meinem Gesicht und atmete noch einmal den Parfumduft ein. Er hatte etwas Berauschendes.
„Ja, was das angeht“, sagte Milo und stand auf. „Wenn ein Kerl darauf achtet, welchen Duft die Ehefrau eines anderen trägt und ihr dann auch noch Parfums mit einer ‚sinnlichen Note‘ schenkt, dann ist es wohl ohnehin an der Zeit, auf diese Freundschaft zu verzichten.“
Ich lachte. „Ist es denn so seltsam, dass ihm aufgefallen ist, dass ich Gardenie trage? Ich fand es sehr nett, dass er mir Parfum geschenkt hat.“
„Nicht so nett, wie du denkst. Er macht Geschäfte mit einem Parfumhersteller. Wahrscheinlich hat er das Zeug kistenweise bekommen, um es anderen aufzudrängen.“
„Wie charmant du doch heute Vormittag bist“, sagte ich trocken.
Er kam zu mir, umfasste mein Handgelenk und hielt es sich unter die Nase. „Es riecht jedenfalls herrlich auf deiner Haut.“
„Findest du, die sinnliche Note passt zu mir?“, fragte ich leise.
„Und wie.“
Er zog mich an sich und küsste mich. Wieder spürte ich das ungewohnte Gefühl vollkommener Zufriedenheit – in letzter Zeit war das mein ständiger Begleiter. Ich war erholt, entspannt und glücklich. Noch vor einem Jahr war ich überzeugt gewesen, meine Ehe würde in die Brüche gehen. Jetzt hatte ich den Eindruck, dass es noch nie besser um uns gestanden hatte.
Unvermittelt hielt Milo inne und zog sich leicht zurück. „Seit wann ist die Post da?“
Er schaute über meine Schulter. Offenbar hatte der Stapel Briefe auf dem Tischchen hinter mir den Sinneswandel ausgelöst.
„Noch nicht lange“, sagte ich. „Winnelda hat sie hereingebracht. Ich bin sie noch nicht durchgegangen.“
Milo ließ mich los und nahm einen Brief. Mein Gatte war immer furchtbar schwer zu durchschauen, aber mir entging nicht, wie sich seine Laune beim Anblick des Kuverts veränderte.
„Was ist los?“, fragte ich.
Er zögerte kurz, und obwohl sein Gesichtsausdruck unverändert blieb, war ich auf einmal besorgt. „Ich habe dir etwas verschwiegen“, sagte er.
Sofort gingen mir verschiedene Szenarien durch den Kopf. Da mein Mann eine recht bewegte Vergangenheit hatte, könnte es so ziemlich alles sein. Ich wartete.
„Es gab einen Grund für unseren Aufenthalt in Como“, fuhr er fort, was mich nicht gerade beruhigte.
„Ja?“, hakte ich vorsichtig nach.
„Es hat mit Madame Nanette zu tun.“
Ich versuchte, mir die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Madame Nanette war Milos ehemaliges Kindermädchen, also die Frau, die ihn praktisch aufgezogen hatte. Was auch immer Milos Geheimnis sein mochte, es konnte nicht so schlimm sein wie befürchtet.
„Was ist mit ihr?“
„Als wir auf Capri waren, hat Ludlow mir einen Brief von ihr weitergeleitet. Sie hat eine Anstellung in Paris angenommen und wird mit der Familie nach Como reisen. In den Klatschspalten hat sie gelesen, dass wir in Italien sind, und dachte, dass wir sie vielleicht besuchen könnten.“
Seit wir im Ausland waren, hatte Milo schon mehrere Schreiben von unserem Anwalt erhalten, daher war mir dieser Brief nicht aufgefallen. Aber warum hatte er mir vor der Abreise von Capri nichts davon erzählt? Die Nachricht war schließlich nichts Schlimmes. Ganz im Gegenteil.
„Wie schön“, sagte ich. „Ich freue mich schon, sie zu sehen.“
Er ging zum Schreibtisch in der Ecke, schlitzte den Umschlag mit einem Brieföffner auf und nahm den Brief heraus. Mit neutraler Miene überflog er ihn.
Endlich hob er den Blick. „Sie bleibt in Paris und bittet uns, dorthin zu kommen.“
„Geht es ihr nicht gut?“, fragte ich, schlagartig besorgt. Es war nicht Madame Nanettes Art, um einen Besuch zu bitten. Sie und Milo schätzten sich zwar sehr, aber sie standen nicht mehr in engem Kontakt. Ich war ihr nur zweimal begegnet, einmal bei unserer Hochzeit und einmal, als wir an Weihnachten auf Durchreise in Paris waren.
„Davon schreibt sie nichts. Der Brief ist sehr kurz.“
„Darf ich mal sehen?“
Kommentarlos hielt er ihn mir hin. Ich betrachtete das Blatt in meiner Hand. Das Briefpapier war fest und hochwertig und hatte eine Prägung, vermutlich mit dem Wappen des Hauses, in dem sie nun arbeitete.
Ihre Handschrift war außergewöhnlich, eine schöne Schrift, die sich in perfekten, gleichmäßigen Schwüngen über die Seite zog.
Mein lieber Milo,
ich bin nun doch nicht in der Lage, Paris zu verlassen. Wenn Sie und Ihre reizende Frau die Zeit fänden, mich zu besuchen, würde mich das überaus freuen.
Herzlichst
Madame Nanette
Im Postskriptum hatte sie ihre Telefonnummer angegeben und gebeten, sie bei unserer Ankunft anzurufen.
„Viel steht nicht drin“, sagte ich.
„Nein.“
Die Knappheit des Briefs war etwas beunruhigend, aber ich konnte nicht genau sagen, warum.
„Du hast doch nichts gegen eine Reise nach Paris?“, fragte Milo.
„Natürlich nicht. Wir sollten so schnell wie möglich los. Am besten fangen wir gleich mit dem Packen an“, antwortete ich und begann in Gedanken schon mit den Vorbereitungen. „Wir können morgen den Zug nehmen.“
Plötzlich lächelte er auf eine Art, die mich immer sofort argwöhnisch machte.
„Liebling, was hältst du von der Idee, nach Paris zu fliegen?“
Wir nahmen den Nachtzug ab Mailand.
„Wir hätten schon in Paris sein können“, murrte Milo, als wir uns nach dem Abendessen in unser Privatabteil zum Schlafen zurückzogen. Vor dem Fenster rauschte die dunkle Landschaft vorbei.
„Aber Züge sind doch viel romantischer“, erwiderte ich.
