Ein Pakt, ein Kuss und weiche Knie - Mary Hogan - E-Book

Ein Pakt, ein Kuss und weiche Knie E-Book

Mary Hogan

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Beschreibung

Libby hat das Warten satt. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Nadine schließt sie einen Pakt: Bis zum 15. Geburtstag wollen beide die große Liebe finden – und den einen bedeutsamen, zerschmelzenden Kuss erleben! Leichter gesagt als getan: Der coole Zack ist schon vergeben, Nadine hat plötzlich nur noch Augen für ihren großen Schwarm, und dann muss Libby mit ihrer Familie auch noch umziehen. Ans Ende der Welt! Ob dort die große Liebe auf sie wartet? Libby hat Zweifel. Bis sie Warren trifft …

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Seitenzahl: 283

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Mary Hogan

Ein Pakt, ein Kuss und weiche Knie

Aus dem Englischen von Eva Riekert

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Libby hat das Warten satt. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Nadine schließt sie einen Pakt: Bis zum 15. Geburtstag wollen beide die große Liebe finden – und den einen bedeutsamen, zerschmelzenden Kuss erleben! Leichter gesagt als getan: Der coole Zack ist schon vergeben, Nadine hat plötzlich nur noch Augen für ihren großen Schwarm, und dann muss Libby mit ihrer Familie auch noch umziehen. Ans Ende der Welt! Ob dort die große Liebe auf sie wartet? Libby hat Zweifel. Bis sie Warren trifft …

Über Mary Hogan

Mary Hogan studierte in Berkeley und ging dann als Redakteurin und Journalistin nach Los Angeles, wo ihre Artikel in zahlreichen Frauenmagazinen erschienen. Mit ihrem Umzug nach New York schrieb sie außerdem fürs Fernsehen, unter anderem eine Episode für die NBC-Comedyserie «Work it out».

 

Ihr größter Traum war es immer, Schriftstellerin zu werden. Nach einer Sachbuchreihe war «Ein Pakt, ein Kuss und weiche Knie» ihr erster Jugendroman.

Inhaltsübersicht

Für Bob Hogan,DanksagungTeil 1 Chatsworth1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelTeil 2 Barstow12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelTeil 3 Warrenville24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel

Für Bob Hogan,

der es mir möglich macht zu tun,was ich liebe

Danksagung

An erster Stelle danke ich meinen Eltern, dass sie kein bisschen so sind wie die Eltern in dieser Geschichte! Tiefe Dankbarkeit empfinde ich auch den höchst talentierten Personen gegenüber, die mir geholfen haben, das Buch entstehen zu lassen: Amanda Maciel, Laura Langlie, Deborah Jacobs und allen aus dem Scripps McDonald Center für Alkoholismus und Drogenabhängigkeit, Bill Persky, Joanna Patton, Linda Konner, Jud und Julie Hogan, Carol Gorman und Robert Hogan.

Teil 1 Chatsworth

1. Kapitel

Mein Dad trinkt zu viel, und meine Mom isst zu viel, was so ziemlich auf einen Nenner bringt, wieso ich so bin, wie ich bin: ein lebendes Nervenbündel aus Angst, der wandelnde kalte Schweiß. Vor drei Wochen, ich war gerade vierzehn geworden, stellte ich fest, dass die einzige verlässliche und solide Wahrheit in meinem Universum heißt: Es ist nicht einfach, ich zu sein.

«Eeeessen!», brüllte meine Mutter durch den Flur, wie sie jeden Abend durch den Flur brüllt, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt. Von ihrem Parfüm bekam ich sofort Kopfschmerzen. Das Knallen der Eingangstür und das Klirren ihrer Schlüssel weckten Juan-Hund. Kläff, kläff.

«Glei-eich!», rief ich zurück, bewegte mich aber kein Stück. Diese Abendessen machen mir Angst. Ehrlich gesagt versetzen mich jede Mahlzeit und fast alles Knabberzeug in Panik. Sie setzen einen Horrorfilm in mir in Gang: Angriff der Killer-Fettzellen. Dabei ist es nicht so, dass ich Essen hasse, im Gegenteil, ich liebe Essen. Ich meine, was gibt es Besseres als ofenwarmes Brot, dick mit weicher Butter bestrichen? Oder Tortilla-Chips mit extra viel Nacho-Geschmack? Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn ich nur daran denke. Aber bei meinen Genen – Moms Kleidergröße kann mit ihrem Alter mühelos mithalten, und Dad müsste sich kein bisschen ausstopfen, um den Weihnachtsmann zu spielen –, wenn ich also bei meinen Genen nicht aufpasse, auch nur einmal nicht, ist das eine Einladung an meine Fettzellen, sich aufzublasen wie Kugelfische. Ich bin auf jeden Fall dafür prädestiniert, fett zu werden. Essen in den Griff zu kriegen ist einfach zu schwer, es kann dein ganzes Leben ohne weiteres außer Kontrolle geraten lassen. Als Mom mich also zum Essen rief, überhörte ich daher meinen grummelnden Magen, presste das Telefon ans Ohr, kuschelte mich in die warme, gemütliche Kuhle im Bett und telefonierte einfach weiter mit meiner besten Freundin Nadine.

«Also, was hat er gesagt? Und – was hast du dann gesagt? Mhm. Und was hat er darauf gesagt?»

