Ein Sommermärchen - Karin Bucha - E-Book

Ein Sommermärchen E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. »Brennt es denn schon wieder?« Mit diesen Worten betritt Dr. Ernst Glaser das Arbeitszimmer Uwe Kirstens und geht auf dessen Rollstuhl zu. Seine strahlende Miene straft seine Worte Lügen. Er ist sehr gern gekommen, denn ihn verbindet eine jahrelange herzliche Freundschaft mit Uwe Kirsten. Auf dessen Anruf hin ist er auch sofort in die elegante Stadtvilla gefahren. »Ich möchte wissen, wie lange ich noch zu leben habe«, sagte Kirsten gelassen. Vor Schreck wirft Dr. Glaser seinen Hut in einen der Sessel und beugt sich über den Rollstuhl. »Wenn du so weitermachst, ein halbes Jahr«, erwidert er mit brutaler Offenheit, nicht um seinen Freund zu treffen, sondern um ihn aus seiner Gleichgültigkeit herauszureißen. Kirsten lehnt sich zurück und schließt die Augen. Ein halbes Jahr, denkt er. Da hört er schon Glaser lospoltern. »Weshalb stellst du überhaupt diese blödsinnige Frage, Uwe?« Er schnauft vor Empörung durch die Nase. »Du arbeitest wie ein Besessener, häufst den Mammon wie eine geizige Jungfer, und denkst nicht an deine Gesundheit. Hast du überhaupt schon etwas vom Leben gehabt? Die teuersten Spezialisten könntest du konsultieren.

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Karin Bucha Classic – 15 –

Ein Sommermärchen

Karin Bucha

»Brennt es denn schon wieder?«

Mit diesen Worten betritt Dr. Ernst Glaser das Arbeitszimmer Uwe Kirstens und geht auf dessen Rollstuhl zu. Seine strahlende Miene straft seine Worte Lügen. Er ist sehr gern gekommen, denn ihn verbindet eine jahrelange herzliche Freundschaft mit Uwe Kirsten. Auf dessen Anruf hin ist er auch sofort in die elegante Stadtvilla gefahren.

»Ich möchte wissen, wie lange ich noch zu leben habe«, sagte Kirsten gelassen.

Vor Schreck wirft Dr. Glaser seinen Hut in einen der Sessel und beugt sich über den Rollstuhl.

»Wenn du so weitermachst, ein halbes Jahr«, erwidert er mit brutaler Offenheit, nicht um seinen Freund zu treffen, sondern um ihn aus seiner Gleichgültigkeit herauszureißen.

Kirsten lehnt sich zurück und schließt die Augen. Ein halbes Jahr, denkt er. Da hört er schon Glaser lospoltern.

»Weshalb stellst du überhaupt diese blödsinnige Frage, Uwe?« Er schnauft vor Empörung durch die Nase. »Du arbeitest wie ein Besessener, häufst den Mammon wie eine geizige Jungfer, und denkst nicht an deine Gesundheit. Hast du überhaupt schon etwas vom Leben gehabt? Die teuersten Spezialisten könntest du konsultieren. Ich kann dir längst nicht mehr helfen, ich kleiner Wicht. Wenn du schon das vermaledeite Geld scheffelst, dann wende es wenigstens nutzbringend an.«

»Das werde ich auch tun«, erwidert Kirsten ruhig, der den leicht aufbrausenden Freund gut kennt. »Deshalb habe ich dich kommen lassen.«

Über das freundliche, frische Gesicht des Arztes geht ein Leuchten.

»Also bist du bereit, dich einer Operation zu unterziehen?«

Kirsten schüttelt den Kopf.

»Wer spricht denn von operieren. Ich werde mein Haus bestellen.«

»Als ob es da viel zu bestellen gäbe«, höhnt Glaser. »Kinder hast du keine, auch keine Verwandtschaft, die du beglücken könntest. Was hast du vor?«

»Ich suche mir eine Erbin.«

Dr. Glaser angelt sich einen Stuhl herbei. »Eine – was?«

»Erbin.«

»Sag mal, Uwe, bist du noch normal? Lebst du schon unnatürlich, mußt du jetzt auch noch Verrücktheiten anstellen. Woher willst du die Erbin nehmen?«

»Das will ich eben von dir wissen«, sagt Kirsten und blinzelt dem Freund zu, als gälte es, einen Streich auszuhecken.

