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Das furiose Finale und ein Paar auf der Flucht: Der dritte Band der Reihe "Ein mörderisches Paar. Der Sturz" von Nummer-1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf Wieder ist Dr. Bernhard Sommerfeldt da, wo er ganz zu Anfang schon einmal war: auf der Flucht! Gejagt von der Polizei, vom BKA, von mehreren Profikillern und Gangsterbossen. Nach der stimmungsvollen Hochzeit am Strand hatte Frauke sich ihre Flitterwochen eher in einem Luxushotel mit viel Champagner vorgestellt. Das haben aber die Verfolger ihres Mannes gründlich vereitelt. Jetzt heißt es fliehen, Geld besorgen und dann raus aus Ostfriesland, wo es mittlerweile von Profikillern nur so wimmelt. Doch auch in dieser prekären Situation beweist Sommerfeldt einmal mehr, warum ihn einige Leute so fürchten. Denn er hat einen Plan B, und der heißt: abtauchen, beim Golfen entspannen und dann zurückschlagen. "Ein mörderisches Paar. Der Sturz" ist das spannende Finale der Trilogie mit einem charismatischen Dr. Bernhard Sommerfeldt und seiner Ehefrau Frauke. Lesen Sie hierzu auch die beiden Vorgängerbände: "Ein mörderisches Paar. Das Versprechen" und "Ein mörderisches Paar. Der Verdacht".
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Seitenzahl: 546
Veröffentlichungsjahr: 2025
Klaus-Peter Wolf
Der Sturz
Ostfriesenkrimi
Wieder ist Dr. Bernhard Sommerfeldt da, wo er schon einmal war: auf der Flucht! Gejagt von der Polizei, vom BKA, mehreren Profikillern und Gangsterbossen. Nach der stimmungsvollen Hochzeit am Strand hatte Frauke sich ihre Flitterwochen eher mit Champagner und Gourmet-Dinner in einem Luxushotel vorgestellt. Doch Sommerfeldt wurde enttarnt, die Verfolger sind ihnen dicht auf den Fersen. Beide müssen nach dem missglückten Anschlag auf Sommerfeldt noch in der Nacht untertauchen. Hat Dr. Bernhard Sommerfeldt einen Plan B? Für das mörderische Paar geht es jetzt um alles.
»Der Sturz« ist das spannende Finale der Sommerreihe von Nr.-1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf.
»Perfekte Urlaubslektüre. Nicht nur für diejenigen, die nach Ostfriesland reisen werden.« Hellweger Anzeiger
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Seine Romane mit der ostfriesischen Hauptkommissarin stehen regelmäßig auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste, auch die Verfilmungen fürs ZDF sind Quotenrenner zur besten Sendezeit und begeistern Millionen von Zuschauern. Mit über 15 Millionen verkaufter Bücher und Übersetzungen in 26 Sprachen zählt Klaus-Peter Wolf zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland und ebenso ein erfolgreicher ehrenamtlicher Tortentester in seinem Lieblingscafé in Norden.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Martin Stromann / SKN / Ostfrieslandbild
ISBN 978-3-10-492006-1
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[Motto]
[Andere verbrachten die Flitterwochen …]
[Johann Baptist Reichhart genoss...]
[Rupert rief Marion Wolters an...]
[Die Yacht dümpelte in den Wellen...]
[Sommerfeldt bestand auf...]
[Sommerfeldt litt daran...]
[Leseprobe Ostfriesenerbe]
[Leseprobe Der Weihnachtsmannkiller 3]
[Begegnung mit Klaus-Peter Wolf]
»Wenn Sie die Lösung für Ihr Problem suchen, wäre in diesem Fall ein Spiegel sicherlich hilfreicher als ein Fernglas.«
Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen, Kripo Aurich, Mordkommission
»Ja, stimmt, wir sind schlechte Verlierer. Aber dafür ziemlich gute Gewinner. Vermutlich kommen wir in die Hölle, aber mit Backstage-Karten. VIP-Bändchen und Freigetränk.«
Dr. Bernhard Sommerfeldt
»Unfruchtbarkeit ist erblich. Wenn deine Eltern keine Kinder kriegen konnten, ist das bei dir genauso.«
Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich, Mordkommission
»Rupert verfährt sich nicht, der entdeckt neue Strecken.«
Hauptkommissar Frank Weller, Kripo Aurich, Mordkommission
Andere verbrachten die Flitterwochen vielleicht in St. Moritz oder Südtirol. In der Karibik oder bei einer romantischen Städtetour. Paris. London. New York.
Dr. Bernhard Sommerfeldt und seine Ehefrau Frauke fuhren über die A 31 ins Ruhrgebiet, nach Gelsenkirchen-Ückendorf.
Sie schlichen wie zwei Grabschänder bei Dunkelheit über den Südfriedhof. Ihr Fluchtauto parkte in der Günnigfelder Straße, Ecke Aschenbruch.
Sie huschten im Schutz der Finsternis den Hauptweg lang bis zum zweiten Rondell. Nicht weit davon, bei der Christusfigur, begann er zu graben.
In Gelsenkirchen hatte er Verstecke angelegt. Nein, keine Schließfächer in Sparkassen. Er wollte auf der Flucht nicht gern gefilmt werden.
Friedhöfe, Parkanlagen, selbst der Zoo, waren dagegen gute Plätze für Stahlkassetten mit Bargeld, Ausweisen und Kreditkarten. In jeder Box ein sicheres Handy. An den Modellen sah er erst, wie viel Zeit vergangen war.
Er hatte gemeinsam mit Frauke ein gutes Leben in Norddeich geführt. Sie waren anerkannte Mitglieder der Gesellschaft gewesen. Er, als Leiter der Klinik hinterm Deich, sie als Immobilienmaklerin. Für viele ein Glamourpaar, auch wenn sie sich weigerten, zu strahlen und zu glitzern.
Er hasste Schusswaffen. Trotzdem lag in jeder Kassette eine Pistole mit Ersatzmagazin. Für Frauke war das ein romantischer Liebesbeweis. Er hatte also damals schon, als er seine Verstecke vorbereitet hatte, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, an sie gedacht. Er glaubte wirklich an ihre Beziehung!
Für sie, die mit Handfeuerwaffen umgehen konnte, als würde sie planen, damit im Zirkus aufzutreten, hatte er, ihren Fähigkeiten entsprechend, einen Ballermann vergraben. Natürlich mit Schalldämpfer und Reservemagazin.
Sie war gerührt. Er hatte also nie vorgehabt, alleine zu fliehen.
Wir gehören halt zusammen, dachte sie. Auf Gedeih und Verderb!
Der Sternenhimmel über dem Südfriedhof in Ückendorf erinnerte sie an klare Nächte auf Spiekeroog, Wangerooge oder Langeoog, weil so viele Sterne zu sehen waren, denn die Lichtverschmutzung durch Leuchtreklame und Autoscheinwerfer existierte auf den Inseln praktisch nicht.
Hier war es ähnlich. Es fehlten ihr nur das Rauschen der Nordseewellen und die Möwenschreie. Dafür gab es hier Nil- und Kanadagänse. Sie sahen Sommerfeldt aufgeregt bei der Arbeit zu, als hätte er vor, für sie Futter auszugraben.
Sommerfeldt sprach mit den Tieren: »Na, man sagt ja, ihr schmeckt bitter. Anders als domestizierte Zuchtgänse seid ihr halt wild und nicht nur für die Bratröhre geboren … Wir haben viel gemeinsam … Wir sind Überlebenskünstler und gehören eigentlich gar nicht hierhin.«
Die Wildgänse schienen ihm zu antworten. Fast wirkte es, als würden sie miteinander flüstern. Eine Gruppe von fünf Gänsen umringte ihn inzwischen.
Er rief zu Frauke: »Ich glaube, in einer Knoblauch-Sahnesoße könnten sie gut schmecken. Man sollte eine lange Garzeit bei niedriger Temperatur wählen … Sie sind gut genährt. Die schmoren leicht im eigenen Fett. Mit Kichererbsen, Orangenstückchen und Datteltomaten könnte das eine Köstlichkeit werden.«
Er fächerte sich Luft zu, als würde er es schon riechen.
»Gänsebrust mit Kurkuma – nicht zu viel Chili, Kreuzkümmel, Harissa und Sternanis!« Er überlegte kurz und entschied dann: »Ein paar Nüsse gehören auch dazu. Mandeln auf alle Fälle.«
Er küsste seine Fingerspitzen.
Eine Gans reckte den Hals und schnatterte laut los. Es war wie ein Schimpfen oder eine Warnung. Es kam Frauke so vor, als hätte die Gans seine Worte genau verstanden und würde sie jetzt für die anderen übersetzen. Sekunden später verschwanden die Wildgänse nämlich in der Dunkelheit, aus der sie gekommen waren. In der Ferne hörte Frauke sie noch palavern.
Sommerfeldt schloss die Ausgrabung wieder und trat die Erde fest.
Er packte die leere Kassette und den Spaten in den Kofferraum des weißen Mercedes. Die Pistole und das Magazin gab er Frauke, wie andere Männer ihrer Frau einen Blumenstrauß überreichten.
Ohne nachzuzählen, erhielt sie auch die Hälfte des Bargelds. Es war ein Stapel grüner Hunderter und gelber Zweihunderter. Vielleicht fünfzigtausend pro Nase, eher mehr als weniger.
Wichtiger waren die Kreditkarten und Ausweise. Er gab ihr gleich drei mit ihrem Foto. Einmal hatte sie lange blonde Haare, einmal kurze schwarze, einmal einen roten Wuschelkopf.
Das alles lagerte hier und hatte darauf gewartet, gebraucht zu werden. Sie fühlte sich unendlich geliebt und wertgeschätzt.