Durch die geschlossene Tür meines Zimmers konnte ich einen meiner Brüder mit seinem Gameboy spielen hören. «Krieg ihn! Hol ihn dir! Mach ihn fertig!» Ich konnte die Burger riechen, die Mom von McDonald’s mitgebracht hatte.

«Dirk!», rief Mom. «Happi-Happileiiiin!»

Mein elfjähriger Bruder Dirk ist drei Jahre jünger als ich, aber noch Lichtjahre davon entfernt, in irgendeiner Weise erwachsen zu wirken. Man kann nicht gerade behaupten, dass er zielstrebig ist. Ständig versucht er Zeit zu gewinnen, indem er «Hääh?» sagt, sich an der Nase kratzt und den Sabber hochzieht, der sich unter seiner hängenden Unterlippe angesammelt hat.

Juan-Hund, unser Chihuahua, ist fast so alt wie ich, was in Hundejahren so um die achtundneunzig bedeutet. Juan ist eindeutig überkandidelt. Wenn er sich aufregt, kläfft er so vehement, dass sein kleiner, bebender Körper manchmal regelrecht vom Boden abhebt.

«Dirk!», rief Mom. «Beweg deinen Popodingsbumsdudel!» Habe ich schon erwähnt, dass meine Mutter alle Arten von albernen Verniedlichungen an Wörter pappt? Sie denkt, dass es jung und peppig klingt. Zufällig weiß ich, dass es nur peinlich ist. Einmal, das war ungefähr vor einem Monat, hat sie Juan-Hunds Erledigung ein «Hundikackilein» genannt, und das in aller Öffentlichkeit, vor allen Leuten.

Mom hämmerte an meine Tür. «Bist du immer noch an der Strippe?» Als ob sie sich nicht schon zweimal vom Nebenanschluss in die Leitung gehängt hätte. «Das Essen steht auf dem Tisch.»

«Ich bin in einer Minute da!», sagte ich, und dann zu Nadine: «Also, was hat er gesagt?»

«Rif!», kreischte Mom. «Wo zum Teufel ist Rif?»

Was für eine dumme Frage. Rif, mein sechzehnjähriger Bruder, ist nie da. Er versteckt Zigaretten in seinen dicken blonden Locken. Wenn niemand in Riechweite ist, steckt er sich eine an, nimmt einen tiefen Zug, drückt das Ende mit zwei spuckenassen Fingern aus und steckt die Zigarette zurück ins Haar.

«Wer braucht schon Nikotinpflaster?», sind seine Worte. «Ich habe meine eigene Methode.» Was auch immer das heißen soll. Einmal, vor ungefähr einem Jahr, als er im Wohnzimmer saß und MTV guckte, fing die rechte Seite von Rifs Kopf an zu qualmen. Mom kreischte los: «Ruft die Feuerwehr!», aber Dad fragte nur: «Gibt es kein Fußballspiel im Fernsehen?»

«Jetzt aber, Elizabeth.» Mom hämmerte ein letztes Mal an meine Tür. Ich stöhnte.

«Ich muss Schluss machen, Nadine», sagte ich ins Telefon. «Mailst du mir?»

«Ja. Später.»

Ich legte auf, lockerte mein platt gedrücktes Haar und ging durch den Flur in die Küche. Rif, der nach verbranntem Haargel roch, schlich sich hinter mir rein.

«Ich heiße Libby, Mom», sagte ich und verdrehte die Augen.

«Wie auch immer», erwiderte sie und grimassierte zurück. Mom schob eine lose Strähne ihres strohigen, zu Tode gebleichten Haars zurück in das verfilzte Knäuel, das sie eine Frisur nennt. Sie zog ihren zu knapp sitzenden orangefarbenen Rock zurecht, schmierte eine neue Schicht Magenta-Lippenstift über die verblasste alte Schicht, entfernte schwarze Eyeliner-Reste aus ihren Augenwinkeln und stakste auf Pfennigabsätzen, die viel zu hoch für ihr Alter und ihr Gewicht sind, durch die Küche. Es ist nicht so, dass meine Mutter so fett wäre, dass sie beim Shoppen von allen Seiten angestarrt würde, aber sie hat auf jeden Fall schon eine Weile nicht mehr ihre Füße gesehen. Und sie hat bestimmt noch nicht bemerkt, wie wurstartig ihre Füße aussehen, wenn sie in diese fetzigen Stilettos gequetscht sind.

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass ich aus dieser Person herausgeschlüpft bin. Mein Haar ist lang, braun und glänzend. Meine Augen sind blau. Ich habe noch nie Make-up benutzt, außer man zählt ein bisschen Labello-Glanz als Lippenstift.

Mein Bruder Rif hat mein Aussehen mal als «befriedigend» eingestuft.

«Wer hat dich denn gefragt?», gab ich zurück, ohne zu verbergen, dass ich verletzt war.

«Was stimmt nicht mit einem ‹befriedigend›?», protestierte er. «Eben durchschnittlich, meine ich.»

Was noch mehr wehtat. Wer will schon durchschnittlich aussehen? Mom kam mir zu Hilfe.

«Mit ein bisschen Nachhilfe, Herzchen, könnte ich dich bestimmt glatt in ein ‹gut› verwandeln.»

