Ein neuer Anfang für die Liebe - Susan Anne Mason - E-Book

Ein neuer Anfang für die Liebe E-Book

Susan Anne Mason

5,0

Beschreibung

1919: Allein und mittellos kämpft sich Julia Holloway in Toronto durchs Leben. Als sie in eine missliche Lage gerät, kommt ihr Quinten "Quinn" Aspinall zu Hilfe. Der sanfte junge Mann ist eigentlich auf der Suche nah seinen Geschwistern, die als billige Arbeitskräfte nach Kanada verschifft wurden. Aus Dankbarkeit schließt sich Julia Quinn bei der Suche an, doch dann erfährt sie, dass Quinn auch ihretwegen nach Kanda gekommen ist - um ein Versprechen zu erfüllen! Was hat es damit auf sich? Und wird Quinn bei seiner Suche erfolgreich sein? Die gestaltet sich nämlich schwieriger als gedacht...

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Susan Anne Mason

Ein neuer Anfangfür die Liebe

Aus dem Englischen vonEvelyn Schneider

Für alle Kinder

aus dem British-Home-Children-Programmsowie für ihre Nachkommen, die in Kanada ein Zuhausegefunden haben. Möge diese Geschichte Licht werfenauf all die Not, die sie durchstehen mussten,und gleichzeitig aufzeigen, welch Stärke und Mut siein ihrem Kampf für ein neues Leben bewiesen haben.Danke, dass ihr Kanada zu einemnoch stärkeren Land gemacht habt!

Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen undverlass dich nicht auf deinen Verstand;sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen,so wird er dich recht führen.

SPRÜCHE 3,5-6

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Anmerkung der Autorin

Prolog

DERBYSHIRE, ENGLAND IM FRÜHLING 1919

Im Arbeitszimmer des Earls von Brentwood wartete Quinten Aspinall auf das Eintreffen seines Arbeitgebers. Mit etwas Glück war dieser nach seinem vormittäglichen Ausritt über das Anwesen frohen Mutes und empfänglich für Quinns Anliegen.

Quinns feuchte Hände zeugten von der Aufregung, die er nur schwer unterdrücken konnte. Er sehnte sich nach Ruhe. Nach einer inneren Ruhe, die sich in letzter Zeit nicht mehr einstellen wollte. Hätte Lord Brentwood Verständnis für sein Vorhaben und würde er Quinns Bitte nachkommen? Oder hielt er es unter diesen Umständen für notwendig, Quinns Anstellung in Brentwood Manor aufzuheben?

Quinn holte tief Luft und bemühte sich, sich die segensreichen Seiten des Lebens ins Gedächtnis zu rufen, nicht die herausfordernden. Der Krieg war vorüber. Und er hatte ihn überlebt – das war viel wert! Doch dieser Segen verblasste neben dem Schicksal seiner Familie.

Wieder dachte Quinn an Becky, Cecil und den kleinen Harry. Herr, bitte bewahre sie – wo auch immer sie gerade stecken.

Das simple Gebet untermauerte seine Hingabe, mit der er sich dem Vorhaben verschrieb. Er würde tun, was immer notwendig wäre, um seine Familie zu finden und wieder nach Hause zu bringen.

Quinn hatte sich gerade erst von einigen Kriegsverletzungen erholt; niemals hätte er gedacht, dass er so bald um eine Freistellung für eine Reise nach Übersee bitten würde. Aber er hätte auch nie gedacht, dass Mutter die drei jüngeren Geschwister in ein Kinderheim geben würde oder dass dieses Kinderheim sie in ein anderes Land verschiffen würde.

Mit einem Knarzen öffnete sich die Tür und Lord Brentwood betrat das Zimmer.

Sogleich straffte Quinn die Schultern und verschränkte, wie es sich für einen Diener gehörte, die Hände hinter dem Rücken.

„Mr Aspinall! Davis hat mich darüber informiert, dass Sie hier sind. Endlich sind Sie aus diesem verfluchten Krieg zurückgekehrt, wie ich sehe.“ Die Ausgelassenheit, die Lord Brentwoods gerötetes Gesicht bezeugte, spiegelte sich auch in seinem Tonfall wider. Schwungvoll legte er die Reithandschuhe auf dem Schreibtisch ab. „Es ist gut, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?“

Quinn schüttelte die Hand seines Arbeitgebers und spürte wieder die alte Zuneigung für ihn. Ehrlich gesagt hatte Quinn diesen Ort und seinen Posten als Kammerdiener des Earls vermisst. „Mit großer Freude darf ich Ihnen berichten, dass ich wieder vollkommen genesen bin.“

„Hervorragend“, entgegnete seine Lordschaft und ging zur Anrichte, wo er seinen Lieblingsalkohol aufbewahrte. „Heißt das, Sie sind gekommen, um Ihren alten Posten zurückzuerbitten?“

Nun zögerte Quinn, da er wusste, dass seine Antwort die fröhliche Stimmung kippen würde. „Ja und nein, mein Lord.“

Die Hand des Earls hielt am kristallenen Dekanter inne. „Das klingt mysteriös. Würden Sie das bitte ausführen?“, bat der Earl und füllte sich einen großen Schluck Brandy in einen Weinbrandschwenker. Den trug er zu dem opulenten Schreibtisch aus Kirschholz, wo er für gewöhnlich die Nachmittage verbrachte und der Verwaltung des Anwesens nachging.

„Es ist durchaus mein Wunsch, meinen alten Posten wieder einzunehmen, jedoch nicht sofort“, sagte Quinn und schluckte. „Zuerst würde ich Sie gern um eine kurze Freistellung vom Dienst bitten.“

Der Earl runzelte die Stirn. „Hat Ihre Bitte etwas mit Ihrer Familie zu tun?“

„Ganz recht.“ Natürlich dachte seine Lordschaft sich das bereits, da Quinn ihm deutlich gemacht hatte, wie viel seine Familie ihm bedeutete. „Ich muss nach Kanada reisen.“

Auf halbem Weg zum Mund blieb das Glas noch einmal stehen und ein neugieriges Leuchten erfüllte die Augen des Earls. „Nach Kanada? Wozu?“

Erinnerungen an seinen Besuch in Dr.-Barnardo-Kinderheim kamen in Quinn hoch und drohten ihn zu überwältigen. „Nach meiner Rückkehr nach London habe ich meine Mutter besucht“, begann er und schluckte. „Sie lebt nun in einem Armenhaus und meine Geschwister sollten in einem Kinderheim sein.“

„Das tut mir leid“, erwiderte der Earl mit gefurchter Stirn.

„Anschließend habe ich das Kinderheim aufgesucht, nur um zu erfahren, dass man meine Geschwister als vertraglich verpflichtete Arbeiter nach Kanada geschickt hat. Ohne das Einverständnis meiner Mutter.“ Je unruhiger er wurde, desto mehr wünschte sich Quinn, dass er neben den Flammen im Feuer stünde, um sich an ihnen zu wärmen. Seit der Zeit im Schützengraben kam er nicht umhin, sich von einem Gefühl von Klammheit geplagt zu fühlen. „Unglücklicherweise geht es meiner Mutter gesundheitlich sehr schlecht. Ich fürchte, sie wird den Sommer nicht überleben.“

Das Bild seiner ausgezehrten Mutter hatte ihn die gesamten vier Jahre im Krieg verfolgt. Doch niemals hatte er sich vorgestellt, dass er sie noch abgemagerter vorfinden könnte als bei seinem Abschied. Als er sie jedoch bettlägerig im Krankenzimmer eines Armenhauses wiederfand, wusste er, dass es an der Zeit war zu handeln. Quinn nahm an, dass ein großer Teil ihrer Trägheit auf Schuldgefühle zurückging. Als verdiente sie es zu sterben, dafür, dass sie ihre Kinder verlassen hatte. Wenn Quinn aber Becky, Cecil und Harry wiederfinden und zu ihr nach Hause bringen würde, hätte sie wieder einen Grund, zu Kräften zu kommen. Unmöglich konnte der zu frühe Tod ihres Mannes sie zu so einem erbärmlichen Leben verdammen.

Der Himmel wusste, wie sehr Quinn sich über die Jahre bemüht hatte, seine Mutter zu unterstützen. Beinahe jeden Schilling seines Lohns hatte er nach Hause geschickt, um für seine Familie zu sorgen. Herauszufinden, dass alles umsonst gewesen war, war entsetzlich qualvoll gewesen.

„Also bitten Sie nun um eine Freistellung, um sich auf die Suche nach Ihren Geschwistern zu machen?“

„Genau, mein Lord.“

„Und was, wenn ich Ihre Bitte verweigere?“

Mit Mühe widerstand Quinn dem Drang, dem Blick des Earls auszuweichen. „Dann muss ich mich respektvoll von meiner Position bei Ihnen verabschieden. Auch wenn ich diesen Schritt nur ungern gehen würde.“

„Das würde auch ich nur ungern sehen“, sagte Lord Brentwood, der sich auf dem Stuhl wandte und sich dann zu Quinn vorbeugte. „Wo nach Kanada werden Sie reisen?“

„Den genauen Ort kenne ich leider nicht. Das Schiff fährt nach Halifax, Nova Scotia. Von dort aus werde ich dahin weiterreisen, wohin man meine Geschwister geschickt hat. Doch diese Informationen habe ich noch nicht.“ Um gegen die zunehmende Wut anzukämpfen, ballte Quinn seine Hände zu Fäusten. Noch immer konnte er es nicht fassen, dass das Kinderheim ihm nichts weiter mitgeteilt hatte als den Namen des Schiffs, mit dem seine Geschwister nach Kanada übergesetzt waren – und ihr erstes Ziel: Halifax.

