Eine Leiche zur Hochzeit - Ashley Weaver - E-Book

Eine Leiche zur Hochzeit E-Book

Ashley Weaver

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  • Herausgeber: booksnacks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Amory Ames zwischen Gefühlschaos und Mord …
Der spannende Auftakt der Cosy Crime-Reihe für Fans von Rhys Bowen

Amory Ames ist mit dem wohlhabenden Playboy Milo verheiratet und fragt sich seit der Eheschließung, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Als ihr Ex-Verlobter Gil Trent sie um Hilfe bittet, um seine Schwester von einer Ehe mit dem Herzensbrecher Rupert Howe abzubringen, nutzt Amory die Chance auf Abstand zu Milo und fährt zusammen mit Gil ans Meer. Am Tag nach ihrer Ankunft wird Rupert tot aufgefunden und der Verdacht fällt auf Gil. Amory beschließt, auf eigene Faust zu ermitteln und seine Unschuld zu beweisen. Doch dann taucht Milo auf und Amory muss sich entscheiden, was ihr Herz will – sonst könnte sie selbst zum Opfer werden …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Amory Ames und der tote Ehemann.

Erste Leser:innenstimmen
„Ein vielversprechender Auftakt der Cosy Crime Reihe!“
„Das England der 30er Jahre als Setting ist wunderbar gewählt.“
„Sehr gut recherchierter und liebevoll erzählter historischer Krimi.“
„Fans von Downtown Abbey oder der Im Auftrag ihrer Majestät-Reihe von Rhys Bowen werden hier voll auf ihre Kosten kommen.“

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Über dieses E-Book

Amory Ames ist mit dem wohlhabenden Playboy Milo verheiratet und fragt sich seit der Eheschließung, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Als ihr Ex-Verlobter Gil Trent sie um Hilfe bittet, um seine Schwester von einer Ehe mit dem Herzensbrecher Rupert Howe abzubringen, nutzt Amory die Chance auf Abstand zu Milo und fährt zusammen mit Gil ans Meer. Am Tag nach ihrer Ankunft wird Rupert tot aufgefunden und der Verdacht fällt auf Gil. Amory beschließt, auf eigene Faust zu ermitteln und seine Unschuld zu beweisen. Doch dann taucht Milo auf und Amory muss sich entscheiden, was ihr Herz will – sonst könnte sie selbst zum Opfer werden …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Amory Ames und der tote Ehemann.

Impressum

Erstausgabe 2014, 2017 Überarbeitete Neuausgabe Juli 2022

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-801-1

Copyright © 2014, 2017 by Ashley Weaver Titel des englischen Originals: Murder at the Brightwell

Copyright © 2020, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2020 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Amory Ames und der tote Ehemann (ISBN: 978-3-96817-209-5).

Übersetzt von: Claudia Voit Covergestaltung: ARTC.ore Design unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © buffaloboy2513, © Angela Royle, © Sheli Jensen, © Ranju sudhi Korrektorat: Dorothee Scheuch

E-Book-Version 18.08.2022, 14:07:39.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Eine Leiche zur Hochzeit

Für meine Eltern Dan und DeAnn Weaver – für ihre unerschöpfliche Liebe und Unterstützung

1

KENT, ENGLAND 1932

Mit einem Mann verheiratet zu sein, den man gleichermaßen liebt und hasst, ist eine echte Zerreißprobe.

Es war Ende Juni, und ich saß allein im Frühstückszimmer, als Milo, aus dem Süden zurück, hereinkam.

„Hallo, Liebling“, sagte er und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Er nahm neben mir Platz und butterte sich eine Scheibe Toast, ganz so, als hätte ich ihn zuletzt vor gerade einmal zwei Stunden gesehen, nicht vor zwei Monaten.

Ich trank einen Schluck Kaffee. „Hallo, Milo. Wie schön, dass du mal vorbeischaust.“

„Gut siehst du aus, Amory.“

Dasselbe dachte ich über ihn. Die Zeit an der Riviera hatte ihm offenbar gutgetan. Die glatte, gebräunte Haut betonte seine hellblauen Augen. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und saß in dieser typisch lässigen Haltung da, die ihn immer so entspannt wirken ließ, als würde er sich in teurer, maßgeschneiderter Kleidung besonders wohlfühlen.

„So früh habe ich dich nicht zurückerwartet“, sagte ich. Drei Wochen zuvor hatte mich sein letzter Brief erreicht, ein halbherziger Versuch, mich über seinen Verbleib zu informieren, mit der Andeutung, er sei wahrscheinlich nicht vor Ende Juli zu Hause.

„Monte Carlo wurde langsam langweilig – da musste ich einfach weg.“

„Ja“, stimmte ich zu. „Es geht doch nichts über einen aufregenden Abstecher zu deinem Landhaus auf einen Toast und Kaffee mit deiner Ehefrau, um dem Alltagstrott aus Roulette, Champagner und schönen Frauen zu entkommen.“

Fast schon automatisch hatte ich eine Tasse Kaffee eingeschenkt, zwei Zucker, keine Milch, und reichte sie ihm.

„Ich habe dich wohl einfach vermisst, Amory.“

Er sah mir in die Augen und lächelte. Ich schnappte beinahe nach Luft. Sein Gegenüber mit dieser plötzlichen ungeteilten Aufmerksamkeit zu überrumpeln und zu verwirren, war typisch für ihn.

In dem Moment tauchte unser Butler Grimes an der Tür auf. „Sie werden im Tageswohnzimmer erwartet, Madam.“ Milo grüßte er nicht. Schon lange war klar, dass Grimes nicht der größte Fan meines Ehemanns war. Er behandelte ihn mit gerade ausreichend Respekt, dass seine offensichtliche Abneigung nicht die Grenze zur Unschicklichkeit überschritt.

„Danke, Grimes. Ich gehe gleich rüber.“

„Sehr gut, Madam.“ Er verschwand ebenso geräuschlos, wie er gekommen war.

Milo entging nicht, dass Grimes’ vage Ankündigung ihn über die Identität meines Besuchs im Ungewissen gelassen hatte. Er lächelte mich an, während er eine zweite Scheibe Toast mit Butter bestrich. „Mit meinem unerwarteten Auftauchen störe ich doch nicht etwa ein Stelldichein mit deinem heimlichen Liebhaber?“

Ich legte meine Serviette auf den Tisch und stand auf. „Ich habe keine Geheimnisse vor dir, Milo.“ An der Tür drehte ich mich noch einmal um und erwiderte sein Lächeln. „Wenn ich einen Liebhaber hätte, würde ich dich das selbstverständlich wissen lassen.“ 

***

Auf dem Weg ins Tageswohnzimmer blieb ich vor dem großen, vergoldeten Spiegel in der Diele stehen und vergewisserte mich, dass ich nach der Begegnung mit meinem unberechenbaren Ehemann nicht so wirr aussah, wie ich mich fühlte. Mein Spiegelbild sah mich gelassen an und ich entspannte mich, die grauen Augen wirkten ruhig und das dunkle, leicht gewellte Haar saß, wie es sollte.

Erfahrungsgemäß brauchte ich etwas Zeit, um mich auf Milo vorzubereiten. Nur leider tat er mir nicht oft den Gefallen, sein Erscheinen anzukündigen.

An der Tür zum Tageswohnzimmer fragte ich mich, wer mein Besuch wohl sein mochte. Grimes’ mysteriöse Art, den Gast anzukündigen, hatte nichts mit dem Besuch zu tun, sondern mit Milo; daher wäre ich nicht überrascht, wenn hinter der massiven Eichentür eine so alltägliche Besucherin wie meine Cousine Laurel sitzen würde. Ich betrat das Zimmer, und zum zweiten Mal an diesem Morgen war ich erstaunt.

Der Gast auf dem weißen Sofa im Stil Ludwigs XVI. war nicht meine Cousine Laurel. Nein, da saß mein ehemaliger Verlobter.

„Gil.“

„Hallo, Amory.“ Als ich eintrat, stand er auf, und wir starrten einander an.

Gilmore Trent und ich hatten uns schon jahrelang gekannt und waren bereits einen Monat verlobt gewesen, als ich Milo kennenlernte. Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Gil war ein heller Typ; Milo dunkel. Gil hatte eine friedliche, beruhigende Art; Milo war aufregend und verwegen. Im Vergleich zu Milos charmanter Unberechenbarkeit hatte Gils Beständigkeit geradezu langweilig gewirkt. Jung und naiv, wie ich gewesen war, hatte ich mich für Schein statt Sein entschieden. Gil hatte es mit Fassung getragen und mir auf seine aufrichtige Art alles Gute gewünscht, und seither hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Bis jetzt.