Sie wollte weiter Richtung Dinslaken. In der Nähe der sogenannten Dinslakener Elbphilharmonie gab es eine moderne Fünfzimmerwohnung, für die Frauke einen Schlüssel besaß. Als Immobilienmaklerin sollte sie die Eigentumswohnung verkaufen. Sie war ihr von einem schnöseligen Jungerben im Paket mit vier Einfamilienhäusern angeboten worden. Er wollte sich um nichts kümmern. Er hatte eine Freundin und mehrere Weinberge – oder einen Weinberg und mehrere Freundinnen, das wusste sie nicht mehr so genau. Jedenfalls lebte er in der Nähe von Rom.
Frauke schlug Sommerfeldt vor, in der Eigentumswohnung zu übernachten. Er wollte eigentlich gleich weiter nach Groß-Zimmern in Hessen. Im Boardinghouse der Golf-Akademie fühlte er sich sicher und wohl. Dort hatte er sich schon einmal eine Zeitlang versteckt gehalten, bevor er Klinikleiter in Ostfriesland geworden war.
Nur weil sie sich auf der Flucht vor ein paar Profikillern befanden, die scharf auf die zehn Millionen waren, die Willi Klempmann auf seinen Kopf ausgesetzt hatte, wollte er nicht auf seinen geliebten Sport verzichten.
Achtzehn Loch, bei diesem phantastischen Panorama, eingebettet in die Ausläufer zwischen Odenwald und Spessart! Da konnte er einfach nicht widerstehen.
»Zweihundert Meter über dem Meeresspiegel«, erklärte er, »fliegen die Bälle ganz anders als in Lütetsburg oder auf Langeoog.«
Sie konterte: »Vielleicht ist die Luft da dünner.«
Er wollte am liebsten die Nacht durchfahren und morgens in Groß-Zimmern mit ihr frühstücken. Er behauptete, ein herrlicher Tag würde sich ankündigen und sie könnten erst mal eine Runde Golf spielen.
»Das beruhigt«, versprach er, »dabei kann ich meine Gedanken am besten sortieren, komme wieder in meine Mitte, und dann überlegen wir uns genau, wie es weitergehen soll.«
Sie bestand auf einer Ruhepause in Dinslaken.
»Meinetwegen kannst du eine Gans mitnehmen. Es gibt da eine große Einbauküche, darin ein extragroßer Bräter, und die Boxspringbetten werden dir auch gefallen.«
Er holte sich keine Gans, aber er gab den Wünschen seiner Frauke sofort nach.
Arm in Arm, wie ein frisch verliebtes Pärchen, das eine einsame Stelle zum Knutschen sucht, schlenderten sie noch ein paar Meter am Friedhof vorbei, bevor sie den Wagen bestiegen und nach Dinslaken aufbrachen.
Die Spezialistin für Plastisch-Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, Dr. Sibylle Birk, sah die kaputte Scheibe und die Scherben. Sie musste die Kugel im Buchregal nicht suchen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was geschehen war. Jederzeit hatten sie damit rechnen müssen.
Es war alles vorbereitet. Die Papiere lagen unterschrieben in ihrem Schrank. Dr. Bernhard Sommerfeldt übertrug ihr die Leitung der Klinik, falls er für längere Zeit verreisen müsste.
Sie hatte Zugriff auf die Konten und durfte schalten und walten, wie sie wollte. Er vertraute ihr. Es gab einen Code zwischen ihnen: Ich lese gerade Hape Kerkelings »Ich bin dann mal weg«.
Sollte dieser Spruch abgefangen und interpretiert werden, würde man ihn vermutlich auf dem Jakobsweg suchen, aber dort war er garantiert nicht.
Sie war aufgeregt. Er vertraute ihr also vollkommen. Kein Wunder – sie hatte ihn operiert. Sein Gesicht war ein Meisterwerk, auf das sie stolz war.
Auch so eine Ironie des Schicksals … Sie hätte zu gern damit angegeben, aber niemand durfte wissen, dass sie es gewesen war, die aus einem gesuchten Killer einen angesehenen Klinikleiter gemacht hatte – zumindest äußerlich. Er würde sie garantiert nicht verraten.
Sie spürte einen Schmerz in sich, weil er nicht mit ihr, sondern mit Frauke geflohen war. Ja, wenn er sie gefragt hätte, wäre sie vermutlich bereit gewesen, alles stehen und liegen zu lassen, um mit ihm durchzubrennen. Sie wunderte sich selbst über ihre Gefühle. Sie hatten nie etwas miteinander gehabt außer dieser professionellen und zutiefst menschlichen Basis.
Wahrscheinlich hatte niemand in ihrem Leben mehr für sie getan als er. Ihm konnte sie alles sagen. Ihren Eltern und ihren wechselnden Lebenspartnern nicht.
Als sie durch einen Vermögensberater in Schwierigkeiten geraten war und befürchten musste, wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis zu gehen, hatte Sommerfeldt das Problem für sie erledigt und den Vermögensberater ebenfalls.
Er hatte sie mit zwei Millionen und einer Bürgschaft gerettet. Der Vermögensberater war zu Fischfutter geworden, wie Sommerfeldt es ausdrückte.
Seitdem arbeitete sie für ihn.
Sie hatte nie ganz begriffen, warum er es getan hatte. Eine Weile fühlte sie sich gesehen, ja geliebt. Einen besseren Menschen als ihn kannte sie nicht. Sie wusste, dass er wegen sechs Morden gesucht wurde, von denen er keinen bereute.
Einmal von ihr darauf angesprochen, hatte er gescherzt: »Ach Gott, sechs … Es waren viel mehr.« So, wie er es aussprach, kokettierte er damit, nicht mehr mitzuzählen.
Sie fragte ihn: »Weißt du wirklich nicht mehr, wie viele es waren?«
Er zuckte mit den Schultern und grinste: »Wusste Picasso, wie viele Bilder er gemalt hat?«
Ja, er konnte überheblich sein. Auch arrogant. Aber das war nur ein Anzug, den er trug, eine äußere Schale. In Wirklichkeit war er eine Seele von Mensch.
Er hatte nie von ihr verlangt, die zwei Millionen zurückzuzahlen. Im Gegenteil. Für ihn war das einfach erledigt, und er sprach nicht mehr darüber. In ihrer Phantasie hatte er das Geld dem Vermögensberater abgenommen und ihn dann abgestochen.
Wie kalt er gegenüber Verbrechern sein konnte und wie liebevoll er mit den Patienten und dem Klinikpersonal umging, hatte sie am Anfang sehr irritiert. Sie erinnerte sich an ein Gespräch: »Bist du eine gespaltene Persönlichkeit?«, hatte sie ihn gefragt.
Er, ein Liebhaber der russischen Literatur, stand mit Dostojewskis Schuld und Sühne unterm Arm vor ihr und fragte zurück: »Sind wir das nicht alle? Jeder von uns ist viele andere. Es beginnt ganz früh. Wenn du mit deinen Freundinnen alleine gewesen bist, dann warst du doch anders, als wenn nur deine Eltern bei dir waren, oder? Wenn du mit dem Chirurgenmesser arbeitest und deine Kunstwerke vollbringst, bist du doch nicht dieselbe, die abends heult, weil ihr Lover eine andere hat.«
Sie erinnerte sich noch genau. Damals hatte sie sich gefragt, woher er wusste, dass sie gerade in einer schrecklichen Beziehung lebte und eine große Enttäuschung durchmachte. Sie fühlte sich gedemütigt und ausgenutzt, von dem Vermögensberater finanziell, von dem Lover sexuell.
Es tat gut, sich bei ihm auszuweinen. Doch danach gruselte sie sich vor ihm, denn sie fragte sich, ob er dieses Problem nun auch auf seine Weise lösen würde.
Sie hatte sich kurz an ihn geschmiegt und gebeten: »Bitte tu ihm nichts. Er ist zwar ein Arsch, aber …«
Sommerfeldt hatte ihr über den Kopf gestrichen und gespottet: »Soll sich doch jetzt eine andere mit ihm rumärgern.«
Sie nahm das als sein Versprechen, ihn am Leben zu lassen.
Und jetzt übertrug er ihr die Leitung der Klinik.
Wie wäre mein Leben verlaufen, dachte sie, hätte ich ihn nicht kennengelernt? Würde ich jetzt wegen Steuerhinterziehung im Knast sitzen, oder wäre ich zur Bewährung rausgekommen und dürfte jetzt in irgendeinem Krankenhaus Überstunden schieben, um meine Schulden abzuzahlen?
Sie saß an ihrem Schreibtisch und erwischte sich selbst dabei, dass sie auf ihrem Block mit spitzem Bleistift ein neues Gesicht für ihn entwarf. Es tat ihr in der Seele weh, aber auf dem Papier machte sie einen hässlichen Menschen aus ihm. Mit dicker, großporiger Rotweintrinkernase, pausbäckig, mit wulstiger Stirn.
Sie hörte Schritte im Flur. Mit heftigen Strichen versuchte sie, das Gesicht unkenntlich zu machen, als hätte sie sich an ihm versündigt. Sie riss das Blatt vom Block, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb.
Anders als sie erwartet hatte, gingen die Schritte weiter. Man wollte nicht zu ihr. Das würde sich in dem Moment ändern, wenn alle wussten, wer die Geschicke der Klinik jetzt leitete.
Sie fischte das zerknüllte Blatt aus dem Papierkorb und glättete es. Sie schämte sich ein bisschen, als hätte sie Sommerfeldt etwas angetan.
Johann Baptist Reichhart fühlte sich nicht im Geringsten liebenswert. Er hatte für Zuwendung immer bezahlen müssen – mit Leistung oder mit Geld.