Dann steckte Quinn eine Hand in die Hosentasche, bis die Finger den vertrauten Eisenschlüssel berührten, den er überallhin mitführte. Es war das Letzte, was sein Vater ihm vor seinem Tod gegeben hatte – der Schlüssel zu ihrem Haus in London. Und indem sein Vater ihm diesen überreicht hatte, hatte er ihn faktisch zum Mann des Hauses ernannt. Das kühle Metall erinnerte Quinn an das Versprechen, das er seinem Vater daraufhin gegeben hatte, und verlieh ihm den Mut fortzufahren. „Wenn ich Sie damit um zu viel bitte, werde ich Ihre Entscheidung natürlich respektieren, Sir. Aber die Reise muss ich unternehmen. Ich werde nicht zur Ruhe kommen, bis ich meine Familie wieder vereint habe.“

Der Earl nickte. „Das ist ein Gefühl, das ich gut nachvollziehen kann.“ Ein Schatten glitt über die Gesichtszüge des Mannes und einen Moment lang schien sein Blick eingenommen von Pein.

Zu Quinns Schande fiel ihm in diesem Moment auf, dass er sich noch gar nicht nach der Familie des Earls erkundigt hatte und wie es ihnen ergangen war, seit Quinn in den Krieg gezogen war. „Ich hoffe, Lady Brentwood und Lady Amelia sind wohlauf?“

„Das sind sie. Vielen Dank der Nachfrage.“ Kurz hielt er inne. „Was meine Nichte anbetrifft, sieht es allerdings anders aus.“

„Miss Julia?“, fragte Quinn nach und bei der Erinnerung an das lebhafte Mädchen sog er stark die Luft ein. Mit dreizehn Jahren war sie nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern zum Earl und seiner Familie gezogen. Nach einer angemessenen Zeit der Trauer und der Umgewöhnung an das neue Zuhause hatte Julia schließlich Halt in der Freundschaft zu ihrer Cousine Amelia gefunden. Oftmals war in Brentwood Manor das laute mädchenhafte Gelächter zu hören gewesen. „Ich hoffe sehr, dass ihr nichts Schlimmes zugestoßen ist.“

„Es ist nicht, was Sie vielleicht denken. Aber es ist schlimm genug“, sagte der Earl und stand auf. „Julia hat darauf bestanden, sich während des Krieges nützlich zu machen – gegen meinen Wunsch, möchte ich hinzufügen. Also hat sie Brentwood verlassen, um die Ärzte bei den verwundeten Soldaten zu unterstützen. Keine Aufgabe, der eine junge Dame nachkommen sollte.“

„Da ich selbst ein verwundeter Soldat war, halte ich es für einen sehr noblen Dienst. Jede Hilfe, die mir zuteilwurde, habe ich sehr geschätzt.“

Der Earl warf ihm einen ungehaltenen Blick zu.

Und Quinn hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Er musste sich wieder daran gewöhnen, seine Meinung für sich zu behalten, wenn nicht explizit danach gefragt wurde.

„Ich hatte es schon im Gefühl, dass das nicht gut ausgehen würde“, fuhr der Earl fort und hob das Kinn auf eine Weise nach vorn, die nur eines bedeuten konnte: Missfallen. „Kurz vor Kriegsende ist sie mit einem kanadischen Soldaten durchgebrannt.“

„Oh. Wie … bedauernswert.“ Weshalb überkam Quinn nun eine Welle der Enttäuschung? Es war nicht so, als hätte er jemals die Zuneigung dieses Mädchens erlangen können. Niemals hätte sie sich auch nur nach einem Bediensteten umgesehen, es sei denn, sie hatte einen Wunsch.

„Ich glaube, Ihre Reise nach Kanada kommt mir gerade gelegen“, fuhr der Earl fort und legte mit einem nachdenklichen Blick einen Arm auf die Stuhllehne. „Während Sie dort sind, könnten Sie Julia ausfindig machen und sie nach Hause bringen.“

Mit einem Mal nahm Quinn Haltung an. „Wie bitte?“

„Julias Verschwinden hat meine Frau und Tochter sehr betrübt. Ich räume ein, dass ich dem Mädchen gegenüber sehr streng war, und leider sind wir nicht im Guten auseinandergegangen. Etwas, das ich sehr bedauere.“ Er seufzte. „Ich würde ja selbst nach ihr auf die Suche gehen, doch im Moment kann ich es mir nicht erlauben, so lange von Brentwood wegzubleiben. Infolge des Kriegs habe ich drei Pachtbauern verloren – zwei auf dem Schlachtfeld und einen an den Folgen einer Krankheit. Das muss ich schnellstmöglich in Ordnung bringen, sonst könnte die Zukunft von Brentwood in Gefahr sein.“ Seine Lordschaft trat auf das Feuer zu und die Flammen untermalten sein kräftiges Profil. „Und da Sie ohnehin nach Übersee reisen wollen, möchte ich von unserer Bekanntschaft profitieren und Sie um Ihre Hilfe bitten.“ Nach diesen Worten setzte sich der Earl wieder an den Schreibtisch und holte ein samtenes Säckchen aus einer der Schubladen hervor. „Natürlich werde ich für alle Ausgaben aufkommen, die Sie meinetwegen auf sich nehmen müssen.“

Quinns Gedanken rasten. Eigentlich konnte er es sich nicht erlauben, sich von seinem Hauptziel ablenken zu lassen, und doch wollte er seinen Arbeitgeber nicht vor den Kopf stoßen – nicht ohne guten Grund. „Wissen Sie, wo Miss Julia in Kanada lebt?“

„Der Mann, mit dem sie aufgebrochen ist, Private Samuel McIntyre, kommt aus Toronto. So viel konnte ich herausfinden. Das wäre also der beste Ort, um die Suche zu beginnen.“

Selbst mit Quinns begrenztem Wissen über Kanadas Geografie war ihm klar, dass Toronto ein ganzes Stück von Halifax entfernt lag. Andererseits war nicht auszuschließen, dass man seine Geschwister womöglich von dort aus in die Nähe von Toronto geschickt hatte. Denn das Dr.-Barnardo-Kinderheim führte auch Häuser in Toronto und viele der Kinder arbeiteten letztlich auf Farmen in der Provinz Ontario. Dennoch würde es ihn Zeit kosten und ihn von der Suche nach seinen Geschwistern abhalten, wenn er zudem nach der eigensinnigen Nichte des Earls Ausschau halten musste.

Dann kam Quinn ein unangenehmer Gedanke in den Sinn. „Wäre es möglich, dass Miss Julia den Mann inzwischen geheiratet hat? Ich kann sie wohl kaum ihrem Ehemann wegnehmen.“

„Ich glaube nicht, dass das der Fall ist“, sagte der Earl und seine Schultern sanken herab. „Amelia hat vor einigen Tagen zugegeben, dass sie einen Brief von Julia erhalten hat – mit einem Poststempel aus Toronto. Sie sagte, ihre Cousine klinge verzweifelt. Dass sie nach einem neuen Ort Ausschau halten müsse, wo sie leben könne, dass das Geld knapp sei und sie nicht wisse, was sie tun solle. Wenngleich Amelia es nicht wollte, habe ich mir den Brief dann selbst angesehen.“ Nun sanken auch die Augenbrauen des Earls nach unten. „Ich hasse den Gedanken, dass meine Nichte in Schwierigkeiten steckt. Sie soll wissen, dass sie jederzeit wieder nach Hause kommen kann – auch wenn sie zurzeit wahrscheinlich nicht diesen Eindruck hat.“ Er streckte den Rücken durch und glättete die Ärmel seiner Reitjacke. „Julia zu finden wird sicher keine einfache Aufgabe. Doch ich bin gewillt, Sie gebührlich dafür zu entlohnen, sollten Sie erfolgreich sein.“

Unverwandt sah Quinn seinen Arbeitgeber an. Seine imponierende Haltung und der berechnende Blick bezeugten, dass er durch und durch ein Mann von Ehre war. Damals, als Quinn in einer sehr verzweifelten Lage gesteckt hatte, hatte der Earl ihm eine Anstellung in seinem Haus gegeben und ihn über die Jahre vom einfachen Diener zum persönlichen Kammerdiener ernannt. Ehrlich gesagt verdankte Quinn dem Earl sehr viel. Wie sollte er da seine Bitte ablehnen? Abgesehen davon – wenn Julia tatsächlich in Bedrängnis war und Quinn ihr helfen konnte, dann musste er es zumindest versuchen. „Also gut, Ihre Lordschaft. Ich werde mein Bestes geben. Doch, selbst wenn ich Miss Julia ausfindig mache, kann es sein, dass sie nicht nach England zurückkehren möchte. Ich werde sie nicht gegen ihren Willen auf ein Schiff zwingen.“

„Ich verstehe“, erwiderte der Earl und schürzte die Lippen. „Vielleicht mag ein zusätzlicher Anreiz Sie anspornen, sich wirklich die größte Mühe zu geben, Julia zu überzeugen.“ Mit einem Leuchten in den Augen ging er ein paar Schritte auf Quinn zu. „Sollten Sie erfolgreich von diesem Unterfangen zurückkommen, belohne ich Sie mit einer meiner Pachtfarmen. Sie wird Ihnen gehören, voll und ganz.“

Ein heißes Kribbeln lief Quinn über die Wirbelsäule. Sein eigenes Stück Land? Ein Ort, an dem er seine Familie zusammenbringen und mit dem er das Versprechen erfüllen konnte, das er seinem Vater vor neun Jahren gegeben hatte? Wie sollte er so eine Chance – ganz gleich, wie gering sie war – ablehnen? Es war die Möglichkeit, sich und seiner Familie ein Heim zu schaffen.