»Iiiich?« Glasers Augen werden kugelrund. »Woher soll ich eine Erbin für dich nehmen? Du lieber Himmel, du bist völlig übergeschnappt. Laß es dir nicht einfallen, mir dein Geld zu vermachen. Ich habe selbst genug davon.«

»Weiß ich, weiß ich, mein Lieber.« Kirstens mißmutiges Gesicht hellt sich auf. Immer wirkt der Besuch Glasers erheiternd auf ihn. »Laß dir etwas Gescheites einfallen.«

Glaser schüttelt nur den Kopf und betrachtet seinen Freund mit gemischten Gefühlen.

»Verrückt, total verrückt«, murmelt er, dabei arbeiten seine Gedanken bereits nach dieser Richtung hin.

Welch ein vitaler Mann war doch Uwe vor dem unglückseligen Autounfall. Und warum ist er so bockig und jeder Vernunft unzugänglich? Er hätte bestimmt nicht nötig, im Rollstuhl zu sitzen und von da aus wie ein Herrscher auf dem Thron seine Anordnungen zu treffen.

Er seufzt tief auf. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Wenn Uwe eine Erbin sucht, dann soll er sie haben.

Er beugt sich weit vor und sieht Kirsten ernst an.

»Wie hast du dir das vorgestellt? Soll ich eine Anzeige aufgeben? Vielleicht so ›Erbin gesucht‹!«

»Natürlich nicht«, antwortet Kirsten nachdenklich. »Ich möchte wissen, ob der Mensch, dem ich alles hinterlasse, es auch verdient.«

»Du willst dir sozusagen eine Erbin auf Abruf suchen? Warum darf es kein Mann sein? Wahrscheinlich kann ein Mann mit deinen Geschäften doch besser fertig werden als eine Frau. Weißt du denn überhaupt noch, in welchen Unternehmungen du überall Geld stecken hast?«

Ein Lächeln huscht über Kirstens Züge.

»Ich glaube doch.«

Kirsten sieht an dem Freund vorbei durch das weit geöffnete Fenster. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Wohin der Blick durch das Fenster fällt, steht alles in voller Blüte.

Aus seinen Gedanken heraus erklärt er:

»Ja, warum, Ernst! Ich war selbst noch sehr jung, als mein Vater starb und mir die Verantwortung für seine Betriebe und sein Vermögen hinterließ. Frauen hat es kaum in meinem Leben gegeben, und die Liebe lernte ich nicht kennen. Die kurze Spanne Zeit, die mir noch bleibt, soll ein weibliches Wesen um mich sein. Zunächst soll dieses Mädchen auch gar nicht wissen, daß ich ein reicher Mann bin. Unbelastet soll sie täglich um mich sein, damit ich sie prüfen kann.«

»Ach so«, macht Glaser gedehnt. »Da wäre es doch am einfachsten, du würdest dir eine Krankenschwester engagieren.«

»Genau das sollst du für mich tun. Kennst du jemanden?«

Glaser überlegt kurz. »Ich kenne schon einige, aber ich würde keine davon dir auf den Hals hetzen.«

»Dann denk dir etwas aus«, drängt Kirsten.

Glaser stößt die Luft hörbar von sich. »Menschenskind, Uwe, was für eine alberne Idee. Laß dich operieren – und ich garantiere dir, du wirst wieder gesund. Du mit deinen noch nicht mal fünfzig Jahren willst resignieren? Ich alter Knabe bin fünfzehn Jahre älter als du und denke noch lange nicht ans Sterben.« Er lacht leise vor sich hin. »Nee, mein Lieber, die Radieschen besehe ich mir lieber noch ein paar Jahre von oben. Und du solltest auf mich hören –«

Abwehrend hebt Kirsten beide Hände. »Nun fang nicht wieder von vorn an. Ich kenne diesen Vers auswendig. Ich weiß, daß ich sterben muß –«

»– müssen wir alle«, brummt Glaser dazwischen.

Kirsten fährt ungerührt fort: »Laß mir diese Freude, Ernst. Sieh zu, daß du ein ordentliches Mädchen findest, nur arm muß es sein.«

»Sonst kann sie häßlich wie eine alte Unke sein, nicht wahr?«

Kirsten runzelt die Brauen. »Ich lege Wert auf innere Qualitäten. Das werde ich schnell herausgefunden haben. Natürlich darf ich nicht als der reiche Kirsten auftreten.«

»Gütiger Himmel«, stöhnt Glaser, »was denn noch? Wer in dieses Haus kommt, riecht doch förmlich den Reichtum.«

»Und wer sagt, daß ich hier bleiben will?«

»Ja, willst du das denn nicht?« fragt Glaser erstaunt.