Er glaubte, die drei Frauen im Griff zu haben. Sie waren abhängig von ihm. Die beiden spindeldürren Schwestern Claudia und Samantha wurden von der Polizei gesucht, und er versprach ihnen die Möglichkeit, ihren Lebenstraum von Freiheit und Unabhängigkeit zu verwirklichen. Dafür waren sie aber eine Weile seine Sklavinnen.
Ja, genau so sah er es. Auch wenn er es nicht aussprach, ließ er es sie spüren. Er war hier der Chef im Ring!
Die mollige Desiree hatte er einst als Stammkunde besucht, sooft es nur ging. Es war eine schöne Zeit gewesen, doch dann begann er, eifersüchtig auf die anderen Freier zu werden. Er wollte sie ganz für sich allein.
Er liebte sie auf eine verrückte, verzweifelte Art und traute sich doch nicht, es zuzugeben. Liebe machte so verdammt abhängig.
So gut wie sein Vorbild, der Nazihenker Johann Baptist Reichhart, nach dem er sich benannt hatte, konnte er sowieso nicht mehr werden. Johann Baptist hatte später für die Alliierten weitergearbeitet und dann die Leute aufgehängt, von denen er vorher Mordaufträge erhalten hatte.
So wollte er selbst auch sein: Nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Kaltblütig. Hochprofessionell. Moral war etwas für die anderen.
In diesem abgelegenen Haus hinter den Hecken und hohen Bäumen bildete er die Schwestern aus und genoss es, wie sie untereinander in Konkurrenz gerieten. Er bildete sich sogar ein, dass sie um ihn und seine Gunst buhlten.
War Desiree, die alte Hure, eifersüchtig auf ihre schmalhüftigen Konkurrentinnen? Er konnte mit so dünnen Frauen nichts anfangen. Er wühlte sich lieber durch Fleischberge.
Als ihn die Nachricht Sommerfeldt nennt sich jetzt Dr. Ernest Simmel und leitet die Klinik hinterm Deich in Norddeich von Annika erreichte, befürchtete er sofort, dass dieses gemeine Luder andere Hitmen früher informiert hatte als ihn. Fairness oder Chancengleichheit gab es in dem Job nicht. Jeder wollte beim Run auf die zehn Millionen am Ende der Sieger sein.
Er schlug mit der rechten Faust in die linke und ärgerte sich: »Die Klinik hinterm Deich! Das hätte ich mir denken können.«
Man munkelte in der Szene schon lange, dass dies ein Rückzugsort für Leute sei, die sich nicht gern in einem offiziellen Krankenhaus behandeln ließen. Entweder, weil sie in der Öffentlichkeit standen oder weil sie gesucht wurden.
Er war ein Einzelgänger. Er gab nichts auf solche Gerüchte. Es gab überall Ärzte, die gegen eine Cash-Zahlung bereit waren, von Meldungen an die Behörden abzusehen.
Er übte gerade mit Claudia und Samantha das lautlose Töten mit der Garotte. Um nicht verletzt zu werden, wickelten sie sich Handtücher um die Hälse, denn sie sollten auch in die Situation des Opfers kommen. Sie mussten dieses Zappeln spüren, wie sich die Bewegungsfreiheit langsam einengte und wie es war, wenn jemand verzweifelt um sich schlug.
Er machte es ihnen vor. Desiree saß im Sessel und beobachtete alles, als sei dies eine Theaterprobe, und sie hätte lediglich eine Statistenrolle. Sie rauchte dabei ihre verbotenen Mentholzigaretten, die, seitdem sie nicht mehr legal waren, noch besser schmeckten.
Er mochte diesen Moment, wenn sie ihm völlig ausgeliefert waren, wenn er die Garotte um ihren Hals zuzog. Ja, die Haut war durch das Handtuch geschützt, doch sie spürten: Ich kann nichts mehr machen, bin völlig in seiner Hand, und wenn das jetzt keine Übung ist, sondern er ernst macht, werde ich sterben.
Wahrscheinlich war das der Moment tiefsten Vertrauens und größter Angst.
Er ließ sie jeweils eine Weile zappeln, bevor er die Schlinge löste.
Sie probierten es auch miteinander. Zunächst Claudia bei Samantha, aber sie machte es zu zaghaft. Unentschlossen. Er packte ihre Hände und zog die Stahlschlinge zwischen ihren Fingern straffer.
Er unterbrach die Übungen. »Wir wissen jetzt, wie er aussieht und wie er heißt.«
Die beiden waren froh, dass die Übungsstunde damit beendet war. Sie rieben sich die Hälse, und auch die Hände taten ihnen weh.
»Ich fürchte«, sagte Johann Baptist Reichhart zu Desiree, »die beiden sind noch nicht so weit.«
Desiree war anderer Meinung: »Die beiden haben einen Polizisten vergiftet, den sie für Sommerfeldt hielten.«
»Zwei«, korrigierte Samantha.
»Sie haben also bewiesen, dass sie töten können«, lobte Desiree die zwei.
Er sprach es verächtlich aus: »Ja. Mit Gift. Aber ich will ihn nach Luft japsen sehen. Wenn wir ihn in der Klinik hinterm Deich besuchen, brauchen wir einen guten Grund.« Er zeigte auf Desiree. »Entweder gehst du dorthin, um dir den Magen verkleinern zu lassen, oder …«
Sie erschrak, sah aber in seinem Gesicht, dass er das nicht ernst meinte. Dafür liebte er ihre Pfunde doch viel zu sehr.
Er drehte sich zu Samantha und Claudia um: »Oder eine von euch beiden lässt sich das Gesicht verschönern.«
»Das haben wir nicht nötig«, bellte Samantha zornig.
»Das sehe ich anders, Mädels«, konterte er. »Erstens werdet ihr von der Polizei gesucht – ihr braucht nicht nur neue Gesichter, sondern auch neue Fingerabdrücke, weil der Tatort nicht vernünftig gereinigt wurde, und zweitens fürchte ich, dass es so weit gar nicht kommen wird, weil Sommerfeldt vorher stirbt.«
Er stupste gegen Claudias Nase: »Oder willst du dir erst das Näschen operieren lassen und ihn danach strangulieren?«
Claudia wünschte sich ihr altes, langweiliges Leben zurück, das sie so öde gefunden hatte, bevor sie wusste, wie anstrengend Abenteuer sein konnten.
In Samanthas Augen dagegen entdeckte Johann Baptist die Entschlossenheit, es hinter sich zu bringen.
Dorothee Schluck beschloss, sich an Rupert zu hängen. Sie hatte durch ihr Zielfernrohr gesehen, wie dieser Kommissar mit der Taxifahrerin geflirtet hatte. Das war ein Schwerenöter. Ein Windhund. Solche Typen kannte sie. Einen wie den ins Bett zu bekommen, war nicht schwer, und sie stellte sich vor, ihn für ihre Pläne einzuspannen.
Er war ganz klar ein Sommerfeldt-Freund. Sie hatte ihn mit der Waffe herumlaufen sehen. Er suchte den Deich nach dem Schützen ab.
Im Internet hatte sie einiges über ihn gefunden. Gemeinsam mit Ann Kathrin Klaasen und Frank Weller hatte er ein großes Drogen-Depot in Norddeich ausgehoben. Der Tipp musste ja von irgendwoher gekommen sein. Den Rest reimte sie sich zusammen.
Er, so war sie sich sicher, wird mich zu Sommerfeldt führen. Und dann muss ich leider nicht nur Sommerfeldt töten, sondern ihn auch, denn er wäre die Verbindung zu mir, und – so hatte sie es gelernt – jede Verbindung zur Tat musste verwischt werden.
Frauke bekam kein Auge zu. In der Wohnung in Dinslaken hörte sie jedes Geräusch. Eine Stechmücke. Eine Fliege. Ein Knarren im Treppenhaus. Sang da draußen jemand Seemannslieder von Freddy Quinn? Oder war sie doch eingenickt und hatte geträumt?
Zum vierten Mal in dieser Nacht ging sie zur Toilette.
Zu viel spukte ihr durch den Kopf. Wären sie in der Lage, ins Ausland zu fliehen? War es möglich, irgendwo ein neues Leben zu beginnen? Hatte man an den Flughäfen bereits die neuen Fotos? Wusste die Polizei Bescheid? Liefen sie nur vor Berufskillern davon oder auch vor der Polizei?
Sie bekam Kopfschmerzen und überlegte sogar, eine Tablette zu nehmen, um endlich einschlafen zu können. Gleichzeitig wollte sie in dieser schwierigen Situation alle Sinne ganz klar zur Verfügung haben.
Sie wusste nicht, ob sie Bernhard beneiden oder bedauern sollte. Jedenfalls lag er auf dem Rücken im Bett und schlief tief und fest.
Mache ich mir so viele Sorgen, weil er sich keine macht? Überträgt sich das? Kann man das einfach jemand anderem rüberschieben? Wer weiß, dachte sie, was morgen geschieht. Ich sollte ausgeschlafen sein …
Als die Sonne durch die Gardinen hereinschien, wurde Sommerfeldt wach. Er ließ sich aus dem Boxspringbett auf den Boden rollen und machte seine morgendlichen Liegestütze.
Dann lud er Frauke zum Frühstück ein. Er klatschte sich auf den Bauch und lachte: »Jetzt einen guten Kaffee und ein Käsebrötchen.«
»Soll ich uns«, fragte sie, »etwas hochholen?«
Er winkte ab: »Ach was. Lass uns frühstücken gehen, und dann ab zur Golf-Akademie.«
Redet er nur so, um mich zu beruhigen? Tut er so, als sei er sorglos, oder will er draußen testen, ob er bereits von der Polizei gesucht wird?