Also straffte Quinn die Schultern und nickte. „Sie haben mein Wort, Sir. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihre Nichte zurückzubringen.“

Kapitel 1

NOVA SCOTIA, KANADA 28. MAI 1919

Entschlossen ging Quinten am Ufer von Halifax entlang. Heute würde er an die Informationen gelangen, die er brauchte – selbst wenn er sie aus dem hartnäckigen Angestellten herauspressen musste.

Gerade hatte er sich von Jonathan und Emmaline verabschiedet, Freunde, die er auf der Überfahrt kennengelernt hatte. Auf See hatte er sich lange mit diesem Paar unterhalten, wenngleich der arme Jonathan für einen großen Teil der Reise sehr stark von Seekrankheit geplagt war. Eine junge Frau namens Grace gehörte auch zu ihrer Gruppe. Schnell hatten sie festgestellt, dass sie alle ein sehr ähnliches Ziel verfolgten. Emmaline reiste nach Kanada, um ihren Vater zu finden, und Grace suchte nach ihrer Schwester, einer jungen Kriegswitwe, die sie nach England zurückzuholen hoffte. Grace war noch am gleichen Tag ihrer Ankunft von Halifax nach Toronto weitergereist. Emmaline und Jonathan hingegen waren einige Tage geblieben, bis Jonathan sich etwas erholt und neue Kraft für den nächsten Teil ihrer Reise gesammelt hatte. An diesem Morgen waren die beiden in den Zug nach Toronto gestiegen und Quinn hätte sich ihnen von Herzen gern angeschlossen.

Das wäre durchaus möglich gewesen – wenn er denn schon den Aufenthaltsort seiner Geschwister herausgefunden hätte. Doch zwischen dieser Information und ihm stand ein überaus dienstbeflissener Beamter der Meldebehörde. Heute jedoch würde Quinn nicht klein beigeben. Nicht, bis er eine Adresse hatte!

Mit einem Ächzen öffnete er die gewichtige Tür und trat hinein. Die Meldebehörde war, wie Quinn erfahren hatte, der erste Halt für alle Einwanderer. Und jeder, der der ärztlichen Überprüfung hier nicht genügte, kam in Quarantäne oder, schlimmer noch, wurde wieder nach Hause geschickt.

Im Inneren des Raumes roch es nach Rauch und faulendem Holz. Selbst ein Jahr nach der zerstörerischen Explosion, die den Großteil des Hafens und der Stadt selbst in Schutt und Asche gelegt hatte, waren die schrecklichen Auswirkungen immer noch zu sehen. Und wegen der weiterhin zugenagelten Fenster gelangte nur wenig Frischluft ins Innere, um die unangenehmen Gerüche zu vertreiben. Die umfangreiche Zerstörung musste die Stadt in eine ernsthafte finanzielle Notlage gebracht haben. Aus welchem anderen Grund waren sonst zahlreiche Häuser noch nicht wieder neu aufgebaut worden?

Nach einem kurzen Blick zum Schalter hielt Quinn ein Stöhnen zurück. Dort saß der gleiche schwierige Mann wie sonst auch und schrieb etwas in ein Kassenbuch. Ob heute irgendetwas anders laufen würde als bei den letzten vier Gesprächen mit Mr Churl?

Churl – Griesgram. Ein durchaus passender Name!

Trotz der unangenehmen vorhergehenden Begegnungen setzte Quinn ein Lächeln auf, fest entschlossen, Mr Churl heute von seiner Argumentation zu überzeugen. Früher oder später musste der Mann einfach nachgeben!

„Guten Morgen, Mr Churl“, grüßte Quinn mit einer leichten Verbeugung, während er den Hut abnahm. „Wie geht es Ihnen an diesem schönen Tag?“

Der Mann sah über seinen Kneifer und warf Quinn einen steinernen Blick zu. „Ihre Heiterkeit bringt Sie auch heute nicht weiter, Mr Aspinall. Meine Antwort ist die gleiche wie gestern und die letzten drei Male, die Sie hier waren.“

„Vier“, korrigierte Quinn ihn ruhig.

„Wie bitte?“

„Ich war bereits viermal hier. Heute ist das fünfte Mal.“

Mr Churl schnaubte nur. „Dann sind Sie eben fünfmal töricht gewesen, denn an meiner Antwort hat sich nichts geändert. Ich kann Ihnen nicht preisgeben, wo sich Ihre Geschwister befinden. Diese Information ist vertraulich.“

Aus dem Augenwinkel sah Quinn eine Bewegung. Dann blickte er sich um und entdeckte hinter dem Vorhang zum Hinterzimmer eine junge Frau. Mit einem Stapel von Büchern auf den Armen kam sie nach vorne und stellte sie nach einem kurzen Blick zu Quinn auf dem Schalter ab. Er erkannte sie von seinen vorherigen Besuchen hier.

„Starren Sie ihn nicht so an, sondern machen Sie, dass Sie zurück an Ihren Platz kommen.“ Der raue Ton des Beamten ließ sie zusammenzucken.

„Ja, Sir“, erwiderte die Frau und zuckte kurz mit den Schultern, als versuchte sie, sich damit bei Quinn zu entschuldigen, bevor sie in die Untiefen des Gebäudes zurückkehrte.

Quinn unterdrückte ein Stöhnen. Im Gegensatz zu dem ungehobelten Mr Churl schien Ms Holmes sehr sympathisch zu sein. Wenn er doch bloß allein mit ihr sprechen könnte! Sicher konnte er sie davon überzeugen, ihm die Informationen zu geben, nach denen er so verzweifelt suchte. Doch unglücklicherweise machte Mr Churl wohl niemals eine Pause von seiner Arbeit.

„Bitte, Sir“, flehte Quinn und legte die abgegriffene Fotografie, auf der alle seine Geschwister zu sehen waren und die Quinn stets bei sich trug, vor dem Mann auf den Schalter. Vielleicht gelang es den süßen Gesichtern von Becky, Cecil und Harry, ihn umzustimmen. „Ich habe einen sehr weiten Weg auf mich genommen, um meine Familie zu finden. Es würde mir – und meiner kranken Mutter – alles bedeuten, herauszufinden, wo sie sind und wie es ihnen geht. Bitte helfen Sie mir dabei!“ An diesem Punkt war es Quinn gleich, dass er geradezu bettelte.

Der Beamte warf widerwillig einen Blick auf die Fotografie und seine Hand hielt über dem Kassenbuch inne. Dann räusperte er sich, stellte den Füllfederhalter ins Tintenfass und atmete laut aus. „Mr Aspinall, es ist nicht so, als hätte ich kein Verständnis für Ihr Anliegen. Doch soweit ich informiert bin, wurden die Kinder, die mit Dr. Barnardos Organisation hierhergekommen sind und keine Waisen waren, von ihren Eltern verlassen. Damit wurde jedes Recht auf die Kinder abgetreten. Sie können also auf keinen Fall etwas an der Unterbringung Ihrer Geschwister verändern. Sie sind vertraglich gebunden! Und deshalb werden ihre Arbeitgeber es auch nicht gern sehen, wenn jemand aus der Familie den Kontakt zu ihnen sucht oder gar probiert, sie zurück nach Hause zu locken.“

„Das verstehe ich, Sir.“ Von diesen kleinen Informationsfetzen ermutigt, beugte Quinn sich nach vorn und sah dem Beamten in die Augen. „Und ich versichere Ihnen: Ich möchte mich nur vergewissern, dass sie gesund und zufrieden sind, damit ich das auch unserer Mutter erzählen kann.“

O Herr, bitte vergib mir diese Flunkerei.

Als Quinn erfahren hatte, dass seine Geschwister ohne die Zustimmung seiner Mutter nach Kanada geschickt worden waren, hatte er geschworen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Cecil, Becky und Harry wieder nach Hause zu holen. Wo sie hingehörten!

Das gab seiner Mutter vielleicht wieder einen Grund zu leben.

Lange betrachtete der Mann Quinn. Dieses Mal war sein Blick nicht voller Ärger oder Gereiztheit, dieses Mal strahlte er Mitgefühl aus. Hoffnung keimte in Quinns Brust auf und die Kapitulation des Beamten erwartend, formten seine Lippen ein zaghaftes Lächeln.

Doch dann schüttelte der Beamte wieder den Kopf. „Es tut mir leid. Wenn ich diese Informationen weitergebe, könnte ich meine Stelle verlieren.“ Dann sprach er leiser weiter. „Die beste Chance hätten Sie im Fairview-Kinderheim am Stadtrand. Manche der Waisen werden von dort aus weitervermittelt. Andernfalls würde ich Ihnen empfehlen, nach Toronto zu reisen. Da gibt es einige Heime von Dr. Barnardo. Vielleicht haben Sie dort mehr Glück. Und nun, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …“ Mit diesen Worten stand Mr Churl auf, schenkte Quinn ein steifes Nicken und verschwand hinter dem Vorhang.