„Vielleicht, wenn es ein Bett gäbe, in das wir beide passen“, entgegnete er und warf einen Blick durch die Tür des Sitzbereichs unseres Abteils auf die schmalen Pritschen in der angrenzenden Schlafkabine.
Ich ließ seine Beschwerde unkommentiert und nahm auf der gepolsterten Bank Platz. Fliegen mochte zwar schneller sein, aber ich bevorzugte beim Reisen festen Boden unter den Füßen.
Außerdem fuhr ich gerne mit dem Zug. Die im weichen, gelben Licht warm glänzende Holzvertäfelung, das sanfte Wiegen des Waggons und das beruhigende, rhythmische Rattern der Räder auf den Schienen. Das alles zusammen hatte eine einlullende Wirkung und versetzte mich in eine schläfrige, friedliche Stimmung.
Ich blickte zu Milo auf – er sah weder schläfrig noch friedlich aus. Heute Abend war er ruhelos, und ich wusste, dass es ihm missfiel, in dem beengten Abteil festzusitzen.
Trotzdem hatte er mein Angebot, etwas an der Bar im Salonwagen zu trinken, ausgeschlagen und sich stattdessen nach dem Dinner und anschließenden Kaffee mit mir zurückgezogen.
„Komm, setz dich“, sagte ich und klopfte neben mir auf die Bank. Er band den Gürtel seines Morgenmantels zu und folgte der Aufforderung. Dann nahm er das silberne Etui samt Feuerzeug aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich seufzend zurück.
Einen Moment lang betrachtete ich seine ebenmäßigen Gesichtszüge im Profil, dann fragte ich: „Es stört dich doch nicht, dass wir nicht das Flugzeug genommen haben?“
Er sah mich an. „Nein, Liebling“, sagte er und drückte meine Hand auf dem Sitz zwischen uns. „Wahrscheinlich ist Duveau sowieso mit seinem Avions-Fairey-Fox-Bomber geflogen. Das ist ein Zweisitzer.“
„Du hättest ohne mich fliegen können.“
„So wichtig ist mir Duveaus Gesellschaft auch wieder nicht, dass ich sie deiner vorziehen würde.“
„Aber du wärst gerne geflogen.“
„Wenn ich die Wahl zwischen dir und sämtlichen Flugzeugen der Welt habe, dann lasse ich mich lieber mit dir in ein enges Zugabteil einpferchen“, sagte er und gab mir einen Kuss auf die Hand.
Ich lächelte, spürte aber eine zunehmende Anspannung. Für gewöhnlich fand Milo immer die passenden Worte. Aber wenn er so lieb war, war das meist ein Grund, misstrauisch zu werden. Das Gefühl hatte ich schon, seit ich Madame Nanettes Brief gelesen hatte. Hinter dieser Reise nach Paris steckte mehr als auf den ersten Blick ersichtlich.
Ich drehte mich zu ihm. „Milo, ich wollte dich etwas fragen.“
„Ja?“ Er nahm eine französische Zeitung, faltete sie auf und überflog die Schlagzeilen. „Was denn?“
„Warum hast du mir nicht schon auf Capri erzählt, dass Madame Nanette dir geschrieben hat?“
Er zuckte die Schultern. „Das hatte keinen bestimmten Grund.“
„Aber du hättest doch sagen können, dass du deshalb in Como Halt machen willst“, beharrte ich.
Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, als würde er abwägen, ob er mich anlügen sollte oder nicht.
„Ich muss es wohl vergessen haben“, sagte er unbekümmert, ohne den Blick von der Zeitung abzuwenden.
Jetzt stand fest, dass er log. Milo war zwar vieles, aber vergesslich war er nicht.
In unserer Ehe hatte es eine Zeit gegeben, in der ich über die abweisende Art hinweggesehen hätte, aber seit ein paar Monaten sah die Sache anders aus. Ich sah nicht ein, mich abspeisen zu lassen. Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn an. „Du verschweigst mir doch etwas, Milo.“
„Du bist aber misstrauisch, Liebes“, sagte er trocken und faltete die Zeitung.
„Und was glaubst du, wer daran Schuld hat?“, antwortete ich nur halb im Scherz.
„Ich ganz allein.“ Er lächelte, warf die Zeitung beiseite und neigte sich zu mir. „Was für ein schlimmer Mensch ich doch sein muss, wenn dein unschuldiges Herz wegen mir ständig mit Misstrauen belastet ist.“ Sein Blick ließ keinen Zweifel: Er würde sein Bestes geben, um mich von dem Gespräch abzulenken.
Mein Verdacht bestätigte sich, als er den Mund auf meinen drückte und die Arme um mich schlang. Für einen Moment vergaß ich beinahe, dass ich wütend auf ihn war. Beinahe.
Ich löste mich von ihm und schob ihn entschlossen weg. „Antworte mir, Milo.“
Er zog den Mundwinkel hoch, halb belustigt, halb verärgert, und lehnte sich seufzend zurück. „Ich habe nichts gesagt, weil ich befürchtet hatte, dass du genau das tun würdest, was du jetzt tust: anschlagen wie ein überreizter Bluthund, weil du glaubst, Ärger zu riechen.“
Ich zog die Brauen hoch. „Ich werde mal großzügig über diesen höchst beleidigenden Kommentar hinwegsehen und bitte dich einfach, dich klarer auszudrücken. Worum geht es?“
Er streckte sich über mich und drückte die Zigarette im Messing-Aschenbecher auf dem Tischchen vor dem Fenster aus. „Das weiß ich nicht so genau. Aber Madame Nanettes erster Brief war seltsam.“
„Inwiefern?“
„Zum einen hat sie von einer privaten Angelegenheit geschrieben, die sie gern mit mir besprechen wollte. Dass sie das nicht konkretisiert hat, fand ich ungewöhnlich. Es ist ihr noch nie schwergefallen, sich klar auszudrücken. Die vorsichtige Formulierung passt nicht zu ihr. Der ganze Ton des Briefs war merkwürdig.“
Sich vage auszudrücken war an sich noch kein Grund zur Sorge, aber ich vertraute auf Milos Bauchgefühl. Wenn er wollte, konnte er auf geradezu nervige Weise scharfsinnig sein.
„Sie hat es nicht direkt geschrieben“, fuhr er fort, „aber ich hatte den Eindruck, dass es Probleme mit der Familie gibt, für die sie arbeitet.“
„Sie wollten eigentlich in Como Urlaub machen“, sagte ich.
„Ja. Ich habe es nicht erwähnt, weil ich nicht wusste, ob da etwas dran ist. Ich wollte einfach hinfahren und mit ihr sprechen, ohne dich zu beunruhigen.“
Ich kaufte ihm diese Ausrede nicht so richtig ab, erst recht nicht nach der wenig schmeichelhaften Anspielung auf meine Neigung, Ärger zu riechen.