Wie ich schon sagte, es ist nicht einfach, ich zu sein. Sollte dir deine eigene Mutter nicht ein «sehr gut» geben, selbst wenn du es nicht verdienst? Und wo ich schon dabei bin, sollten Eltern nicht ein gutes Vorbild sein? Nicht, dass meine Mom und mein Dad einen schlechten Einfluss haben – es ist nur so, dass die Ansprüche in unserer Familie nicht gerade hoch gesteckt sind. Ich kann mich nicht erinnern, wann meine Mutter abends das letzte Mal ein Buch zur Hand genommen oder mein Vater die Fernbedienung aus der Hand gelegt hat. Moms Vorstellung von einem perfekten Familienurlaub ist Las Vegas, hauptsächlich wegen all der billigen All-you-can-eat-Angebote. Dad träumt davon, mit mehreren Sixpacks allein zu Hause zu bleiben, während der Rest der Familie irgendwo ist, wo es keine Funkverbindung gibt. Einmal hat er tatsächlich zu mir gesagt: «Weißt du, was das Schlimmste daran ist, Kinder zu haben? Sie sind immer da.»

Natürlich habe ich das auf mich bezogen. Rif ist ja nie da und Dirk ist noch so jung, dass er nicht stört. «Wohin soll ich denn deiner Meinung nach gehen?», fragte ich meinen Vater, aber er zuckte nur mit den Schultern und stellte den Fernseher lauter.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir uns beim Aufwachsen selbst überlassen sind. Klar, unsere Eltern stellen Essen und eine Unterkunft zur Verfügung, aber das war’s praktisch schon. Mom und Dad haben selber zu viele Probleme, um sich um so dumme Angelegenheiten wie Schulnoten, Lehrerkonferenzen und Ernährungsfragen zu kümmern oder mir zu helfen, den Unterschied zwischen Maxi- und Supermaxi-Slipeinlagen herauszufinden oder ob ich vielleicht Flügelbinden brauche.

Neulich abends, als Dad und ich im Fernsehen eine Sendung sahen, in der es um die Debatte «Veranlagung contra Erziehung» ging, wurde mir etwas klar, das mich sehr beunruhigt hat. Von der Veranlagung her müsste ich süchtig werden, einen Hintern so groß wie Texas bekommen, neonfarbene Kleidung tragen und mich mit absolut scheußlichem Haar herumschlagen. Was nun die Erziehung betrifft, na ja, da beschränkt sich meine Familie meistens darauf, etwas Essbares parat zu haben. Letztes Jahr zum Beispiel, als ich traurig war, weil Nadine in den Leistungskurs Englisch aufgenommen wurde, ich aber nicht, hat Mom mir spontan ein Blech voller Brownies gebacken und mir eine Grußkarte mit dem Aufdruck Gute Besserung gebracht, die sie «Alles libe, Mom» unterschrieben hatte. In Rechtschreibung hat sie als Schülerin offensichtlich nie besonders gut aufgepasst.

An jenem Abend wurde mir unheilvoll klar, dass sich sowohl Natur als auch Erziehung gegen mich verbündet haben. Was für ein Beschiss! Ich muss gegen die Schöpfung ankämpfen, wenn ich ein normales Leben führen will.

Neben mir auf der Couch rülpste Dad, scheinbar in totaler Übereinstimmung mit der Schöpfung, vor sich hin.

Ich konnte kaum das Ende der Sendung abwarten, um eine leidenschaftliche Diskussion darüber anzufangen, wie er ein besseres Vorbild für mich werden könnte. Als dann aber der Abspann lief, schnarchte er bereits, und sein hochgerutschtes Unterhemd stellte seinen haarigen Bauch zur Schau.

An diesem Abend war ich gezwungen, mich der erschütternden Realität meines vierzehnjährigen Lebens zu stellen: Ich bin auf mich selbst gestellt. Es hängt an mir, das Leben zu führen, das ich führen will. Ich kann es genauso wenig dem Zufall überlassen, wie ich ungestraft zwei Stücke Super-Peperoni-Pizza essen und zugleich darauf hoffen kann, dass mein Körper die fünfhundertvierunddreißig Kalorien nicht bemerkt. Ich muss Herrin über mein Schicksal werden, oder ich werde ein normales Leben nie auch nur an der Oberfläche ankratzen. Ich werde nie einen festen Freund finden oder einen coolen Job bekommen oder einen Reisepass voller exotischer Stempel. Vor allen Dingen aber werde ich nie die eine Sache erleben, die ich mir am allermeisten wünsche: wahre Liebe.

Ich wusste genau, was ich tun musste. Und damit begann das ganze Fiasko.

Ursprünglich war es Nadines Idee. Oder vielleicht war es auch meine. So sind wir. Unsere Gehirne funktionieren wie die linke und die rechte Hälfte eines gemeinsamen Bewusstseins. Sie ist selbstbewusst; ich tue nur so. Aber ich kann gar nicht sagen, wie oft wir schon exakt dieselbe Idee im genau gleichen Moment ausgebrütet haben. Sodass wirklich schwer zu sagen ist, wer zuerst daran gedacht hat. Die Idee mit dem richtigen Kuss hatten wir auf jeden Fall direkt zu Beginn unseres ersten Jahres an der Highschool.

«Weißt du, was ich mir wünsche?», hatte Nadine gefragt. Wir lagen auf zwei Luftmatratzen mitten in unserem vernachlässigten Garten und bräunten unsere Beine. Wir waren Ende des Sommers vierzehn geworden und beurteilten unsere Leben mit der Weisheit, die man erreicht, wenn man erwachsen und reif wird.