„Wie ist es dir ergangen?“, fragte ich und ging zu ihm, um ihm die Hand zu schütteln. Die Berührung war warm und fest, irgendwie vertraut.

„Ganz gut. Und selbst? Bezaubernd siehst du aus. Hast dich kein bisschen verändert.“ Beim Lächeln zeigten sich kleine Fältchen um die Augen, und ich entspannte mich sofort. Er war noch ganz der Alte.

Ich deutete aufs Sofa. „Setz dich. Darf ich dir einen Tee anbieten? Oder vielleicht Frühstück?“

„Nein, danke. So unangekündigt, wie ich aufgekreuzt bin, habe ich dir bestimmt schon genug Umstände gemacht.“

Ihm gegenüber standen zwei Stühle mit blauen Seidenpolstern und ich ließ mich auf einen sinken, gewissermaßen froh, dass Grimes sich für das vertrauliche Tageswohnzimmer entschieden hatte und nicht für eines der pompöseren Wohnzimmer. „Unsinn. Ich freue mich, dich zu sehen.“ Das meinte ich ernst. Es war wirklich schön, dass er hier war. Gil hatte sich aus der Gesellschaft zurückgezogen, und in den fünf Jahren Ehe hatte ich mich mehr als einmal gefragt, was aus ihm geworden war.

„Die Freude ist ganz meinerseits, Amory.“ Er betrachtete mich aufmerksam, als versuche er herauszufinden, wie ich mich über die Jahre verändert hatte. Auch wenn er gesagt hatte, ich sei noch wie früher, wusste ich, dass die Frau vor ihm nicht mehr das Mädchen von damals war.

Fast schon unwillkürlich musterte auch ich ihn. Die fünf Jahre waren so gut wie spurlos an ihm vorübergegangen. Gil war auf verlässliche, konventionelle Weise attraktiv, zwar nicht umwerfend wie Milo, aber dennoch sehr gut aussehend. Er war dunkelblond und hatte schöne, gleichmäßige Gesichtszüge. Die Augen hatten einen warmen, hellbraunen Ton und schokoladenfarbene Sprenkel, die durch den braunen Tweedanzug betont wurden.

„Ich hätte dir vor meinem Besuch schreiben sollen“, fuhr er fort, „aber um ehrlich zu sein … ich war mir nicht sicher, ob du mich sehen willst.“

„Warum denn nicht?“ Ich lächelte, und trotz allem, was sich zwischen uns ereignet hatte, war ich auf einmal froh, hier mit einem alten Freund zu sitzen. „Schließlich war ich diejenige, die sich schlecht benommen hat. Ich bin eher überrascht, dass du mich sehen willst.“

„Schnee von gestern.“ Er beugte sich leicht nach vorne, was seinen Worten Aufrichtigkeit verlieh. „Ich habe dir doch schon damals gesagt, dass niemand Schuld hat.“

„Das ist nett von dir, Gil.“

„Nun ja, wo die Liebe hinfällt, nicht wahr?“ Er sagte das leichthin, aber seine Mundwinkel zuckten, als wäre nicht klar, ob er das ernst meinte, und als würden die Lippen kein richtiges Lächeln zustande bringen.

„Ja.“ Mein Lächeln verblasste. „Da kann man nichts machen.“

Daraufhin lehnte er sich wieder zurück und der vertraute Augenblick war vorbei. „Wie geht es Milo?“

„Sehr gut. Er ist frisch von der Riviera zurück.“

„Ja, in den Klatschspalten habe ich von seinem Aufenthalt in Monte Carlo gelesen.“ Ich konnte mir nur vorstellen, was da wohl gestanden hatte. Innerhalb der ersten sechs Monate unserer Ehe hatte ich begriffen, dass ich besser nicht so genau wissen wollte, was die Boulevardpresse über Milo zu berichten hatte.

Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen.

Ich nahm eine Schachtel Zigaretten vom Tisch und bot ihm eine an, obwohl ich wusste, dass er nicht rauchte. Zu meiner Überraschung nahm er eine und holte ein Feuerzeug aus der Jacketttasche. Er hielt die Flamme ans Ende der Zigarette und nahm einen tiefen Zug.

„Was hast du in den letzten Jahren gemacht?“, fragte ich. War die Frage überhaupt angebracht? Anscheinend lag über fast jedem Thema ein Schatten der Vergangenheit. Soweit ich wusste, hatte er England eine Weile den Rücken gekehrt, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten. Vermutlich waren seine Reisen nach unserer Trennung nichts, was er mit mir besprechen wollte. Außerdem hatte es eine Zeit gegeben, in der wir gemeinsam gereist waren. Früher, als noch niemand von uns übers Heiraten nachgedacht hatte, waren unsere Familien oft gemeinsam im Ausland gewesen, und so waren Gil und ich enge Freunde und Vertraute geworden. Gutmütig hatte er mich auf der Suche nach malerischen Orten und bei Entdeckungstouren durch antike Ruinen begleitet, und abends leisteten wir uns in den Aufenthaltsräumen der Hotels Gesellschaft, während unsere Eltern bis zum Morgengrauen in den örtlichen Nachtlokalen unterwegs waren. Noch immer erinnerte ich mich von Zeit zu Zeit gern an unsere gemeinsamen Abenteuer und die langen, ungezwungenen Gespräche am Kamin.

Er stieß eine Rauchwolke aus. „Ich bin eine Weile gereist. Hab mir die Zeit vertrieben.“

„Bestimmt war es schön, noch mehr von der Welt zu sehen. Weißt du noch, damals in Ägypten …“

Plötzlich beugte er sich vor und drückte die Zigarette im Kristallaschenbecher auf dem Tisch aus. „Hör zu, Amory. Am besten erzähle ich dir gleich, warum ich hier bin.“

Dank jahrelanger Übung, meine Gefühle zu verheimlichen, konnte ich meine Überraschung verbergen. „Natürlich.“

Er sah mir in die Augen. „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

„Selbstverständlich, Gil. Ich würde dir gern …“

Er hob die Hand. „Hör erst zu, bevor du zustimmst.“ Irgendetwas beunruhigte ihn, er wirkte besorgt, so völlig anders als sonst – Gefasstheit gehörte eigentlich zu seinen typischen Eigenschaften.

Er stand auf, ging zum Fenster und blickte auf den grünen Rasen, der sich immer weiter und weiter zu erstrecken schien, bis er vor dem See, der die Ostgrenze des Anwesens markierte, ein abruptes Ende fand.

Ich wartete. Ihn zu drängen hatte keinen Sinn. Gil würde erst dann sprechen, wenn er dazu bereit war. Ob er vielleicht um Geld bitten wollte? Die Trents waren wohlhabend, aber die aktuelle Wirtschaftskrise hatte weitreichende Konsequenzen, und schon so manch ein Freund musste den Gürtel deutlich enger schnallen. Falls das auch hier der Fall sein sollte, würde ich ihm nur zu gern unter die Arme greifen.

„Ich brauche kein Geld, falls du dich das fragst“, sagte er noch immer mit dem Rücken zu mir.

Trotz der angespannten Stimmung musste ich lachen. „Du kannst noch immer meine Gedanken lesen.“

Er drehte sich um und sah mich ernst an. „Deine Gedanken zu lesen ist nicht schwer. Aber dein Blick lässt sich nicht mehr so leicht deuten wie früher.“

„Übung macht den Meister, das gilt auch fürs Verheimlichen.“

„Ja, da hast du wohl recht.“ Er ging zum Sofa zurück und setzte sich.

„Hast du Emmeline in den letzten Jahren mal gesehen?“ Sein Tonfall war wieder normal.

Ich überlegte kurz, ob er sich nun doch dagegen entschieden hatte, mich um den Gefallen zu bitten, und stattdessen lieber wieder zu höflicher Konversation überging. Emmeline war Gils Schwester. Sie war drei Jahre jünger als ich und hatte die meiste Zeit unserer Bekanntschaft in einer Schule in Frankreich verbracht, aber wir waren befreundet gewesen. Als ich jedoch die Verlobung zu Gil gelöst hatte, verloren Emmeline und ich uns aus den Augen.