„Aber dann kam heute Morgen ein zweiter Brief“, sagte ich, „in dem stand, dass sie nicht aus Paris wegkann.“
Er nickte. „Das bestätigt doch, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sonst hätte sie mich nicht gebeten zu kommen.“
Trotz der spärlichen Informationen konnte ich der Einschätzung, dass womöglich etwas im Argen lag, nicht widersprechen. Hätte er sich mir doch schon früher anvertraut.
„Du hättest mich ruhig einweihen können“, sagte ich.
Seine Miene zeigte keinerlei Reue. „Du bist in letzter Zeit oft genug in Gefahr gewesen. Ich habe mir vorgenommen, dich von Problemen fernzuhalten, und dafür werde ich mich nicht entschuldigen.“
Ich runzelte die Stirn. Er hatte recht, im letzten Jahr waren wir tatsächlich in die ein oder andere nicht gerade wünschenswerte Situation geraten, aber war das nicht ein Grund mehr, alles zu tun, um Madame Nanettes Problem zu lösen? Immerhin wurden wir allmählich Experten auf diesem Gebiet.
„Es wird schon nichts Gefährliches sein“, sagte ich. „Und falls Madame Nanette in Schwierigkeiten steckt, sollten wir alles tun, um ihr zu helfen.“
„Ja, ich werde alles tun, was nötig ist“, sagte er mit einer Endgültigkeit, die mich ärgerte.
„Tja, aber nicht ohne mich“, erwiderte ich.
Er musterte mich kurz, dann schüttelte er den Kopf.
„Warum siehst du mich so an?“, fragte ich.
„Dieser Gesichtsausdruck. Ich weiß, was der bedeutet.“
„Und zwar?“
Er seufzte. „Ärger.“
Wir erreichten Paris an einem strahlenden, warmen Morgen, und der Duft von Vanilleblumen lag in der Luft. Trotz der Sorge um Madame Nanette und des Ärgers über Milos anfängliche Geheimnistuerei hatte mich das Schaukeln des Zugs in einen tiefen Schlaf versetzt, und ich war erfrischt und voller Zuversicht aufgewacht. Vielleicht war alles nur halb so schlimm. Womöglich wollte Madame Nanette uns nur gern wiedersehen. Schließlich war der letzte Besuch schon lange her.
Wir aßen in einem Café zu Mittag und fuhren dann zum Hotel, einem schönen Steingebäude mit blauen Fensterläden und Fensterkästen voller bunter Blumen. Normalerweise übernachteten wir in Paris anderswo, aber das Hotel war unweit der Adresse in Madame Nanettes Brief, und wir hielten es für das Beste, in ihrer Nähe zu sein.
Milo hatte ihr ein Telegramm mit unserer Ankunftszeit geschickt und erkundigte sich an der Rezeption, ob es Nachrichten für uns gab.
„Ja, Sie haben eine, Monsieur“, sagte der Empfangschef und reichte Milo eine Notiz.
Milo warf einen Blick darauf. „Sie schreibt, sie versucht, heute nach dem Abendessen anzurufen.“
Ich nickte, und plötzlich schwand mein Optimismus. Ich hoffte aufrichtig, dass es kein größeres Problem gab und sie nicht krank war. Obwohl Milo seine Gefühle normalerweise für sich behielt, wusste ich, dass er Madame Nanette sehr gern hatte. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben, und Madame Nanette hatte für ihn eine Rolle übernommen, die der einer Mutter am nächsten kam.
Anscheinend spürte er meine Sorge, denn er lächelte aufmunternd und drückte mich sanft am Arm, als wir aus dem Aufzug stiegen und dem Pagen zu unserem Zimmer folgten.
Ich betrat unsere Suite und sah mich um, während der Page unser Handgepäck abstellte. Die Koffer waren bereits mit meinem Dienstmädchen und Milos Kammerdiener vom Bahnhof gekommen.
„Alles zu deiner Zufriedenheit?“, fragte mich Milo, gab dem jungen Mann Trinkgeld und zog dann die Tür zu.
„Ja, sehr schön“, sagte ich.
Die Tür vom Flur hatte uns direkt ins Wohnzimmer geführt, das geschmackvoll in Pastellfarben eingerichtet und mit dezenten Blumen dekoriert war. Vor dem Marmorkamin standen ein Satinsofa und ein Sessel, und an der Wand hingen mehrere hübsche Kunstwerke. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Reihe deckenhoher Fenster, und ich ging über die flauschigen Teppiche hin und zog die Vorhänge zurück. Unter uns glitzerte die Seine in der Nachmittagssonne.
„Wie schön, wieder in Paris zu sein“, sagte ich. „Es ist schon eine Ewigkeit her.“
Obwohl ich das ehrlich meinte, fiel selbst mir die mangelnde Begeisterung in meiner Stimme auf. Ich konnte das wachsende Unbehagen nicht abschütteln. Milo musste das bemerkt haben, denn er folgte mir zum Fenster und stellte sich direkt hinter mich.
„Es gibt keinen Grund zur Sorge, Liebling“, raunte er, legte die Arme um mich und hauchte mir einen Kuss auf den Hals. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass alles in Ordnung ist.“
„Ja“, sagte ich. So zuversichtlich, wie er klang, wollte ich ihm gern glauben. „Du hast bestimmt recht.“
Hinter uns machte jemand mit schlurfenden Schritten taktvoll auf sich aufmerksam – das musste Milos Kammerdiener Parks sein. Ihm waren Liebesbekundungen zwischen Milo und mir immer höchst unangenehm, weshalb er stets darauf bedacht war, uns nicht versehentlich zu ertappen.
„Ja, Parks?“, sagte Milo, ließ mich los und drehte sich zu ihm.
„Alles ist vorbereitet, Sir, und ich habe Ihre Abendgarderobe herausgelegt. Gibt es sonst noch etwas tun?“
„Ich glaube nicht“, antwortete Milo. „Warum nehmen Sie sich den Abend nicht frei, Parks? Ich würde doch sagen, dass selbst Sie eine Möglichkeit finden, sich in Paris zu amüsieren.“
„Gewiss, Sir“, sagte Parks ohne jegliche Begeisterung. „Ich danke Ihnen.“
„Ist Winnelda hier irgendwo?“, fragte ich.
„Ich glaube, sie ist in ein Geschäft um die Ecke gegangen, Madam, um sich, äh, Lesestoff zu besorgen.“ Die Missbilligung war nicht zu überhören.