Es war der erste Samstag, nachdem die Schule begonnen hatte, und ich hatte schon jetzt extreme Minderwertigkeitsgefühle. Kein Wunder, Carrie Taylor hatte mit ihrer Familie einen Monat in Griechenland auf einem Boot verbracht (sie nannte es eine Yacht) und war mit der schönsten honigbraunen Haut, die ich je gesehen habe, zurückgekommen. Ich hatte mitgekriegt, dass sie statt Selbstbräuner Olivenöl benutzte, aber meine Mutter sagte «Nix da, Schätzchen», als ich versuchte, unseres aus der Küche zu schmuggeln.

Auch meine eigene beste Freundin Nadine sah umwerfend aus. Sie war während des Sommers größer, schlanker und blonder geworden. Wir waren schon beste Freundinnen, da war sie noch klein und pummelig und hatte einen verbotenen Haarschnitt, den ihre Mutter mit einem Haargel von eBay hinfabriziert hatte, und strampelte damit auf ihrem Fahrrad durch die Nachbarschaft. Inzwischen ist Nadines langes, glattes Haar, das viel blonder als meines ist, professionell geschnitten. Wenn sie läuft, schwingt es von einer Seite zur anderen wie bei einer Hula-Tänzerin. Und sie spielt auch richtig gut Fußball. Sie ist eines dieser Mädchen, die von Natur aus sportlich wirken. In der Schule trägt Nadine cremefarbene Jogginghosen und kurze T-Shirts und sieht damit immer mühelos gut angezogen aus. Wenn ich dagegen in demselben Outfit rumlaufe, sehe ich aus, als hätte ich vergessen, meinen Schlafanzug auszuziehen. Mir gelingt es einfach nicht, sportliches Aussehen vorzutäuschen. Ich habe es probiert. Nadine hat nur gelacht.

«Vielleicht solltest du einfach bei Schwarz bleiben», meinte sie und grinste, «das reflektiert die Angst deiner Seele.»

Irgendwie ist Nadine um Existenzängste herumgekommen, genau so, wie sie sich nie mit Pickeln, vorstehenden Zähnen und anderen Teenie-Scheußlichkeiten herumschlagen musste. Sie gehört zu den Mädchen, die Gesundheit ausstrahlen und einen einfach zum Lächeln bringen, wenn man sie nur anguckt, als ob man wüsste, dass sie nett sind. Was sie auch ist.

Und ich, ich bin ewig damit beschäftigt, meinen Körper auf knapp über Durchschnitt zu trimmen.

Manchmal frage ich mich, ob Nadine und ich auch dann beste Freundinnen geworden wären, wenn wir uns nicht schon gekannt hätten, als wir Kinder waren und nur zwei Straßen voneinander entfernt wohnten. Hat unsere Verbindung vielleicht mehr mit Geographie als mit Chemie zu tun? Eines weiß ich auf jeden Fall ganz sicher – dass ich unsere Freundschaft nicht auf die Probe stellen möchte.

«Es wäre toll, wenn die NASA eine Eiscreme erfindet, die einen gewichtslos macht», sagte ich zu Nadine und tarnte meine Eifersucht mit Humor.

Nadine lachte. «Ja, das auch.» Wir griffen beide gleichzeitig nach unseren kalorienarmen Limos. «Aber du weißt doch, was ich wirklich möchte?»

Ich wusste es. Natürlich wusste ich es. Ich seufzte. «Ich auch.»

«Wär das nicht schön?»

«So schön.»

«Also, was meinst du, wie es sich anfühlt?»

Ich lag auf meiner Luftmatratze und versuchte es mir vorzustellen. Das «es», von dem wir beide redeten, war natürlich das große ES, das ES, das über alles erhaben ist: Liebe. Ich habe mir wahre Liebe schon oft vorgestellt. Sie ist voller Farben und Licht. Rosafarbene Federn, türkisblaue Bänder und goldblättrige Büschel, die in der Sonne aufblitzen. Aber sie ist gleichzeitig auch kühl wie eine Bettdecke aus Satin, wie eine Klimaanlage, die nie kaputtgeht und nicht zu teuer ist, um den ganzen Sommer über und dann auch nachts zu laufen. Liebe ist weich und sanft und wunderschön. Nicht wie unser abgenutztes altes Haus mit dem sandfarbenen Putz, das in Chatsworth/Kalifornien mitten im Zentrum der Stadt steht, wie ein dampfender Burrito, im stickigsten Viertel des hoffnungslos provinziellen San Fernando Valley. Nicht wie dieser Garten, der mal voller struppiger Stauden war und jetzt nichts anderes ist als trockene, staubige, kahle Erde.

Nein, Liebe ist ganz anders. Echte Liebe ist lebhaft und lebendig und für alle sichtbar.

«Ich glaube, Liebe fühlt sich an, wie nach Hause zu kommen», sagte ich und fügte hinzu: «Natürlich nur, wenn man da, wo man zu Hause ist, gerne ist.»

Nadine lachte wieder. Sie lachte immer über das Zeug, das ich sagte, und das gab mir ein wunderbares Gefühl.

«Ich glaube, Liebe fühlt sich an wie … wie …» Nadine unterbrach sich, sah mich an, und dann sagten wir beide gleichzeitig: «Ein wirklicher Kuss, das ist Liebe.»

«Ja!», sagte ich. «Ein richtiger Kuss. Nicht so ’ne heimliche Schlabberaktion im Schatten der Zuschauertribüne.»

«Kein dummer Kuss beim Engtanz in irgendeinem Partykeller.»