Sie sprach ihn darauf an: »Wenn du nur herausfinden willst, ob es bereits eine öffentliche Fahndung gibt, dann müssen wir dafür nicht frühstücken gehen. Du könntest auch im Internet …«
»Ach Süße, mach doch nicht alles so kompliziert. Lass uns eine kleine Stärkung zu uns nehmen, und dann gibt es auch schon ein gutes Mittagessen in Groß-Zimmern.«
Sie frühstückten in Chrissis Kostbar auf der Duisburger Straße. Sie saßen an einem Tisch im Außenbereich im Schatten eines großen Baumes mit Blick auf die Dinslakener Elbphilharmonie. Die beiden bestellten ein Frühstück für zwei, Sommerfeldt ließ sich dazu Apfelküchlein und Rührei schmecken. Es gab zwar keinen Ostfriesentee, aber einen wirklich guten Milchkaffee für Sommerfeldt und Früchtetee für Frauke.
Frauke war müde, setzte sich aber trotzdem gern für die Fahrt nach Hessen hinters Steuer. Sie hatte das Gefühl, es könnte sie beruhigen, ein Lenkrad in der Hand zu haben.
Nach einem kurzen Regenschauer hellte es auf. Als sie in Groß-Zimmern ankamen, gab es nur noch drei Schäfchenwolken am Himmel, die um die Wette zu fliegen schienen. Es sah aus wie Papa, Mama und Kind in einer Linie.
Die fröhliche Hochzeitsgesellschaft im wunderschön festlich dekorierten Innenhof der Golf-Akademie machte Frauke klar, was ihre eigentliche Sehnsucht war. Die, dachte sie und sah sich das junge Brautpaar an, werden bestimmt nicht mit gefälschten Papieren und einem Sack voller Bargeld und Goldmünzen versuchen, ihre Verfolger abzuhängen. Die haben sich irgendwo eine romantische Suite gemietet und starten nach der Feier in die Flitterwochen.
Unter dem weißen Hochzeitskleid der Braut bildete sich ein kleines Bäuchlein ab. Frauke vermutete, dass sie im vierten Monat war.
Sie waren zwar nicht passend gekleidet, wurden aber sofort eingeladen, mitzumachen. Sehr konventionell ging es hier nicht ab. Sie durften sich am Büfett bedienen, und es wurden ihnen Getränke gereicht.
Sie brachten ihre Koffer ins Boardinghouse. Die Hochzeitsfeier fand praktisch vor ihrer Tür statt. Links und rechts neben ihnen waren Gäste einquartiert.
Die Eltern der Braut wohnten links neben ihnen. Der Vater der Braut war ein bekannter Golfspieler. Sommerfeldt nickte ihm zu.
»Kennst du den etwa?«, flüsterte Frauke.
»Ja«, erwiderte Sommerfeldt, »aber er mich nicht. Ich war mal dabei, als er ein Turnier gewonnen hat.«
Obwohl draußen die lebhafte Hochzeitsfeier stattfand, mit Geschirr geklappert wurde und Leute fröhlich lachten, schlief Frauke auf dem Sofa ein.
Sommerfeldt deckte sie zu und überlegte, was jetzt zu tun war. Aber er konnte nicht anders. Er musste jetzt erst ein paar Bälle schlagen.
Er stellte ein Glas Wasser neben Frauke und dazu einen Zettel. Darauf stand: Bin auf der Range. Ruh dich aus, Liebste. Alles ist gut.
Sie las es sich selbst laut vor: »Bin auf der Range. Ruh dich aus, Liebste. Alles ist gut.«
Nichts ist in Ordnung, dachte sie, rein gar nichts. Man jagt uns. Alles, was wir aufgebaut haben, mussten wir verlassen, und trotzdem fühlt es sich irgendwie stimmig an.
Wenn sie in sich hineinhörte, fühlte sie sich glücklich. Wie von einer Last befreit. Die Klinik, das Personal, all die Ansprüche und gesellschaftlichen Verpflichtungen – das alles waren sie nun los. Jetzt gab es nur noch sie beide. Die Frage war nur, wie lange das gutgehen konnte.
Er schien keinen Plan zu haben, und doch war er auf jeden Schritt vorbereitet. Die Verstecke … Das Geld … Die Pässe … Die Waffen …
Vielleicht hatte er noch mehr Überraschungen auf Lager. Er war darauf vorbereitet, spontan handeln zu können.
Sie spürte ein Kribbeln auf der Haut. Sie sah sich ihre Hand an und den Unterarm. Sie fuhr mit dem Zeigefinger der rechten Hand über ihre Haut. Die Härchen standen wie elektrisiert hoch. Sommerfeldt hatte ihre kleinen Härchen Goldwiese genannt.
Sommerfeldt hatte einen Korb mit zwanzig Bällen neben sich. Er spielte mit einem Driver von Ping, sein Lieblingsschläger. Er hatte schon drei Bälle vergeigt. Er wollte zweihundert Meter weit schlagen, hin zur letzten Markierung, ganz geradeaus. Er teete den vierten Ball auf.
Das Leben war für ihn wie Golf spielen. Mal traf man den Ball, mal schlug man daneben. Die Frage war, wie man damit fertigwurde und weitermachte.
Hör auf zu denken, sagte er sich selbst. Denken ist der erste schwere Fehler. Jetzt gibt es nur noch den Ball. Dein Ziel, deine Körperhaltung und dich.
Schon während des Schwungs spürte er, dass er zu weit links stand. Aber er traf den Ball gut und hörte schon am Knall, dass es ein weiter Flug werden würde. Gerade vor ihm ging der Ball hoch in die Luft, doch dann, ganz oben, auf dem Höhepunkt, bevor er in Richtung Boden fiel, drehte er ab nach rechts.
Der Ball fiel knapp dreißig Meter rechts vor dem angepeilten Ziel auf den Boden. Er hüpfte noch zweimal im Gras.
Das waren die Momente, in denen Sommerfeldt kurz davor war, den teuren Driver mit einem Fußtritt in der Mitte abzuknicken und das Golfspielen dranzugeben. Durch diesen Frust musste jeder durch.
Kein Golfer kennt nur gute Schläge. Niemandem gelingt im Leben alles, dachte er. Da muss ich jetzt halt durch. Sie jagen mich, und ich muss die Handlungsführung zurückbekommen. Klempmann, der falsche Hund, hat mich also verraten und auf meinen Kopf zehn Millionen ausgesetzt. Okay, Willi. Ich werde dich holen.
Wichtiger aber, als Klempmanns Imperium zu zerstören, schien ihm die Frage, ob er sein eigenes noch retten könnte. War die Klinik verloren? Konnte er jemals dahin zurückkehren?
Natürlich würde Dr. Sibylle Birk das Unternehmen in seinem Interesse gut führen. Bestimmt war es auch möglich, ab und zu eine Überweisung von ihr zu erhalten, sofern er finanzielle Probleme bekäme. Davon war er aber noch weit entfernt.
Weg, dachte er, weg mit den Gedanken. So kann man nicht Golf spielen. Sorgen machen blind und gefühllos.
Er legte den nächsten Rangeball auf das Tee, schloss die Augen und atmete tief durch. Er richtete den Schläger aus und sagte: »Jetzt gibt es nur noch den Ball und mich.«
Er holte aus. Kurz bevor der Schlägerkopf den Ball traf, hörte er sich selbst sagen: »Und jetzt gibt es nur noch Klempmann und mich.«
Der Ball flog keine hundertzwanzig Meter weit und ging diesmal nach links ab. Als der Ball den Boden berührte, schreckte er ein paar Vögel auf, die offensichtlich nicht mit einem so schlechten Golfer gerechnet hatten.
»Du bist aus dem Gleichgewicht«, sagte er zu sich selbst. »So kannst du Klempmann nicht besiegen. Und was machst du, wenn die Polizei dein neues Gesicht kennt?«
Zunächst kam es darauf an, wieder zur Ruhe zu finden. Wieder zu Dr. Bernhard Sommerfeldt zu werden.
Hoffentlich merkt Frauke nicht, wie sehr ich aus dem Tritt bin. Das würde sie bestimmt schrecklich verunsichern.
Er bückte sich und legte den nächsten Ball aufs Tee.
Guck nur auf den Ball. Nirgendwo anders hin.
Der Ball fiel vom Tee, bevor der Schläger ihn traf, und das konnte hier nicht am ostfriesischen Wind liegen.
Frustriert sah er auf sein Handy. Normalerweise hätte er beim Golfspiel über so etwas nur gelacht. Sibylle Birk hatte ihm eine WhatsApp-Nachricht geschickt:
Liebling, du wirst hier sehr vermisst. Kinder suchen die Geschenke, aber wir haben sie gut versteckt.
Das bedeutete, die Polizei durchsuchte die Klinik, sie hatten aber kein wirklich belastendes Material gefunden. Außerdem waren sie gekommen, um ihn zu verhaften.
Er ging zu Frauke zurück. Er versuchte, den weiten Ausblick zu genießen. Es war, als versuchte die Welt, ihm zu sagen, dass es schön war, weiterzuleben, und es sich lohne, darum zu ringen. Noch ein paar Sommer auf der Erde zu verweilen.
Frauke telefonierte mit Rupert, und Sommerfeldt spürte einen Stich Eifersucht. Redeten sie heimlich miteinander? Versuchte Rupert, Frauke für sich zurückzugewinnen? Sie hatte eine so erotische Stimme, dass Rupert vermutlich schon einen Ständer bekam, wenn sie ihm eine Kolumne aus der Nordwestzeitung vorlas.
»Danke«, sagte Frauke. »Danke, Rupi.« Sie drückte das Gespräch weg, und bei Sommerfeldt schlich sich das Gefühl ein, sie hätte weitertelefoniert, wenn er den Raum nicht betreten hätte.
