Ein Toter auf Smögen - Anna Ihrén - E-Book
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Ein Toter auf Smögen E-Book

Anna Ihrén

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Beschreibung

Urlaubsstimmung an der schwedischen Westküste – doch Mörder machen keine Ferien

Charles Blake, der Sohn von Smögens allseits bekanntem Heringsbaron James Blake, wird tot im kürzlich renovierten Lotsenausguck aufgefunden. Er scheint sich selbst erhängt zu haben. Doch warum? Charles hat erst kürzlich ein immenses Vermögen von seinem verstorbenen Vater geerbt und lebte ein zurückgezogenes Leben – so wie die gesamte Blake-Familie. Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson glauben nicht an einen Suizid und ermitteln im Milieu der reichen Kaufmannsfamilien Smögens. Das abgeschiedene Leben der Familie erschwert ihre Arbeit – und dann verschwindet auch noch das jüngste Familienmitglied, die sechsjährige Belle. Wer hat es auf die Blakes abgesehen?

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Seitenzahl: 327

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Zum Buch

Die Familie Blake hat es im Lauf der Jahrzehnte durch den Handel mit Heringen zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Sie residieren in einer herrschaftlichen Villa am Kai, und ihr Butler, der – obwohl des Schwedischen mächtig – nur Englisch spricht, ist nur eines von vielen teilweise skurrilen Statussymbolen der Blakes. Als der Patriarch stirbt, ist Charles Blake schlagartig ein reicher Mann, der kurz danach jedoch tot aufgefunden wird. Was geschieht hinter den Mauern des Familiensitzes? Welche Rivalitäten spielen sich ab, was für Affären werden vertuscht? Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson ermitteln in der Welt der oberen Zehntausend und stoßen auf ein dunkles Geheimnis.

Zur Autorin

Anna Ihrén wurde in Stockholm geboren und hat sich bereits als Kind in Schwedens zerklüftete Westküste verliebt. Als sie mit ihren Eltern nach Göteborg umzog, war sie fasziniert von den Abenteuergeschichten der Seefahrer, und ihr Wunsch, selbst Geschichten zu schreiben, nahm Gestalt an. Zu Beginn ihrer Schriftstellerkarriere verkaufte sie ihre Bücher noch selbst bei Fischauktionen, am Kai von Smögen und überall dort, wo Menschen ihren Urlaub verbrachten. »Ein Toter auf Smögen« ist ihr dritter Roman in der Reihe um Dennis Wilhelmson.

Lieferbare Titel

Mord in den Schären Tod eines Eisfischers

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem TitelSillbaronen bei MiMa, Stockholm. © Anna Ihrén 2016 by Agreement with Enberg Agency Deutsche Erstausgabe © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung: bartsadowski, VectorDIY; / Shutterstock Coverabbildung: zero-media.net E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950638

www.harpercollins.de

Dank

Danke!

Meinen Lieblingen Dan-Robert, Tim & Bella

Stammbaum

Prolog

Auf dem Steinfußboden des Korridors näherten sich Schritte. Wenn er sich nicht versteckte, würde der Besenstiel seine bereits mit blauen Flecken übersäten Beine treffen. Er fuhr mit der Hand über sein Gesäß und die Rückseite seiner Oberschenkel. Die Hiebe des Rohrstocks hatten tiefe Striemen hinterlassen. Er horchte. Spannte den Körper an. Es gab keinen Ausweg. Tränen schossen ihm in die Augen. Wie Hyänen in der Savanne würden die älteren Schüler den Geruch seines geschundenen Körpers wittern und an den Betten der anderen Erstklässler im Schlafsaal achtlos vorbeigehen. Jetzt war er an der Reihe. Heute war sein siebter Geburtstag. Doch das wusste hier niemand. Er sehnte sich nach der liebevollen Umarmung seiner Mutter.

1

Mary Blake lehnte sich über das Balkongeländer. Nicht weit, nur gerade so weit, dass sie auf den Kai hinunterspähen konnte, ohne gesehen zu werden. Als sie vor vielen Jahren in die Kaufmannsvilla an der Hafeneinfahrt von Smögen eingezogen war, hatte noch das Haus der Perssons, in dem sich inzwischen das Café Skäret befand, den blakeschen Familiensitz verdeckt. Doch irgendwann gegen Ende der Fünfzigerjahre, das genaue Jahr wusste sie nicht mehr, hatte man das Haus im Zuge der Bauarbeiten am neuen Smögen-Kai kurzerhand von seinem Standort auf der vorgelagerten Schäreninsel an Land versetzt. Frau Persson und ihre Tochter waren an jenem Vormittag einfach auf der Veranda sitzen geblieben und hatten wie üblich ihren Elf-Uhr-Kaffee getrunken.

Die Blakes hatten das Geschehen mit zurückhaltender Genugtuung verfolgt. Nach der Verlagerung des Hauses nahm ihre Villa endlich den ihr zustehenden Platz ein. Schließlich war sie das schönste und vornehmste Gebäude am ganzen Kai.