«Kein vorgetäuschter Kuss, weil irgend so ein Typ möchte, dass du denkst, er liebt dich, damit du noch mehr machst.»

«Nein, kein verlogener Kuss.»

«Auf keinen Fall.» Ich lehnte mich auf meiner Luftmatratze zurück und sagte: «Wahre Liebe fühlt sich an wie ein tiefer, seelenschmerzender, mit Leidenschaft erfüllter Kuss.»

«Ein Kuss, so intensiv, dass du danach in Ohnmacht fällst.» Nadine setzte sich auf.

«Und dann kommt die Wiederbelebung mit einem weiteren Kuss.»

«Er legt dir die Hand unter den Nacken, hebt dich hoch und küsst dich zurück ins Leben.»

«Du öffnest die Augen», sagte ich und schloss meine eigenen Augen, «und du siehst ihn, wie er dich mit so einer Hingabe anblickt, dass dein Herz aufhört zu schlagen.»

«Weil er dein Herz ist», sagte Nadine mit weicher Stimme.

«Und dein Seelenfreund.»

«Und alles dazwischen.» Wir schwiegen, tranken von unserer Limonade und fühlten, wie die kühle süß-saure Flüssigkeit unsere Kehlen hinunterrann.

«Das ist es, was ich mir wünsche», sagte ich zu meiner besten Freundin.

«Ich auch», sagte sie.

«Das ist mein Ziel für dieses Jahr.»

«Meins auch.»

Wir seufzten beide.

Nadine und ich waren beide schon geküsst worden. Ich meine, wir waren keine Kuss-Jungfrauen oder so was. Aber keiner der Küsse hatte dazu geführt, dass die Erde sich bewegte oder auch nur wackelte. Bert Zander, auch bekannt als «Fisch-Bert», hatte Nadine während eines Fußballspiels an der Junior Highschool geküsst. Er hatte sich einfach rübergelehnt und ihr einen Kuss aufgedrückt.

«Es hat sich angefühlt, als ob man ein Nadelkissen küsst», hatte sie berichtet. «Sein Bart – wenn man die Stoppeln schon so nennen kann – war total stachelig und hat gepikst.» Und es machte die Sache auch nicht besser, dass er ihren Mund überhaupt nicht getroffen hatte. Fisch-Bert erwischte Nadines Oberlippe und ihre Nasenspitze, und, ehrlich, sie war froh, als es vorbei war.

Unser Nachbarjunge Greg Minsky hatte mich einmal geküsst, aber das war viel zu sabberig und hat mich angewidert. Er versuchte es sogar ein bisschen mit der Zunge, aber ich war überhaupt nicht bereit, Greg Minskys Spucke zu schlucken, sodass ich seine Zunge praktisch einfach wieder dahin zurückschob, wo sie hingehörte. Seitdem habe ich mein Kinn immer ziemlich angedrückt gehalten und ihm keine weitere Gelegenheit gegeben. Obwohl er immer so aussieht, als würde er es gerne noch einmal probieren wollen. Immer wenn ich draußen in unserem Vorgarten bin, fährt Greg mit seinen Rollerblades unsere Straße hoch und runter und findet jedes Mal einen Grund, anzuhalten und mit mir zu reden. Ich mag ihn ja, nur nicht so. Er ist zu dünn, und sein Hintern sieht so platt aus wie ein Fahrradschlauch ohne Luft. Im Gegensatz zu mir isst er die ganze Zeit. Aber er hat einmal den Fehler begangen, mir zu erzählen, dass jede seiner Mahlzeiten einfach durch ihn durchgeht. Iiih, wie eklig.

«Genau, ich will einen richtigen Kuss», sagte ich zu Nadine. «Eine Mega-Knutsch-Session. Einen Kuss, der echte Liebe bedeutet. Das ist mein Ziel dieses Jahr.»

«Meins auch.»

Ich richtete mich auf und hielt die linke Hand hoch, während ich die rechte direkt auf meinem Herzen platzierte. Nadine tat dasselbe. Ich sagte: «Bis zu unserem fünfzehnten Geburtstag werden wir, Libby Madrigal und Nadine Tilson, mindestens einen total echten, aufrichtigen, bedeutungsvollen, gefühlvollen, poetischen, inspirierenden, die Knie erschütternden, liebestrunkenen, tagebuchfähigen, schlafraubenden, appetitzügelnden, verrückt machenden, lebensverändernden, unvergesslichen, nicht zu leugnenden richtigen Kuss erleben.»

«Nur einen?», kicherte Nadine.

«Wenn richtig ausgeführt, ist einer alles, was wir brauchen.»

«Abgemacht?»

«Abgemacht.»

Wir schüttelten uns die Hände und waren ganz aufgeregt. Der Plan war gemacht. Alles, was wir brauchten, waren zwei außergewöhnliche, gefühlvolle, richtige und küssbare Jungen. Das und den Mut, das Ganze auch wirklich durchzuziehen.

Wieso bildete ich mir eigentlich ein – ich mit meiner Angst und meinen eklatanten Defiziten im Bereich Natur contra Erziehung –, dass das ein einfaches Unterfangen sein würde?

2. Kapitel

Mein Schließfach wollte einfach nicht aufgehen. Es war einer dieser verhexten Tage. Nadine sah, wie ich mit der Faust gegen die betagte Blechtür schlug.