»Stör ich?«, fragte er spitz.
Sie sah es ihm an der Nasenspitze an: »Du bist ja eifersüchtig«, lachte sie. »Welche Ehre für mich! Aber leider hat er nicht angerufen, um mir einen Antrag zu machen, sondern sie wissen jetzt, wie du wirklich aussiehst. Es sind nicht nur die Ninjas hinter uns her, sondern auch die richtigen Polizisten. Außerdem ein Rudel von gedungenen Mördern.«
Er gab sich gelassener, als er war: »Nun, das war nur eine Frage der Zeit.«
Sie wiederholte, als fürchte sie, das Ganze sei nicht bis zu ihm durchgedrungen: »Sie wissen, wie du aussiehst! Sie haben richtige Fotos.«
Er nickte. »Ja. Auch darauf bin ich vorbereitet. Sibylle …«
Frauke richtete ihre Hände zum Himmel. Sie wirkte einen Moment hysterisch: »Ach, die verknallte Frau Dr. Sibylle Birk, die dir das schöne Gesicht gemacht hat, freut sich bestimmt schon darauf, dass sie dich wieder unters Messer bekommt, oder?«
Er wurde sachlich: »Nein, aber sie hat mir gezeigt, wie ich mein Aussehen verändern kann. Es wird morgens nur ein bisschen länger dauern.«
Frauke empörte sich: »Da kommst du nicht mit irgendwelchem Schnickschnack raus, Bernhard. Nicht mit aufgeklebten Bärten und einer dicken Knollennase. Du bist jetzt der Staatsfeind Nummer eins! Niemanden werden sie so jagen wie dich. Der gesamte Apparat hat nichts anderes zu tun, als …«
»Reg dich ab.«
»Ich soll mich abregen? Die Frage ist doch nur, wer dich zuerst erwischt – irgendein Profikiller, die Ninjas oder die Polizei. In dem Fall wären die mir sogar die Liebsten, denn die bringen dich höchstens vor Gericht.«
»Bist du wirklich so naiv?«, fragte er. »Wie willst du einen richtigen Polizisten, wie du sie so schön nennst, von einem Ninja unterscheiden?«
Die Tür zum Garten war offen. Eine Katze schob ihren Kopf durch die Tür. Frauke ging hin, streichelte das Tier und schloss dann die Tür.
»Dann werden wir jetzt mal dafür sorgen«, schlug Sommerfeldt vor, »dass die richtigen Cops ein bisschen Arbeit haben.«
»Ja«, freute Frauke sich. »Geben wir ihnen so viele Tipps, dass sie nicht mehr dazu kommen, uns zu suchen.«
Er nickte ihr zu. »Und schonen wir Klempmann nicht.«
Rasch teilten sie sich auf. »Lass mich beim BKA anrufen«, bat Frauke. »Ich habe da ein paar Pfeifen in Wiesbaden, die würde ich zu gerne frischmachen.«
»Okay. Und ich informiere unsere ostfriesischen Freunde.«
Frauke wollte schon wählen, da hielt er sie auf: »Für die BKAler muss nur jede zweite Info richtig sein. Spiel ihnen ruhig ab und zu ein paar Nieten zu. Sie müssen ja nicht nur Gewinne ziehen.«
Sie lächelte ihn an und hauchte einen Kuss auf seine Lippen: »Aber für unsere ostfriesischen Freunde …«, sagte sie und überließ es ihm, den Satz zu vervollständigen.
»Natürlich nur die Hauptgewinne«, versprach er.
Frauke begann. Sie wählte eine Nummer in Wiesbaden und legte sofort los: »Schöne Grüße von Dr. Bernhard Sommerfeldt. Es gibt zwei Maulwürfe vom SWR im Kanzleramt. Nein, SWR heißt nicht Südwestrundfunk, sondern Sluschba wneschnei raswedki. Das ist der russische Dienst für Auslandsspionage. Die Typen sitzen auch gern mal in großen Technologiebetrieben. Da können zwei beherzte Leute das Stromnetz lahmlegen oder das GPS verwirren. Dann seid ihr alle im Arsch, Freunde. Ich sag euch jetzt die Namen. Schön mitschreiben … Kilian. Ja, der Hauptabteilungsleiter. Genau der. Und Chowanetz.«
Bernhard Sommerfeldt ging nach nebenan. Er rief Ann Kathrin Klaasen an. »Moin. Hier Dr. Bernhard Sommerfeldt. Ich kann mich gerade nicht mit Details aufhalten, damit der Anruf nicht zurückverfolgt werden kann. Im Hamburger Hafen liegt ein Schiff. Angeblich aus Panama. An Bord Duftkerzen. Darin genügend Amphetamine, um Europa durch die Nacht tanzen zu lassen. Die psychoaktiven Substanzen wirken nicht nur euphorisierend, sondern auch als Appetitzügler. Es dürfte sich um ein paar Zentner handeln. Es sind regelmäßige Lieferungen. Ach ja, in Oldenburg in der Werrastraße, nicht weit vom Kieswerk entfernt, findet ihr mehr Heroin, als ihr tragen könnt, Freunde. Die Geschäftsräume sind in Oldenburg, Lange Straße, und ein Büro ist am Pferdemarkt. Die Firma nennt sich Sweet & Honey GmbH & Co.KG. Über verschiedene Mittelsmänner hält ein gewisser Klempmann die Anteile daran.«
Ann Kathrin antwortete: »Ich danke für die Hinweise. Aber es wäre besser für Sie, Herr Sommerfeldt, wenn Sie sich stellen würden. Es ist ein Kopfgeld auf Sie ausgesetzt. Ich kann Ihre Sicherheit garantieren, wenn Sie …«
»Niemand kann meine Sicherheit garantieren. Das muss ich schon selber tun. Helft ihr mir nur, die bösen Jungs auszuschalten. Ihr sucht seit Jahren den rechtsradikalen Terroristen Volker Kutschenreuter. Zwei Anschläge auf Synagogen und mehrere auf türkische und indische Restaurants. Er nennt sich jetzt Hauke Zimmermann und wohnt in Koblenz in der Rizzastraße. Wenn mich nicht alles täuscht, bereiten die Jungs gerade einen neuen Anschlag vor, zumindest weiß ich mit Sicherheit, dass sie versucht haben, an größere Mengen Sprengstoff zu kommen.«
»Wenn das stimmt«, orakelte Ann Kathrin …
»Darauf können Sie sich verlassen, Frau Klaasen.«
Er drückte das Gespräch weg und ging zurück zu Frauke.
Frauke strahlte ihn an. Sobald sie tätig wurden, ging es ihnen beiden besser. Sie holten sich die Handlungsführung in ihrem eigenen Leben zurück.
»Da werden heute einige Leute sehr hektisch werden«, lachte sie.
»Ich habe noch eine Menge weiterer Überraschungen auf meiner Liste«, freute er sich.
Sie bestätigte: »Ich auch. Das ist unsere eigentliche Lebensversicherung.«
»Aber sag mal, habe ich gerade gehört, dass du Doktor Kilian als SWR-Mann bezeichnet hast? Davon wusste ich ja gar nichts.«
Sie hatte ihren Spaß daran. »Ich auch nicht. Der eine ist echt, aber ich dachte, ich liefere ihnen den Kilian noch dazu. Wäre schön, wenn der ein bisschen Ärger kriegt. Der ist zwar nur Hauptabteilungsleiter, aber er hat Eisenmann und seine Ninjas immer gedeckt und unterstützt. Warum sollen wir ihm nicht mal eine Bananenschale hinwerfen? Der hat jedenfalls in nächster Zeit genug zu tun, um seine Unschuld zu beweisen, denn der zweite Tipp war richtig. Der Chowanetz spioniert wirklich seit vielen Jahren für die Russen.«
»Auch davon hatte ich keine Ahnung«, gab Sommerfeldt zu.
Es war ihr zunächst ein bisschen peinlich, aber dann überwand sie die Scham und triumphierte: »Ich war mal seine Miet-Ehefrau. Ich habe ihn bei einem Luxusurlaub begleitet, und da habe ich auch Kilian kennengelernt. Er hat mich angegraben, obwohl ich mit Chowanetz zusammen war. Chowanetz spricht russisch, englisch und spanisch. Er hat einen Verbindungsmann auf dem Schiff getroffen. Wir haben zusammen gespeist. Thunfischsteaks, Lachs-Tartar und Kaviar auf Blinis. Sie dachten, wenn sie russisch sprechen, kriege ich nichts mit.« Sie lächelte überlegen. »Sie wussten ja nicht, dass ich jedes Wort verstehe …«
So, wie ihr Ehemann guckte, hatte er davon auch keine Ahnung. Sie warf ihm ein Küsschen zu. »Ja, ich habe Dostojewski noch im Original gelesen.«
Damit beeindruckte sie ihn, den großen Dostojewski-Liebhaber, allerdings sehr. Er zeigte ihr seine Anerkennung: »Ich hatte ja keine Ahnung …«
Sie flüsterte geständnishaft: »Ich bin halt eine Frau mit Vergangenheit …«
Sie reckte beide Hände so weit wie möglich voneinander entfernt und sagte: »Er hat sooo ein Ego, aber«, sie zeigte mit dem Finger etwas Walnussgroßes an, »so einen Schwanz.«
So genau wollte Sommerfeldt es eigentlich gar nicht wissen. »Für unseren Rupert brauchen wir aber auch noch etwas«, sinnierte er. »Erinnerst du dich an Manetti?«
Frauke nickte: »Er hat zwei Polizisten bei einer Razzia getötet.«
»Sie suchen ihn seit fünfzehn Jahren.«
»Vermutlich haben sie es längst aufgegeben.«
»Nee, Frauke. Bei einem Copkiller bleiben die dran. Immer. Wir haben ihn in der Klinik behandelt. Prostatakrebs. Ist rechtzeitig erkannt worden. War eine einfache OP. Er hat sich von seiner Kohle auf Baltrum ein Hotel gekauft und führt es wohl ganz anständig.«
Frauke nickte ihrem Ehemann zu.