Erneut überkam Quinn eine Welle der Enttäuschung. Noch immer wusste er nicht genau, wohin man seine Geschwister vermittelt hatte. Doch wenigstens hatte er heute einen kleinen Hinweis erhalten, der ihn womöglich weiterbringen konnte. Nun galt es, herauszufinden, wo sich das Fairview-Kinderheim am Stadtrand befand.

Quinn steckte die Fotografie wieder weg, setzte seinen Hut auf und ging in Richtung Tür. Als er aus dem Gebäude heraustrat, kam ihm ein erfrischender Luftzug entgegen. Obgleich es fast Juni war, sorgte die Nähe zum Meer für eher frühlingshafte Temperaturen. Deshalb zog Quinn seinen Mantel fester um die Schultern, schlug den Kragen hoch bis an die Ohren und musterte die Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vielleicht fand er dort ein Taxi. Sicher würde der Fahrer wissen, wo das Fairview-Kinderheim lag.

„Entschuldigen Sie bitte, Mr Aspinall?“, erklang eine zaghafte Stimme aus dem schmalen Gang zwischen der Meldebehörde und dem nächsten Gebäude.

Als Quinn sich umdrehte, sah er die junge Frau von eben. Sie kam einen Schritt näher, ohne jedoch dabei völlig auf den Bürgersteig zu treten. Wortlos und mit dringendem Blick streckte sie ihm ein Stück Papier entgegen.

Er ging auf sie zu, verbarg damit die Sicht auf sie und nahm den Zettel entgegen.

„Ich muss jetzt schnell zurück, bevor man mich vermisst“, sagte sie. „Aber ich dachte, das könnte Ihnen bei Ihrer Suche helfen.“ Dann drehte sie sich um und wollte zurückeilen, doch Quinn hielt sie sanft am Arm fest.

„Warten Sie. Woher …?“

„Es gab nur drei Kinder mit dem Namen Aspinall. Das war also nicht schwer“, erwiderte sie und zog ihren Schal etwas enger um die Schultern.

„Danke, Miss. Sie haben ja keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet.“

„Ich glaube schon“, sagte sie mit Tränen in den Augen. „Meine jüngere Schwester galt bei der Explosion vor einem Jahr als vermisst. Zwei Tage lang habe ich verzweifelt nach ihr gesucht und sogar befürchtet, sie wäre vielleicht gestorben. Bis mich eine hilfsbereite Frau unterstützt hat und wir sie in einem der Erste-Hilfe-Zelte wiedergefunden haben. Ich kann mir also gut vorstellen, wie es Ihnen gerade geht. Vor allem, da Sie auch noch so weit weg von zu Hause sind.“ Dann schenkte sie ihm ein wackliges Lächeln. „Viel Erfolg auf Ihrer Reise. Ich hoffe, Sie finden Ihre Geschwister in Sicherheit und bei guter Gesundheit.“

„Vielen Dank noch einmal“, erwiderte Quinn und drückte ihr leicht die Hand, bevor sie in den Gang verschwand.

Während er zusah, wie sie zurückging, betete Quinn, dass die junge Frau nun nicht in Schwierigkeiten geriet. Mit zitternden Fingern öffnete er den gefalteten Zettel. Dort stand in krakeliger Handschrift: Rebecca Aspinall, Hazelbrae, Peterborough. Cecil und Harrison Aspinall, Dr.-Barnardo-Heim, Toronto.

Nachdenklich hob Quinn den Kopf und starrte die Straße entlang. Wo um Himmels Willen lag Peterborough? Toronto war eine sehr große Stadt – das hatte er von seinen Freunden auf dem Schiff erfahren, die dorthin wollten. Er faltete das Stück Papier wieder zusammen und steckte es weg. Zunächst würde er herausfinden, wie weit Peterborough von Toronto entfernt lag, und wenn es Sinn ergab, würde er zuerst dorthin reisen. Wenn nicht, wäre Toronto sein nächstes Ziel. Zu schade, dass er das nicht schon gestern herausgefunden hatte – dann hätte er heute Morgen mit Emmaline und Jonathan weiterreisen können.

Doch das war nicht weiter schlimm. Gott handelte immer rechtzeitig! Daran wollte er festhalten und machte sich auf in Richtung Bahnhof.

„Sie sind schon zwei Wochen drüber mit der Miete. Wenn Sie hier bleiben wollen, zahlen Sie. Heute! Und zwar alles.“

Julia Holloway hielt abrupt auf der ersten Treppenstufe inne. Insgeheim hatte sie gehofft, sich ungehört in ihr Zimmer im zweiten Stock schleichen zu können, doch ihr Vermieter musste bereits auf sie gewartet haben.

Als sie sich umdrehte, sah sie den Mann und wie er sie in einem schmutzigen Unterhemd, das nicht ganz über seinen Bauch reichte, aus seinem Türrahmen heraus anstarrte. Der scharfe Duft von Sauerkraut und Zwiebeln, vermischt mit seinem stechenden Körpergeruch, brachten Julia beinahe zum Würgen.

„Werden Sie mir das Geld jetzt geben oder muss ich Ihnen dafür in Ihr Zimmer folgen?“, fragte Mr Ketchum, während er einen der braunen Hosenträger zurechtrückte.

„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Julia und schluckte die Angst hinunter, als sie in der Handtasche nach den letzten Dollarnoten suchte, die sie noch hatte. Geld, das sie für Lebensmittel zur Seite gelegt hatte. Aber das Essen musste warten. Sie faltete das Bündel in der Mitte und streckte es dem Vermieter hin.

„Zählen Sie, und zwar richtig“, forderte er sie auf, ohne die Scheine anzunehmen.

Langsam strich sie darüber und zählte das Geld für ihn, Schein für Schein. „Vier Dollar“, sagte sie und hielt die Luft an, während sie darauf wartete, dass er es annahm.

Er kniff jedoch die Augen zusammen. „Das ist nicht die ganze Miete.“

„Ich … ich weiß, aber ich werde erst morgen wieder bezahlt. Dann gebe ich Ihnen den Rest. Versprochen.“ Sosehr Julia das Zittern ihrer Stimme hasste, aufhalten konnte sie es nicht. Mit der Teilzeit-Putzstelle verdiente sie nicht viel, und wenn man sie nun auch noch aus diesem Loch herausschmiss, wüsste sie nicht wohin. Eine bessere Unterbringung konnte sie sich mit dem begrenzten Gehalt nicht leisten.

Anzüglich grinsend betrachtete Mr Ketchum sie und sah von dem Band, das sie ums Haar gebunden hatte, über das schlichte Kleid bis zu den wenig schmeichelhaften Schuhen an ihr herunter. „Ich könnte mir auch etwas anderes vorstellen, wie Sie mich bezahlen könnten“, schlug er vor und machte dabei einen Schritt auf sie zu.

Mit größter Mühe gelang es Julia, nicht zu fliehen. „Wie ich Ihnen schon mehrmals gesagt habe, Sir, gehöre ich nicht zu dieser Art Frauen.“ Wieder streckte sie ihm das Geldbündel entgegen und zwang ihre Hand, nicht zu zittern.

Schließlich schnappte er sich das Geld mit einem Knurren aus ihrer Hand. Eilig verbarg sie die Hand in der Schürzentasche und rieb unauffällig daran, als würde sie so den Dreck von seiner Berührung los.

„Den Rest vom Geld will ich morgen sehen. Sonst finden Sie Ihre Siebensachen auf der Straße wieder“, sagte er und spuckte eine vom Tabak bräunlich verfärbte Flüssigkeit auf den Boden, direkt neben Julias Schuhe. Dann drehte er sich um und stapfte zurück in seine Wohnung.

Nicht eine Sekunde länger blieb Julia dort stehen. Schnellen Schrittes ging sie die zwei Stockwerke nach oben und den Gang entlang bis zum Ende. Mit zitternden Fingern schloss sie die Tür auf, ließ sich selbst hinein und schob beim Schließen den Riegel von innen vor. Erleichtert lehnte sie den Kopf an das Holz und wartete, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigte. Erst dann holte sie tief Luft und drehte sich um.

Sogleich erstickte ein Schrei in ihrem Hals. Die Bettwäsche lag zerknautscht auf dem Boden. Das Kissen war aufgerissen worden, sodass die Federn überall herumflogen. Alle Schubladen aus ihrer Kommode waren geöffnet, ihre Kleidung war durchwühlt und durcheinandergeworfen worden.

Wie konnte er es wagen! Hitze schoss ihr ins Gesicht, als Julia sich vorstellte, wie Mr Ketchum ihre Unterwäsche durchstöbert hatte. Aber wenn er nach Bargeld gesucht hatte, war er zumindest nicht fündig geworden. Aus ebendiesem Grund trug Julia ihr weniges Geld immer bei sich.

Sie schritt durch den Raum, sammelte die Bettwäsche wieder auf und gab ihr Bestes, die Federn zusammenzukehren. Trotz der grässlichen Umstände, unter denen sie lebte, versuchte sie das Zimmer ordentlich und sauber zu halten. Dass sie nur wenige Habseligkeiten hatte, half ihr dabei. Ihre Reisetasche mit ein paar Wechselkleidern war das Einzige, das sie aus England mitgebracht hatte. Mit den Fingern tastete sie die Goldkette um den Hals ab – die einzige Erinnerung an ihr früheres Leben. Im Inneren des filigranen Anhängers steckte ein Foto ihrer verstorbenen Eltern. Seit ihrem Tod war für Julia nichts mehr wie zuvor.