«Bei meiner hilft immer am besten ein Tritt», sagte sie. Ehe ich sie davon abhalten konnte, holte sie aus und traktierte mein Schließfach mit Jackie-Chan-Tritten.

«Nadine!» Ich wollte sie festhalten. «Wir kriegen bloß Ärger.»

«Wieso denn, ist doch nicht unsere Schuld, dass die Schließfächer klemmen.» Nadine versetzte der Tür noch einen Tritt. Der Schlag gegen das Metall hallte wie ein Schuss durch den Gang.

«Lasst mich mal ran.» Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein Junge namens Curtis da und stieß praktisch seinen ganzen Fuß durch meine Schließfachtür. Rummms! Der Lärm zog sofort eine Traube von Schülern an, die sich anstellten, um auch mal zu treten. Rumms! Curtis versuchte es erneut. Ich kannte ihn noch vage aus der Junior High. Er hatte sich einen Namen gemacht, als er sich weigerte, im Basketball-Team mitzuspielen, obwohl er über eins achtzig groß war. Er meinte, dass ihm der Schulsport zu viel Zeit für seine Band raubte. Die Sport-Cracks behandelten ihn daraufhin wie einen Verräter. Ich glaube, er spielte Gitarre, denn die Fingernägel seiner rechten Hand waren überlang.

Ich verkrümelte mich in das Grüppchen von Schülern und sah hilflos zu, wie meine Schranktür Dellen bekam. Außerdem hoffte ich, dass die Schülerin, mit der ich den Schrank teilte, nicht auftauchen würde. Nadine kicherte mädchenhaft, weil alle glotzten, und Curtis, der sich aus demselben Grund wie ein Macho benahm, rammte seinen riesigen, basketballgroßen Fuß ein drittes Mal in die Tür. Farbe rieselte auf den Zementboden. Aber der Schrank ging nicht auf.

«Ich brauche mein Buch eigentlich gar nicht», sagte ich mit einer Stimme, die so piepsig klang wie die eines frisch geschlüpften Spatzes.

Aber Nadine und Curtis waren inzwischen so darauf versessen, die Tür aufzukriegen, dass sie nicht aufhören konnten. Angefeuert von der Menge («Schlagt sie doch mit dem Feuerlöscher ein!»), wollten sie gerade beide ihr ganzes Körpergewicht gegen die Tür werfen, als eine Baritonstimme dröhnte: «Jetzt reicht’s aber!»

Die Schüler rannten auseinander. Ich erstarrte und suchte verzweifelt nach einer Ausrede, mit der ich meinen Eltern erklären konnte, warum ich schon im ersten Monat von der Highschool flog.

Nadine und Curtis versuchten sich mit den anderen zu verdrücken, aber der Direktor, Mr. Horner, den jeder Mr. Horny nannte, hielt die zwei fest und sagte: «Kommt mit.» Mich fragte er: «Wo hast du Unterricht?»

Ich wollte schon bekennen, dass ich gar keinen Unterricht hatte. Dass ich so idiotisch war und zuließ, dass meine Freunde das Schulinventar zerstörten. Dass ich mich oft so … so … erdrückt fühlte oder so ähnlich, dass ich am liebsten platzen würde, oder dass ich bisweilen mein Herz in der Brust hohl schlagen hörte, weil ich innerlich so leer war. Ich wollte am liebsten bekennen, dass ich ständig mit einer vibrierenden Furcht lebe, die in mir dröhnt und sich anfühlt, als ob sie genau dann, wenn ich es am wenigsten erwarte – wie jetzt –, herabstößt, um mein Leben, das ja schon furchtbar genug ist, gänzlich zu ruinieren. Dass ich aufwachen könnte und plötzlich fett bin, dass sich meine Eltern scheiden lassen, dass mir die Haare ausfallen oder dass ich endlich den Jungen küsse, der mich dahinschmelzen lässt. Und der, nachdem er den Kuss erwidert hat, bis zum Sommerball wartet, um vor der ganzen Schule zu verkünden, dass alles nur ein Riesenscherz war. Oder dass meine beste Freundin wegen meines blöden Schließfachs ins Rektorat geschleppt wird. Ich wäre fast auf die Knie gefallen und hätte Mr. Horny um Vergebung gebeten, als er erneut fragte: «Wo ist dein Klassenzimmer, junge Dame?»

Ach so.

«Gebäude C», stammelte ich.

«Dann mach dich mal auf, ehe es zum zweiten Mal klingelt.»

«Aber das war doch mein Schließfach», sagte ich. «Es klemmt.»

«Hast du dagegen getreten?»

«Ich habe mit der Hand dagegen geschlagen», sagte ich. Nadine und Curtis sahen mich beide an. «Mit der Faust, meine ich. Ich habe mit der Faust draufgetrommelt. Wie verrückt.»

«Geh in dein Klassenzimmer.» Mr. Horny wandte sich ab und nahm Curtis und Nadine mit. Ich konnte sehen, dass Nadine wütend war, denn ihre Nasenlöcher waren ganz aufgebläht. Curtis schien es egal zu sein. Auf dem Weg zum Rektorat grüßte er unbekümmert einen Nachzügler, der genau wie ich zu spät zum Unterricht kommen würde.

«Bis zur Mittagspause, Nadine?», rief ich ihr nach, aber entweder hörte sie mich nicht, oder sie wollte nicht hören.