»Nein, ich ziehe mich auf meinen Landsitz zurück –«

»Auch das noch!« Glaser schlägt die Hände zusammen. »Der ist noch feudaler als dieses Haus hier.«

»Ich denke an das Gärtnerhaus. Es ist geräumig genug dort und enthält außerdem auch allen Komfort. Es steht leer, seit ich das Ehepaar Leistner entlassen mußte. Erwin, der neue Gärtner, haust über den Ställen und fühlt sich sehr wohl dabei.«

»Dann ist ja alles in schönster Butter«, meint Glaser gemütlich. »Fehlt nur die zukünftige Erbin, die von ihrem Glück noch keine Ahnung hat.« Bedenklich verzieht er das Gesicht. »Ich weiß nicht, Uwe, die ganze Sache gefällt mir nicht. Es müßte doch schon eine ungewöhnlich gute Krankenpflegerin sein, und die sitzen im warmen Nest.«

Kirsten grübelt vor sich hin, und Glaser beobachtet ihn scharf. Nein, im Verstand ist er wirklich nicht getrübt, der gute Uwe. Und gut sieht er auch noch aus, trotz des Rollstuhles, der seine hochgewachsene Gestalt verbirgt. Fehlt nur noch, daß sich die zukünftige Erbin in ihn verliebt.

»Ich weiß etwas«, fällt Kirsten in Glasers Überlegungen ein. »Wir suchen uns ein junges Mädchen, vielleicht ein Waisenkind, und ich gebe mich als Onkel aus, der gerade erst erfahren hat, daß er eine Nichte besitzt.«

»Es wird immer verrückter«, stöhnt Glaser auf. »Wem willst du diesen Schwindel weismachen? Deinem Personal?«

»Für meine Angestellten bin ich verreist, vielleicht, um mich operieren zu lassen. Es braucht ja nicht gleich Amerika zu sein, wohin ich reise. Unseren alten Freund Ziemer müssen wir allerdings einweihen. Er ist schließlich mein Rechtsbeistand und Notar. Also –?«

»Schrecklich, Uwe, was du dir da ausgedacht hast. Wenn Ludwig Ziemer es wissen soll, muß auch Doris, seine Frau, unterrichtet werden. Von den beiden wissen wir immerhin, daß sie verschwiegen sind.«

Dr. Glaser erhebt sich ächzend. Er hat einen ganz schönen Körperumfang, aber er ist lebendig, und so fällt es nicht besonders ins Gewicht. Jedenfalls ist er ein Mann, auf den man sich verlassen kann, genau wie Dr. Ziemer, der im Gegenteil zu Glaser als lang und dünn zu bezeichnen ist.

»Du wirst mich sofort anrufen?« fragt Kirsten und streckt dem Freund die Hand entgegen.

»Das ist doch selbstverständlich. Hoffentlich rennt mir eine passende Erbin vor den Kühler –«

»Ernst«, sagt Kirsten vorwurfsvoll.

»’s ist schon gut«, beschwichtigt Glaser den Mann mit den silbrig schimmernden Schläfen im sonst schönen braunen Haar. »Ich wünsche keinem etwas Schlechtes. Leb wohl, alter Junge.«

»Auf Wiedersehen!«

*

»Ich könnte den Alten erwürgen«, stößt Mathi Turner hervor. Mit hartem Ruck schließt sie die Tür hinter sich und blickt auf ihre Freundin und Zimmergenossin Vera Friedrich. Mathis Gesicht ist tränenüberströmt. Sie läßt sich auf dem Bettrand nieder und wischt mit dem Handrücken über die nassen Wangen. Sie ist wütend wie noch nie.

»Einmal passiert es«, schluchzt sie, »daß ich den ganzen Instrumentenschrank über den Haufen werfe! Ach, man müßte dem Alten den Kram einfach vor die Füße schmeißen können! Mathi hier, Mathi da. Gehen Sie nach Zimmer sowieso. Haben Sie auch die Krankengeschichte von Frau sowieso genau notiert? Mathi hetzt hin, und Mathi hetzt her und bekommt obendrein immer noch Anschnauzer. Bis hierher steht es mir.« Mathi macht eine bezeichnende Handbewegung zum Hals hin.