Verstohlen winkte Mary ihrem Urenkel Hugo zu, der auf einem der Pontonstege stand und die Teilnehmer seiner morgendlichen Speedboot-Tour verabschiedete. Genau wie sein Vater, Großvater, Urgroßvater – ihr Mann – und dessen Vater, der mächtige Smögener Heringsbaron, war er eine echte Unternehmerpersönlichkeit. Ein Lächeln glitt über ihre Lippen. Mittlerweile war Hugo der Einzige, der ihr Gesicht zum Leuchten brachte.

Obwohl ihr Urenkel geschäftstüchtig, erfinderisch und ein Charmeur allererster Güte war, benahm er sich noch immer wie ein tollpatschiger Welpe. Ein Welpe, der auf seine sportliche, athletische Art Geld verdiente. Noch dazu mit einem Konzept, das ihm einen Heidenspaß machte: in RIB-Speedbooten mit bis zu sechzig Knoten zwischen den Schären der schwedischen Westküste über die Wellen zu fliegen.

Als Hugo sie im Frühjahr um Geld gebeten hatte, um seinen Traum zu verwirklichen, hatte sie ihn an seinen Urgroßvater James junior verwiesen. Doch nach dem Gespräch war er wie ein geprügelter Hund angeschlichen gekommen. James hatte ihm ein kategorisches Nein erteilt.

Das hätte das Aus für Hugos Geschäftsidee bedeutet, wenn James nicht in der Nacht zu Mittsommer gestorben wäre. Er war ruhig und friedlich eingeschlafen, die Mitarbeiterin des ambulanten Pflegedienstes hatte ihn morgens tot im Bett gefunden. Und obwohl die Ordnung des Nachlasses ihre Zeit beanspruchte, hatte sie Hugo bereits am Montag eine stattliche Summe von ihren eigenen Ersparnissen überwiesen. Denn James hatte Hugos Bitte nicht aus Geldmangel ausgeschlagen, sondern weil er die Macht nicht aus den Händen hatte geben wollen – das kleine bisschen Macht, das ihm noch geblieben war, seit ihn sein höhenverstellbares Pflegebett zu einem Gefangenen gemacht hatte.

Mary hatte schnell gelernt, dass von ihr erwartet wurde, sich ihrem Mann unterzuordnen. James hatte ihr gegenüber nie die Stimme erhoben. Sie nie geschlagen. Er hatte ihr auf andere Art zu verstehen gegeben, dass sein Wort Gesetz war. Ein Gesetz, dem sie sich besser fügte.

Aber Hugos Traum hatte jetzt verwirklicht werden müssen, in diesem Sommer. Ihr Enkel lebte ausschließlich im Hier und Jetzt. Und vielleicht hatte er deshalb seine Schulzeit in dem englischen Elite-Internat erstaunlich gut überstanden. Die Lebensfreude und der Abenteuergeist, die er ausstrahlte, schützten ihn. Als er nach Abschluss seines Studiums im Frühjahr nach Smögen zurückgekehrt war, hatte er nichts von seiner Unbeschwertheit eingebüßt.

Hugos Feuereifer erinnerte Mary daran, wie sie selbst in seinem Alter gewesen war. Doch das isolierte Leben in der Kaufmannsvilla hatte ihren inneren Antrieb erstickt. Ihren Willen, sich zu entwickeln, etwas zu erschaffen und zum großen Ganzen beizutragen. Am Ende war nur ihr Aussehen von Bedeutung geblieben, diese Fassade hielt sie eisern aufrecht. Jeden Morgen um acht kam ihre Friseurin Madeleine und machte ihr Haar und Make-up, damit sie pünktlich zum Frühstück umwerfend aussah. Und davor verließ sie auf gar keinen Fall ihre Privaträume.

Marys Blick wanderte zu Hugo zurück, der eine neue Touristengruppe an Bord begrüßte. Sie lenkte ihren Rollstuhl ins Haus. Hugo zuzuwinken, verschönerte ihr den Vormittag, und das hatte sie nun getan.

Sandra stand mit einem Ruck auf und ging in die Rezeption des Kungshamner Polizeireviers, um die Kollegin zu begrüßen, die sie als Urlaubsvertretung unterstützen sollte. Sandras eigener Urlaub begann im August. Helene, deren Mann als Hausmeister bei der Gemeinde arbeitete und nur während der regulären Betriebsferien Urlaub nehmen konnte, wenn die Schulen geschlossen waren, hatte den Juli bekommen. Sandra war das ganz recht: Erstens wartete sie gern, bis die Meerestemperatur die Zwanzig-Grad-Marke geknackt hatte, und zweitens war sie Single. Seit der SMS an Heiligabend herrschte zwischen Rickard und ihr Funkstille. Das Letzte, was sie gehört hatte, war, dass er die Stelle beim Göteborger Sondereinsatzkommando bekommen hatte und jetzt unter Cleuda, Dennis’ Ex, arbeitete.

Die junge Kollegin an der Rezeption gab ihr die Hand.

»Nathalie Colette«, stellte sie sich vor.

»Sandra Haraldsson«, erwiderte Sandra und führte Nathalie in den Besprechungsraum, wo Dennis auf einem der gelben Stühle saß und in Unterlagen blätterte, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Als Sandra und Nathalie hereinkamen, stand er auf und begrüßte ihren Neuzugang.