Ich wusste, welche Art von Lesestoff Winnelda suchte. Klatschzeitschriften. Für sie ging nichts über pikante Skandale, und daran würde es in Paris sicher nicht mangeln. Ich bezweifelte jedoch, dass sie viel auf Englisch finden würde.
„Danke, Parks“, sagte ich.
Er nickte und verließ geräuschlos die Suite.
„Der Arme kann seine Aufregung ja kaum zügeln, so sehr freut er sich auf einen freien Abend in Paris“, bemerkte Milo trocken.
Ich lächelte. „Manchmal frage ich mich, wie Parks so ist, wenn er allein ist. Glaubst du, er ist immer so tadellos?“
„Keine Frage. Würde mich nicht wundern, wenn er sogar in seinem Anzug schläft.“
„Die Zusammenarbeit mit Winnelda muss anstrengend für ihn sein.“ Winnelda war ebenso leichtherzig wie Parks verlässlich, und ich konnte mir vorstellen, dass er sich oft über sie ärgerte.
„Vielleicht muss er sich nicht mehr lange mit ihr herumschlagen. Würde mich nicht wundern, wenn du das Mädchen in Paris verlierst“, kommentierte Milo. „Entweder verliebt sie sich Hals über Kopf in irgendeinen schnauzbärtigen Halunken oder sie endet auf der Bühne und wirft mit einer Reihe Cancan-Tänzerinnen die Beine in die Luft.“
„Wohl kaum“, sagte ich. „Dazu fehlt ihr der Gleichgewichtssinn.“
In dem Moment ging die Tür auf, und Winnelda kam mit einem Stapel Zeitschriften unterm Arm herein. Als sie uns sah, blieb sie stehen und machte unbeholfen einen kleinen Knicks. „Oh, Madam, Mr Ames, ich wusste nicht, dass Sie schon da sind. Ich war nur kurz um die Ecke und habe ein paar Kleinigkeiten gekauft. Das heißt … Ich … Also, ich habe Ihre Koffer schon fast ausgepackt, Madam. Soll ich den kleinen Handkoffer auspacken, den Sie dabeihatten?“
Ich warf einen letzten Blick auf die malerische Aussicht, dann wandte ich mich von dem Fenster ab und zog die Handschuhe aus.
„Ja, Winnelda, danke. Und würden Sie mir für heute Abend etwas zum Anziehen herauslegen?“
„Ich dachte, Sie kaufen sich neue Kleider.“ Sie klang entsetzt, dass ich etwas tragen wollte, das bereits mir gehörte, wo mir doch alle Geschäfte in Paris zur Verfügung standen.
„Ja, vielleicht gehe ich wirklich einkaufen“, sagte ich lächelnd, „aber nicht vor dem Abendessen.“
Sie sah ein wenig geknickt aus, daher schnitt ich ein Thema an, dass sie sicherlich aufheitern würde.
„Steht etwas Interessantes in den Klatschspalten?“, fragte ich. Die Fehltritte der Reichen und Berühmten bereiteten Winnelda immer das größte Vergnügen. Seitdem es Milo gelang, seinen Namen mehrere Monate in Folge aus den Klatschkolumnen herauszuhalten, war ich diesen Zeitschriften viel weniger abgeneigt als zu der Zeit, als er ständig zusammen mit bezaubernden Berühmtheiten und Filmstars in den Schlagzeilen stand.
„Ich musste viele Zeitschriften durchblättern, bis ich etwas Interessantes gefunden habe“, sagte Winnelda mürrisch. „Die meisten waren auf Französisch und hatten einen alten Mann auf der Titelseite.“
„Einen alten Mann?“, wiederholte ich.
„Ja, bei ganz vielen war ein Foto von ihm vorne drauf. Er war ziemlich alt und überhaupt nicht schön.“
„Wie schade“, sagte ich und unterdrückte ein Schmunzeln.
„Ich habe alle gekauft, die ich auf Englisch gefunden habe, und auch ein paar französische. Ich dachte, vielleicht könnten Sie mir ja bei Gelegenheit sagen, was drinsteht.“
„Gerne.“
Hätte ich gewusst, worauf unser Aufenthalt in Paris hinauslaufen würde, dann hätte ich den Klatschspalten wohl von Anfang an etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet.
Wir aßen früh zu Abend und fuhren zurück ins Hotel, wo wir auf Madame Nanette warteten. Milo bestellte schon einmal Kaffee aufs Zimmer, damit er rechtzeitig für ihren Besuch ankam. Ansonsten blieb uns nichts weiter zu tun, als zu warten. Ich schaltete das Radio ein, und Milo setzte sich, rauchte und wirkte nach außen hin völlig gelassen.
Ehrlich gesagt war ich erleichtert, dass Parks und Winnelda heute Abend freihatten und wir unter uns waren. Parks war der Inbegriff von Diskretion, Winnelda allerdings war eine unverbesserliche Lauscherin. Sie meinte das nicht böse, und doch wäre es einfacher, sich auf das Gespräch mit Madame Nanette zu konzentrieren, wenn wir uns nicht ständig fragen mussten, wo Winnelda gerade lauerte.
Kurz vor zehn klopfte es leise an der Tür. Milo ging sie öffnen, und Madame Nanette stand davor. Sie begrüßten sich auf Französisch. So viel Herzlichkeit war nicht oft in Milos Stimme zu hören.
Sie umfasste seine Hände und sah ihm ins Gesicht. „Gut sehen Sie aus“, sagte sie schließlich. „Zu viel Sonne ist natürlich schlecht für die Haut, aber das hat Sie ja noch nie gestört.“
Er lachte und küsste sie auf die Stirn. „Ich hätte mir denken können, dass Ihnen das auffällt.“
Lächelnd tätschelte sie ihm die Wange, dann trat sie ein.
Ich suchte ihr Gesicht nach Anzeichen einer Krankheit ab. Erleichtert stellte ich fest, dass sie kerngesund aussah. Sie hatte ein sanftes Gesicht, dunkle Augen und einen scharfen Blick. Sie war durchschnittlich groß und schlank und trug ein dunkelgraues Kleid, das ein wenig altmodisch war, aber von ausgezeichneter Qualität. Ihr ehemals schwarzes Haar war inzwischen grau meliert, aber die Haut war beinahe frei von Falten, und sie hätte problemlos als wesentlich jünger durchgehen können.
Sie kam zu mir, umfasste sanft meine Arme und hauchte mir Küsse auf die Wangen. Dann trat sie zurück, die Hände immer noch auf meinen Armen, und musterte mich. „Sie sehen hinreißend aus, Mrs Ames. Und sehr glücklich.“
„Oh, nennen Sie mich bitte Amory.“ Darum bat ich sie jedes Mal, aber sie musste sich noch an die vertrauliche Anrede gewöhnen.