„Ein- oder zweimal bei einer Gesellschaft in London“, antwortete ich.

„War sie … Erinnerst du dich an den Kerl, der sie begleitet hat?“

Ich dachte an die letzte Dinnerveranstaltung zurück, bei der ich Emmeline Trent gesehen hatte. Sie war in Begleitung eines jungen Mannes gewesen, gut aussehend und charmant, wenn ich mich nicht irrte. Beim Gedanken an ihn bereitete mir irgendetwas Unbehagen, und ich versuchte mich zu erinnern, warum.

„Ja“, antwortete ich. „Er hieß Rupert soundso.“

„Rupert Howe, genau. Sie will ihn heiraten.“

Ich schwieg. Da war noch mehr, so viel war klar.

„Er ist kein guter Umgang, Amory. Da bin ich mir sicher.“

„Mag sein, Gil“, antwortete ich sanft. „Aber immerhin ist Emmeline eine erwachsene Frau.“ Sie müsste mittlerweile einundzwanzig sein, älter als ich bei meiner Hochzeit.

„Darum geht es nicht, Amory. Es ist nicht so, dass ich den Kerl einfach nicht mag. Ich traue ihm nicht. Da ist etwas … Ich weiß nicht …“ Er unterbrach sich und sah mich an. „Emmeline hat dich immer gemocht. Sie hat zu dir aufgesehen. Ich dachte, vielleicht …“

War er deshalb hier? Auf Emmeline hatte ich doch keinen Einfluss. „Wenn sie auf dich nicht hört, wie kommst du dann darauf, dass es sie interessiert, was ich zu sagen habe?“

Er zögerte, und ich wusste, dass er nach der richtigen Formulierung suchte, sich die Worte quasi zurechtlegte. So war Gil schon immer gewesen; seine Worte wählte er stets mit Bedacht. „Morgen reist eine große Gruppe an die Südküste, in ein kleines Dorf in der Nähe von Brighton. Emmeline und Rupert sind dabei und noch ein paar andere, die du bestimmt kennst. Wir bleiben eine Woche im Brightwell Hotel. Ich bin hier, um dich zu bitten, unter dem Vorwand eines Urlaubs mitzukommen.“

Die Einladung überraschte mich. Fünf Jahre lang hatte ich Gil nicht gesehen, und auf einmal war er hier und fragte, ob ich Lust auf einen Strandausflug hatte. „Ich verstehe das immer noch nicht. Wie kann ich dir helfen, Gil? Wieso wendest du dich an mich?“

„Ich … Amory.“ Er suchte meinen Blick; die braunen Sprenkel wirkten dunkler als zuvor. „Ich möchte, dass du mich begleitest … Es soll so aussehen, als wärst du mit mir dort. Verstehst du?“

Ich verstand ihn durchaus, genauso mühelos wie früher. Ich sollte mit ihm ans Meer fahren und es sollte so aussehen, als hätte ich Milo verlassen. Als wäre meine Ehe ein Fehler gewesen. Emmeline hatte bestimmt in den Klatschspalten gelesen, wie sich mein Mann quer durch Europa flirtete – an einer Trennung würde sie nicht zweifeln.

Schlagartig wurde mir klar, dass ich dann tatsächlich einen guten Grund hätte, um mit Emmeline zu sprechen, und sie vielleicht auf mich hören würde, auch wenn Gil keinen Erfolg gehabt hatte.

Gil hatte gesagt, er traue Rupert Howe nicht. Zu Recht, das wusste ich. Gewiss war Gil an Rupert dasselbe aufgefallen, wie mir damals, als ich ihn kennengelernt hatte.

Emmelines Rupert hatte mich an Milo erinnert.

Beinahe augenblicklich stand meine Entscheidung fest. „Es wäre mir eine Freude, mitzukommen“, sagte ich. „Wenn es in meiner Macht liegt, will ich Emmeline vor einem Fehler bewahren.“

Gil lächelte freundlich, Erleichterung machte sich in seinem Gesicht breit, und ich erwiderte sein Lächeln. Außerdem gab es Schlimmeres als eine Woche am Meer in Gesellschaft von alten Freunden.

Hätte ich jedoch gewusst, welches Unglück uns erwartete, dann hätte ich meine Unterstützung nicht so bereitwillig zugesichert.

2

Gil ging sofort wieder. Er wollte nicht einmal zum Mittagessen bleiben.

Ich begleitete ihn zur Tür, und eine entspannte Stille lag zwischen uns: die Vertraulichkeit eines gemeinsamen Komplotts.

Als wir hinaus in die Einfahrt und ins warme Morgenlicht traten, nahm er meine Hand. „Wenn du nicht willst, musst du es nur sagen. Ich habe kein Recht, irgendetwas von dir zu verlangen, Amory. Ich wusste nur gleich, dass du mich verstehst.“ Bei der Anspielung auf die Vergangenheit schenkte er mir ein unsicheres Lächeln. „Und wenn ich mich recht erinnere, warst du immer offen für ein kleines Abenteuer.“

Ja, früher. Gil hatte mich damals wegen meiner Kühnheit und meiner Tagträume von großen Heldentaten aufgezogen. Doch das Leben entwickelte sich selten wie erwartet; Abenteuer hatte es in den letzten Jahren kaum gegeben.

„Ich helfe gern, wo ich kann, Gil. Wirklich.“

Er strich mir sanft mit dem Daumen über die Hand. „Was sagst du deinem Mann?“

„Ich weiß nicht, ob ich ihm überhaupt etwas sage.“ Ich lächelte matt. „Wahrscheinlich merkt er nicht einmal, dass ich weg bin.“

Gils Blick huschte über meine Schulter. „Da bin ich mir nicht so sicher.“

Anstatt mich umzudrehen, beugte ich mich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Auf Wiedersehen, Gil. Bis bald.“

Er ließ meine Hand los und drehte sich zu seinem Wagen, einem blauen Crossley Coupé. „Ja, bis bald.“

Ich sah ihm hinterher, als er die lange Einfahrt hinunterfuhr; noch immer drehte ich mich nicht um, auch nicht, als ich Milo hinter mir spürte.

„War das nicht Gil Trent?“

Jetzt drehte ich mich um. Milo lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen, seine Haltung ebenso lässig wie sein Tonfall. Er trug Reitkleidung, ein weißes Hemd unter einem schwarzen Jackett und eine beigefarbene Hose, die in blank geputzten, schwarzen Stiefeln steckte. Ein Gutsherr wie er im Buche stand.

„Ja, war es.“

Er zog eine dunkle Braue hoch, ganz leicht nur. „Und? Hast du ihn gebeten, zum Mittagessen zu bleiben?“

„Er hat abgelehnt.“

Mit der Reitgerte klopfte er sich gegen das Bein. „Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass ich da bin.“

„Tja, du bist ja auch viel unterwegs, Liebling.“

Einen Moment lang sahen wir uns an. Falls Milo noch mehr hören wollte, konnte er lange warten. Ich hatte nicht vor, seine Neugier zu stillen. Zur Abwechslung durfte er sich auch einmal fragen, was ich im Schilde führte.

„Du gehst reiten?“, fragte ich unbekümmert und ging an ihm vorbei in den schattigen Eingangsbereich.

Seine Stimme folgte mir ins Halbdunkel. „Möchtest du mir Gesellschaft leisten?“

Die Einladung ließ mich innehalten, und sofort ärgerte ich mich über mich selbst. Ich drehte mich um. Im Türrahmen zeichnete sich vor dem Licht nur ein Schatten ab, aber ich wusste, dass er mich ansah.

Ja, ich wollte ihn begleiten, aber für Milo spielte es ohnehin keine große Rolle, ob ich mitkam oder nicht.

Er wartete.

„Also gut.“ Schließlich gab ich nach. „Ich ziehe mich nur schnell um.“

„Ich warte bei den Stallungen auf dich.“

Ich ging hoch in mein Zimmer. Die unerwarteten Ereignisse an diesem Morgen beschäftigten mich – was für eine Überraschung, dass Gil Trent mich nach all den Jahren besucht hatte. Aber irgendwie hatte er sich rätselhaft verhalten. Ich fragte mich, ob die Sache wirklich so unkompliziert war wie von ihm dargestellt. Hatte er wirklich recht und mit Rupert Howe stimmte etwas ganz und gar nicht? Noch einmal versuchte ich mich an den jungen Mann zu erinnern, doch in meinem Gedächtnis tauchte lediglich ein flüchtiger Eindruck weltmännischer Attraktivität auf. Hoffentlich spielte Gil nur die Rolle des überbehütenden Bruders, aber eigentlich neigte er nicht zu Übertreibungen, und ohne guten Grund hätte er sich sicher kein schlechtes Urteil über Rupert Howe erlaubt.