Vera erhebt sich und setzt sich neben sie. Mütterlich legt sie den Arm um die drei Jahre jüngere Freundin.

»Heule nicht, Mathi. Ich weiß ja, wie der Alte sein kann. Mir ergeht es mitunter auch so. Ich könnte ihm alles vor die Füße knallen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Was nützt es, Mathi? Wir flögen im hohen Bogen. Unser Professor Eidam ist hier im Viktoria-Krankenhaus allmächtig.«

Mathi, das Mädchen mit den dichten kastanienbraunen Locken, von denen sich immer ein paar unter der weißen Haube hervorstehlen, den hellen, klaren Augen und dem rosigen Teint, ballt die Fäuste in ohnmächtiger Wut.

»Ja, leider können wir uns diese Zivilcourage nicht erlauben«, gibt sie zu. Sie erhebt sich. »Ich muß ins Chefzimmer und an den Krankenberichten weiterarbeiten. Hätte ich mir doch lieber die Füße massiert, anstatt dir etwas vorzuheulen.«

Sie geht zum Spültisch, wäscht sich Augen und Wangen und verläßt das Zimmer, ohne in den Spiegel geblickt zu haben. Nein, eitel ist Mathi Turner wirklich nicht, aber herzensgut und sehr tüchtig.

»Viel Spaß bei der Arbeit, Mathi, und schaff dir ein dickeres Fell an!« ruft Vera Friedrich hinter der Freundin her. Sie weiß nicht einmal, ob diese es noch gehört hat.

Sie steht ebenfalls auf, reckt sich und lächelt vor sich hin. Ein freier Nachmittag und Abend stehen ihr zur Verfügung. Den wird sie nach Herzenslust mit ihrem Egon ausnutzen. Vielleicht werden sie irgendwohin zum Tanz gehen?

*

Es währt eine Weile, ehe Dr. Ziemer alles begriffen hat, was ihm sein Freund Glaser auseinandergesetzt hat.

»Hm!« macht er nach einer längeren Pause. »Aber sonst hat er seine fünf Sinne wohl noch beisammen?« Womit er natürlich Uwe Kirsten meinte.

»Er ist so klar wie du und ich. Einen Spleen hat er, einen Tick! Er hat zuviel Geld und in letzter Zeit zuviel Zeit gehabt, sich in Narreteien einzuspinnen. Ihm fehlt seine Arbeit, und weil er die nach seinem Unfall im vollen Umfange nicht mehr ausführen kann, verfällt er auf solche wahnwitzigen Ideen.«

Dr. Ziemer trommelt mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte. »Und du meinst wirklich, er habe nur noch ein halbes Jahr zu leben?«

»Wie es jetzt mit ihm steht, ja. Wäre er nicht so starrsinnig, ließe er sich operieren. Aber er hört ja nicht auf mich. Er fühlt sich wohl in der Rolle des Leidenden.«

Seufzend begegnet Dr. Ziemer den besorgten Blicken Glasers.

»Aber dann gibt es doch gar keine Bedenken, Ernst. Lassen wir ihm seinen Willen, und spielen wir die Komödie mit.«

»Und woher nehmen wir die Erbin?« fragt Glaser ironisch.

»Moment mal.« Dr. Ziemer angelt sich das Telefonbuch herbei und blättert darin. Sein Zeigefinger bleibt an einer bestimmten Rufnummer haften. »Überlassen wir es dem Zufall, Ernst. Die erste beste Schwester des Viktoria-Krankenhauses, das die bestausgebildetsten Kräfte besitzt, machen wir einfach zu Kirstens Nichte. Einverstanden?«

»Meinetwegen!« Glaser hat sich darein ergeben, mitzumachen. Man kann sich ja die Auserwählte einmal ansehen, denkt er.

*

Mathi Turner schiebt das letzte Krankenblatt von sich. Ihre Augen suchen das Fenster. Sehnsucht liegt darin. Manchmal kommt sie sich wie ein gefangener Vogel vor. Sie möchte Flügel besitzen und davonfliegen.

Unwillig greift sie zu dem rasselnden Telefon.

Sie hört eine tiefe Männerstimme.

»Wer ist am Apparat?«

»Schwester Mathi«, gibt sie Antwort mit ihrer weichen, schwingenden Stimme, die so viel guten Einfluß auf die Kranken ausübt.