Sie drückte meine Arme, dann wandte sie sich an Milo. „Ihre Frau strahlt ja geradezu vor Glück. Bestimmt, weil Sie sich in letzter Zeit anständig benommen haben. Seit ein paar Monaten liest man kaum noch ein Wort über Sie in den Illustrierten.“
Milo lächelte und verstand den Kommentar, den man als milden Tadel auffassen könnte, anscheinend als Kompliment. „Ja, in letzter Zeit habe ich mich richtig mustergültig benommen. Das ist fast schon schade. Meine letzte richtige Schelte ist schon eine Ewigkeit her.“
„Die nächste ist sicher schon längst überfällig“, erwiderte sie, wobei das Funkeln in den Augen den strengen Ton entkräftete. „Sie sind immer noch attraktiver, als gut für Sie ist, aber da kann man wohl nichts machen. Also, Amory, setzen wir uns. Sie müssen mir alles über Ihre Italienreise erzählen.“
Wir gingen zum Kamin. Madame Nanette und ich setzten uns auf das Sofa und Milo nahm auf dem Sessel Platz. Aus der silbernen Kanne schenkte ich Kaffee in das feine, weiße Hotelporzellan. Madame Nanette trank ihren Kaffee mit zwei Stück Zucker und ohne Milch, genau wie Milo.
Natürlich war ich gespannt zu hören, warum sie überhaupt hier war, aber offenbar hatte sie keine Eile, uns den Grund für ihren Besuch zu verraten. Stattdessen erzählte ich ihr von unserem Aufenthalt in Italien, während Milo dasaß, eine Zigarette rauchte und gelegentlich einen Kommentar beisteuerte. Ich dachte schon fast, dass wir uns die Botschaft zwischen den Zeilen ihrer Briefe nur eingebildet hatten, doch ab und zu flackerte ein sorgenvoller Blick in ihren Augen auf, den sie schnell wieder überspielte.
Schließlich hatte Milo genug von dem Geplauder. Er stellte Tasse samt Untertasse ab und drückte die Zigarette im Kristallaschenbecher auf dem Tisch aus. Dann richtete er den Blick auf Madame Nanette. „Als Sie uns um einen Besuch gebeten haben, ging es doch nicht nur darum, zu hören, wie es in Italien war. Was war der eigentliche Grund, uns nach Paris zu bitten?“
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Immer scharfsinnig, immer ungeduldig.“
„Na, ich würde sagen, bisher war ich sogar erstaunlich geduldig.“
Der Ton gefiel ihr wohl nicht, denn sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. Dennoch bewegte Milos Kommentar sie zum Reden und nach kurzem Zögern fing sie an.
„Etwas stimmt nicht“, sagte sie. „Das habe ich schon geahnt, als ich den Brief geschrieben habe. Und inzwischen bin ich mir sicher.“
„Warum erzählen Sie nicht einfach, was los ist?“, ermunterte ich sie.
„Es geht um meinen Arbeitgeber.“
Milo nickte. Damit hatte er gerechnet.
„Für wen arbeiten Sie?“, fragte ich.
„Haben Sie von Helios Belanger gehört?“
Ich war überrascht. Natürlich hatte ich das. Helios Belanger gehörte zu den besten Parfümeuren Frankreichs. Er war der Schöpfer von über einem Dutzend beliebter Düfte. „Einer Königin würdig“, so der Werbespruch von Parfumes Belanger. Keine Frau der gehobenen Gesellschaft, die etwas von sich hielt, besaß nicht mindestens einen Duft von Belanger. Auch auf meiner Frisierkommode zu Hause standen mehrere Flakons.
Ich sah zu Milo. Er wirkte nicht im Geringsten überrascht, und ich hatte das seltsame Gefühl, dass er mehr wusste, als er sich anmerken ließ.
„Ich weiß nicht, ob Sie das mitbekommen haben“, fuhr Madame Nanette fort, „aber vor vier Jahren hat er eine sehr junge Frau geheiratet.“
„Ja“, sagte Milo. „Ich glaube, davon habe ich gehört.“
„Ein Jahr nach der Hochzeit haben sie ein Kind bekommen, ein Mädchen, Seraphine. Sie ist mein Schützling.“
Milo nickte.
„Und etwas an der Arbeit im Haus von Helios Belanger hat Sie beunruhigt?“, fragte ich.
Wieder zögerte sie. Dann faltete sie die Hände im Schoß. „Selbst wenn Sie von Helios Belanger gehört haben, wissen Sie vielleicht noch nicht alles, um meine Geschichte zu verstehen. Am besten fange ich vorne an.“
Milo lehnte sich zurück. „Ich bitte darum.“
Ich schenkte ihr Kaffee nach, und in ihrer warmen, melodischen Stimme begann Madame Nanette zu erzählen. Über zwanzig Jahre Dienst in englischen Haushalten hatte ihren Akzent verringert, aber noch immer war der weiche Singsang der französischen Sprache herauszuhören.
„Helios Belanger gelang ein beeindruckender Aufstieg. Was er anpackte, wurde ein Erfolg – dank der Kombination aus Beharrlichkeit und einem Händchen fürs Finanzielle. Die Anfänge seiner Karriere waren weniger glanzvoll, aber von diesem Teil der Geschichte wissen die meisten kaum etwas. Er wurde in Marseille geboren, als Sohn eines Franzosen und dessen griechischer Ehefrau. Beide starben in Helios’ Jugend. Er hatte keine Familie und so zog er hierher, nach Paris, wo er jahrelang auf der Straße lebte. Aber das war keine verschwendete Zeit. Er hat gelernt, seinen Verstand zu gebrauchen, und wurde ein ausgezeichneter Menschenkenner. Und nicht nur das. Er hat auch immer behauptet, dass er seinen feinen Geruchssinn den Nächten unter freiem Himmel im Jardin des Plantes und inmitten der Zierbauten im Parc Monceau zu verdanken hat.“
Ich konnte mir vorstellen, wie er als junger Mann in der Abenddämmerung über die Wege im Park schlenderte und einen Platz suchte, wo er sich inmitten des satten Grüns hinlegen und hinauf zu den Sternen blicken konnte.