Guter Grund hin oder her, unser Plan war vermutlich ohnehin zum Scheitern verurteilt. Wenn Emmeline sich tatsächlich in den Kopf gesetzt hatte, diesen Mann zu heiraten, dann machte ich mir keine Hoffnungen, sie von ihrem Kurs abbringen zu können. Aber ein Versuch konnte ja nicht schaden.

Zugegeben, ich hatte Gils Vorhaben nicht nur aus rein selbstlosen Gründen zugestimmt. In Wahrheit fiel es mir immer schwerer zu verdrängen, wie furchtbar unglücklich ich war. Wahrscheinlich hatte ich mir das nicht einmal selbst völlig eingestanden – bis heute.

Als hätte Milos Rückkehr, Gils Besuch oder eine Kombination aus beidem plötzlich die Erkenntnis in mir geweckt, dass meine Lebensweise mich nicht mehr zufriedenstellte. Ich beschäftigte mich zwar, so gut es ging, aber das Engagement in Wohltätigkeitsorganisationen vor Ort war eben auch kein Ersatz für alles. In den letzten Monaten war London erdrückend gewesen, aber für ein ruhiges Landleben war ich zu jung. Kurzum, ich war mir nicht sicher, was ich wollte. Womöglich ließ sich meine aktuelle Unzufriedenheit ja lindern, und ich würde mich, zumindest vorübergehend, wieder nützlich fühlen, wenn ich Gil unterstützte. Natürlich stand mein Ruf auf dem Spiel. Ich hatte zugestimmt Gil zu begleiten, ohne mir viele Gedanken über mögliche gesellschaftliche und sonstige Konsequenzen zu machen. Nun, da ich Zeit zum Nachdenken hatte, war mir durchaus bewusst, wie es aussehen würde, wenn ich mit ihm ans Meer fuhr, ganz egal, wie viele gemeinsame Bekannte ebenfalls dort sein würden. Wenn ich nicht aufpasste, entwickelte sich gewiss ein Skandal. Plötzlich wurde mir klar, dass mich das eigentlich nicht kümmerte. Was ich tat, ging nur mich etwas an, niemanden sonst.

Ich zog meine Reitkleidung an, eine elfenbeinfarbene Hose und eine dunkelblaue Jacke, und stellte mich vor den Ankleidespiegel. Die Hose und vorteilhaft geschnittene Jacke betonten meine Figur, und die Farbe der Reitjacke hauchte meinen grauen Augen einen bläulichen Ton ein. Die Kleidung hatte Milo mir gekauft. Sein Geschmack mochte vielleicht teuer sein, aber er war tadellos, und wie die Kleidung zu meiner Figur und meinem Teint passte, bewies seine Liebe zum Detail, wenn es um das schöne Geschlecht ging.

Ich fragte mich, was Milo wohl von meiner kleinen Urlaubsreise halten würde, aber verdrängte den Gedanken sofort wieder. Er tat immer, wonach ihm der Sinn stand. Es gab keinen Grund, warum ich das nicht auch tun sollte.

Als ich meine Bedenken aus dem Weg geräumt hatte, ging ich nach unten und hinaus zu den Ställen, wo mein Mann für unseren morgendlichen Ausritt auf mich wartete.

Als ich ankam, führte er sein Pferd Xerxes aus dem Stall, einen gewaltigen schwarzen Araber mit berüchtigtem Temperament. Nur Milo konnte das Pferd reiten, und offenbar freute es sich auf den Ausflug mit seinem Herrn: Es scharrte mit den Hufen und schnaubte, als es hinaus in die Sonne ging.

Ich sah meinem Mann zu, wie er dem Pferd gut zusprach und den weichen Hals tätschelte; die schimmernde Mähne hatte denselben Ton wie Milos kohlrabenschwarzes Haar. Ein Lächeln lag auf Milos Gesicht und es blieb dort, als er mich kommen sah. Er freute sich, wieder zu Hause zu sein, wenn auch nur, weil er nun wieder bei seinen Stallungen war. Wenn Milo wirklich etwas aus tiefstem Herzen liebte, dann seine Pferde.

Geoffrey, der Stallbursche, führte mein Pferd Paloma aus dem Stall hinter Milo. Sie war ein sanfter Fuchs mit weißen Vorderbeinen und weißem Gesicht, und sie war ebenso lieb wie Xerxes temperamentvoll.

Ich ging zu ihr und streichelte ihr über die weichen Nüstern. „Hallo, altes Mädchen. Bereit für einen Ausritt?“

Milo wandte sich zu mir. „Wollen wir?“

Wir stiegen auf und starteten mit einem strammen Trab.

Während wir schweigend dahinritten, fiel ein Teil der Anspannung des Vormittags von mir ab. Es war warm, eine leichte Brise wehte und bis auf ein paar einzelne Wattewölkchen strahlte die Sonne ungehindert vom Himmel. Ja, die Szenerie war geradezu idyllisch.

Plötzlich sah Milo mich grinsend an und ich spürte ein Flattern im Bauch. „Wer zuerst auf der Anhöhe ist.“

Ich zögerte keine Sekunde.

„Los, Paloma.“ Nur ein leichter Druck mit den Absätzen und schon galoppierte sie über das offene Feld, als wäre auf der Epsom-Downs-Rennbahn der Startschuss gefallen.

Xerxes brauchte keinen Stups, wir flogen bereits Seite an Seite über die Wiese. Das hatten wir schon lange nicht mehr getan. Die Anhöhe lag auf der anderen Seite des Feldes, dort, wo das flache Land in mehrere bewaldete Hügel überging. Wenn man dem Pfad folgte, der wie ein Hufeisen erst nach Norden und dann Richtung Westen verlief, erreichte man einen Felsvorsprung, von dem aus man das gesamte Anwesen überblicken konnte. Zu Beginn unserer Ehe hatten Milo und ich so manchen Abend auf dieser Anhöhe verbracht. Den Ort hatte ich seit mindestens einem Jahr nicht mehr betreten.

Wir lieferten uns ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Xerxes punktete zwar mit seiner schieren Muskelkraft, aber Paloma war geschmeidig und trittsicher. Auf dem Feld hängte Xerxes uns ab, doch auf dem ansteigenden Pfad konnte Paloma die Führung übernehmen, und mit ein oder zwei Pferdelängen Vorsprung erreichte ich die Anhöhe.

Bei der riesigen Eiche, unserer Ziellinie, zügelte ich Paloma, und in diesem Moment stürmte Xerxes von hinten heran.

„Ich habe gewonnen!“, rief ich. Ein Hochgefühl überkam mich und ich lachte. Milo stimmte mit ein; sein Lachen klang fremd und vertraut zugleich, als würde man eine Melodie hören, die man früher einmal gemocht, dann aber vergessen hatte.

„Ja, du hast gewonnen“, gab er zu. „Du und dein ach so sanftmütiges Pferd.“

In einer fließenden Bewegung sprang er ab und warf Xerxes’ Zügel über einen herabhängenden Ast. Er kam zu mir, um mir beim Absteigen zu helfen.

Als meine Füße den Boden berührten, ließ er die Hände noch einen Augenblick lang auf meiner Taille ruhen, und wir sahen einander an. Zwischen uns flackerte ein flüchtiges Feuer auf und das unheimliche Gefühl, als wäre alles wie früher und wir würden uns immer noch lieben.

Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob Milo mich überhaupt jemals geliebt hatte.

Ich ging an ihm vorbei, band Paloma an und folgte der leichten Steigung hinauf bis zur Spitze der Anhöhe. Unter mir erstreckte sich Thornecrest, das prächtige Landhaus mit den gepflegten Ländereien, das einst der Rückzugsort von Milos Vater gewesen war. Das Anwesen war groß und herrschaftlich, und Milo hielt es in einem tadellosen Zustand. Die Nachlässigkeit, die er als Ehemann an den Tag legte, spiegelte sich nicht in seinem Landsitz wider.