»Haben Sie sonst noch einen Namen?«

Mathi muß lachen. »Den habe ich, mein Herr, aber ich habe fast vergessen, daß ich Mathi Turner heiße.«

»Mathi Turner«, wiederholt die Männerstimme, und dann tritt eine kleine Pause ein, in der sich Dr. Ziemer mit seinem Freund flüsternd unterhält.

»Hallo«, ruft Mathi in den Apparat. »Sind Sie noch da? Warum rufen Sie an?«

Sie lauscht und lacht ungläubig auf. »Ich soll zu Ihnen in die Kanzlei kommen? Sie müssen sich irren. Ich bin ein Waisenkind und habe keine Angehörigen. Gut! Wenn Sie es so dringend wünschen, dann werde ich bei Ihnen vorbeikommen. Jetzt? Ausgeschlossen, mein Chef würde mich –« Sie stockt, denn sie wollte sagen ›zerreißen‹. – »Er würde mich im Augenblick nicht von hier fortlassen. Aber gegen sechs Uhr kann ich bei Ihnen vorbeikommen. Genügt das?«

»Doktor Ziemer«, murmelt sie vor sich hin, als sie den Hörer aufgelegt hat. »Nie gehört! Und einen Onkel soll ich plötzlich haben? Das kann nur ein Irrtum sein. Na, hingehen kann ich ja mal.«

Pünktlich um sechs Uhr steigt sie in der Langenstraße die Stufen zur ersten Etage empor, wo sie bereits von Dr. Ziemer und Glaser erwartet wird.

Die letzten Sonnenstrahlen verfangen sich in den kastanienfarbenen Locken Mathis und lassen goldene Lichter dar­überhin tanzen.

Mathi trägt ein blaues leichtes Kostüm. Aus dem Ausschnitt blickt der Revers einer blendendweißen Bluse. Auf dem etwas wirren Lockenhaar trägt sie keinen Hut. Schuhe und Handschuhe sind tadellos. Beide Herren stellen das auf den ersten Blick fest, sie sehen sich an, und beide scheinen dasselbe zu denken.

Wenn diese Mathi Turner so tüchtig wie hübsch ist, dann dürfte alles gutgehen.

»Bitte nehmen Sie Platz, Fräulein Turner.«

Beide Herren reichen ihr die Hand, und Glaser rückt für sie einen Sessel zurecht.

»Es handelt sich um folgendes, Fräulein Turner«, beginnt Dr. Ziemer und fährt sich rasch mit der Zunge über die Lippen. »Ihr Onkel Uwe Kirsten –«

»Mein Onkel?« wirft Mathi ungläubig ein. »Aber ich besitze doch gar keinen Onkel.«

»Das hat bis vor kurzem Uwe Kirsten auch behauptet, nämlich keine Nichte zu besitzen. Wir beide haben es aber herausgebracht. Sie sind die Tochter eines Vetters von ihm, also nicht direkt eine Nichte, wir nennen Sie aber so.«

»Komisch«, sagt Mathi und ist ganz verstört. »Und – und was will dieser Onkel von mir?«

Jetzt ergreift Dr. Glaser das Wort. Er spricht von dem schweren Autounfall Kirstens, und daß dieser sich einsam und verlassen vorkomme. Er habe sie beide beauftragt, nach einer Verwandten von ihm zu suchen, und da seien sie auf Mathis Spur gekommen. Ob sie gewillt sei, zu ihrem Onkel zu ziehen und ihm den Lebensabend verschönern zu helfen.

»Ist – ist er wirklich so sehr krank?« fragt Mathi mit Beklemmung.

Auch das setzt Dr. Glaser ihr auseinander.

»Aber warum läßt er sich nicht operieren?«

»Ja, das fragen wir uns auch –«

»Ist er vielleicht arm?« Mathis Interesse an diesem Verwandten ist erwacht, zunächst das Interesse der Krankenschwester, die jederzeit bereit ist zu helfen.

»Nun, nicht gerade arm. Aber was viel schlimmer ist, er ist unbändig stolz, sonst ließe er sich von uns helfen. Man müßte ihn schon in Narkose legen und in den Operationssaal schleppen.«

Mathi nickt verständnisvoll. O ja, sie kennt solche Patienten, die lieber sterben wollen als sich dem Messer des Chirurgen auszuliefern. Vielleicht kann sie ihn überreden?

Plötzlich lacht sie leise auf, so daß sie die beiden Herren erstaunt betrachten.