»Mach es dir bequem«, sagte er und forderte Nathalie mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Nathalie nahm Platz und stellte eine rote Yves-Saint-Laurent-Tasche auf den Nachbarstuhl, die perfekt auf den Rotton ihrer Lederjacke und ihres Nagellacks abgestimmt war.

»Habe ich ein eigenes Büro?«, erkundigte sie sich.

»Donnerstags zwischen zwölf und fünfzehn Uhr vertrittst du Helene am Empfang. An den übrigen Tagen ist unsere Rezeption geschlossen«, erwiderte Dennis. »Dann unterstützt du uns bei laufenden Ermittlungen und allen anfallenden Tätigkeiten. Du bekommst Helenes Büro.«

»An welchen Fällen arbeitet ihr gerade?«

Dennis warf Sandra, die ihre Urlaubsvertretung mit den rot lackierten Fingernägeln unverhohlen musterte, einen Blick zu.

»Im Moment haben wir keine größeren Fälle«, antwortete er. »Aber in den nächsten Wochen werden sicher viele kleinere Delikte anfallen, du wirst also gut zu tun haben.«

»Wer weist mir meine Aufgaben zu?«

»Ich bin dein Vorgesetzter, aber Sandra wird dich täglich mit Aufgaben versorgen. Mir meldest du gröbere Verstöße oder Angelegenheiten, die besondere Überwachung erfordern.«

»Besondere Überwachung?«, hakte Nathalie nach.

»Die Wahrscheinlichkeit ist eher gering«, warf Sandra ein. »Komm, ich mache einen Rundgang mit dir. Kungshamn ist ein kleines Revier, aber ich stelle dir die Kollegen der anderen Blaulichtorganisationen vor, mit denen wir uns die Räumlichkeiten teilen.«

»Gibt es hier in der Nähe ein Restaurant, in dem ihr Mittagspause macht?«

»Nein, wir holen uns etwas beim Imbiss oder nehmen von zu Hause eine Lunchbox mit.«

»Können wir an meinem ersten Tag zusammen Mittag essen?« Nathalie lächelte Dennis an.

Sandra unterdrückte einen Seufzer und starrte auf die Tischplatte.

»Hm, ja klar. Gute Idee. Wir fragen Stig, ob er auch Zeit hat«, erwiderte Dennis.

In diesem Moment stürzte Stig Stoltz mit hochrotem Gesicht in den Besprechungsraum.

»Wenn man vom Teufel spricht«, bemerkte Sandra.

»Im Smögener Lotsenausguck wurde eine männliche Leiche gefunden!«, keuchte Stig.

»Von wem?«, fragte Dennis bestürzt.

»Von Erling vom Heimatverein. Er wollte den Ausguck für eine Führung vorbereiten. Eine Touristengruppe hat sich angemeldet. Sie interessieren sich für die historische Bedeutung der Schifffahrt vor der Küste von Bohuslän.«

»Weiß man, wer der Tote ist?«, fragte Sandra ungeduldig, die schon halb aus der Tür war.

»Challs!« Betrübt schüttelte Stig seine Pausbacken.

»Challs?«, wiederholte Sandra stirnrunzelnd.

»Charles Blake. Der Enkel des Smögener Heringsbarons.«

»Wie alt war er?«, erkundigte sich Nathalie.

»Das werden wir sehen«, erwiderte Sandra ungeduldig. »Du kannst mit mir mitkommen. Stig, ist der Notarzt schon informiert?«

Dennis stand am Fenster und blickte Sandra und Nathalie nach, die mit Blaulicht vom Hof rauschten. Diese Zusammenarbeit konnte funktionieren oder schiefgehen. Entweder würden die beiden ein Dreamteam bilden oder wie Hund und Katz aneinandergeraten. Er tippte eher auf Letzteres. Aber vielleicht sollte er nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Sandra hatte im letzten Jahr eine enorme Entwicklung durchgemacht. Sie war besonnener geworden und hatte gelernt, ihre scharfe Zunge zu zügeln. Und über Nathalie, die aus der Göteborger Cold-Case-Gruppe zu ihnen stieß, hatte er nichts als Lobeshymnen gehört. Bis zum Frühjahr hatte diese »Gruppe« aus einem einzigen Mitarbeiter bestanden, doch dann hatte Göteborgs Polizeichefin Camilla Stålberg Nathalie Colette als Verstärkung hinzugezogen. Aber während der Urlaubszeit schien Camilla offenbar der Meinung zu sein, dass die kalten Fälle vorerst auf Eis liegen bleiben konnten.

Wenn Sandra Nathalie akzeptierte, würden sie diesen Sommer gut meistern. Hoffentlich stellte der Arzt bei Charles Blake eine natürliche Todesursache fest. Blake musste um die siebzig sein. Vermutlich hatte er einen Herzinfarkt erlitten, nachdem er die steile Leiter zum Lotsenausguck hinaufgeklettert war. Sandra würde bestimmt gleich anrufen und ihm einen ersten Lagebericht durchgeben.