Milo schloss zu mir auf und stellte sich mit gerade so viel Abstand neben mich, dass wir uns nicht berühren konnten. Hier zu stehen, Seite an Seite mit meinem Mann, und über das Land zu blicken, weckte Erinnerungen, die ich lieber vergessen hätte. Nein, das war gelogen. Ich wollte sie nicht vergessen. Aber mich zu erinnern tat weh.

Ich weiß nicht, wo dieser Anflug von Melancholie auf einmal herkam, aber vermutlich hing das mit Gils Besuch zusammen. Zwar hatte ich diese Gedanken zu unterdrücken versucht, aber mehr als einmal hatte ich in den letzten Jahren an Gil gedacht und mich gefragt, was gewesen wäre, wenn …

„Was für ein schöner Tag für einen Ausritt“, sagte ich. Es stimmte, aber die Worte klangen platt und blieben schwer wie Blei zwischen uns in der Luft hängen.

Falls Milo die seltsame Distanz zwischen uns spürte, ließ er sich nichts anmerken. „Ja, aber die Pfade zur Anhöhe sind etwas überwuchert. Ich werde Nelson darauf ansprechen.“

Ich schwieg. Aus irgendeinem Grund ließ mich mein üblicher Gleichmut, wenn es um Milo ging, im Stich. Normalerweise gingen wir ungezwungen miteinander um, und der zunehmende Abstand hatte sich zu aufgesetzter Heiterkeit entwickelt. Aber etwas an diesem Moment war anders; als würde er auf einen Höhepunkt hinauslaufen, den ich nicht greifen konnte.

Mir war unbehaglich zumute, aber meine Unruhe und dass mein Herzschlag sich in einer Art merkwürdigen Erwartung beschleunigte, schien Milo zu entgehen. Er fühlte sich nie unbehaglich. Er war immer so ruhig, vollkommen selbstsicher, deswegen hatte Gils Besuch ihn auch kaltgelassen.

„Die Riviera war traumhaft“, sagte er mit seiner typischen Unbekümmertheit, pflückte ein Blatt von einem Baum und betrachtete es desinteressiert, bevor er es wegwarf. „Aber nicht so warm wie erhofft. Ich habe mir überlegt, dass wir im August hinfahren könnten, wenn es etwas wärmer ist.“

„Nein.“ Das rutschte mir so unvermittelt und mit so viel Nachdruck heraus, dass ich einen Moment brauchte, um zu begreifen, dass ich das gesagt hatte. Und auf einmal wusste ich, was ich sonst noch zu sagen hatte.

Milo drehte sich zu mir. „Nein? Du möchtest nicht nach Monte Carlo?“

„Nein. Weil ich nämlich verreisen werde.“

„Mal wieder ein kleiner Ausflug mit Laurel?“ Er lächelte. „Also, ich gehe doch davon aus, dass du bis August wieder hier bist.“

„Du verstehst das falsch, Milo.“ Ich atmete tief ein und bemühte mich um ein ausdrucksloses Gesicht und eine ruhige, feste Stimme. „Ich gehe weg, und ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.“

An diesem Abend aßen wir nicht zusammen.

Meine Ankündigung auf der Anhöhe hatte Milo wohl überrascht, aber er hatte weder protestiert noch hatte er mich ins Verhör genommen. Ich hatte gesagt, was ich zu sagen hatte, und dann war ich auf Paloma gestiegen und allein zum Haus geritten. Er war mir nicht gefolgt, und ich wusste nicht, wann er zurückkam.

Den größten Teil des Tages verbrachte ich mit Reisevorbereitungen und dem Erstellen einer Liste mit Dingen, um die sich Grimes während meiner Abwesenheit kümmern sollte. Das beschäftigte mich eine Weile, aber eigentlich war die Liste gar nicht notwendig. Grimes war ein Schatz. Ohne Aufforderung brachte er mir ein Tablett ins Zimmer, und hauptsächlich ihm zuliebe aß ich eine Kleinigkeit und trank eine große Tasse starken Tee.

Ich würde ohne Zofe reisen. Eloise, die drei Jahre bei mir gewesen war, hatte kürzlich und recht unerwartet ihren Dienst quittiert, um zu heiraten. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Vorstellungsgespräche mit möglichen Nachfolgerinnen zu führen, und nun musste das wohl bis zu meiner Rückkehr warten. Grimes hatte mir angeboten, mir eines der Hausmädchen zu schicken, damit ich wenigstens beim Packen Hilfe hatte, aber ich lehnte ab. Ich schaffte das selbst, das war kein Problem. Beim Packen konnte ich meine Gedanken sortieren. Was das Reisen an sich betraf, so konnte ich das ebenso gut allein. Eloise, so lieb sie auch gewesen war, hatte nie großen Wert auf Diskretion gelegt.

Es war schon fast dunkel, als ich ein Klopfen hörte. Ich wusste gleich, dass es Milo war. Grimes’ Klopfen war sanfter, wesentlich respektvoller. In dem Pochen an meiner Tür schlug sich Milos Gewissheit nieder; als wäre das Klopfen im Grunde nur eine Formalität, und die Tür würde sich ohnehin öffnen, ob mit oder ohne Zustimmung meinerseits.

„Herein.“ Ich stand mit dem Rücken zur Tür, und packte weiter meinen Koffer, als er hereinkam und die Tür hinter sich schloss.

Wir beide hier in meinem Zimmer – die Ironie entging mir nicht. Schon seit mehreren Monaten hatten wir uns kein Schlafzimmer mehr geteilt. Einmal war er spät nachts von einem seiner Ausflüge zurückgekehrt und hatte im benachbarten Zimmer geschlafen, um mich nicht zu wecken. Auch in der darauffolgenden Nacht war er erst spät nach Hause gekommen und hatte wieder nebenan geschlafen. Keiner von uns sprach diesen Umstand an, und so blieb er dort. Allmählich bekamen wir Übung darin, über die zunehmende Distanz zwischen uns zu schweigen.

„Du packst, wie ich sehe“, sagte er, da ich ihm keine Beachtung schenkte.

„Ja.“ Ich faltete ein gelbes Kleid und legte es in den Koffer auf meinem Bett.

„Du hast gar nicht gesagt, wo es hingeht.“

„Spielt das eine Rolle?“

Er stand jetzt neben mir, an einen Bettpfosten gelehnt, und beobachtete mich unbeteiligt bei meinen Vorbereitungen.

„Wie lange wirst du weg sein?“, fragte er beiläufig. Mir war nicht klar, warum er sich überhaupt die Mühe machte, herzukommen und mich auszufragen.

Ich richtete mich auf und drehte mich zu ihm. Er stand näher als erwartet. Seine Augen waren so unglaublich blau, selbst in dem schwachen Licht meines Zimmers. „Plötzlich so besorgt“, sagte ich abschätzig. „Ich bin schon groß, weißt du? Du musst dir keine Sorgen um mich machen.“

„Sicher, dass ein Koffer ausreicht?“

„Ich lasse mir meine Sachen schicken, wenn ich sonst noch was brauche.“

Er setzte sich neben den Koffer auf mein Bett; als er zu mir aufschaute, sah er fast schon lächerlich attraktiv aus. „Hör zu, Amory. Was soll das alles? Wozu die ganze Geheimniskrämerei?“ Sein Ton war heiter, und ich fragte mich, ob es ihm überhaupt etwas ausmachen würde, wenn ich gar nicht mehr zurückkam.

„Kein Grund zum Überdramatisieren.“ Ich wich seiner Frage absichtlich aus. „Du reist herum, wie es dir passt. Warum sollte ich das nicht auch tun?“

„Da hast du wohl recht. Ich habe bloß nicht damit gerechnet, dass du aufbrichst, sobald ich nach Hause komme. Ohne dich wird das Haus ziemlich leer sein.“

Ich unterdrückte ein Augenrollen. Wie typisch für Milo, so zu tun, als wäre nur ich diejenige, die sich kaum für unsere Ehe interessierte. Und auch das, was er gerade tat, war typisch für ihn: genau dann mit seinem gesamten Charme in meinem Leben aufzutauchen, wenn es ihm gelegen kam, mir aber gar nicht passte.

„Ich wusste nicht, dass du nach Hause kommst“, sagte ich.

„Ja, ich weiß.“ Er sah zu mir hoch. „Und ich glaube, von deiner plötzlichen Abreise wusstest du auch nichts.“

„Was willst du damit sagen?“

Er nahm ein schwarzes Seidennachthemd aus dem offenen Koffer und rieb gedankenverloren den Stoff zwischen den Fingern. „Das hat etwas mit Gil Trent zu tun, stimmt’s? Mit seinem Besuch heute Morgen.“

„Du hast nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.“

„War er öfter hier?“

„Eigentlich nicht“, antwortete ich und schämte mich nur ein kleines bisschen wegen meiner absichtlich vagen Antwort.