Doch wenn sie gewusst hätte, dass eine Flucht nach Kanada in einer noch schlimmeren Tragödie geendet hätte, hätte sie Brentwood Manor und den Schutz ihres Onkels niemals verlassen. Wie hatten sich ihre strahlenden Träume für die Zukunft bloß in solch einen Albtraum verwandeln können?

Sie ließ den Anhänger durch ihre Finger gleiten, bevor sie die Kette wieder entschlossen im Korsett ihres schlichten Baumwollkleides versteckte.

Julia ging zum Fenster, schrubbte es etwas frei vom Schmutz, um nach unten auf die Straße zu sehen, und wischte ihre Handfläche an ihrer Schürze ab. Würde sie sich selbst jemals wieder sauber fühlen? Inniglich sehnte sie sich danach, ein heißes Bad mit duftendem Wasser zu nehmen. Ein Luxus ihres früheren Zuhauses, von dem sie in letzter Zeit oft geträumt hatte. Doch das Beste, das sie hier kriegen konnte, war eine Katzenwäsche mit kaltem Wasser aus der Schüssel auf ihrem Nachttisch. Selbst wenn sie manchmal das Bad leer vorfand, das sich alle Bewohner teilten, konnte sie sich in der Wanne nie entspannen. Nicht, mit all diesen skrupellosen Gestalten im Haus.

Oh, Sam, warum hast du mich nur verlassen? Warum hast du die Hilfe nicht angenommen, die man dir angeboten hat?

Julia biss sich auf die Lippe, um gegen die aufkommenden Tränen anzukämpfen. Diese Art von Gedanken nützten nichts. Sie halfen nicht dabei, genug Geld zu sparen, um diesem scheußlichen Dasein ein Ende zu bereiten. Und sie halfen ihr auch nicht, herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Nach Sams Tod war Julia entschlossener denn je, etwas tun zu wollen, das Wert hatte. Etwas, womit sie denen half, die Not litten. Ihre Gedanken flogen zurück zu den verwundeten Soldaten im Krieg, denen sie beigestanden hatte. Ein Dienst, der sie innerlich erfüllt hatte. Zu schade, dass ihr Onkel das niemals verstanden hatte.

Mit einer Hand an den Mund gepresst unterdrückte Julia einen Anfall von Übelkeit und Heimweh. Wenn sie doch bloß nach Brentwood zurückkehren und ihren Onkel, ihre Tante und Amelia wiedersehen könnte! Aber das war unmöglich. Onkel Howard hatte sehr deutlich gemacht, dass sie dort nicht länger willkommen war – jetzt, da sie England mit Sam verlassen hatte. Sein Ultimatum hatte damals nur noch mehr Öl aufs Feuer gegossen und ihren Entschluss zu gehen bekräftigt.

Doch nun, nachdem sie alle Brücken hinter sich abgerissen hatte, fühlte sie sich einsamer als jemals zuvor. Und was immer die Zukunft für sie bereithielt – Julia musste es allein herausfinden.

Kapitel 2

Quinn stand vor einem Eisentor, das den Weg zu einem idyllischen Haus sicherte. Das Bauwerk war groß und schmal, hatte einen Erker auf einer Seite und eine Veranda, die um das Haus herum verlief. Ein sehr passendes Aussehen für eine Pension. Eine Freundin vom Schiff, Grace Abernathy, hatte Quinn diese Pension mit den Worten empfohlen, dass ihre Schwester sich hier sehr wohlgefühlt hatte und die Inhaberin eine freundliche alte Dame war. Quinn hoffte auf ein freies Zimmer bei Mrs Chamberlain, in dem er vorübergehend unterkommen konnte.

Für wie lange wusste er nicht. Ungewissheit war etwas, das ihn auf dieser Reise konstant begleitete. Niemals wusste er, was ihn hinter der nächsten Ecke erwartete. Wenigstens die Zugfahrt nach Toronto war ohne Zwischenfälle verlaufen und hatte ihm ermöglicht, die nächsten Schritte auf der Suche nach seinen Geschwistern zu planen, und auch wie er am besten vorging, um die vermisste Julia Holloway ausfindig zu machen.

Herr, du hast mich bereits hierhergebracht. Bitte hilf mir zu vertrauen, dass du mich auch weiterhin führen wirst.

Jetzt kam ein Mann um die Ecke des Hauses, Korb und Harke in der Hand. Die Mütze hatte er tief in die Stirn gezogen, deshalb war sein Gesicht nicht zu sehen, und doch kam er Quinn bekannt vor. Als der Mann schließlich den Kopf hob und Quinn sah, stellte er den Korb ab und grinste.

„Quinn, alter Junge. Du hier!“ Jonathan Rowe eilte zu ihm, öffnete das Tor und klopfte Quinn auf die Schulter. „Und ich dachte, du würdest noch etwas länger in Halifax bleiben.“

„Das dachte ich auch. Aber dann habe ich endlich herausgefunden, wo sich die Kinder aufhalten.“

Kinder. Eigentlich war das inzwischen nicht mehr das richtige Wort für seine Geschwister. Becky würde bald achtzehn, Cecil war sechzehn und Harry zwölf – aber für Quinn waren und blieben sie Kinder. Er musste schlucken, als er an den Tag zurückdachte, an dem er in das Herrenhaus des Earls gezogen war und er sie zuletzt gesehen hatte. Der Anblick ihrer Gesichter hatte seinem Herzen einen Stich versetzt. Das Geräusch ihres Weinens – er konnte sich nicht vorstellen, wie schrecklich ängstlich sie gewesen sein mussten, als man sie nur wenige Jahre später einfach auf einem Dampfschiff in ein anderes Land geschickt hatte. Auf sich allein gestellt, umgeben von Fremden!

Mit Mühe unterdrückte Quinn den Ärger, der nur knapp unter der Oberfläche brodelte und jedes Mal in ihm aufkam, wenn er darüber nachdachte. Aber weder Jonathan noch dessen heitere Begrüßung verdienten seinen Grimm oder seinen Unmut. Also setzte Quinn wieder ein Lächeln auf. „Es tut gut, dich wiederzusehen, Jon. Wie es scheint, sind du und Emmaline hier untergekommen. Ich hoffe nur, dass es auch noch ein Zimmer für mich gibt“, sagte Quinn und bemühte sich um einen möglichst unbeschwerten Ton.

Doch Jonathan erwiderte sein Lächeln nicht. Stattdessen erfüllte ein Ausdruck von Mitleid sein Gesicht. „Ich hasse es, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein, doch leider nimmt Mrs Chamberlain nur Frauen auf.“ Dann zeigte er mit dem Kopf in Richtung Hintergarten, woher er eben gekommen war. „Ich selbst habe eine Kammer oberhalb der Garage, aber auch nur, weil sie gerade übergangsweise auf der Suche nach einem Gärtner war.“

„Oh“, entgegnete Quinn, der seinen Optimismus so schnell verloren hatte, wie sich eine Wolke vor die Sonne schieben konnte. „Ich nehme auch nicht an, dass sie mir eine andere Pension empfehlen könnte?“

„Auf der College Street gibt es eine Herberge vom CVJM. Das wäre mein nächstes Ziel gewesen, wenn Mrs C mir nicht letztlich das Gärtnern angeboten hätte.“

„Und wie weit ist die College Street von hier entfernt?“, fragte Quinn, erschöpft bis auf die Knochen. Er fühlte sich, als wäre er ewig unterwegs gewesen. An das letzte warme Abendessen oder eine wirklich erholsame Nacht konnte er sich nicht mehr wirklich erinnern.

„Das weiß ich nicht. Aber komm hoch auf die Veranda, ich sehe mal nach, ob Mrs C hier irgendwo in der Nähe ist. Du siehst aus, als könntest du ein Glas kühle Limonade vertragen“, sagte Jonathan, während er das Tor weiter öffnete und Quinn auf das Anwesen winkte.

„Das wäre wirklich freundlich. Danke“, bedankte sich Quinn und folgte seinem Freund auf die wohnliche Veranda.

Jonathan zeigte auf einen der Korbstühle. „Setz dich doch. Ich bin gleich wieder zurück.“

Nur wenige Minuten später öffnete sich die Eingangstür des Hauses und eine mollige alte Dame eilte eifrig heraus, gefolgt von Jonathan, der ein Tablett mit Getränken trug.

„Guten Tag, junger Mann. Ich bin Harriet Chamberlain und Sie müssen Mr Aspinall sein. Jonathan und Emmaline haben in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen.“

Sogleich sprang Quinn auf. „Ja, Madam. Danke. Aber nennen Sie mich gern Quinten.“

Da funkelten ihre blassgrauen Augen. „Was für ein schöner englischer Name. Ich hatte mal einen Cousin, der so hieß.“

„Sie kommen auch aus England?“, erkundigte er sich, obwohl er es bei ihrem noch leicht vorhandenen Akzent auch hätte erahnen können.

„Ja. Als junges Mädchen bin ich nach Kanada gekommen, aber das ist schon einige Monde her.“ Kurz legte sich ein Schatten über ihr Gesicht, doch dann lächelte sie wieder. „Emmaline ist gerade außer Haus. Es wird ihr leidtun, Sie verpasst zu haben.“

Jonathan reichte Quinn ein Glas und die drei setzten sich.