„Er war klug und geschäftstüchtig und fand eine Anstellung in einer Apotheke. Sein Arbeitgeber war ein ehemaliger Soldat, und er erzählte Helios von seinen Reisen um die Welt. Das weckte auch in Helios den Wunsch, fremde Länder zu erkunden“, erzählte Madame Nanette weiter. „Wenn Helios nicht gerade hinter dem Verkaufstresen stand, mischte er Kräuter und Blumen und entwickelte als Laie seine ersten Parfums. Schließlich erlaubte sein Arbeitgeber ihm, sie zu verkaufen. So habe ich ihn kennengelernt.“
Verdutzt schaute ich auf. Dass Madame Nanette ihn von früher kannte, hätte ich nicht gedacht. Mein Blick huschte zu Milo, aber er sah nicht in meine Richtung.
„Als junges Mädchen habe ich einen Sommer lang in einem Blumenladen gearbeitet“, fuhr sie fort, „und Helios kam oft, um Blumen zu kaufen. Stundenlang konnte er über die Düfte und ihre feinen Unterschiede sprechen. Manchmal begleitete er mich nach Hause, und noch bevor wir um eine Ecke bogen, wusste er, was in den Blumenkästen in der nächsten Straße blühte. Er war aufregend, charmant, und allmählich wuchs er mir ans Herz.“
Während sie diesen Teil der Geschichte erzählte, war ihr Blick abwesend und sie wirkte jünger, als wären die Jahre von ihrem Gesicht abgefallen. Einen Moment lang sah ich in ihr die junge Frau, die sie einmal gewesen war.
„Sie waren in ihn verliebt“, sagte Milo plötzlich, den scharfen Blick auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie lächelte, aber ein bisschen traurig, fand ich. „Schwer zu sagen. Damals, als achtzehnjähriges Mädchen, dachte ich das zumindest. Aber was weiß die Jugend schon über die Liebe?“
Diesmal suchte Milo meinen Blick. Wir waren beide überrascht über die unerwartete Wendung und fragten uns, worauf die Geschichte hinauslaufen würde.
„Eine Weile hoffte ich, wir würden heiraten, aber dazu sollte es nicht kommen“, sagte sie. „Unsere Wege trennten sich.“
Ein jähes Ende der Geschichte zweier Liebenden. Sicher steckte mehr dahinter, als sie momentan zu erzählen bereit war. Ich fragte mich, was sie entzweit hatte.
„Helios zog los, um die Welt zu sehen, und kurz darauf bekam ich eine Stelle als Kindermädchen. Ich ging nach England und dort fing mein Leben mit Ihnen an.“ Sie lächelte Milo an, die Wärme und Zuneigung waren spürbar.
„Und Sie haben nie wieder von ihm gehört?“, fragte Milo.
„Nicht bis letztes Jahr“, sagte sie. „Nach meiner letzten Anstellung habe ich in Lyon gelebt, da bekam ich einen Brief von ihm. Darin stand, dass seine erste Frau Elena gestorben war. Er hatte wieder geheiratet und fragte, ob ich Interesse an einer Stelle als Kindermädchen für sein kleines Kind mit seiner zweiten Frau hätte.“
„Wie beleidigend“, sagte Milo.
Sie lächelte sanft. „Überhaupt nicht. Man kann ja nicht erwarten, dass nach all den Jahren noch etwas von der tendresse übrig war. Ich fand es nett, dass er sich überhaupt an mich erinnerte und mir die Erziehung seines Kindes anvertrauen wollte.“
Milo sah nicht überzeugt aus, und ich war gewissermaßen seiner Meinung. Es musste doch einen Grund gehabt haben, dass Helios Belanger eine Frau ausfindig gemacht hatte, die er dreißig Jahre lang nicht gesehen hatte, um sie als Kindermädchen für sein Kind mit einer jungen Frau anzustellen.
„Also bin ich zu ihm gegangen, um in seinem Haus zu arbeiten. Er hatte sich zwar sehr verändert, aber anfangs habe ich in dem Mann, der er geworden war, noch Spuren von dem Jungen von damals gesehen. Als ich ankam, war er sehr nett zu mir.“
„Tatsächlich?“, fragte Milo und griff nach einer weiteren Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch.
„Sie müssen nicht so die Stirn runzeln, mon cher“, sagte sie. „Da war nichts zwischen uns, keine Romantik, kein Hauch von Liebe. Nach meiner Ankunft habe ich Helios kaum noch gesehen. Außerdem hatte ich, da war ich noch gar nicht lange im Haus, das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.“
„Inwiefern?“, fragte Milo.
„Das kann ich nicht so genau sagen. Das Kind, Seraphine, ist ganz entzückend. Auch die junge Gattin ist sehr nett. Aber etwas war nicht, wie es sein sollte. Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Da war so eine Art Grundanspannung im Haus. Die Stimmung war kalt. Auf den ersten Blick wirkte es anders, aber das war kein glückliches Zuhause. Anfangs habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Schließlich habe ich schon in vielen unglücklichen Haushalten gearbeitet.“
Ich sah zu Milo und fragte mich, ob das auch für sein Zuhause galt, doch ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Über seine Kindheit hatte er nie viel erzählt. Sein Vater war gestorben, als Milo studiert hatte, aber ich hatte nie den Eindruck gehabt, dass er viel um ihn getrauert hätte.
„Aber dann wurde es schlimmer“, sagte Madame Nanette leise.
„In welcher Hinsicht?“, fragte ich.
„Wie gesagt, der Helios Belanger, für den ich zu arbeiten angefangen hatte, also der, dessen Name überall in der Werbung zu lesen ist, war ein ganz anderer als der Junge, den ich gekannt hatte. Obwohl wir uns nur selten über den Weg gelaufen sind, habe ich deutlich erkannt, was er war: ein Tyrann. Er war unberechenbar, oft irrational, und er herrschte mit eiserner Hand über sein Unternehmen – und über seine Familie.“
„Wäre nicht das erste Mal, dass so etwas zu Unglück führt“, bemerkte Milo. „Wer wohnt sonst noch in dem Haus?“
„Seine Kinder. Ich hatte den Eindruck, dass er sie immer in der Nähe haben wollte. Er hat neben dem kleinen Mädchen noch zwei Söhne und eine ältere Tochter. Anton ist der Älteste. Er ist sehr ernst, sehr zurückhaltend. Er war schon immer die rechte Hand seines Vaters, aber ich glaube nicht, dass er mit dem Herzen bei der Sache ist. Für Anton zählt nur der Duft des Geldes. Von der ältesten Tochter, Cecile, kann man das nicht behaupten. Sie hat die Liebe und Leidenschaft für die Parfumherstellung von ihrem Vater. Sie verbringt Stunden in dem Gewächshaus und dem Labor, das Helios für sie gebaut hat, und entwickelt und perfektioniert Düfte. Genau wie ihr Vater hat sie einen äußerst starken Willen, und sie und ihre Brüder geraten oft aneinander.“
Sie machte eine winzige Pause, dann ergänzte sie: „Und dann wäre da noch Michel, der jüngere Sohn. Er hat einen äußerst schlechten Ruf.“
„Ja“, sagte Milo. „Michel Belanger und ich kennen uns.“
Eigentlich wunderte es mich nicht, dass das schwarze Schaf der Familie Belanger offenbar ein Bekannter meines Mannes war. Milo hatte viel Zeit in Paris verbracht, und der liederliche jüngere Sohn aus illustrem Hause schien genau die Art von Umgang zu sein, die er pflegen würde.