Dennis schlug Nathalies Personalakte auf. Er hatte sich überhaupt noch nicht weiter mit der neuen Kollegin befasst, zumal Camillas Entscheidung ohnehin festgestanden hatte. Doch die Begegnung mit Nathalie machte ihn neugierig. Als sie bei der Cold-Case-Gruppe angefangen hatte, war er bereits Dienststellenleiter in Kungshamn gewesen, ihre Wege hatten sich nie direkt gekreuzt. Vor ihrer Versetzung zur Cold-Case-Einheit hatte Nathalie als Ermittlerin bei der Bezirkskripo gearbeitet. Dennis konnte nicht beurteilen, ob sie mit der Versetzung aus der regulären Mordkommission zur Cold-Case-Einheit auf der Karriereleiter nach oben oder nach unten geklettert war. Er sah vor sich, wie sie ihre teure Handtasche mit ihren manikürten, rot lackierten Fingernägeln öffnete. Das war nicht gerade das übliche Erscheinungsbild der Göteborger Ermittlerinnen. Er hatte selbst drei Jahre bei der Göteborger Kripo gearbeitet, und Modepüppchen war er dort nicht begegnet. Aber das lag inzwischen fast fünf Jahre zurück, und seitdem hatte sich innerhalb der Polizei einiges getan.

Sein Handy klingelte. Sandra.

»Hirnblutung oder Herzinfarkt?«, fragte er.

»Ich muss dich leider enttäuschen«, erwiderte Sandra am anderen Ende.

Der Smögener Lotsenausguck lag, seinerzeit optimal platziert, auf den Klippen an der Westseite der Insel mit freier Sicht nach Süden, Westen und Norden. Von 1899 bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts hatten Lotsen dort trocken und windgeschützt ihre Arbeit verrichtet. In den auf einem hohen Holzgerüst errichteten Ausguck gelangte man über eine steile Leiter. Hatten die Lotsen ein in Seenot geratenes Schiff erspäht, waren sie zuerst die Leiter und anschließend die in die Klippen gebaute grüne Lotsentreppe zum Smögener Hafen hinuntergestiegen, wo das Lotsenboot am Steg vertäut auf sie gewartet hatte.

Nathalie und Sandra erklommen die frisch lackierte Leiter in sportlichem Tempo. Erling und Walter vom Smögener Heimatverein standen in eine Unterhaltung vertieft vor dem geöffneten Fenster, durch das die Lotsen früher nach Schiffen Ausschau gehalten hatten. Unter Einsatz ihres eigenen Lebens hatten sie von Smögen aus jahrhundertelang schiffbrüchige Seeleute gerettet. Doch als die Lotsenboote mit fortschreitender Technik PS-stärker wurden, war der Standort der Lotsenwache nach Lysekil verlegt worden. Der alte Lotsenausguck war im Frühjahr erst frisch renoviert worden, die Holzdielen in dem kleinen Gebäude glänzten, Wände und Decke erstrahlten in frischem Weiß.

Nur ein einziges Detail störte den Frieden des historisch bedeutsamen Bauwerks: Der Mann, der auf den blank gebohnerten Dielenbrettern lag, war tot. Darauf achtend, weder die Leiche noch etwas anderes am Fundort zu berühren, nahm Nathalie den Mann in Augenschein.

»Hat er hier gehangen?« Sandra deutete auf einen Haken an der Decke.

»Ja«, bestätigte Erling und rang die Hände. »Wir haben das Seil durchgeschnitten und ihn heruntergeholt, weil wir nicht sicher waren, ob er tot war.«

Sandra schwieg. Natürlich wäre es besser gewesen, Erling und Walter hätten die Leiche gar nicht erst angefasst, aber an ihrer Stelle hätte sie dasselbe getan.

»Der Notarzt ist unterwegs. Bis dahin würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen – wenn es Ihnen recht ist«, fügte sie hinzu und sah aus dem Augenwinkel zu Nathalie hinüber, die unverändert über die Leiche gebeugt dahockte.

»Natürlich«, erwiderte Walter, nachdem er Erling einen Blick zugeworfen hatte.

»Wie gut kannten Sie Charles Blake?«

»Na ja, so wie man sich eben kennt, wenn man auf einer kleinen Insel lebt.«

»Aber privat hatten sie keinen Kontakt?«

Die beiden Männer, die viele Jahre lang selbst als Lotsen gearbeitet hatten, schienen Sandras Frage nicht recht zu verstehen.

»In die Kaufmannsvilla wird man nicht unbedingt zum Kaffeekränzchen eingeladen«, sagte Erling schließlich, und Sandra sah ein, dass sie sich mit dieser Antwort begnügen musste.

»Kennen Sie Charles’ Frau? Ich glaube, sie heißt Catherine?«

Erling und Walter nickten.

»Sie wird Kate genannt«, erläuterte Walter. »Aber die arme Mary … Charles’ Mutter … sie hat erst vor ein paar Tagen ihren Mann verloren. Er ist an Mittsommer gestorben.«

»James war immerhin fünfundneunzig Jahre alt. Er hatte ein langes Leben«, sagte Erling.