 

Es war schlimm genug, den Hieroglyphen an der Tafel zu folgen, die Geometrie darstellen sollten, aber ohne Buch war es nahezu unmöglich. Also wirklich, warum mussten wir auch gleich im ersten Monat Rechtecke durchnehmen? «Sieh zu Ostensia ins Buch», sagte Mr. Puente, nachdem er herausgefunden hatte, dass mein Buch noch in dem verkanteten Schließfach steckte.

«Äh …» Ehe ich etwas einwenden konnte, saß mir Ostensia praktisch auf dem Schoß und hatte ihren Tisch an meinen geschoben. Ihr Knoblauchatem hüllte mich ein. Ich mochte sie und kannte sie schon aus der letzten Klasse. Aber echt, die hausgemachten Kreationen, die sie in der Schule ständig auswickelte, stanken so sehr, dass sie Vampire verscheucht hätten.

«Wir sind hier», sagte sie und deutete auf eine Stelle im Buch, «Seite zwölf, in der Mitte rechts –»

«Ich hab’s», flüsterte ich und hielt schnell wieder die Luft an.

Um ehrlich zu sein, es interessierte mich nicht im Mindesten, ein Rechteck in Dreiecke zu teilen. Und die Diagonalen eines Rhombus zu bestimmen war noch weniger spannend, vor allem jetzt, wo meine beste Freundin meinetwegen in der Patsche saß und mein Schließfach wie ein Autowrack aussah. Der einzige Grund, aus dem ich im ersten Jahr Highschool Geometrie gewählt hatte, war sowieso, dass Carrie Taylors Freund, Zack Nash, auch bei Mr. Puente Geometrie hatte. Er war der Junge, den ich zu küssen beschlossen hatte. Gut, vielleicht nicht direkt beschlossen, es sei denn, man nimmt heftiges Herzklopfen schon als Entschluss.

Zack Nash ist der Junge, den ich liebe. So, nun ist es raus. Puh! Es ist ausgesprochen. Keiner weiß was davon. Nadine nicht und nicht mal mein Tagebuch, das ich im Sommer angefangen habe, mit dem ich aber bereits im Juni stecken geblieben bin. In Zack Nash bin ich verliebt, seit ich ihn letztes Schuljahr über den Rasen meiner alten Schule gehen sah. Er hielt Carrie Taylors kleinen Finger in der Faust. Ich bin ziemlich sicher, dass Zack Nash nicht mal meinen Namen kennt. Trotzdem, ich träume davon, dass er meinen kleinen Finger ergreift und dass mich seine Lippen mit einem samtigen Kuss dorthin versetzen, wo man sich zu Hause fühlt.

«Willst du einen?» Ostensia wickelte unter dem Tisch einen Teller mit verklebten Nachos aus. Ein Geruch wie von vergammelten Pilzen stieg auf. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab. Mein Magen sagte mir, dass ich nicht hinsehen durfte. «Dann vielleicht später», flüsterte Ostensia. «Ich hab eine ganze Menge.»

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Zack Nash gequält mit der Hand vor dem Gesicht herumwedelte. Er drehte sich um und sah mich mit seinen kakaobraunen Augen an. Ich spürte, wie ein elektrischer Schlag durch mich fuhr. Ich grinste und versuchte, mädchenhaft auszusehen. Da verzog er den Mund und sagte laut genug, dass es die ganze Klasse hören konnte: «Wer hat denn da Käse aufgeschnitten?»

Natürlich platzten alle lachend heraus. «Beruhigt euch wieder», sagte Mr. Puente, aber selbst er musste lächeln. Ostensia machte ein unschuldiges Gesicht, und ich wurde puterrot. Das ist mein Fluch – schuldig auszusehen, selbst wenn ich es gar nicht bin.

«Machen wir weiter», sagte Mr. Puente.

Ich hielt den Atem an, in der Hoffnung, dass mein Blut schneller wieder aus meinem Gesicht fließen würde.

«Libby? Würdest du bitte an die Tafel kommen und ein Parallelogramm zeichnen?»

«Mr. Puente, würden Sie mir bitte den Buckel …»

Das hätte ich am liebsten gesagt. Machte ich aber natürlich nicht. Mir war sogar klar, dass dies Mr. Puentes Art war, mich davor zu bewahren, vor Zack Nash und Gott und allen gedemütigt zu werden. Aber welch ein Irrtum! Wie sollte es mich vor einer Demütigung retten, vor der ganzen Klasse zu stehen? Hatte Mr. Puente denn während all seiner Jahre, in denen er Schüler gedemütigt hatte, nicht begriffen, was für uns demütigend war? Ganz zu schweigen, dass die Geometrie meinen Kopf total durcheinander gebracht hatte. Ich war eigentlich immer eine gute Schülerin gewesen. Ich brauchte immer ungefähr eine Viertelstunde, bis ich begriff, was die Lehrer von mir erwarteten, dann weitere fünfzehn Minuten, bis ich es nachmachen konnte. Darin war ich sehr gut – das zu werden, was die anderen von mir erwarteten. Aber nicht so in Geometrie. Wenn ich nicht gerade die glatte Haut von Zack Nashs Nacken anstarrte, glotzte ich völlig begriffsstutzig an die Tafel. Geometrie, so sahen die Menschen, die nicht lesen konnten, meiner Meinung nach die Welt: in Formen und Kritzeleien, die überhaupt keinen Sinn ergaben.

«Libby?»

Ich zwang mich wieder zu atmen.

«Nein, lieber nicht, Mr. Puente», stotterte ich. Na, ich hatte es wenigstens versucht.