»Verzeihen Sie, daß ich lache. Es ist keine Herzlosigkeit. Aber ich habe soeben überlegt, ob ich ihn vielleicht überreden könnte. Und das kommt ja beinahe schon einer Zusage gleich, meinen Sie nicht auch?«

»Sie würden sich wohl sehr ungern vom Viktoria-Krankenhaus lösen?«

Mathi denkt an die heutige Szene, die sie bis zu Tränen der Wut getrieben hatte. Herrgott! Das ist die Erlösung von einer Arbeit, die ihr langsam zur Pein geworden ist. Dabei liebt sie ihren Beruf!

»Darf ich ehrlich zu Ihnen sein?« fragte sie vorsichtig tastend.

Beide Herren nickten.

»Ich liebe meinen Beruf, doch mein Chef ist das größte Ekel, das ich mir denken kann. Es wäre eine Wonne für mich, ihm kündigen zu können.«

Die beiden Herren atmen auf und wechseln einen Blick des Einverständnisses.

»Wann spätestens könnten Sie zu Ihrem Onkel gehen?« fragt Dr. Glaser. »Selbstverständlich fahre ich Sie selbst zu ihm. Sie müßten aber auf dem Lande leben. Macht Ihnen das etwas aus?«

Mathis Blick streift das Fenster. Auf dem Lande leben können! Sie kann es sich kaum vorstellen, da sie immer Großstadtluft geatmet und nur Sehnsucht nach dem Lande gehabt hat.

»Das wäre wunderschön«, erwiderte sie mit echter Begeisterung.

»Passen Sie auf, Fräulein Turner, oder muß ich Schwester Mathi zu Ihnen sagen?«

»Schwester Mathi ist mir vertrauter.«

»Also Schwester Mathi«, lächelt Dr. Glaser, dem das junge, offenherzige Mädchen von Minute zu Minute besser gefällt. »Sie rufen mich an und sagen mir, wann und wo ich Sie abholen darf. Natürlich wird Ihnen genügend Zeit gelassen, Ihre jetzigen Angelegenheiten in Ruhe zu ordnen.«

»Da gibt es nicht viel zu ordnen«, antwortet sie verlegen. »Ich habe niemanden, den ich um Zustimmung bitten müßte. Arm bin ich auch, viel Gepäck besitze ich also auch nicht.«

»Ach so«, Dr. Ziemer unterbricht. »Hier ist ein Scheck von Ihrem Onkel. Sie werden sicherlich Anschaffungen nötig haben. Die Schwesterntracht liebt Ihr Onkel nicht.«

Verwirrt sieht Mathi auf die Summe. »Das – das ist ja wie im Märchen«, stammelt sie fassungslos. »Noch kennt mein Onkel mich nicht, und schon gibt er so viel Geld für mich aus.«

»Er will doch auch etwas von Ihnen, Schwester Mathi«, beruhigt Dr. Glaser sie. »Er will, daß Sie täglich um ihn sind. Wie ich sehe, sind Sie noch jung –«

»Wie alt ist mein Onkel eigentlich?«

»Er wird demnächst fünfzig Jahre alt.«

»Aber das ist doch gar kein Alter.« Mathi kann das alles noch nicht fassen. »Und da will er sich nicht operieren lassen?«

»Vielleicht gelingt es Ihnen wirklich, ihn zu überzeugen.«

»Ich – ich will jedenfalls alles versuchen. Darf ich jetzt gehen?«

Als Mathi draußen im Schein der untergehenden Sonne steht, da ist ihr, als habe sie einen Traum erlebt.

Sie ist nicht allein in der Welt, sie hat einen Menschen, der zu ihr gehört, der krank ist und ihre Hilfe benötigt! Dafür darf sie auf dem Lande leben, was schon immer ihr sehnlichster Wunsch war.

Sie preßt die Hände aufs Herz und lehnt sich gegen die Hauswand. Es ist wirklich nicht zu fassen. Gleich wird sie in ihrem Zimmer im Viktoria-Krankenhaus erwachen. Professor Eidam wird nach ihr verlangen und sie herumjagen.

Als neugierige Blicke vorübergehender Passanten sie treffen, strebt sie davon, dem Viktoria-Krankenhaus zu. Schade, daß Vera heute ihren freien Tag hat. Nun muß sie bis zum Morgen warten, um ihr übervolles Herz ausschütten zu können.