„Wie ich gehört habe, nehmen Sie keine Männer auf“, sagte Quinn, nachdem er mit einem großen Schluck beinahe das halbe Getränk geleert hatte.

„Leider nein. Aber die CVJM-Herberge hat angemessene Preise. Und es ist ein Haus mit gutem Ruf. Es wird Ihnen dort gut gehen.“

„Danke. Ich müsste nur noch wissen, wie ich dorthin komme. Toronto ist wirklich eine große Stadt.“

„Die gefühlt täglich größer wird“, ergänzte Mrs Chamberlain mit einem Lachen. „Wie lange werden Sie hierbleiben?“

„Das kommt ganz darauf an, wie schnell ich meine Geschwister finde“, erwiderte Quinn und legte die Stirn in Falten, während sein Blick die von Bäumen gesäumte Straße entlangwanderte. „Ich muss eines von Dr.-Barnardos Kinderheimen ausfindig machen. Das auf der Peter Street.“ Natürlich kannte er die Adressen von dem kleinen Stück Papier inzwischen auswendig.

Mrs Chamberlain horchte auf, ihr Gesicht verlor an Farbe und auf ihrer Stirn erschienen Sorgenfalten. „Das ist ein Name, den ich schon sehr lange nicht mehr gehört habe.“

„Sie kennen den Ort?“

„O ja, durchaus.“ Ihr Mund formte eine schmale Linie, die Quinns leise Hoffnungen sogleich im Keim erstickte. „Die meisten Kinder werden dorthin geschickt, wenn sie vom Schiff kommen.“

Ein Unheil verkündendes Schaudern erfüllte Quinn. „Warum klingt das, als bedeutet es nichts Gutes?“

Da sah Mrs Chamberlain zu Quinn. „Das Haus an sich ist nicht das Problem. Den Kindern geht es dort gut. Problematisch wird es meist erst da, wo man sie als Nächstes hinvermittelt.“

„Warum?“, hakte Quinn nach und stellte sein nun leeres Glas auf dem Korbtisch neben sich ab.

„Die meisten Kinder werden an Farmen aus der Gegend vermittelt, um dort zu arbeiten. Das ist kein einfaches Leben. Und leider werden viele von ihnen noch schlechter behandelt als das Vieh in den Ställen.“

„Woher wissen Sie das alles?“

Mit starrem Blick sah sie nach vorn und einen Augenblick lang dachte Quinn, sie hätte seine Frage gar nicht wahrgenommen. Aber dann wandte sie sich wieder an ihn. „Vor vielen Jahren sind meine Schwester und ich mit ebenso einem Schiff zusammen mit vielen anderen Kindern nach Kanada gekommen. Uns zwei hat man in das Mädchenheim in Peterborough gebracht.“

Sogleich erstarrte Quinn auf dem Stuhl. „Dort wurde auch meine Schwester hingeschickt.“

Sanft legte Mrs Chamberlain eine Hand auf die von Quinn. „Ich bete, dass Ihre Schwester bessere Erfahrungen macht als Annie und ich“, sagte sie und Tränen traten in ihre Augen. „Ich habe es lebend herausgeschafft. Meine Schwester traurigerweise nicht.“ Dann presste sie die Lippen zusammen und suchte in ihrer Schürzentasche nach einem Taschentuch.

„Das tut mir sehr leid“, bekundete Quinn und sein Hals schnürte sich zu. „Wie alt waren Sie damals, wenn ich fragen darf?“

„Ich war neun. Meine Schwester zwölf. Wir haben gekämpft, um nicht voneinander getrennt zu werden, aber niemand wollte zwei Mädchen auf einmal aufnehmen. Also haben sie uns auf unterschiedliche Farmen vermittelt, Hunderte Meilen voneinander entfernt.“ Sie knüllte das Taschentuch in den schwieligen Händen zusammen. „Es war schrecklich hart. Noch vor der Dämmerung mussten wir aufstehen und alle Morgenarbeit erledigen – Kühe melken, Eier einsammeln, Holz klein hacken, um damit das Feuer für den Herd anzuzünden. Aber immerhin waren die Farmer, die mich aufgenommen haben, einigermaßen anständig. Nicht wie bei Annie.“

„Man hat sie nicht gut behandelt?“ So ungern er nachfragte, so sehr fürchtete er die Antwort.

Mrs Chamberlain schüttelte den Kopf. „Zweimal ist Annie abgehauen, aber jedes Mal hat die Polizei sie wieder zurückgebracht. Es schien sie nicht zu kümmern, woher all die blauen Flecken an ihrem Körper stammten. Der Farmer hat den Polizisten erklärt, sie wäre ungehorsam gewesen und hätte die Strafe verdient. Und sein Wort hat ihnen genügt.“ Die alte Dame tupfte sich die Augen ab. „Wenn das doch bloß der schlimmste Teil gewesen wäre …“

Quinn warf Jonathan einen Blick zu, da er bisher nichts gesagt hatte. Der Ausdruck von Abscheu auf dessen Gesicht spiegelte Quinns eigene Gefühle wider. „Ist sie unter der Hand des Farmers gestorben?“, fragte Quinn leise.

„Nicht direkt, aber es ist dennoch seine Schuld. Er hat sie nicht nur schlecht behandelt, er hat sie auch geschwängert.“ Sie hielt inne. „Und dann hat Annie sich erhängt. Sie war erst fünfzehn – das war einfach alles zu viel für sie“, erklärte Mrs Chamberlain, während eine Träne ihre Wange hinunterlief. „Ich weiß, dass ich nicht viel für sie hätte tun können. Aber ich wünschte, sie hätte sich wenigstens nicht so allein gefühlt. Ohne eine andere Wahl.“

Quinn schüttelte den Kopf und die Limonade begann ihm sauer im Magen zu liegen. „Ihr Verlust tut mir schrecklich leid. Ich hoffe und bete, dass es meiner Schwester besser ergeht.“

„Das tue ich auch“, erwiderte sie und sammelte sich wieder. „Vielleicht haben sich die Bedingungen über die Jahre hinweg zum Besseren gewendet. Nichtsdestotrotz schadet es nicht, auf das Schlimmste gefasst zu sein.“

Mit einem Nicken stand Quinn auf. „Nun, ich habe bereits genug Ihrer Zeit in Anspruch genommen. Am besten mache ich mich jetzt auf die Suche nach dem CVJM, bevor es zu spät wird. Haben Sie vielen Dank für die Limonade – und den Rat.“

„Gern geschehen! Oh, Sie brauchen noch die Adresse“, sagte Mrs Chamberlain, stand ebenfalls auf und holte ein Stück Papier aus der Schürze hervor. „Die habe ich Ihnen eben schon aufgeschrieben. Genau wie die vom Red Triangle Club, der gehört auch zum CVJM, beherbergt aber vermehrt Soldaten. Er ist etwas weiter weg und war in letzter Zeit oft ausgebucht. Ich denke, die Herberge auf der College Street ist die bessere Wahl“, erklärte sie und gab ihm das Papier. „Wenn Sie dort kein Zimmer finden, lassen Sie es mich wissen. Dann werde ich Pastor Burke fragen, einen Freund, ob er nicht ein Gemeindemitglied kennt, das Sie vorübergehend bei sich aufnehmen kann. Und ich lade Sie herzlich zu unserem Gottesdienst am Sonntag in der Holy Trinity Church ein. Sehr viele aus der Gemeinde kommen ursprünglich aus England, Sie werden sich also wie zu Hause fühlen.“

„Vielen Dank, Madam. Ich behalte es im Hinterkopf.“ Mit einem Lächeln steckte er das Papier ein und spürte, wie ein wenig Anspannung von ihm abfiel, zum ersten Mal, seit er England verlassen hatte. Vielleicht war er doch nicht ganz auf sich allein gestellt auf dieser Reise.

Den ganzen Abend über nahmen Quinten und seine Geschwister Harriets Gedanken ein. Während des Abendessens mit ihren Mieterinnen gelang es ihr nur mäßig, die Unterhaltungen am Tisch mitzuverfolgen. Und nun, nachdem in der Küche und im Speisezimmer alles aufgeräumt und erledigt war, saß Harriet in ihrem Lieblingssessel, schlug ihre Bibel auf und versuchte so, die Kontrolle über ihre Gefühle zurückzugewinnen.

Und doch kehrten ihre Gedanken immer wieder zurück zu Quinten und der Suche nach seiner Familie. Umso fester umklammerte sie die Bibel mit Lederumschlag. Die Geschichte dieses jungen Mannes hatte in ihr all die Sorge und Verzweiflung ihrer Kindheit wieder aufgeweckt – Gefühle, die sie längst hinter sich gelassen zu haben glaubte. Die Angst und Einsamkeit, die damit einhergingen, die Eltern verloren zu haben und weggeschickt worden zu sein, die Trauer, von ihrer lieben Schwester getrennt worden zu sein, und schließlich der tragische Verlust von Annie.

Es war offensichtlich, dass sie sich nur vorgemacht hatte, all dies bereits verarbeitet zu haben. Sehr lange hatte sie mit Annies Selbstmord gehadert. Erst die vielen Gespräche mit unterschiedlichen Pastoren hatten über die Jahre hinweg geholfen, Verständnis für Annies Tat zu erlangen und Frieden damit zu schließen. Und obgleich sich eine Kruste über der Wunde gebildet hatte, hatte es nicht viel Kratzen gebraucht, bis sie erneut blutete.