«Komm nach vorne, und wir probieren es zusammen.» Mr. Puente hielt mir einen Kreidestummel entgegen. Ostensia atmete aus und sagte: «Das schaffst du.»

Widerstand war zwecklos. Mr. Puente konnte stundenlang so dastehen und einen Kreidestummel in der Hand halten. Das kannte ich schon. Er gab nie auf. Also erhob ich mich. Mein Stuhl scheuerte über den Linoleumboden. Es wurde ganz still in der Klasse. Ich strich mir das Haar hinters Ohr und warf einen verstohlenen Blick auf ihn. Ja, er schaute her. Zack hatte den Kopf gehoben, seine Lippen waren leicht geöffnet, und sein hübscher Hals drehte sich mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der ich nach vorne ging, mit. Mein Herz pochte laut, meine Wangen waren noch immer knallrot, und ich war schweißgebadet. Ich konnte meine Turnschuhe auf dem Boden quietschen hören. Aber das war auch das Einzige, was ich von der Welt um mich wahrnahm. Die anderen Geräusche kamen tief aus meinem Inneren: ein Rauschen in den Ohren, Blut, das durch meine erstarrten Adern gepumpt wurde, schnelle, flache Atemzüge, die mir in der Brust brannten.

«Ein Parallelogramm», wiederholte Mr. Puente und reichte mir die Kreide. Doch ich vernahm die Worte wie ein tiefes Echo: «Paraa-lllelllooograaaamm.»

So stand ich mit dem Rücken zur Klasse da, den Arm zur Tafel erhoben, die Kreide zwischen Daumen und Zeigefinger, ganz flau vor Angst.

Einmal hatte ich im Kabelfernsehen im Spätprogramm eine Verrückte gesehen, die einen Füller über ein leeres Stück Papier hielt und den Geist von James Joyce heraufbeschwor. Ich versuchte es.

«Einstein», flüsterte ich vor mich hin. «Bist du da?»

«Was?»

Ich wandte mich Mr. Puente zu. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und fragte nochmal nach: «Was hast du gesagt, Libby?»

Was sollte ich schon sagen? Ich war geliefert. Und zwar völlig. Er hätte mich genauso gut bitten können, eine Straßenkarte von Usbekistan zu zeichnen – ich hatte keine Ahnung. Seufzend warf ich die Kreide in die Rille unter der Tafel.

«Ich habe gesagt, dass ich den Rest meines Lebens hier stehen könnte, ohne eine Ahnung zu haben, wie man ein Parallelogramm zeichnet. Und mit der Zeit würde ich nicht mal mehr eine gerade Linie hinkriegen.»

Die Klasse lachte. Ein freundliches Wir-sind-auf-deiner-Seite-Lachen. Auch Mr. Puente musste glucksen. Ich reckte die Schultern.

«Ein Außerirdischer hat wohl in den Ferien mein Gehirn entführt und mir die Fähigkeit ausgesaugt, zweidimensionale Formen zu verstehen», frotzelte ich. Mein Gesicht nahm wieder seine übliche Farbe an.

Wieder lachten sie. Kräftiger. Ich spürte, wie mich ihre Zuneigung überflutete, und ich kam mir gestärkt, etwas schwindelig und übermütig vor. Ich drehte mich zur Klasse um, zu meinem Volk, hob die Arme, schloss die Augen und rief: «Wenn unter euch einer ist, der mir helfen kann, die Grundlagen der Geometrie zu begreifen, dann helfe ich ihm oder ihr bei allen anderen Schulfächern, die es gibt!»

Die Klasse brüllte vor Lachen. Ich strahlte, blinzelte unter den Lidern hervor und sah, wie Ostensia eine nachoverschmierte Hand hob. Schnell schloss ich die Augen wieder.

«Egal, wer! Ganz egal!»

«Ich kann dir helfen.»

Das war nicht Ostensia. Es war eine männliche Stimme. Die eines Jungen. Seine Stimme.

«Mathe ist leicht», sagte Zack Nash. «Ich brauche dafür Hilfe in Englisch. Beim Aufsatzschreiben.»

Englisch? Aufsatz? Englisch mache ich gerne! Ich habe immer gute Noten gekriegt. Ich spreche Englisch! Aufsätze sind mein Ein und Alles. Ich konnte kaum glauben, dass Zack Nash vor der ganzen Klasse anbot, mir Nachhilfe zu geben. Aber da saß er und sah mich mit seinen umwerfenden Augen an, ohne eine Spur von Sarkasmus. Sein blondes Haar sah süß zerzaust aus.

«Du hast zwei Angebote, Libby», sagte Mr. Puente. «Entscheide dich und dann setz dich wieder hin, damit wir mit dem Unterricht weitermachen können.»

Ich überflog die lachenden Gesichter meiner Klassenkameraden und sah, wie mich sowohl Ostensia als auch Zack Nash anstarrten und auf meine Entscheidung warteten.

«Dann nehme ich mal Zack Nash», sagte ich. «Wieso nicht?»

Ostensia machte ein enttäuschtes Gesicht. Der Weg zurück zu unserem Zweiertisch war lang und ungemütlich. Sie sah mich nicht an. Ich kam mir schrecklich vor. Abscheulich. Wie eins von jenen Mädchen, die ihre Freundinnen in dem Moment fallen lassen, wenn ein Junge auftaucht.

Es war der glücklichste Tag meines Lebens.

3. Kapitel