Sommerfeldt rief Rupert an. Der legte sofort los: »Sie wissen, wie du aussiehst, Alter! Das ist eine schreckliche Situation hier. Sie werden uns alle hoppnehmen und …«
»Hör zu, du Guter: Bring dich erst mal positiv ins Gespräch. Ich kann euch sagen, wo Manetti sich aufhält.«
»Manetti, der zwei von uns auf dem Gewissen hat?«
»Ja, der. Er hat inzwischen ein Hotel auf Borkum.«
»Welches Hotel? Wo finden wir die Sau?«, rief Rupert eifrig.
»Ein bisschen Mühe müsst ihr euch schon selbst machen.«
Frauke deutete tonlos an: Nicht Borkum, sondern Baltrum. Doch Sommerfeldt schüttelte den Kopf. Frauke grinste.
Rupert kapierte erstaunlich schnell: »Wenn du uns nur Arbeit machen willst, damit unsere Leute keine Zeit haben, dich zu jagen, dann …«
»Holt euch Manetti. Wenn ihr ihn habt, kriegst du den nächsten Tipp. Du wirst ein Held sein, Rupi. Genieß es. Und halt die Bande auf Trab, das verschafft mir ein bisschen Luft.«
»Ja, wir verstehen uns richtig.«
Sommerfeldt wollte das Gespräch abbrechen, doch Frauke nahm ihm das Handy aus der Hand und küsste ihre Fingerspitze, die sie dann auf seine Lippen drückte. Das hieß wohl einerseits: Halt den Mund, lass mich mal machen, und andererseits: Ich liebe dich, mach dir keine Sorgen.
»Für unsere hessischen Freunde«, sprach sie ruhig ins Handy, das sie so hielt, dass Sommerfeldt mithören konnte, »ein kleiner Bonus.«
Während Rupert gespannt wartete, stellte sie ihm zunächst eine Frage: »Wie viele offene Haftbefehle gibt es im Moment?«
Rupert reagierte enttäuscht: »Ist das ein Quiz?« Dann beantwortete er die Frage: »Mindestens hunderttausend, wenn nicht mehr. Aber wirklich interessant davon sind fünfhundert, vielleicht tausend. Schwerkriminelle, Mörder, Vergewaltiger, Terroristen.«
Frauke unterbrach ihn: »Ja, genau um die geht es. Es gibt da eine Organisation, die versteckt solche Leute.«
»Haben die euch auch geholfen?«
Sie lachte bitter: »Nein, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Für die ist wohl Paul Dickopf das große Vorbild.«
»Du meinst den ehemaligen Präsidenten von Interpol?«
»Ja. Es gab Gerüchte, er hätte seine Tätigkeit genutzt, um ehemaligen Nazikumpanen nach dem Krieg zur Flucht ins Ausland zu verhelfen.«
»Ja«, stöhnte Rupert, »das sind olle Kamellen. Dickopf und seine Parteigenossen haben zwar jahrzehntelang versucht, das BKA mit ihren Leuten zu durchsetzen. Es wurde so eine Art Versorgungsanstalt für SS-Verbrecher.« Gleich nahm er, der eigentlich dem BKA gegenüber sehr kritisch eingestellt war, weil er mehrfach versucht hatte, dorthin zu wechseln, aber immer abgelehnt worden war, die Behörde in Schutz: »Die Jungs und Mädels aber, die da jetzt arbeiten, denen kann man das nicht mehr vorwerfen, das ist doch alles schon ewig her. Die scheitern jetzt einfach nur an ihrer Inkompetenz und Überforderung …«
Frauke unterbrach ihn: »Jedenfalls machen die Leute, zu denen ich euch jetzt schicken möchte, es nicht aus politischen Gründen, sondern nur für Kohle. Es ist eine reine Verbrecherorganisation. Nennen wir es mal Reisebüro für Schwerkriminelle.«
Sommerfeldt ahnte, worauf sie hinauswollte. Es gefiel ihm nicht. Er stellte sich so hin, dass Frauke sein Gesicht sehen musste, und wiegte den Kopf hin und her. Dabei verzog er den Mund. Doch Frauke fuhr selbstbewusst fort: »Sie arbeiten von Dieburg aus.« Sie schweifte ab: »Da gibt es am Markt eine schöne Buchhandlung mit Café. Die Bücherinsel.«
Sommerfeldt zitierte einige Sätze aus einem Gedicht von Karl Krolow, die in der Buchhandlung an der Wand geschrieben standen:
»Ich habe alles liegen lassen.
Mein Schatten hinter mir wandert langsam von Norden nach Osten …«
Er sah aus, als würde er darüber nachdenken, ob er richtig zitiert hatte. Mit der Hand wippte er den Rhythmus der Zeilen noch einmal, um nachzuspüren.
Das ist mein Mann, dachte Frauke. Er liebt die Literatur mindestens so sehr wie mich.
»Sie nennen sich Big Game Fishing and Property Worldwide. Da kannst du einen echten Abenteuerurlaub buchen.«
»In Dieburg?«, hakte Rupert nach.
»Ja. In der Altstadt, nicht weit vom Markt. Da, wo immer die großen Karnevalsumzüge stattfinden. Dieburg ist eine echte Karnevalsstadt, wusstest du das?«
»Nee. Karneval ist nicht so mein Ding.«
Sommerfeldt nahm Frauke das Handy wieder ab. »Ich würde die nicht einfach hoppnehmen«, riet er, »sondern beschatten und ihren Abenteuerreisen folgen. Da könnt ihr ’ne Menge Leute zu fassen kriegen, hinter denen ihr schon lange her seid. Die organisieren jedem – der genug Geld hat – eine Luxusflucht. Neue Papiere und Immobilien inbegriffen. Mit Hauspersonal sozusagen. Ist alles nur eine Frage des Geldes.«
Rupert sinnierte: »Das wäre doch eigentlich ein Job für mich… Einmal rund um die Welt den Jungs hinterherreisen.«
Frauke warf ein: »Da irrst du dich. Das sind keine Jungs. Die meisten sind schöne junge Frauen. Hochgebildet und …«
»Umso besser!«, freute Rupert sich.
»Sie sagte hochgebildet«, warf Sommerfeldt ein.
Frauke schüttelte missbilligend den Kopf. Das war nicht der Zeitpunkt, um Rupert eins auszuwischen.
»So«, sagte Frauke in fröhlichem Befehlston, »nun mach sie alle frisch und schick sie zur Arbeit!«
Sie sah vor ihrem inneren Auge Rupert die Hacken zusammenknallen. »Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen«, tönte er.
Sommerfeldt drückte das Gespräch weg und schloss das Handy ans Ladekabel an. Er zeigte Frauke seine offenen Handflächen und fragte verständnislos: »Wir sind hier in Groß-Zimmern, und du lockst die ganze Bande nach Dieburg? Das sind keine fünf Kilometer von hier!«
Sie nickte und freute sich: »Ja. Die Ortskräfte werden jetzt andere Probleme haben, als uns im Golf-Resort zu suchen. Darum ging es doch: ihre Kräfte zu binden.«
Nachdenklich gab er zu überlegen: »Na ja, aber doch möglichst weit weg von uns, nicht gerade in unserer Nähe.«
»Das sehe ich genau anders. Vielleicht hätten wir vorher darüber sprechen müssen, aber sie werden genau wissen, von wem die Tipps kommen. Und selbst wenn Rupert es ihnen nicht verrät, werden sie es ahnen. Er steht doch schon ewig im Verdacht, von dir mit Informationen gefüttert zu werden. Sie werden sich auf der Landkarte Kreise einzeichnen, wohin du ihre Kräfte geschickt hast. Und dann davon ausgehen, dass wir uns am weitest möglich entfernten Punkt aufhalten.«
Er sah sie verliebt an und lobte sie: »Du bist clever. Verdammt clever.«
»Wir könnten ihnen noch mehr verraten«, lächelte sie geschmeichelt. »Aber wir sollten nicht alle Trümpfe auf einmal ausspielen.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Sommerfeldt.
Sie ging auf die Terrasse und blickte in den blauen Himmel. »Jetzt hätte ich Lust, mit dir eine Runde Golf zu spielen.«
Weiß sie, fragte er sich, wie schlecht ich im Moment bin? Will sie mich demütigen, oder fühlt sie sich jetzt erst frei, nachdem wir die Arbeit erledigt haben?
Schon bevor sie den Abschlag zu Loch 1 erreicht hatten, spürte er, dass er seine Gelassenheit zurückgewonnen hatte und seine Fähigkeiten wieder ganz bei ihm waren. Jetzt konnte er alles andere vergessen und einfach nur Golf spielen.
Der erste Schlag war vielleicht nicht der beste seines Lebens, aber er war sehr zufrieden mit sich. 220 Meter ganz geradeaus, direkt auf die Fahne zu.
Frauke nickte anerkennend: »Hier ist Par 4. Du könntest locker noch ein Pärchen spielen oder sogar einen Birdie.«
Er ging mit ihr zum Damenabschlag. Sie machte zwei Probeschwünge, die seiner Meinung nach gar nicht gut aussahen, aber dann tupfte ihr Ball nur wenige Meter links neben seinem auf und rollte noch gut zwanzig Meter weiter in Richtung Grün.