Langsam geht sie durch die Straßen und besieht sich die Auslagen, was sie sonst nie tut. Sie denkt an den Scheck in ihrer Tasche. Wenn sie will, kann sie an ihrem nächsten freien Tag das Geld von der Bank holen und sich einkleiden.

Natürlich wird sie nicht alles Geld ausgeben. Es könnte zum Beispiel geschehen, daß sie dem neuen Onkel nicht sympathisch ist, dann muß sie wieder gehen.

Noch ist sie voller Skepsis. Aber bald hat sie mit dem gesunden Optimismus der Jugend die Zweifel überwunden. Was hat ihr die Vorsteherin im Waisenhaus geraten, als sie damals die Ausbildung als Lernschwester antrat? »Alles an sich herantreten lassen. Nicht vorher kapitulieren.«

Ein Blick auf ihre bescheidene Armbanduhr läßt sie zusammenfahren. Ihr Dienst! Sie hat vergessen, daß sie noch gebunden ist. Aber nicht mehr lange. Wie ein Löwe wird sie mit dem Professor kämpfen, wenn er sie nicht so schnell als möglich freigibt.

*

»Wir haben sie gefunden!«

Dr. Glaser posaunt es förmlich heraus. Uwe Kirsten, auf der Terrasse in Decken gehüllt, legt sein Buch aus der Hand und fragt etwas zerstreut:

»Wen habt ihr gefunden?«

»Nun, deine Erbin«, platzt Glaser heraus. »Deine Nichte Mathi Turner, ist fünf­undzwanzig Jahre alt, sehr hübsch und vor allem ehrlich. Dazu ist sie Waisenkind und fiel aus allen Wolken, als wir von dir, ihrem Onkel, sprachen. Wehe, wenn du diesen Onkel nicht mit Überzeugung spielst und dich am Ende noch in sie verliebst!«

Kirsten lächelt vor sich hin. »Keine Bange, mein Lieber. Mein Herz ist gefeit gegen die Liebe. Wenn sie aber nett ist, dann soll sie es nach meinem Tode gut haben und meine Dankbarkeit zu spüren bekommen.«

»Du liebäugelst mit deinem Tod wie mit einer Braut«, brummt Glaser. »Mathi Turner ist eine gute Krankenschwester, gerade das Richtige für dich. Nun, zufrieden? Das grausame Spiel kann beginnen.«

»Grausam«, wiederholt Kirsten versonnen. »Ist es grausam, wenn man einem armen Mädchen zu plötzlichem Reichtum verhelfen will?«

»Ich weiß nicht.« Glaser hebt beide Schultern. »Manche Menschen sind gar nicht so sehr verrückt auf großen Reichtum. Sie sind schon zufrieden, wenn sie gesund sind und anständig leben kön-nen –«

Er unterbricht sich, als er das Zusammenzucken Kirstens bemerkt.

»Verzeih«, entschuldigt er sich reuevoll. »Ich wollte dir nicht weh tun.«

»Schon gut, Ernst«, winkt Kirsten ab. »Ich bin jedem für Offenheit dankbar.« Und dann spricht er in sachlichem Tone weiter. »Ich werde also mit meinem Sekretär alles Notwendige besprechen. In Zukunft lasse ich die Dinge durch Ziemers Hand laufen. Ich bin für niemanden, außer natürlich für euch, zu erreichen. Meine Übersiedlung werde ich schnellstens betreiben. Der Haushalt hier wird aufgelöst. Haushälterin, Köchin und Diener nehme ich mit in das Landhaus. Ich werde sie zu strengstem Stillschweigen verpflichten. Schließlich muß das Landhaus bewohnt werden. Von dort lasse ich mir alles Nötige in mein zukünftiges Heim bringen.«

»Übrigens, Uwe«, spricht Glaser nach einer Weile. »Sie ist ein junger Mensch. Ob sie es bei dir aushalten wird?«

Kirsten lacht leicht auf. »Das wird die Zeit lehren.«

*

»Ich bin erschossen.« Vera Friedrich läßt sich rücklings auf das Bett fallen, nachdem Mathi ihr endlich berichtet hat, was sich tags zuvor ereignete.

»Jetzt kannst du wirklich dem Alten die Arbeit vor die Füße werfen. Wie schön für dich, Mathi.«

Sie springt auf und umarmt die Freundin in aufrichtiger Freude.