»Und wie sein Sohn war auch er kein Kind von Traurigkeit«, fügte Walter hinzu, doch ein Blick von Erling ließ ihn verstummen.

»Sie können jetzt gehen«, sagte Sandra. »Wir melden uns bei Ihnen, falls wir noch weitere Fragen haben. Bitte sprechen Sie mit niemandem über den Leichenfund. Von jetzt an unterliegen Sie in dieser Angelegenheit der Schweigepflicht.«

Die Männer nickten und stiegen erstaunlich gewandt die Leiter hinunter. Sandra blickte ihnen nach, als sie in Richtung Marktplatz davongingen.

Mary Blake schluckte hart. Ein Kloß von der Größe eines Golfballs saß ihr im Hals.

»Mein Sohn soll Selbstmord begangen haben?«, fragte sie steif.

Kate nahm ihr das Telefon aus der Hand.

»Hier ist Kate Blake, Charles’ Ehefrau.«

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihren Mann tot aufgefunden haben«, sagte Dennis mit der Stimme, die er immer benutzte, wenn er eine Todesnachricht überbrachte.

»Wo?«

»Im Smögener Lotsenausguck.«

»Was ist passiert?«

»Ist es Ihnen recht, wenn ich zu Ihnen nach Hause komme?«

»Ja«, stimmte Kate zögernd zu.

»Ich mache mich gleich auf den Weg.«

Sie legten auf. Dennis blieb mit dem Telefon in der Hand stehen. Eine Todesnachricht zu überbringen, war nie angenehm, und die Reaktionen auf eine solche Mitteilung fielen völlig unterschiedlich aus. Doch diese Unsicherheit, wie sie eben in Kate Blakes Stimme mitgeschwungen hatte, war ihm noch nie begegnet. Als er über die Smögenbron fuhr, rief er Sandra an.

»Wir treffen uns in einer Viertelstunde an der Villa der Blakes. Vor dem Hintereingang, nicht vorn am Kai.«

Im Lotsenausguck war es heiß wie in einem Backofen. Das Häuschen war winzig, und im Sommer brannte die Sonne unbarmherzig aufs Dach.

»Was machst du denn hier?«, fragte Sandra erstaunt.

Miriam Morten bat Nathalie, zur Seite zu treten, damit sie und ihr Assistent die Leiche begutachten konnte. Jesper Korp war neu in der Rechtsmedizin von Uddevalla und arbeitete noch unter ihrer Aufsicht.

»Ihr habt mich doch angefordert«, erwiderte Miriam.

»Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir es vielleicht gar nicht mit einem Selbstmord zu tun haben«, erklärte Nathalie.

»Gefühl?«

Sandra sah Nathalie wütend an. Sie hatte Stig gebeten, den Notarzt zu informieren, aber Nathalie hatte über ihren Kopf hinweg einfach die Rechtsmedizin hinzugezogen.

»Na ja, ich dachte …«

»Was?« Sandra konnte ihre Wut nicht verbergen.

Nathalie wandte sich an Miriam.

»In der Dagens Industri stand vor ein paar Tagen ein Interview mit Charles Blake. Er hat nach dem Tod seines Vaters das Familienvermögen geerbt und wurde gefragt, wie er die Interessen der Familie in Zukunft verwalten wolle. Dabei ist er auf die Firmengeschichte eingegangen und erzählte, wie der alte Heringsbaron das Unternehmen Anfang des 20. Jahrhunderts aufbaute. Das Interview hat mich interessiert, weil ich gerade erfahren hatte, dass ich als Urlaubsvertretung hier in Sotenäs einspringen sollte.«

»Und was wurde über das Vermögen gesagt?«, fragte Sandra skeptisch. »Warum sollte die Erbschaft Charles Blake von einem Selbstmord abhalten? Er könnte schon lange mit dem Gedanken gespielt haben.«

»Er machte in dem Interview nicht den Eindruck, mit seinem Leben abgeschlossen zu haben. Im Gegenteil, er schien guter Dinge und mit der finanziellen Situation äußerst zufrieden zu sein.«

»Ich schicke euch im Laufe des Tages einen ersten Bericht«, warf Miriam Morten ein, die gerade die äußere Leichenschau vornahm, ohne Sandras und Nathalies Disput zu kommentieren.

»Und wir statten der Witwe und der Mutter einen Besuch ab«, beschloss Sandra an Nathalie gewandt, die ihr wortlos die Leiter hinunterfolgte.

Victoria lag auf dem Steg der Jugendherberge in der Badebucht Makrillviken, der »Makrelenbucht«. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel, mehr Urlaubsfeeling war einfach nicht möglich. Etwa so graziös wie ein Walross hatte sie sich neben Theo niedergelassen, der mit durchwachsenem Erfolg nach Krebsen angelte. Björn hastete am Ufer hinter Anna her, die Laufen gelernt hatte und fest entschlossen war, jede Spalte und jede mit grünen Algen bedeckte Wasserpfütze auf den Klippen zu erforschen.

»Krebs, Mama, Krebs!« Aufgeregt deutete Theo auf eine große Strandkrabbe, die im Begriff war, sich die Muschel einzuverleiben, die Björn für ihn aus dem Wasser gefischt und geöffnet hatte.