»Respekt, junge Frau. Respekt!«
Sie zog ihr Holz-Tee aus dem Boden und freute sich. »Ja, alter Mann, beim Drive kommt es nicht auf Kraft an, sondern auf die richtige Schwungtechnik.«
Sie schulterten ihre Golfbags und bewegten sich zu ihren Bällen. Sie gingen leichtfüßig und waren gut gelaunt. Niemand, der sie von weitem beobachtete, hätte geglaubt, dass sich hier ein Paar auf der Flucht befand und gerade dabei war, den gesamten Polizeiapparat zu narren.
Wie immer, wenn Ann Kathrin Klaasen in ihren froschgrünen Twingo stieg, beschlich sie das Gefühl, es könne vielleicht die letzte Fahrt sein. Deshalb sprach sie freundlich mit dem Wagen, streichelte übers Armaturenbrett und redete ihm gut zu,
»Irgendwann«, sagte Weller, »werden wir die Kiste wahrscheinlich bei uns im Garten beerdigen, neben dem Kanarienvogel, weil Ann Kathrin es nicht übers Herz bringt, das Ding in eine Schrottpresse zu bringen.«
Sie gab sich Mühe, solche Sätze zu überhören, und ließ sie nicht in ihr Herz. Sie liebte und las nicht nur Bilderbücher, nein, sie hörte auch gern Radio Rotkäppchen, einen der wenigen Sender für Kinderlieder, die es noch gab. Heute Morgen hatte sie Glück. Sie spielten dort den Song ihrer Nachbarin Bettina Göschl, Piraten Ahoi!. Weller hatte den Song als Klingelton auf seinem Handy. Ann Kathrin sang lauthals mit, während sie zur Polizeiinspektion fuhr.
Kinderlieder empfand sie oft wie Kinderbücher: als Seelennahrung für das Kind in sich, für die ewig junggebliebene Ann Kathrin.
Der Polizeiparkplatz war zugeparkt mit Fahrzeugen von Einsatzkräften aus Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Auch vor der alten Post war alles mit BKA-Karossen zugestellt.
Ann Kathrin parkte bei ten Cate hinter der Konditorei. Jörg Tapper erlaubte das seiner Freundin. Der Twingo sah neben seiner weißen Mercedes-E-Klasse-Limousine mit dem Schriftzug vorne rechts auf der Motorhaube: Café ten Cate – Die Konditorei-Das Café doch recht mickrig aus.
Sie ging an der Schwanen-Apotheke vorbei, machte noch einmal kehrt und besorgte sich dort ein paar Aspirin, denn sie fürchtete, es könnte ein Kopfschmerz-Tag werden. Nein, sie holte die Sprudeltabletten nicht für sich selbst, sondern mehr für die anderen, denn sie hatte nicht vor, sich so einfach unterbuttern zu lassen.
Gestärkt von Bettinas Song Piraten Ahoi! betrat sie die Inspektion wie ein von fremden Truppen besetztes Gelände. Sie summte vor sich hin: »Hisst die Flaggen, setzt die Segel, ob bei Regen oder Nebel …« Sie war auf Krawall gebürstet und froh, dass Weller jetzt nicht bei ihr war. Er bekam in solchen Situationen immer das Gefühl, sie beschützen zu müssen, was ihr überhaupt nicht gefiel. Irgendwann flippte er dann aus und wurde Vorgesetzten gegenüber beleidigend. In ihm kochte dann ein zu Lebzeiten nie richtig ausgetragener Vater-Sohn-Konflikt hoch, und diejenigen, die ihn spüren ließen, wie weisungsgebunden er war, liefen Gefahr, mit einem blauen Auge nach Hause zu gehen.
Weller saß zu Hause im Distelkamp und durchforstete die Sommerfeldt-Fangruppen nach Hinweisen auf seinen Aufenthaltsort.
Er hatte Susanne Kaminski, die Leiterin des wohl wichtigsten Fanclubs, zu einem Gespräch eingeladen. Um sie nicht abzuschrecken, natürlich nicht in die Polizeiinspektion, sondern ins Café ten Cate. Sie wohnte eigentlich in Dinslaken, machte aber gerade Urlaub auf Borkum und war gerne bereit, zu kommen.
Weller vermutete nicht gerade, dass sie mit Sommerfeldt in ständigem Kontakt stand. Er hoffte aber, dass sie zumindest die Möglichkeit hatte, ihn zu erreichen oder Nachrichten für ihn zu hinterlassen. Die Fan-Homepage war voll mit aktueller Post.
Eine Frau Benzol schrieb: Wenn ich gewusst hätte, dass du in Norddeich eine eigene Klinik hast, hätte ich mich dort behandeln lassen …
Annette Liebrenz aus dem Westerwald schrieb: Mach hier eine neue Klinik auf, Bernhard. Wir können das wirklich gut gebrauchen. Das Krankenhaus in Altenkirchen haben sie gerade bis fast auf null wegrationalisiert. Die anderen Häuser sind überlastet. Wir wissen gar nicht mehr, wohin, wenn wir mal krank werden.
Eine 84jährige pensionierte Oberstudienrätin für Englisch und Latein schrieb: Komm zu uns nach Esens! Mein Hausarzt geht in den Ruhestand und findet keinen Nachfolger. Und dann, als müsse sie beweisen, dass sie wirklich mal Englischlehrerin gewesen war, schloss sie mit dem Satz: We’ll hide you!
Weller schickte Ann Kathrin eine Auswahl der originellsten Hilfs- und Jobangebote. Kurz bevor sie die Treppenstufen hochging, las sie die Nachrichten ihres Mannes und musste lächeln. An Unterstützerinnen mangelte es Sommerfeldt jedenfalls nicht.
Irgendwie tat die Information Ann Kathrin gut. Vielleicht wusste Weller genau, was sie jetzt gerade brauchte. Sie hatte kein Interesse an einem toten Sommerfeldt. Wenn einer der Ninjas ihn umbringen würde, wäre das für sie wie ein Mord aus Polizeikreisen. Ein Mord, quasi in staatlichem Auftrag. Nein, so etwas konnte sie nicht unterstützen. Außerdem würde eine bestimmte kriminelle Szene vor Freude die Champagnerkorken knallen lassen.
Sie war zornig wie selten, als sie die Inspektion betrat. Viele der BKAler kannte sie von Tagungen und Vortragsreisen. Sie würde ihnen keinen Vorwurf ersparen. Am schlimmsten für sie aber war, dass ihre Chefin, Polizeidirektorin Elisabeth Schwarz, sie nicht informiert hatte. Das empfand sie als Verrat. Auf dieser Basis konnte und wollte sie mit Frau Schwarz nicht länger zusammenarbeiten.
Als hätte Weller ihre Gedanken gespürt, schickte er noch eine persönliche Nachricht hinterher: Falls die Situation unhaltbar wird, Ann: Ich mach gern mit dir zusammen die Fischbude in Norddeich auf.
Weller brauchte diesen Gedanken, dass er jederzeit kündigen konnte, dass es auch ein Leben außerhalb des Polizeiapparates gab. Ihn erleichterte das. Zu wissen, dass es eine Alternative gab, machte aus ihm einen mutigen freien Mann.
Sie stieß die Tür mit der Entschlossenheit auf, irgendjemanden sofort anzubrüllen. Doch da stand Lennart Siefen vor ihr. Ein Kollege, den sie sehr schätzte. Er kam ihr noch größer, schlanker und durchtrainierter vor, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er war Mitte fünfzig. Zweimal hatte sie ihn erlebt, während er interdisziplinäre Teams leitete. Das war immer ein Ritt auf der Rasierklinge. Er galt als führender Kopf in der Bekämpfung von Korruption, Terrorismus, organisierter Kriminalität und warnte in letzter Zeit zunehmend vor Cyber-Angriffen auf Bundesbehörden. Lennart galt als Analyst, der in der Lage war, viele Informationen zu einem Bild zusammenzufügen. Vielleicht kam daher sein Spitzname: Mr. Puzzle.
Vermutlich war er an alldem genauso schuld wie die anderen, doch sie schaffte es nicht, ihn anzubrüllen. Sie hatte Respekt vor ihm und mochte seine ruhige, zupackende Art.
Er begrüßte sie freundlich, nicht wie eine Ausgestoßene. Im Gegenteil. Er öffnete die Arme, doch ganz so leicht wollte sie es ihm nicht machen.
»Warum«, fragte sie sachlich, »erfahre ich nicht, dass Sommerfeldt eine Klinik in Norddeich leitet?«
Er schloss die geöffneten Arme wieder, hielt ihr stattdessen korrekt die Hand zum Gruß hin und versuchte es mit einer klaren Antwort. Er war daran gewöhnt, Leute zu konfrontieren: »Vielleicht weil alle dachten, du weißt sowieso schon Bescheid.«
Das saß. Es war wie ein Tritt in die Magengrube. Ann Kathrin zuckte zusammen und stand sogar ein bisschen gebückt da, als sei sie tatsächlich von einem Schlag getroffen worden.
Hart konterte sie: »In dem Fall wäre es wohl die Aufgabe unserer Polizeidirektorin gewesen, mich sofort zu suspendieren und die Sache der Inneren zu übergeben.«
»Wer sagt dir denn«, fragte er, »dass sie das nicht gemacht hat?«
»Mich zu suspendieren? Nun, das wüsste ich aber.«
Er schüttelte nicht mal den Kopf, sondern sah Ann Kathrin nur mitleidig an. »Stell dich nicht dümmer als du bist.«
»Ich werde also von der Inneren überwacht?«, kreischte sie.