„Ist alles in Ordnung, Harriet?“ Pastor Burkes tiefer Bariton rüttelte sie aus ihren Gedanken auf.

„Geoffrey. Ich habe dich gar nicht Klopfen gehört.“

Mit einem Lächeln betrat er die Stube. „Offensichtlich nicht. Deshalb habe ich mich selbst hereingelassen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.“

„Überhaupt nicht. Du weißt doch, du bist hier immer willkommen“, begrüßte sie ihn, legte die Bibel beiseite und stand auf. „Ich setze uns eine Kanne Tee auf.“

Doch Pastor Burke kam auf sie zu und legte eine Hand auf Harriets Schulter. „Der Tee kann warten. Wieso erzählst du mir nicht zuerst, was dir so schwer auf der Seele liegt?“, fragte er mit einem aufrichtig besorgten Blick.

„Ach, es ist nichts. Wirklich. Ich bin nur gerade eine törichte alte Frau, die sich in Erinnerungen verliert, die besser in der Vergangenheit bleiben sollten.“

Dann musterte er sie. „Und was ist geschehen, dass du so melancholisch gestimmt bist?“

Daraufhin gab Harriet ein Seufzen von sich. „Ein Freund von Jonathan und Emma kam heute hier vorbei. Geradewegs vom Schiff aus England“, sagte sie und spielte mit der Perlenkette um den Hals. „Der junge Mann ist auf der Suche nach seinen Geschwistern, die durch die Dr.-Barnardo-Organisation hierhergeschickt wurden – genau wie Annie und ich vor vielen Jahren.“

„Aha, jetzt verstehe ich“, erwiderte er und führte sie sanft in Richtung Sofa. „Und das hat natürlich all die qualvollen Erinnerungen wieder wachgerufen.“

„Ganz genau.“

„Harriet, was kann ich tun, um dir zu helfen?“

Erneut seufzte sie. „Es gibt nichts, das irgendjemand tun könnte. Es wird schon wieder vorübergehen. So wie immer.“

Geoffrey setzte sich und legte seine Hände auf die ihren. „Kannst du dir denn etwas vorstellen, das dir helfen würde, diese Tragödie ein für alle Mal hinter dir zu lassen? Etwas, das dir hilft, mit dem Thema abzuschließen?“

Getroffen zog Harriet ihre Hand weg. „Das Thema einfach hinter mir lassen? Geoffrey, niemals werde ich vergessen, was meiner Schwester geschehen ist. Und ich werde niemals aufhören, über ihren Verlust zu trauern – ganz gleich, wie sehr ich mir wünsche, mit dem Thema abzuschließen.“ Sie stand auf und ging zu dem Kamin, wo das einzige Foto von ihrer Schwester den Kaminsims zierte. Ein zartes Mädchen mit blondem Haar und großen Augen. Augen, die einst vor Freude gestrahlt hatten, bis schließlich nur noch Verzweiflung darin lag.

Auch Geoffrey hatte sich nun erhoben und trat hinter sie. „Es tut mir leid, Harriet. Ich wollte dich nicht verletzen.“

Über die unerwarteten Tränen auf ihrer Wange errötete sie, doch dann wandte sie sich zu ihrem Freund um. Er verdiente ihre scharfe Zunge nicht. „Du möchtest nur helfen, ich weiß. Wie immer“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Zudem ist das, was du sagst, auch nichts Neues. Ich habe in den letzten Jahren viel darüber nachgedacht, warum es mich so verfolgt, Annie auf diese Weise verloren zu haben.“ Harriet schüttelte den Kopf und spürte, wie Schuld und Scham sich erneut in ihr breitmachten. „Ich weiß nicht einmal, wo sie begraben liegt oder ob sie einen Grabstein hat. Sollte ich nicht wenigstens das von ihr wissen?“ Doch bei den Worten erschauderte sie unfreiwillig, denn das bedeutete, nach Hazelbrae zurückkehren zu müssen. Und das war etwas, was sie sich geschworen hatte, niemals zu tun.

„Du könntest versuchen, es herauszufinden“, sagte er und musterte sie genau, als wollte er abschätzen, ob er noch etwas sagen sollte oder nicht. „Etwas, das ich trauernden Gemeindemitgliedern häufig mit auf den Weg gebe, ist, sich etwas zu suchen, womit sie ihren Geliebten Tribut zollen können. Etwas, das sowohl dem Verstorbenen als auch dem Überlebenden bedeutsam erscheint.“ Dann hielt er inne und strich sich über das Kinn. „Was, wenn du etwas in Annies Namen tun würdest? Zum Beispiel einen Baum pflanzen oder ein Stipendium in ihrem Namen ausschreiben. Es sollte etwas sein, das dir auch etwas bedeutet.“

Harriets Hals schnürte sich zu, sodass sie nur nicken konnte. „Schon oft habe ich über eine Art Denkmal nachgedacht. Aber mir fiel nichts Passendes ein“, erklärte sie und tätschelte ihm dann den Arm. „Aber danke, Geoffrey. Genau das ist es, was ich jetzt brauche. Aufhören, an das Negative zu denken, und mich auf etwas Positives konzentrieren. Ich werde das Ganze noch einmal überdenken.“

Geoffrey sah sie lächelnd an, sodass sich kleine Fältchen um seine Augen bildeten. „Gern geschehen, meine Liebe. Das ist schließlich meine Aufgabe als Pastor.“

Kapitel 3

Dr.-Barnardos Kinderheim für Jungen sah wie ein ganz gewöhnliches Haus aus. Nichts, abgesehen von einem Schild oberhalb der Tür, wies auf seine Funktion hin. Quinn zwang seine Füße vorwärts, während sein Magen vor Aufregung rumorte. Was würde er heute über seine Brüder erfahren? Im Stillen schickte er ein Gebet gen Himmel und bat um gute Neuigkeiten.

Eine große Garderobe mit Schirmständer zierte den muffig riechenden Hausflur. Quinn ging den Korridor entlang, bis er auf eine Art Empfangsbereich stieß. Dort saß eine recht ernst dreinblickende Frau, die einige Notizen in ein großes Buch eintrug. Als sie ihn bemerkte, hob sie den Blick und musterte Quinten auffällig – vom Hut auf dem Kopf bis zu den Schuhen an seinen Füßen, die er gerade erst in seinem Zimmer im CVJM poliert hatte.

„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“

„Das hoffe ich“, erwiderte er und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. „Mein Name ist Quinten Aspinall und ich bin auf der Suche nach Informationen zu meinen zwei Brüdern. Vor etwa vier oder fünf Jahren sind sie von einem der Dr.-Barnardo-Heime in London hierhergekommen und ich würde gern herausfinden, wo sie sich nun befinden.“

Mit einem Mal verhärteten sich die Gesichtszüge der Frau. „Es tut mir leid, Sir, aber ich kann Ihnen keinerlei Informationen geben“, erklärte sie und schlug das lederne Buch vor ihr entschieden zu.

Daraufhin ging Quinn einen Schritt auf den Schreibtisch zu. „Ich verstehe ja, dass es Regeln gibt, die befolgt werden müssen. Aber sicher können Sie wenigstens direkten Verwandten Auskunft geben über den Aufenthaltsort“, bat er und holte etwas aus seiner Jackentasche hervor. „Ich kann mich auch ausweisen, falls das hilft.“

Die Frau stand auf und ihr genervter Blick zeigte in Richtung Treppe. „Ich bin nicht in der Position, Ihnen –“

„Könnte ich dann bitte mit dem Verantwortlichen für dieses Heim sprechen?“

Mit einer Hand am Blusenkragen seufzte die Frau und nickte. „Also gut, einen Moment bitte. Ich werde nachsehen, ob Mr Hobday Zeit für Sie hat“, gab sie nach und hieß Quinn auf einer Bank an der Wand warten.

„Danke sehr“, sagte er, verbeugte sich kurz und nahm auf der Bank Platz, während die Frau die Treppe hochstieg. Sobald sie nicht mehr zu sehen war, schritt Quinn auf den Schreibtisch zu und streckte sich nach dem ledernen Buch aus. Mit pochendem Herzen schlug er es auf der ersten Seite auf. Namen und Daten waren darin aufgelistet.

Eilig blätterte Quinn durch die Seiten, auf der Suche nach Einträgen von 1914, während er die Ohren nach Geräuschen von oben gespitzt hielt. Nach der Geschichte von Mrs Chamberlain und den schrecklichen Bedingungen, unter denen manche der Kinder litten, wollte Quinn es nicht riskieren, dass man ihm die Informationen über die Aufenthaltsorte seiner Brüder verwehrte. Während er blätterte, wurden seine Hände feucht. Schließlich sprang ihm ein Name ins Gesicht. Aspinall, Harrison. Alter: 7. Mr T. Wolfe in Caledon, Ontario.

Er lernte die Daten auswendig und überflog die anderen Zeilen. Auf der nächsten Seite fand er Aspinall, Cecil. Alter: 11. Mr A. Simpson in Collingwood, Ontario.

Im Kopf wiederholte Quinn die beiden Adressen mehrmals, schloss das Buch wieder und vergewisserte sich, dass es genau so lag, wie die Frau es zurückgelassen hatte. Dann setzte er sich erneut auf die Bank. Die feuchten Hände strich er auf den Oberschenkeln ab und bemühte sich, gleichmäßig zu atmen, um möglichst ruhig und kontrolliert zu wirken, wenn der Direktor kam.