»Du wirst mich natürlich besuchen kommen, wenn ich mich erst eingelebt habe, nicht wahr?«

»Natürlich, Mathi.« Abermals bricht Vera in helles Gelächter aus. »Du, Mathi, das ist zum Totlachen. Wir tun, als seiest du schon bei deinem Onkel, dabei weißt du noch gar nicht, ob der Professor dich so schnell gehen läßt.«

Mathi streckt die zierlichen Glieder. »Das werden wir gleich sehen, Vera. Ich gehe direkt in die Höhle des Löwen –«

»Auf in den Kampf!« Vera lacht hinter Mathi her und kuschelt sich noch einmal in die Kissen. Noch braucht sie ihren Dienst nicht anzutreten.

*

Professor Eidam, rundlich, mit einer Glatze, die hellen Augen hinter einer dicken Hornbrille verborgen, macht mit seinem Ärztestab und der Oberschwester die Runde.

Er ist ein guter Chirurg und ein Arbeitstier und verlangt von seinen Untergebenen nicht mehr als von sich selbst. Daß er einen rauhen Ton an sich hat, ist seine Eigenart. Mathi leidet darunter mehr als alle anderen. Sie ist viel zu sensibel.

Sie schiebt den Wagen mit Medikamenten vor sich her, und, da sie so in ihre Gedanken eingesponnen ist, stößt sie Professor Eidam direkt gegen die Schienbeine.

Zu Tode erschrocken sieht sie zu ihm auf.

»Himmelherrgott«, donnert Eidam los. »Können Sie sich keinen besseren Weg aussuchen als ausgerechnet meine Schienbeine! Oder träumen Sie am helllichten Tage?«

Mit zitternden Händen ordnet Mathi die durcheinandergewirbelten Gegenstände auf dem Wagen.

»Ich – ich wollte den Herrn Professor bitten, mit eine kurze Unterredung zu gewähren«, stammelt sie. Nichts von Löwenmut ist ihr mehr anzumerken.

Professor Eidam blickt um sich und sieht lauter grinsende Gesichter. Dann schaut er Mathi fest an.

»Eine merkwürdige Art, sich bei mir anzumelden, Schwester. Also, dann kommen Sie nach der Visite in mein Zimmer.«

»Danke!« haucht Mathi und rollt ihren Wagen den Gang entlang.

Du lieber Gott, denkt sie verzweifelt, erst ans Schienbein fahren und dann um vorzeitige Entlassung bitten.

Trotzig schiebt sie die Unterlippe vor. Wenn sie sich so duselig anstellt, wird er sie von sich aus wegschicken.

Geknickt klopft sie später an die Tür zu Eidams Zimmer und betritt es nach seinem »Herein«.

Er betrachtet gerade eingehend ein Röntgenbild, als er aber Mathi bemerkt, legt er es auf die Tischplatte zurück.

»Sie wollten mich sprechen?«

»Ja, Herr Professor, ich wollte Sie um meine Entlassung bitten.«

»Um – was, bitte?« wiederholt er langgezogen.

»Ich sagte es schon.« Mathi denkt an ihren neuen Onkel und strafft sich. »Ich bitte um meine Entlassung.«

Er schlägt die Hände zusammen.

»Um Himmels willen, warum denn? Wollen Sie heiraten?«

»Nein, ich will meinen Onkel pflegen.«

Er blickt sie durchdringend an. »Ich denke, Sie haben keine Angehörigen?«

»Das habe ich auch bis vor kurzem gedacht. Aber es lebt doch ein Onkel von mir, und der braucht mich.«

»Hören Sie mal, Schwester Mathi«, er legt ihr beide Hände auf die Schulter, »Sie werden doch nicht etwa einem Schwindler in die Hände gefallen sein?« Er spricht in einem Ton zu ihr, wie sie ihn von ihm nur seinen Patienten gegenüber gehört hat, väterlich und wohlwollend. »Sie sind eine meiner besten Schwestern. Ja doch, es stimmt, Sie brauchen nicht ein so abweisendes Gesicht zu machen. Ich weiß, ich bin ein altes Rauhbein, und Sie sind ein zartbesaitetes Wesen, aber trotzdem tüchtig. Ich gebe Sie ungern her.«

Mathi hat mit hartem Widerstand gerechnet, den sie mit Gewalt brechen wollte. Nun spielt sich die Szene ganz anders ab, als erwartet. Diesem Ton gegen­über ist sie hilflos.

»Wann wollen Sie denn gehen?«