Er grinste mich auf eine Art an, die ihm gewissermaßen stand. „Du kannst von mir denken, was du willst, Liebling, aber ein Narr bin ich nicht.“ Matte Belustigung umspielte seine Mundwinkel. „Gilmore Trent kommt heute also in seiner schimmernden Rüstung angeritten und erobert dein Herz im Sturm. Nun geht er endlich doch als Sieger hervor – dafür hat er sich ja lange genug Zeit gelassen.“

„Mach dich nicht lächerlich, Milo“, sagte ich und riss ihm das Nachthemd aus der Hand.

Er lachte kurz auf. „Um Himmels willen, Amory. Du wirst doch nicht ernsthaft mit ihm durchbrennen wollen.“

Ich klappte den Koffer zu, ließ die Verschlüsse gleichzeitig mit einem Klicken einschnappen und sah Milo an. „Ich brenne mit niemandem durch. Ich verreise.“

Er stand mit einer Miene vom Bett auf, die Ironie und Gleichgültigkeit ausdrückte. „Verlass mich, Liebling, wenn du unbedingt willst. Aber kriech doch nicht ausgerechnet zu Trent zurück. So viel Stolz hast du doch sicher noch.“

Ich erwiderte seinen Blick. „Ich bin seit fünf Jahren mit dir verheiratet. Wie viel Stolz kann ich schon noch haben?“

3

Am nächsten Morgen ließ ich mich schon früh von unserem Chauffeur zum Bahnhof bringen. Gil hatte mir ein Telegramm geschickt. Er würde den Morgenzug von London nehmen und mich treffen, wenn ich beim nächsten Halt umstieg. So konnten wir zusammen hinunter an die Küste fahren.

Ich hatte nicht erwartet, dass Milo mich zum Bahnhof begleitete, aber ich war doch ein wenig enttäuscht, dass er sich überhaupt nicht blicken ließ, als ich von zu Hause abfuhr. Andererseits hatte ich ohnehin nicht mit einem herzlichen Abschied gerechnet. Mein Kommentar über meinen Stolz und unsere kaputte Ehe war unhöflich gewesen, aber auch wahr.

Natürlich hatte er die Bemerkung locker weggesteckt. Er hatte gelacht und auf seine furchtbar lässige, gleichgültige Art gesagt: „Alles klar, Liebling. Tu, was du nicht lassen kannst.“ Dann war er aufgestanden und gegangen, und das war’s.

Auf der Fahrt zum Bahnhof legte ich einen Zwischenstopp bei meiner Cousine Laurel ein, um mich zu verabschieden und ihr den Grund für meine plötzliche Abreise zu erklären. Laurel und ich waren zusammen aufgewachsen und die besten Freundinnen. Sie war die Einzige, der ich alles anvertrauen konnte.

„Eine Reise an die Küste mit Gil Trent?“ Sie runzelte die Stirn, als wir uns in ihrem Gesellschaftszimmer unterhielten. „Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, Amory.“

„Dann überrasche ich uns wohl alle“, antwortete ich. „Vielleicht habe ich ja eine draufgängerische Ader, mit der keiner gerechnet hat.“

Natürlich machten wir nur Witze, aber ihre abschließende Bemerkung traf genau ins Schwarze: „Hilfe für einen alten Freund hin oder her – deine Beziehung zu Milo lässt sich so bestimmt nicht retten.“

„Manchmal frage ich mich, ob es da überhaupt noch was zu retten gibt.“

Das beschäftigte mich auch noch, als ich am Bahnhof ankam, doch während der Zug durch die Landschaft zuckelte, erlaubte ich mir nicht, weiter darüber nachzugrübeln. In erster Linie war ich hier, um einem Freund zu helfen. Gil verließ sich auf mich. Meine Eheprobleme dauerten bereits lange genug an, da konnten sie auch noch ein wenig länger warten.

Am Bahnhof Tonbridge stieg ich in den Zug Richtung Süden. Kurz darauf fand Gil mein Abteil und ließ sich auf den Platz neben mir sinken, und der Zug setzte sich in Bewegung.

„Hallo“, sagte er. Er strahlte mich an. „Wie schön, dass du gekommen bist, Amory.“

„Das habe ich dir doch versprochen, Gil.“

Er nahm seinen Hut ab, warf ihn auf den leeren Sitz gegenüber und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ja, ich weiß, dass du fest entschlossen warst zu kommen.“ Er klang zerknirscht. „Aber die Überzeugungskraft eines Milo Ames ist nicht zu unterschätzen.“

„Können wir lieber über etwas anderes als Milo reden?“

„Ich habe keine Lust, über deinen Mann zu sprechen“, sagte er. „Ich will nur nicht, dass es dir schlecht geht. War er wütend auf dich?“

„Nein.“ Ich seufzte. „Milo wird nie wütend. Ich glaube, ihn stört es nicht einmal besonders, dass ich weg bin.“

Gil schwieg einen Moment. Schließlich fragte er: „Hast du ihn verlassen?“

„Ich wusste gar nicht, dass Männer so einen Hang zum Melodramatischen haben“, antwortete ich. „Nein, ich habe ihn nicht verlassen. Zumindest nicht richtig. Ich habe gesagt, dass ich verreise.“

„Hast du ihm erzählt, dass du mich begleitest?“

Ich nahm die Zeitschrift, die ich zuvor gelesen hatte, und schlug sie auf einer beliebigen Seite auf als Zeichen, dass ich das Gespräch beenden wollte. „Milo ist sehr klug. Wirklich. Die Oberflächlichkeit ist nur gespielt – viele finden das charmant. Selbstverständlich hat er den Zusammenhang zwischen deinem Besuch und meiner Abreise erkannt.“

„Und er hat nicht versucht, dich aufzuhalten?“

„Nein. Hat er nicht.“

Gil lächelte schief und schüttelte den Kopf. „Dann ist er wirklich nicht so klug, wie du denkst.“

 

Am Nachmittag fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Das Wetter war herrlich, die Sonne schien, und die warme Luft roch nach Meer und Salz. Auf dem Bahnsteig atmete ich tief ein und fühlte einen Moment lang das Glück und die Zufriedenheit, die ich als Kind am Meer immer empfunden hatte.

„Hier ist der Wagen.“ Gil führte mich zu dem schicken, blauen Automobil, das das Hotel uns geschickt hatte. Wir ließen den Bahnhof hinter uns und fuhren eine ansteigende Straße entlang durch das florierende Dorf.

„Hier ist es“, sagte Gil nach einer Weile und deutete auf die Spitze des Bergs.

Das Brightwell Hotel stand auf einer Klippe mit Blick aufs Meer. Das weiße, schöne Gebäude war ausladend, robust und doch elegant. Es hatte etwas Majestätisches und zugleich Einladendes an sich. Das Hotel schien sich für Prinzen und Piraten gleichermaßen zu eignen; die Art von Reiseziel, das man erhobenen Hauptes aufsuchen konnte, ohne den Anschein zu erwecken, man werfe sein Geld allzu sorglos zum Fenster hinaus. Unnötiger Luxus war heutzutage bei vielen verpönt.

Gil und ich stiegen aus, folgten dem Weg hinauf und betraten das Hotel. Die Inneneinrichtung war ebenso schön wie das Äußere des Gebäudes. Die Lobby war großzügig und die Rezeption befand sich direkt gegenüber dem Eingang. Der Boden bestand aus strahlend weißem Marmor und durch die zahlreichen Fenster fiel Tageslicht, das von den gelben Wänden reflektiert wurde und dem Raum eine warme Atmosphäre verlieh. Mehrere Möbel in Weiß und verschiedenen Blautönen waren mit scheinbarer Beliebigkeit geschickt arrangiert worden. Ein oder zwei strategisch platzierte Topfpflanzen unterstrichen den Eindruck des Gesamtbilds.

Während Gil unsere Schlüssel holte, dachte ich, dass ich hier eine wirklich schöne Woche verbringen könnte.

„Na, wenn das nicht Amory Ames ist!“ Eine hohe, beinahe schrille Stimme durchdrang die Lobby. Ich drehte mich um und sah eine Frau mit ausgefallenem Hut und greller Kleidung direkt auf mich zustürmen wie ein Papagei im Sturzflug.