Schließlich vernahm er Schritte auf der Treppe und die Frau erschien wieder, gefolgt von einem schlanken Herrn, der vermutlich um die vierzig war. Als die beiden sich ihm näherten, stand Quinn auf.

„Das ist Mr Aspinall“, stellte die Frau ihn vor, bevor sie wieder am Schreibtisch Platz nahm.

„Danke, Mrs Allen“, erwiderte der Mann und machte mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf Quinn zu. „Ich bin Mr Hobday, der Direktor dieses Heims. Am besten Sie begleiten mich in mein Büro. Dort können wir unter vier Augen sprechen.“

Mit einem Nicken folgte Quinn ihm den Gang entlang zu einem großen Raum mit langen, rechteckigen Fenstern, die nach vorne auf die Straße zeigten.

„Bitte, setzen Sie sich doch“, bot Mr Hobday ihm mit einer Geste zu einem der Stühle vor dem Schreibtisch an.

„Danke.“ Quinn nahm Platz. Während er darauf wartete, dass sich auch Mr Hobday setzte, betete er für die richtigen Worte, um den Mann von seinem Anliegen zu überzeugen.

„Wie ich höre, sind Sie auf der Suche nach Ihren Brüdern, Mr Aspinall“, begann der Direktor und verschränkte die Hände über dem Tisch.

„Das ist richtig. Es geht um Harrison und Cecil Aspinall. Sie sind 1914 hierhergekommen, als meine Mutter schwer krank geworden ist und sich nicht länger um sie kümmern konnte. Ich habe zu dieser Zeit im Krieg gedient und hatte keine Ahnung, dass meine Mutter sie ins Heim gegeben hat.“ Wie immer musste er die Bitterkeit herunterschlucken, die aufkam, wenn er an diese Handlung seiner Mutter dachte. Wieso hatte sie ihm nicht erzählt, wie schlimm die Umstände waren? Wenn er davon gewusst hätte, hätte er vielleicht helfen können, den Kriegsdienst erst später antreten können.

„Das ist eine äußerst unangenehme Situation“, begann Mr Hobday mit einem Kopfschütteln. „Nichtsdestotrotz müssen Sie verstehen, dass ihre Mutter die Vormundschaft über ihre Kinder in dem Moment abgegeben hat, als sie sie ins Dr.-Barnardo-Heim gebracht hat. Und nun befinden sich die beiden in individuellen Arbeitsverträgen, durch die sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr an ihre Arbeitgeber gebunden sind“, erklärte der Direktor und schob einen Stapel Papiere zur Seite. „Ich sage Ihnen frei heraus, dass die Farmer jede Art von Einmischung Ihrerseits nicht dulden werden. Vermutlich wird man Sie sogar mit einem Gewehr vom Anwesen jagen, sollten Sie den Versuch unternehmen, Ihre Geschwister zu besuchen.“

Bei diesen Worten ballte Quinn die Hände zu Fäusten. So wie Mr Hobday von seinen Brüdern sprach, klang es, als wären sie Gefangene, die eine Strafe abarbeiteten. In Quinn stieg ein Bild auf, wie Harry und Cecil an eisernen Ketten hingen, die sie an eine Scheunenwand fesselten. Nur mit Mühe gelang es Quinn, weiterhin ruhig zu atmen. Er konnte es sich nicht erlauben, die Fassung zu verlieren und den Mann zu verstimmen. Wenngleich er die Unterkünfte seiner Brüder bereits kannte, war er in Zukunft womöglich auf die Hilfe von Mr Hobday angewiesen. Deshalb zog Quinn es vor, den Direktor lieber auf seiner Seite zu wissen. „Ich verstehe, wie heikel diese Situation für Sie ist. Es bedarf eines besonderen Talentes, die Waage zu halten zwischen der Sorge um das Wohlergehen der Kinder und den Wünschen der Farmer, die ihre Dienste gern in Anspruch nehmen.“

Die Falten auf Mr Hobdays Stirn glätteten sich. „In der Tat. Manchmal ist es wirklich eine undankbare Aufgabe.“

„Sagen Sie, Mr Hobday, gibt es irgendeine Art von Kontrollbesuch, nachdem die Kinder einer Farm zugewiesen wurden? Um sicherzustellen, dass … beide Seiten zufrieden sind mit diesem Arrangement.“

„Ja, die gibt es“, erwiderte er und entspannte sich. Zum ersten Mal sah er Quinn direkt an. „Wir senden Aufseher, die sowohl die Kinder als auch die Farmer befragen. Glauben Sie mir, diese Aufseher nehmen ihre Arbeit sehr ernst!“

„Ich verstehe. Und wie oft kommt solch ein Kontrollbesuch vor?“

„Einmal pro Jahr.“

„Nur so selten? Es könnte also sein, dass ein Kind ein ganzes Jahr leidet, bevor jemand nach ihm sieht?“

Wieder bildeten sich Falten auf Mr Hobdays Stirn. „Sobald ein Farmer unglücklich ist mit einem der Kinder, hören wir frühzeitig davon. Das versichere ich Ihnen.“

„Zweifelsohne“, erwiderte Quinn und beugte sich vor. „Aber was, wenn ein Kind unzufrieden ist oder, schlimmer noch, schlecht behandelt wird? Welche Möglichkeiten hat es?“ Quinn kam nicht umhin, an Mrs Chamberlains Schwester zu denken. Welche Möglichkeiten hatte Annie, als sie sich in dieser unerträglichen Situation wiederfand?

Missmutig presste Mr Hobday die Lippen zusammen. „Ich bin mir sicher, dass Sie es verstehen, wenn wir uns nicht immer um die Marotten undankbarer und oftmals ungezogener Kinder kümmern können, Mr Aspinall. Am Anfang fällt es jedem Kind schwer, sich einzugewöhnen. Aber mit der Zeit kommen die meisten gut auf den Farmen zurecht und entwickeln sich zu guten Arbeitskräften.“

„Die meisten? Und was ist mit den anderen?“

„Manche laufen weg oder veranstalten so einen Wirbel, dass die Arbeitgeber sich gezwungen sehen, die Kinder zurück ins Heim zu schicken. In solchen Fällen behalten wir die Jungen zunächst eine Zeit lang hier. Um ihr Verhalten anzupassen – eine Umschulung sozusagen –, und vermitteln sie dann an eine passendere Farm.“

„Führen Sie Aufzeichnungen zu den einzelnen Kindern?“

„In der Tat“, bejahte Mr Hobday und wandte sich auf seinem Stuhl, sodass er knarzte.

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, für mich nachzusehen, ob einer meiner Brüder solch eine ‚Umschulung‘ durchlebt hat? Damit würden Sie mich ein wenig beruhigen und gleichzeitig nicht mehr preisgeben, als Sie dürfen.“

Mehrere Sekunden lang hielt Quinn dem gereizten Blick des Direktors stand, bis dieser schließlich nickte. „Also gut“, sagte er, öffnete die unterste Schublade des Schreibtisches und holte ein großes ledernes Buch hervor. Dann setzte er eine Brille auf und begann darin zu lesen. „1914 war das Jahr ihrer Ankunft, sagten Sie?“

„Das glaube ich zumindest, ja.“

Mr Hobday ließ den Finger über die mit Tinte beschriebenen Seite gleiten und suchte die Liste ab. Dann hielt er plötzlich inne. Sorgsam nahm er die Brille von der Nase und sah zu Quinn. „Wie es scheint, ist Cecil von seiner ersten Farm weggelaufen. Mehrmals sogar.“

Sogleich setzte Quinn sich aufrechter und sein Herz raste. Das war der erste konkrete Hinweis auf eines seiner Geschwister. „Ist auch hinterlegt, weshalb?“

„Anscheinend hat er sich nicht mit der Familie verstanden, bei der er gelebt hat“, erklärte der Direktor und hob entschieden den Kopf.

In dem Wissen, dass Mr Hobday ihm nicht mehr berichten würde, hielt Quinn die vielen weiteren Fragen zurück, die unweigerlich in ihm aufstiegen. Es musste sehr schlimm gewesen sein für Cecil, wenn er gleich mehrmals davongerannt war! „Und was ist dann mit Cecil geschehen? Ist er wieder hierhergekommen?“ In diesem Augenblick begriff Quinn, dass die Adresse, die er sich vorhin gemerkt hatte, womöglich nicht die richtige war, wenn Cecil die Farm gewechselt hatte.

Mr Hobday sah noch einmal in das Buch. „Ja, für einen Monat war er hier, bis er anschließend an eine andere Farm vermittelt wurde. Laut dem Bericht vom Kontrollbesuch einige Monate später hat Cecil sich dort besser eingelebt.“

Wenigstens eine gute Nachricht. Quinn spürte, wie die Anspannung von seinen Schultern abfiel. „Aber Sie werden mir nicht genau sagen, wo er nun lebt und arbeitet?“

„Nein, die Farm kann ich Ihnen nicht nennen.“ Eine lange Pause. Schließlich seufzte der Direktor laut. „Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass man ihn in den Norden geschickt hat. In einen Ort mit dem Namen Elmvale. Aber seien Sie gewarnt, Mr Aspinall, jede Art der Einmischung wird nicht geduldet. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Quinn richtete sich auf. „Absolut, Sir.“ Dann zeigte er mit dem Finger auf das Buch. „Gibt es noch weitere Einträge zu meinen Brüdern?“