Madame Nanette nickte, als wäre auch sie nicht überrascht. „Er sieht gut aus, verbringt viel zu viel Zeit mit Trinken und ausschweifenden Partys, und dann waren da noch diverse Skandale mit Frauen. Er ist aufbrausend, und es gab mal einen Vorfall mit dem Ehemann einer Frau, dem Monsieur Belanger ein großzügiges Schweigegeld gezahlt hat.“
„Was für ein Vorfall?“
„Die genauen Umstände kenne ich nicht, aber soweit ich weiß, wurde der Ehemann schwer verletzt.“
Dieser Michel Belanger schien wirklich ein zwielichtiger Typ zu sein.
„Was ist mit der jungen Gattin?“, fragte Milo. „Wie ist sie so?“
„Sie ist Engländerin und sehr hübsch“, sagte Madame Nanette. „Vor der Hochzeit hieß sie Beryl Norris. Sie ist aus einer guten Familie in Portsmouth. Meines Wissens hatte Helios sie im Urlaub kennengelernt, und als er wieder nach Hause kam, hatte er sie bereits geheiratet – sehr zum Entsetzen seiner Kinder. Viel kann ich nicht über sie sagen, aber ich glaube, sie ist eine gute Mutter. Ich weiß nicht, ob sie Helios aus Liebe geheiratet hat, aber sie liebt ihr Kind.“
„Und so leben sie alle zusammen in dem großen Haus in Faubourg Saint-Germain, die ganze kleine unglückliche Familie“, sagte Milo. „Wann ging Ihnen auf, dass sie vielleicht mehr als nur unglücklich sind?“
Madame Nanette schien über die Frage nachzudenken. „Ich glaube, das erste Mal wurde mir das vor etwa sechs Monaten klar. An einem Abend haben sich Monsieur Belanger und Monsieur Michel laut gestritten. Das war nichts Ungewöhnliches. Sie hatten oft Streit. Damals dachte ich mir nicht viel dabei.“
„Aber später schon“, sagte ich.
Sie nickte. „Am nächsten Morgen ist Helios früh abgereist, nach Grasse.“
„Wo seine Fabrik steht“, ergänzte Milo. Grasse war die Heimat vieler Parfumfabriken, weil sich das Klima dort besonders gut für den Anbau von Jasmin, Lavendel und anderen Blumen eignete, die bei der Parfumherstellung häufig verwendet wurden.
„Ja. Ein paar Tage später kam er mürrisch und grimmig zurück. Von da an war er unberechenbar, in einem Moment freundlich, im nächsten ruppig. Immer mal wieder starrte er in die Ferne, als würde etwas schwer auf seinen Schultern lasten. Und dann hatte ich den Eindruck, dass sich allmählich alle in seiner Gegenwart unwohl fühlten. Mademoiselle Cecile versteifte sich oft, wenn er sprach. Der bisher unglückliche Haushalt wurde etwas Schlimmeres. Etwas hatte sich verändert. Etwas Schwereres lag in der Luft. Angst. Vielleicht sogar Boshaftigkeit.“
„Das ist alles sehr interessant“, sagte Milo.
„Ja“, stimmte ich zu. „Vielleicht sollten wir versuchen, Monsieur Belanger persönlich kennenzulernen.“
Sie sah auf, die dunklen Augen voller Sorge. „Das ist es ja gerade. So hat sich letztendlich mein Verdacht bestätigt. Helios Belanger ist tot.“
„Tot?“, wiederholte ich entsetzt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Geschichte so enden würde. „Wie ist er gestorben? Und wann? Davon hätten wir doch bestimmt gehört.“ Mir fiel Winneldas Entsetzen über den „alten Mann“ auf den Titelseiten sämtlicher Pariser Klatschzeitschriften ein. Handelte es sich bei dem alten Mann etwa um Helios Belanger?
„Vor drei Tagen erst“, sagte Madame Nanette. „Recht plötzlich.“
Etwas an ihrem Tonfall gab mir zu denken, und wieder lief mir der vertraute Schauer über den Rücken.
Im Gegensatz zu mir wirkte Milo nicht bestürzt, und er klang völlig ungerührt, als er fragte: „Plötzlich, ja?“
Sie sah ihn an, und mir kam es so vor, als würden sie ohne Worte kommunizieren. Sie verstanden einander. Ich unterdrückte den Anflug von Neid. Leider wusste ich so gut wie nie, was Milo dachte.
„Ja“, sagte sie. „Angeblich hat es mit dem Flugzeugabsturz zu tun.“
Unwillkürlich warf ich Milo einen vielsagenden Blick zu. Hatte ich es doch gewusst: Fliegen war keine sichere Art zu reisen. Dieser Vorfall bewies, dass meine Befürchtungen berechtigt gewesen waren.
„Zwei Abende vor seinem Tod war er in seiner Fabrik in Grasse. Er hat mit dem Werkleiter die Planung für sein neuestes Parfum abgeschlossen. Beim Rückflug nach Paris gab es Probleme bei der Landung. Der Landeanflug war turbulent, das Flugzeug ist stark abgedriftet und schließlich mit der Nase voran auf den Boden gekracht.“
„Und er wurde verletzt?“
„Es sah wohl so aus, als sei er unverletzt. Er konnte aus eigener Kraft aussteigen und hat die Männer weggescheucht, die ihm zu Hilfe geeilt waren.“
„Er war allein?“
„Ja. Er hat letztes Jahr mit dem Fliegen angefangen. Er fand es bequemer, auf diese Art nach Grasse zu reisen. So konnte er viel öfter zu seinen Fabriken.“
„War etwas mit dem Flugzeug?“, fragte Milo.
„Natürlich war es schwer beschädigt, aber ich wüsste nicht, dass es ein technisches Problem gegeben haben sollte.“ Sie zögerte. „Man … man vermutet, dass mit Monsieur Belanger etwas nicht stimmte.“
„Alkohol?“, fragte Milo. Ich warf ihm einen Blick zu. Er lehnte sich etwas nach vorn und betrachtete sie besonders aufmerksam. Selten sah ich, dass er sich so für etwas interessierte, aber offenbar war seine Neugier geweckt.