„Oje“, sagten Gil und ich gleichzeitig.

Yvonne Roland, der Schrecken der Londoner Gesellschaft, senkte sich auf uns herab.

„Amory, Amory, Darling!“ Sie packte mich an den Armen und hauchte mir links und rechts einen Luftkuss auf die Wange. Der Geruch von Talkumpuder umhüllte mich. „Wir haben uns schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen … Bevor mein letzter Mann gestorben ist, glaube ich … Oder vielleicht war es kurz vor … Ach, der arme, liebe Harold … Wie geht es Ihnen denn, Liebes?“

Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern wandte sich sofort an Gil. „Und Gilmore Trent! Wie wunderbar, Sie zu sehen! Oh, dann sind Sie wohl zusammen hier.“ Sie drehte sich zu mir und griff nach meiner Hand. „Wie erfreulich.“

Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie kniff die Augen zusammen und blickte von mir zu Gil und wieder zurück. „Aber Liebes, ich dachte, Sie hätten geheiratet … Wie hieß der Kerl noch mal? Dieser unverschämt gut aussehende?“

„Ich bin hier nur in den Ferien mit ein paar Freunden“, antwortete ich vage.

Ein verschlagenes Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Ah! Verstehe. Jedenfalls können Sie auf meine Verschwiegenheit zählen … Wenn Sie wüssten, welche Geheimnisse man mir alles anvertraut hat … Ich habe zum Beispiel nie jemandem erzählt, dass ich alles über Ida Kent wusste, sogar nachdem sie mit diesem Metzger durchgebrannt ist.“ Sie kräuselte missbilligend die Nase. „Schmutzige Angelegenheit … Aber Sie und Gil? Ich bin entzückt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich gehe auf die Terrasse zum Nachmittagstee. Wir sehen uns später.“ Sie zwinkerte demonstrativ und schon war sie weg.

„Großer Gott.“ Gil atmete aus.

Ich nickte. Mrs Roland war eine wohlhabende Witwe, die durch die Gesellschaft flatterte wie ein laut zwitschernder Paradiesvogel. Sie war dreifach verwitwet und jedes Mal hatte sie mehr Wohlstand angehäuft, während ein Ehemann nach dem anderen unter ihrer heiteren, ermüdenden Überschwänglichkeit das Zeitliche gesegnet hatte. Wäre nicht abwegig, wenn ihre Männer nur aus dem Leben geschieden waren, um endlich ihre Ruhe zu haben. Wenigstens war sie harmlos.

„Zumindest wird uns nicht langweilig“, sagte ich lächelnd. „Mrs Roland sorgt vielleicht nicht unbedingt für Diskretion, aber doch gewiss für Unterhaltung.“

„Also dann“, sagte Gil und berührte mich leicht am Ellenbogen. „Warum gehen wir nicht gleich hoch und ziehen uns um, dann können wir mit Mrs Roland und den anderen auf der Terrasse Tee trinken.“

Ich folgte ihm zum Aufzug links neben der Rezeption. Schweigend fuhren wir in den ersten Stock; wir hingen beide unseren Gedanken nach.

Als wir aus dem Aufzug traten, reichte Gil mir meinen Schlüssel. Unsere Hände berührten sich und auf einmal spürte ich einen Anflug von Heimlichtuerei. Getrennte Zimmer hin oder her, wir hatten uns soeben gemeinsam in diesem Hotel angemeldet, und das machte mich etwas unruhig.

Wir sahen uns an. Ich fragte mich, ob er das Gleiche dachte.

„Ich übernachte drei Zimmer weiter“, sagte er. „Treffen wir uns in einer Viertelstunde wieder hier?“

„Ja, bis gleich.“

Er ging und ich betrat mein Zimmer. Es war geräumig und schlicht, aber elegant eingerichtet: glänzende Holzdielen mit dicken Teppichen, eine seidenbeflockte Tapete und schwere, weiche Bettwäsche – alles in geschmackvollen Pastelltönen. Der Sitzbereich bestand aus einem modernen Sofa und zwei Stühlen mit Seidenpolstern. An der Wand stand ein Schreibtisch. Wie in der Lobby schien das Mobiliar auszudrücken: „Achten Sie gar nicht auf uns. Wir stehen hier einfach herum und sind teuer.“

Ich nahm den Hut ab, zog die Handschuhe aus, warf sie auf einen Stuhl und ging zum Fenster. Mein Zimmer hatte Meerblick. Ich zog die hauchdünnen, elfenbeinfarbenen Vorhänge auf und bewunderte einen Augenblick lang das sanfte Blau, das sich vor mir ausbreitete. Der Ausblick war ausgesprochen romantisch, und gepaart mit dem vagen Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, löste er Unsicherheit in mir aus. War die Reise anzutreten die richtige Entscheidung gewesen? Rasch schob ich meine Bedenken beiseite. Ich tat schließlich nichts Falsches.

Ich tauschte mein maßgeschneidertes, taubengraues Reisekostüm gegen ein fließendes, weiß-rotes Chiffonkleid mit Blumenmuster, das sich mit einem Gürtel um die Taille und einer lockeren Schleife am Rücken binden ließ. Anschließend spritzte ich mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht, frischte mein dezentes Make-up auf und kämmte mir das dunkle, wellige Haar, das von der Reise etwas zerzaust war. Nachdem ich mir einen weißen, leichten Stoffhut mit schwungvoller Krempe und einem roten, gerippten Band aufgesetzt hatte, war ich bereit für den Tee mit Gils Schwester und wer sonst noch dabei war.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer sonst noch hier war, und ich kam mir etwas albern vor. Keine Frage, ich hatte mich voreilig und unbedacht in diese Reise gestürzt, aber nun war es zu spät und ließ sich nicht mehr ändern.

Gil traf mich zur verabredeten Zeit im Flur. Auch er hatte sich frisch gemacht, und als wir nebeneinander durch den langen, goldenen Korridor gingen, gaben wir ein ansehnliches Paar ab. Einen winzigen Augenblick lang fragte ich mich, wie sich mein Leben wohl entwickelt hätte, wäre ich Gils Frau geworden. Wären wir glücklich? Das kann man nicht wissen.

„Ein Nickerchen wäre mir lieber gewesen“, sagte er und stieg in den Aufzug. „Aber wir können unseren Auftritt ebenso gut gleich beim Tee hinter uns bringen.“

„Das stimmt. Dann hat der Skandal bis zum Abendessen genug Zeit, sich aufzubauschen.“

Er lächelte, aber ich spürte sein Zögern. „Einen kleinen Skandal kannst du doch wegstecken, Amory?“

Der letzte Rest meiner Zweifel verflog und ich erwiderte sein Lächeln.

„Was macht schon ein kleiner Skandal? Man lebt schließlich nur einmal.“

Wir stiegen aus dem Aufzug und gingen durch die strahlende Lobby mit dem gemütlichen Sitzbereich bis zur Glastür auf der Westseite. Ich trat hinaus in das helle Licht und bewunderte die großzügige Terrasse. Wie Gil mir erklärte, verlief sie die gesamte Seite entlang, machte einen Knick Richtung Süden mit Blick aufs Meer und erstreckte sich bis ans Ende der Ostseite. Gil zufolge gab es eine zweite Terrasse ein Stück weit die Klippe hinunter, die man über eine Wendeltreppe aus weiß gestrichenem Holz erreichen konnte. „Ein wirklich traumhaftes Plätzchen, aber heute geht ein starker Wind“, sagte er. „Die meisten Gäste werden den Tee bestimmt auf der Hauptterrasse einnehmen.“

„Gil!“ Ein Stückchen weiter winkte uns Emmeline Trent. Mit der Hand an meinem Ellbogen führte Gil mich zu Emmeline, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war, um uns zu begrüßen.