»Vorsichtig, hol die Schnur ganz vorsichtig ein«, ermahnte Victoria ihren Sohn und ließ für einen Moment ihren eigenen Muschelköder aus den Augen, den sie neben einem Algenbüschel ausgelegt hatte.

»Gut machst du das. Langsam.«

Theo, der seine Angel allein einholen wollte, zog Muschel und Strandkrabbe geschickt aus dem Wasser. Doch als der Meeresbewohner die ungewohnte Luft witterte, ließ er seinen Festschmaus im Stich und floh zurück in sein angestammtes Element.

Victoria, die ahnte, dass die Strandkrabbe bald zum nächsten Muschelgelage übergehen würde, tröstete Theo und beobachtete aus dem Augenwinkel ihre eigene Falle.

Und kurz darauf tappte die Krabbe hinein.

»Jetzt schau mal, Theo.« Ruhig und methodisch zog Victoria an der Schnur. Kurz vor der Wasseroberfläche drosselte sie das Tempo und hob dann Muschel und Krabbe aus dem Wasser. Mit fast vierzig Jahren Krebsangelerfahrung bugsierte sie das Tier geschickt in den Eimer, wo es mit den Scheren klickte und sich gemeinsam mit seinen Artgenossen in seinem vorübergehenden neuen Zuhause zu orientieren versuchte.

»Komm und sieh dir das an!«, rief sie Björn zu, der gerade mit Anna vom Spielplatz kam.

In dem Moment klingelte ihr Handy. Dennis.

»Hallo Schwesterherz! Du hast doch neulich erzählt, dass du einen Jahrbuchartikel über Smögen schreibst. Wovon genau handelt der?«

Victoria wurde ganz warm ums Herz. Zwar hatte ihr Bruder mal wieder sämtliche Höflichkeitsfloskeln beiseitegelassen und sich nicht einmal erkundigt, wie es ihnen ging, aber dass er sich für ihren Jahrbuchartikel interessierte, freute sie.

»Von den Smögener Heringsbaronen«, erwiderte sie und lächelte stolz.

Dennis wartete vor dem Hintereingang der Kaufmannsvilla, als Sandra und Nathalie die Straße hinunterkamen. Diese Seite des Hauses betrachtete man eher selten, für gewöhnlich sah man es vom Kai aus, und von vorn ähnelte die imposante Villa einer weißen Sahnetorte mit Mansardendach und einem ringsum verlaufenden Balkon mit Blick auf die vorgelagerte Insel Kleven und den Leuchtturm von Hållö.

»Nathalie, ich glaube, es ist besser, wenn Sandra und ich zu zweit mit der Familie sprechen«, sagte Dennis, dem es sichtlich unangenehm war, Nathalie auszuschließen.

»Kein Problem«, erwiderte Nathalie. »Ich warte solange hier draußen.«

Sandra seufzte erleichtert und klingelte an der Tür. Kurz darauf öffnete ihnen ein Mann.

»Yes, how can I help you?«, fragte er höflich, aber distanziert.

»Dennis Wilhelmson von der Polizei Kungshamn. Wir möchten mit Mary und Catherine Blake sprechen.« Dennis ignorierte stoisch, dass der Mann Englisch gesprochen hatte.

»They are waiting for you in the living room. Please, do come in.«

Der Mann war ein englischer Butler wie er im Buche stand, seine aristokratische Ausdrucksweise und sein maßgeschneiderter Frack gaben Sandra das Gefühl, in die Kulisse von Downton Abbey katapultiert worden zu sein. Auch die englische Sprache schien der Hausdiener, obwohl des Schwedischen durchaus mächtig, unter keinen Umständen ablegen zu wollen. Seine Arbeitgeber fanden diese Marotte offenkundig amüsant.

Schweigend folgten sie dem Butler ins Haus. Als sie den Salon betraten, steuerte eine ältere Dame in einem Rollstuhl auf sie zu und begrüßte sie.

»Thank you, dear Henry. You can serve the tea now«, sagte sie und schenkte Dennis und Sandra ein blasses Lächeln.

»Nehmen Sie Platz.« Sie deutete mit der Hand auf die Plüschsofas. Die Kaufmannsvilla war dunkler eingerichtet als die schwedischen Fischerhäuser, die Dennis von innen kannte. Statt weiß vertäfelten Holzwänden und hellen Grau- oder Brauntönen herrschten in der Kaufmannsvilla dunkle Brauntöne vor, und im Salon lag ein großer roter Orientteppich mit Ornamentmuster. Schwere Vorhänge vor den Fenstern sperrten das Tageslicht aus. Stattdessen brannte ein Kristallleuchter an der Decke, und gedimmte Wandkandelaber beleuchteten Gemälde in üppigen Goldrahmen, überwiegend Abbildungen von Schiffen auf stürmischer See.

Dennis und Sandra setzten sich, während der Butler raschen Schrittes durch eine Tür verschwand, die vermutlich in die Küche führte.

»Was ist geschehen?«

Sandra hüstelte.