„Ich weiß es nicht. Anscheinend wurde das vermutet. Er soll ein wenig benommen gewirkt haben und war wohl unsicher auf den Beinen.“
„Verstehe“, sagte Milo.
„Aber vielleicht hat ihn auch der Unfall erschüttert“, fügte Madame Nanette hinzu. „So etwas kann an die Substanz gehen.“
„Natürlich“, sagte Milo.
Sie lächelte. „Sie müssen mir nicht nach dem Mund reden, cheri. Ich weiß, Sie denken, wegen meiner Gefühle könnte ich nicht klarsehen, aber ich kann Ihnen versichern: So ist das nicht. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass er betrunken war, weil er nie viel getrunken hat. Er wollte immer bei klarem Verstand bleiben, sogar schon als junger Mann. Sein Verstand sei seine mächtigste Waffe, hat er mir mal erzählt, und er wollte ihn nicht benebeln.“
Diese Erklärung schien Milo zu akzeptieren. „War sein Chauffeur da, um ihn abzuholen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Er hatte sein Auto dort stehen, und er soll darauf bestanden haben, selbst nach Hause zu fahren.“
Wie leichtsinnig, ihn nach dem Absturz allein nach Hause fahren zu lassen. Andererseits schätzte ich Helios Belanger nicht als jemanden ein, der sich leicht umstimmen ließ, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
„Kam er sicher zu Hause an?“, fragte ich.
„Oh ja. Der Butler hat ihn hereingelassen. Ihm ist nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Er meinte, Monsieur Belanger habe etwas müde ausgesehen und sich ein wenig mehr als sonst aufs Treppengeländer gestützt, aber er hat sich nichts dabei gedacht. Am nächsten Tag ging es ihm offenbar schon viel besser, und die Sache war so gut wie vergessen. Aber zwei Tage später ist er von uns gegangen. Er hatte noch mit seiner Familie nett zu Abend gegessen und am nächsten Morgen … da hat ihn das Dienstmädchen gefunden.“
„Das Dienstmädchen?“, fragte Milo. „Seine Frau hat nicht mit ihm im Bett geschlafen?“
Das war eine recht persönliche Frage, aber Madame Nanette schien sich nicht daran zu stören.
„Nein. Sie haben getrennte Zimmer.“ Das war nicht ungewöhnlich, und doch Anlass genug, um über die Beziehung von Helios Belanger und seiner jungen Gattin nachzudenken.
„Wie lautet die offizielle Todesursache?“, sprach Milo aus, was ich mich auch schon gefragt hatte.
„Herzversagen.“
„Vielleicht ausgelöst durch den Schock nach dem Absturz“, sagte Milo.
„Ja.“ Ein Blick in Madame Nanettes Gesicht und ich war überzeugt, dass sie die einfachste Erklärung nicht für die Wahrheit hielt.
„Aber?“, hakte Milo nach.
„Aber Helios war immer bei bester Gesundheit. Ich glaube einfach nicht, dass er Herzprobleme gehabt haben soll. Selbst sein Arzt schien sehr überrascht.“
Ich widersprach nicht, hielt es aber nicht für ausgeschlossen, dass er tatsächlich an Herzversagen gestorben war. Ein Mann mit explosivem Temperament, familiären Problemen und einem millionenschweren Imperium war gewiss einer enormen Belastung ausgesetzt. So etwas war nicht gut fürs Herz.
„Wenn es nicht das Herz war, was dann?“, fragte Milo.
Mit düsterer Miene begegnete sie seinem Blick. „Ich glaube, er wurde ermordet.“
Ich hatte bereits geahnt, dass sie darauf hinauswollte, aber die Worte laut ausgesprochen zu hören, überraschte mich dennoch ein wenig.
Anscheinend hatte auch Milo damit gerechnet, denn er wirkte nicht im Geringsten erstaunt.
„Sie nehmen an, dass der Flugzeugabsturz der erste Mordversuch gewesen sein könnte?“, fragte er.
„Möglich“, antwortete sie. „Vielleicht hat ihn jemand unter Drogen gesetzt oder vergiftet. Der Mörder hat wohl gehofft, dass Helios beim Absturz umkommt. Und als der Plan gescheitert ist, hat er einen zweiten Versuch unternommen. Diesmal mit Erfolg.“
„Wer war am Abend vor seinem Tod anwesend?“, fragte Milo.
„Die ganze Familie. Außerdem Jens Müller, der deutsche Bildhauer. Alle haben das Gleiche gegessen, aber jeder hätte ihm nach dem Dinner etwas ins Glas mischen können. Normalerweise hat er als Digestif einen Brandy getrunken.“
Ich konnte nicht länger schweigen. „Verdächtigen Sie jemand Bestimmten?“
Sie sah mich an und ein trauriges Lächeln huschte ihr über die Lippen. „Das ist es ja, Amory. Es könnten so viele sein. So sehr es mich auch schmerzt, das zu sagen: Ich fürchte, jeder davon wäre dazu fähig.“
„Und was möchten Sie, dass ich für Sie tue?“, fragte Milo.
Mir gefiel nicht, dass er „ich“ gesagt hatte, nicht „wir“, aber fürs Erste wollte ich darüber hinwegsehen. Sobald Madame Nanette weg war, konnten wir immer noch ausdiskutieren, welche Rolle ich bei dieser Angelegenheit spielen würde.
„Natürlich kann ich nicht einfach zur Polizei gehen“, sagte sie. „Ich habe keine Beweise. Die würden mich nur auslachen. Und selbst wenn ich Beweise hätte, würden die wohl kaum einem Kindermädchen mehr glauben als einer der einflussreichsten Familien in Paris.“
„Und jetzt möchten Sie, dass wir uns der Sache annehmen?“, fragte ich.
Sie nickte. „Ich weiß, dass Sie schon zur Aufklärung von ähnlichen Verbrechen beigetragen haben, und ich dachte, vielleicht kommen Sie weiter als ich. Sie haben die Möglichkeit, mit der Familie und den Bekannten zu sprechen. Wenn ich anfangen würde, Fragen zu stellen, wäre das verdächtig, aber mit Ihnen sprechen sie bestimmt. Vielleicht können Sie etwas tun.“
„Andererseits ist vielleicht gar nichts an der Sache dran“, sagte Milo. Das war zwar recht unverblümt, aber er hatte recht. Ich wusste nicht, was wir tun konnten. Wie sollten wir denn Beweise für einen Mord finden, vor allem, wenn es sich offiziell um einen natürlichen Tod handelte?
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