Emmeline umarmte ihren Bruder, bevor sie sich mir zuwandte. Genau wie Gil hatte Emmeline sich kaum verändert, seit ich sie zuletzt gesehen hatte. Ein schmales, schönes Mädchen mit denselben dunkelblonden Haaren und braunen Augen wie ihr Bruder. Fröhlich lächelnd streckte sie die Hand aus und drückte meine liebevoll. „Allerliebste Amory. Ich bin so froh, dich wiederzusehen. Ich wusste nicht, dass du auch kommst. Wie schön.“

„Das war ein ziemlich spontaner Entschluss. Mich freut es auch, dich zu sehen, Emmeline.“

Dann drehte sie sich mit vor Stolz und Freude glänzenden Augen zu dem Herrn an ihrer Seite. „Ihr habt euch schon kennengelernt, glaube ich. Erinnerst du dich noch an meinen Verlobten Rupert Howe? Rupert, das ist Amory Ames.“

Der junge Mann war genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte: groß, gut aussehend und tadellos gepflegt. Er hatte dunkelbraunes Haar und dazu passende Augen. Die weißen Zähne zeigten sich in einem einstudierten, übertrieben höflichen Lächeln. Nichts Warmes lag in seinem Blick, zumindest nicht für mich und ganz gewiss nicht für Gil.

„Ich bin erfreut, Mrs Ames“, sagte er.

Die Freude war ganz und gar nicht meinerseits. Er wirkte zu geschniegelt und war sich seiner Ausstrahlung viel zu bewusst. Vielleicht erinnerte er mich doch nicht so sehr an Milo.

Als würden sich unsere Gedanken kreuzen, fragte Emmeline: „Ist dein Mann auch hier?“

Ich zögerte und eine peinliche Stille breitete sich aus. „Nein“, sagte ich schließlich. „Nein, Milo und ich sind … jedenfalls, dein Bruder hat mich eingeladen.“

Emmeline errötete. „Oh, das tut mir leid.“ Sie stupste ihren Bruder am Arm an. „Du hast mir gar nichts erzählt, Gil. Verzeih mir bitte, Amory. Mir war nicht klar, dass …“

„Kein Problem“, sagte ich heiter. „Schon vergessen.“

Rupert Howes neugieriger Blick entging mir nicht. Ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, was er über mich dachte, denn hinter uns erklang auf einmal eine Stimme.

„Es ist zu windig, um draußen Tee zu trinken.“

Wir drehten uns um und sahen Olive Henderson, eine junge Frau, die ich schon seit vielen Jahren kannte – länger, als mir lieb war. Sie war die Tochter eines bekannten Bankiers, und wir liefen uns bei gesellschaftlichen Veranstaltungen gelegentlich über den Weg, aber näher kannten wir uns nicht. Ich hatte sie immer für etwas hochnäsig gehalten, aber wenn sie lächelte, sah sie hübsch aus, die grünen Augen wirkten dann warm und ihre verdrießliche Miene sanfter.

„Der Aufenthaltsraum wäre sicherlich besser gewesen“, sagte sie. „Ich habe mir gerade erst Locken machen lassen.“

„Stell dich nicht so an“, sagte Rupert. „Du wirst schon nicht weggeweht.“

Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und strich sich über das perfekt frisierte Haar, erwiderte aber nichts. Ich wollte sie begrüßen, aber sie warf Gil und mir nur einen Blick zu und setzte sich, ohne etwas zu sagen.

Allmählich fanden sich auch die anderen ein, und ich stellte fest, dass die Trents nun einen ganz anderen Freundeskreis hatten als noch vor fünf Jahren. Ich hatte wohl nicht damit rechnen können, dass sich in der Zwischenzeit nichts verändert hatte, aber ich war doch ein wenig enttäuscht.

„Amory, das sind Mrs und Mr Edward Rodgers,” sagte Gil und stellte mir ein Paar vor, das gerade an unseren Tisch gekommen war. Sie begrüßten mich, und der Unterschied zwischen ihnen war erstaunlich – wie ein Filmstar an der Seite eines Pfarrers.

„Wie geht es Ihnen?“, sagte Mr Rodgers ausdruckslos. Er war jung und ernst, Rechtsanwalt von Beruf, wie ich später erfahren sollte. Mit den braunen Augen musterte er mich flüchtig, entdeckte aber offenbar nichts Interessantes, denn er setzte sich kurz darauf und schenkte sich eine Tasse Tee ein.

Anne Rodgers war platinblond; sie hatte zwar ein unscheinbares Gesicht, bewegte sich aber auf eine Weise, die alle Männer in der Nähe hatte aufblicken lassen, als sie in dem eng anliegenden, rosafarbenen Seidenkleid auf die Terrasse getreten war.

Sie begrüßte mich herzlich und ließ den Blick abschätzend, aber nicht unhöflich über mich gleiten.

„Was für ein wunderschönes Kleid! Schiaparelli, richtig?“, sagte sie, setzte sich neben ihren Mann und rührte vier Stück Zucker in die Tasse Tee, die er ihr reichte. „Danke, Liebling“, sagte sie und streichelte ihm über die Hand, woraufhin er sie warmherzig anlächelte. Was für ein seltsames Paar, dachte ich, aber ich war nun wirklich keine Expertin für glückliche Ehen.

Als Nächstes kamen Nelson Hamilton und seine Frau Larissa auf die Terrasse und steuerten direkt auf Gil und mich zu; Mr Hamilton lief so schnell, dass seine Frau nicht Schritt halten konnte. Während Gil uns vorstellte, versuchte ich mich zu erinnern, ob wir uns bei der einen oder anderen Veranstaltung in London schon einmal begegnet waren. Nicht dass ich wüsste.

„Sehr erfreut, Mrs Ames“, sagte Mr Hamilton und griff mit seiner warmen Hand nach meiner. Er taxierte mich ausgiebig, und so sah ich mich im Recht, ihn ebenfalls eingehender zu betrachten. Er war älter als die anderen in der Gruppe, vielleicht Mitte vierzig, rotgesichtig, mit grau meliertem, dunklem Haar und einem gepflegten Schnauzer. Er war ein heiterer Geselle, das merkte ich sofort, mit einem Lächeln auf den Lippen und einer lockeren, beinahe schon übertrieben freundlichen Art. Der Typ Mensch, dachte ich, den man spontan nett fand, wobei die Sympathie nach kurzer Zeit wieder abflaute.

„Meine Frau Larissa“, sagte er mit einer beiläufigen Handbewegung in Richtung der Frau hinter ihm. Die Vorstellung genügte offenbar, denn er vertiefte sich sofort mit Rupert in ein ernstes Gespräch über Geschäftliches – die Einzelheiten gingen im allgemeinen Stimmengewirr unter. Mrs Hamiltons Blick folgte ihm einen Moment lang, bevor sie sich mir zuwandte.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Hamilton.“

„Die Freude ist ganz meinerseits“, antwortete sie.

Wie es häufig vorkommt, hatte Mr Hamiltons lebhafte Persönlichkeit eine Partnerin angezogen, die seine überschwängliche Lebenslust nicht teilte. Larissa Hamilton war ruhig und sprach leise. Sie war mindestens fünfzehn Jahre jünger als ihr Ehemann und auf unerwartete Art attraktiv – sie war schön, ohne dass sie sich dessen bewusst war. Sie wirkte irgendwie einsam, und unerklärlicherweise musste ich an die Ophelia-Gemälde von Waterhouse denken. Sie hatte ein freundliches Lächeln, das ihr Gesicht erhellte, aber offenbar nicht besonders viel Selbstbewusstsein. Wenn ich richtig lag, schüchterte ihr Mann sie ziemlich ein. Mehr als einmal zuckte sie zusammen, wenn er hinter uns in schallendes Gelächter ausbrach.

Ein weiterer Gentleman kam zu unseren Tischen. Ich erkannte ihn sofort als Lionel Blake, einen aufsteigenden Stern des britischen Theaters. Sein Hamlet hatte für einiges an Aufsehen gesorgt und war vielleicht die meistdiskutierte Interpretation, seit vor einigen Jahren John Barrymore aus New York die Rolle gespielt hatte. Er war äußerst attraktiv, hatte dunkles Haar und durchdringende Augen in einem ungewöhnlichen Grünton.

„Ich habe schon so lange vor, eine Aufführung von Ihnen zu besuchen“, erzählte ich ihm, nachdem man uns vorgestellt hatte. „Sie sollen ja wirklich fabelhaft spielen.“

„Das ist wirklich sehr nett von Ihnen“, sagte er. „Aber ich fürchte, die Kritiker übertreiben etwas.“

Er zog den Stuhl für mich zurück und ich setzte mich. Seine Bewegungen hatten eine natürliche Anmut an sich, die auf der Bühne bestimmt eine besondere Wirkung entfaltete, und mir fiel auf, dass er seine Sätze sorgfältig betonte, als würde er den Text eines Stücks sprechen.