»Ihr Mann wurde tot aufgefunden«, sagte Dennis an Kate Blake gewandt, die ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte.

Er hatte sie bereits am Telefon über den Tod ihres Mannes informiert, doch erst, als er ihr gegenübersaß, schien sie die volle Tragweite der Nachricht zu begreifen.

Unvermittelt wurde eine der Flügeltüren aufgerissen, und ein Mann stürzte herein.

»Setz dich!«, fuhr Mary Blake ihren Enkelsohn scharf an. Stig zufolge war Christian Blake das Mitglied des Blake-Clans, das sich am wenigsten aus den britischen Traditionen der Familie machte – abgesehen von seinem Sohn Hugo, der nicht einmal einen der seit Generationen vererbten Vornamen wie James, William, Harry, Charles oder Christian erhalten hatte, sondern als Einziger einen schwedisch klingenden Vornamen trug.

»Die Polizei möchte uns mitteilen, was unserem lieben Charles zugestoßen ist.«

Dennis räusperte sich. »Ihr Vater wurde erhängt im Lotsenausguck gefunden.«

»Wie kann das sein?«, rief Christian Blake bestürzt.

»Wir halten es für möglich, dass er Selbstmord begangen hat«, sagte Dennis leise. Die Situation war ihm unangenehm.

»Vater hätte sich nie das Leben genommen!«, rief Christian Blake und begann rastlos im Salon auf und ab zu laufen.

»Viele Menschen, die Suizidgedanken haben, können ihre innersten Gefühle gut verbergen«, gab Dennis zu bedenken.

Mary und Kate Blake folgten der Unterhaltung schweigend. Entweder waren sie zu schockiert, um etwas zu sagen, oder sie hatten schlicht nichts hinzuzufügen.

»Natürlich warten wir noch den ärztlichen Befund ab«, schaltete sich mit klarer Stimme Sandra ein, wobei sie absichtlich das Wort »Rechtsmedizin« vermied.

Ihre laute und hohe Tonlage ließ die Blakes zusammenzucken.

»Bevor wir keine Gewissheit haben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn dieses Detail nicht an die Öffentlichkeit gelangt«, sagte Mary Blake.

»Darum wollte ich Sie gerade bitten«, erwiderte Dennis. »Wir geben keine Einzelheiten weiter, bevor wir nicht sicher sind, was passiert ist. Sollte es sich um Suizid handeln, gibt es keinen Grund, die Medien zu informieren, und falls Fremdeinwirkung vorliegt – wofür es derzeit nicht das geringste Anzeichen gibt –, werden wir ebenfalls keine Ermittlungsdetails öffentlich machen.«

Mary Blake seufzte erleichtert und lenkte ihren Rollstuhl zum Tisch, wo der Butler gerade eine Platte mit dampfenden Scones servierte, die direkt aus dem Ofen zu kommen schienen.

»Natürlich!«, rief Kate Blake verzweifelt. »Tod, Krankheiten oder andere Miseren, in dieser Familie wird immer alles hübsch unter den Teppich gekehrt.«

»Aber Mama«, protestierte Christian. »Großmutter möchte doch nur, dass die Leute auf der Insel nicht darüber tratschen.«

»Auf der Insel!«, ereiferte sich seine Mutter mit schriller Stimme. »Euch ist doch wohl klar, dass diese Sache in ganz Bohuslän breitgetreten werden wird. Der Erbe des großen Heringsbarons begeht Selbstmord, kaum dass sein Vater das Zeitliche gesegnet hat. Wie naiv seid ihr eigentlich?«

Mary Blake sah ihre Schwiegertochter, die inzwischen das stolze Alter von siebzig Jahren erreicht hatte, bestürzt an. Sie dachte an den Tag, als Charles sie ihr vorgestellt hatte. Sie hatte sofort gewusst, dass Kate eine gute Partie war. Möglicherweise war sie nicht die Frau, von der Charles geträumt hatte, aber sie war die Frau, die er gebraucht hatte. Nach der Hochzeit hatte Kate die Korrespondenz mit den angesehenen Familien in England geführt und war mehrmals im Jahr in die alte Heimat gereist, um dort Charity-Events wie Pferderennen zu besuchen und an anderen karitativen Veranstaltungen der britischen Upperclass teilzunehmen.

Mary Blake hingegen verließ das Haus inzwischen gar nicht mehr. Sämtliche Besorgungen erledigten Henry oder ihre Haushälterin Stina. Kate war zu ihrem verlängerten Arm in die Außenwelt geworden und erfüllte darüber hinaus auch den Großteil der repräsentativen Pflichten, da Charles, dieser Drückeberger, bei gesellschaftlichen Veranstaltungen grundsätzlich berufliche Verpflichtungen vorgeschützt hatte.

»Aber Mama, es kann uns doch nur recht sein, wenn niemand die näheren Umstände von Vaters Tod erfährt, egal wie er gestorben ist«, machte Christian Blake einen neuen Versuch.

»Und du, Christian, warst derjenige, in den ich all meine Hoffnungen gesetzt habe«, erwiderte seine Mutter, erhob sich seufzend vom Sofa und schritt in ihrem eleganten Kleid, das definitiv nicht von der Stange stammte, aus dem Raum.