»Das habe ich nicht gesagt. Das ist eine Schlussfolgerung von dir.«
Rupert ging über den Marktplatz auf die Polizeiinspektion zu. Er hatte zur Stärkung bei ten Cate ein Black Eye getrunken. Einen Kaffee mit einem Espresso drin, statt mit Milch oder Zucker. Das machte wach.
Er hasste die Kaffeemaschine im Flur der Inspektion mindestens so sehr wie seine Schwiegermutter. Von der bekam auch jeder, was er wollte, bloß er nicht. Manchmal beschlich ihn das Gefühl, die Kaffeemaschine hätte etwas gegen ihn. Sie spuckte nie das aus, was er wollte. Statt Espresso Gemüsesuppe. Statt Kaffee Crema heiße Milch. Einmal kam erst die Milch, dann der Kaffee und zum Schluss der Becher.
Nein, von dem Ding wollte er sich den triumphalen Tag nicht verderben lassen. Heute wollte er es ihnen allen zeigen. Er konnte die BKA-Lümmel vorführen und gleichzeitig dem organisierten Verbrechen einen schweren Schlag verpassen. Außerdem verhalf er seiner Ex-Geliebten Frauke zu einem Vorsprung. Selbst Sommerfeldt bekam eine Verschnaufpause. Eine Win-win-Situation.
Rupert war immer noch sauer, weil man weder ihn noch Weller oder Ann Kathrin über die Durchsuchung der Klinik hinterm Deich informiert hatte. Das war ein ganz klares Misstrauensvotum gegen die gesamte ostfriesische Polizei. Und er nahm es persönlich. Heute würde er den arroganten Säcken vom BKA zeigen, wo der Hammer hing. Das würde sein Tag werden!
Er fühlte, dass er beobachtet wurde, und drehte sich um. Eine äußerst attraktive Frau sah ihm nach. Sie war heiß. Und genau sein Typ.
Er ging wie auf Wolken. Rupert ahnte ja nicht, dass sie die Frau war, die auf Sommerfeldt geschossen hatte. Die Profikillerin Dorothee Schluck, auch das One-Hit-Wunder genannt, weil sie dafür bekannt war, jeweils nur einen Schuss zu brauchen.
Sommerfeldt hatte ihr die Statistik versaut und damit ihrem Ruf schwer geschadet. Sie musste ihn jetzt erledigen. Das war sie sich schuldig.
Ihre Honorare würden dramatisch fallen, wenn sich ein Konkurrent Sommerfeldt holte. Sterben würde der falsche Doktor sowieso. Bei dem hohen Kopfgeld waren nicht nur Profis hinter ihm her, sondern auch jede Menge Amateure versuchten, durch einen Abschuss rasch reich zu werden.
Sie würde ihn sich holen. Sie war schon ganz nah dran. Dieser Kommissar Rupert, der eitle Geck, würde sie zu ihm führen. Er stolzierte über den Marktplatz, als würde er ihm gehören. Nicht nur der Marktplatz, sondern die ganze Stadt. Hier ging kein Landesangestellter zum Dienst in sein verstaubtes Büro, nein, hier schritt ein König auf sein Schloss zu. Er hatte vor, huldvoll eine Audienz zu geben, und vorher wollte er den Bediensteten seines Hofstaats eine klare Ansage machen. Hier lief alles genau so, wie er es wollte, und nicht anders. Er verteilte Gunst oder entzog sie. Er kannte hier jeden Meter und ließ sich nichts vormachen.
Jetzt drehte er sich zu ihr um. Er hatte seine Instinkte also noch nicht ganz an seine Selbstüberschätzung verloren.
Er zwinkerte ihr zu und flirtete sie an. So viel Zeit musste sein. Nichts war wichtiger als Liebe, Leidenschaft und Glück. Da musste sich das Verbrechen schon mal in die Schlange stellen und warten.
Sie zwinkerte zurück.
Normalerweise sah sie Männer wie diesen Rupert lieber durch das Fadenkreuz in einem Zielfernrohr, aber sie hatte das Flirten noch nicht verlernt. Er war so gar nicht ihr Typ, dadurch fiel es ihr leichter. Sie leckte sich vamphaft über die Lippen und kam sich dabei dämlich vor. Sie war doch nicht mehr in der Pubertät … Damals hatte sie damit große Erfolge auf der Jagd nach begehrten Jungs gehabt. Nur bei ihrem Deutschlehrer, in den sie fast zwei Jahre lang verliebt gewesen war, hatte ihr Lippenlecken nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Heute war sie ihm dankbar, dass er sie damals hatte abblitzen lassen. Sie konnte sich nicht mehr erklären, was sie an ihm gefunden hatte. Vielleicht war es seine Stimme gewesen.
Ruperts Frau Beate hatte ihm einige gute Umgangsformen beigebracht, damit er nicht ständig in Fettnäpfchen latschte. Doch diese Frau sorgte mit Blicken und Gesten, ja mit ihrer ganzen Erscheinung dafür, dass er all dieses angelernte Wissen vergaß. Er versuchte, sich zu erinnern. Wenn man im Frühstücksraum des Hotels von einer hübschen Servicekraft nach der Zimmernummer gefragt wurde, sagte man nicht: Mensch, Sie gehen aber ran, sondern man nennt ihr die Zimmernummer. »Sie will dich«, hatte Beate ihn belehrt, »nicht besuchen kommen, sie ist nicht scharf auf dich, sie muss abhaken, ob du schon gefrühstückt hast oder nicht, damit sie das Buffet nicht zu früh abräumen.«
Warum denke ich jetzt so einen Blödsinn, fragte Rupert sich. Ich bin doch hier nicht im Hotel. Ich stehe auf dem Marktplatz vor der Polizeiinspektion.
Ach ja, die Benimmregeln! Beate hatte ihm auch gesagt: »Man starrt einer Frau nicht auf die Brüste, man guckt ihr in die Augen.«
In diesem Fall war das besonders schwer, aber Rupert versuchte, sich daran zu halten. Doch die Augen dieser Frau waren wirklich verwirrend. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so seegrasgrüne Augen gesehen zu haben. Sie wirkten fast künstlich.
Manchmal veränderten Drogen die Pupillen von Menschen. Das hatte Rupert schon oft erlebt. Dies hier sah aber gar nicht nach Droge aus. Trotzdem irgendwie künstlich. Nutzte sie Kontaktlinsen?
Rupert wusste von Sommerfeldt, dass er eine ganze Kontaktlinsenauswahl hatte. Er hatte sogar welche, die gaben ihm den Blick eines Reptils. Sommerfeldt kaufte so etwas in Manga-Shops. Er hatte Rupert mal ein paar Echsen- und Teufelsaugen zum Geburtstag geschenkt, versehen mit dem Vorschlag, die doch bei Verhören zu benutzen, weil es die bösen Jungs so richtig gesprächig mache.
Was verwirrt mich gerade so?, dachte Rupert. Was schießt mir für ein Mist durch den Kopf? Ich will doch eigentlich nur ein Date mit dieser Frau klarmachen.
Es gefiel ihr, wie sehr er die Fassung verlor. Sie kannte das. Manchmal wurden selbst gestandene Respektspersonen in ihrer Nähe zu pubertierenden kleinen Jungs, die dumm herumstammelten und nicht wussten, wohin mit ihren Händen.
Jetzt zeigte Rupert auf sie und startete einen Flirtversuch: »Ich kenne Sie aus einem Film. Sie sind Schauspielerin! Genau …«
Sie mochte seine unbeholfene Art und warf ihre Haare zurück: »Was war denn der letzte Film, den Sie von mir gesehen haben?«, schmunzelte sie.
Hatte er mit seinem Schuss ins Blaue einen Treffer gelandet, oder nahm sie ihn auf den Arm? Er wusste es nicht. Er ließ einfach den nächsten Versuchsballon steigen: »Sie hatten doch diese wahnsinnige Duschszene. Das war so irre, das war so aufregend, dass ich mich an den Rest des Films überhaupt nicht mehr erinnern kann.«
Sie lachte hellauf: »Nein, das ist nur Wunschdenken. Ich habe nie Shampoo-Werbung gemacht.«
»Ich meine doch keinen Werbefilm, es war ein richtig großer Kinofilm. Stimmt doch … Wie hieß er noch? Neben Ihnen hat dieser Typ gespielt, da fragte sich doch jeder, wie kann diese wunderbare Frau mit so einem Deppen …«
»Lassen Sie es gut sein«, riet sie und berührte seine Hand. Durch seinen Arm fuhr ein Kribbeln die Schultern hoch und rieselte dann den Rücken runter.
»Sie sind sehr nett, und Sie machen wunderbare Komplimente. Aber ich bin keine Schauspielerin, sondern eine Grundschullehrerin aus Bad Nauheim.«
Sie war interessiert, das spürte Rupert ganz genau. Noch wusste er ihren Namen nicht, aber immerhin, sie standen hier auf dem Marktplatz und plauderten miteinander. Diese ganze Polizeiarbeit, dieser ganze Blödsinn, der da stattfand, das alles, was gerade noch so riesig aufgebläht vor ihm gelegen hatte, war auf Erbsengröße zusammengeschrumpft.
»Bad Nauheim?«, stammelte er. »Da war ich mal. Da gibt es doch diesen wunderschönen Park. Ich habe im Hotel Dolce gewohnt.«
Er hatte keine Lust, weiter darüber zu reden, denn es war damals eine Undercover-Aktion gewesen. Er wollte dort einen Drogendealer treffen und hoppnehmen, aber der Typ war plötzlich verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Auch dieser Haftbefehl blieb unvollstreckt.
Rupert reichte ihr die Hand: »Ich heiße Rupert.«
»Und ich Sylke, mit Ypsilon«, log Dorothee.
»Was macht denn eine schöne Frau wie Sie in Ostfriesland? Urlaub?«