Miriam Morten schwieg, als sie zusammen mit ihrem Kollegen Jesper Korp nach Uddevalla zurückfuhr. Links und rechts der Straße erstrahlte die Natur in üppigem Grün.

»Ist irgendwas?«, fragte Jesper, der immer nervös wurde, wenn jemand längere Zeit kein Wort sagte.

»Ich weiß nicht«, antwortete Miriam einsilbig und fuhr mit unverändert hoher Geschwindigkeit weiter.

»Du fährst ganz schön schnell.«

»Ja.«

Jesper hatte seine langen Beine nur mühsam im Fußraum des Beifahrersitzes verstauen können, trotzdem stieß er mit dem Kopf beinahe an die Decke. »Ich hocke in diesem Auto wie eine Sardine in der Büchse. Wenn du mich fragst, ist es als Dienstwagen nicht unbedingt geeignet.«

»Ich frage dich aber nicht«, schnaubte Miriam. Jesper war auf dem Weg, ein ausgezeichneter Rechtsmediziner und Obduzent zu werden, aber seine Komfortansprüche machten sie wahnsinnig. Gut, mit ihren eins dreiundsechzig hatte sie keine Ahnung, wie Jesper sich mit einer Körperlänge von zwei Meter sechs fühlte, aber sein Genörgel war völlig unangemessen.

»Was hältst du von einer Mittagspause?«, schlug er jetzt vor.

»Wir fahren zu mir«, erwiderte Miriam.

»Bezweifelst du, dass es Selbstmord war?«, fragte Jesper, wohl wissend, dass er ein Mittagessen im Haus seiner Chefin unmöglich ablehnen konnte.

»Wenn wir da sind, zeige ich dir etwas.«

Nathalie hatte ihre rote Lederjacke ausgezogen und saß im Madenvägen vor dem kleinsten Haus von ganz Smögen in der Sonne.

Geduldig wartete sie auf ihre Kollegen, die, als sie endlich auf die Straße traten, wie blinde Maulwürfe ins Sonnenlicht blinzelten.

»Wie ist es gelaufen?« Nathalie gesellte sich zu ihnen.

»Ich habe Hunger«, erwiderte Sandra und blickte sich um.

»So gut, wie es unter diesen Umständen zu erwarten war, denke ich«, antwortete Dennis und steuerte auf das Café Skäret zu, wo man um diese Uhrzeit schon einen Krabbensalat bekam. Es war erst elf, aber wenn Sandra Hunger hatte, war es am besten, ihr entgegenzukommen, und außerdem spürte auch er, dass sein Magen knurrte.

Sie setzten sich mit ihren Salaten an einen Tisch. Noch war die schlimmste Touristenschwemme nicht über Smögen hereingebrochen, doch auf dem Kai herrschte bereits lebhaftes Gewimmel.

»Das war wirklich ein merkwürdiger Ort«, sagte Dennis.

»Was meinst du?«

»Die Kaufmannsvilla. Ich hatte das Gefühl, einen englischen Landsitz im Jahr 1900 zu betreten. Ich war zum ersten Mal in dem Haus, und ich glaube, dass die Blakes nicht besonders oft Besuch empfangen. Vielleicht haben sie hin und wieder Gäste aus England, aber ich bezweifle, dass je ein Einheimischer seinen Fuß in die Villa gesetzt hat, von ein paar Handwerkern einmal abgesehen.«

»Nur Ingrid«, warf Nathalie ein.

»Wer?«, hakte Sandra skeptisch nach.

»Die Haushälterin, die von 1940 bis in die Neunzigerjahre für die Blakes gearbeitet hat. Ich habe vorhin schon mal ein bisschen recherchiert.«

»Und wen beschäftigen sie jetzt?«, fragte Dennis. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Mary oder Kate Blake eigenhändig den Kochlöffel schwingen.«

»Stina, Ingrids Tochter. Über den Vater weiß man nichts, aber man kann ja spekulieren.«

»Vor Spekulationen sollten wir uns hüten, jedenfalls bei der Arbeit«, bemerkte Sandra.

»Aber darüber zu reden, schadet doch nichts«, verteidigte Dennis ihren Neuzugang.

Sandra blickte seufzend aus dem Fenster. In den nächsten Wochen eine Urlaubsvertretung am Hals zu haben, passte ihr gar nicht. Zugegeben, Nathalie war eine erfahrene Kollegin, aber das gab ihr nicht das Recht, überall die Expertin herauszukehren. Vor allem nicht in Sotenäs.

»Stina wurde 1961 geboren, da war Ingrid schon einundvierzig, für damalige Verhältnisse ein recht hohes Alter für eine Erstgebärende«, referierte Nathalie.

»Wann wurde Charles Blake eigentlich geboren?«

»1942.«

»Als Vater käme jeder Mann der Insel infrage.«

»Er könnte genauso gut vom Festland kommen«, fuhr Sandra dazwischen.

»Wie auch immer, wir haben unseren Auftrag ausgeführt und keinen Grund, die Villa noch einmal zu betreten.«

»Es sei denn, meine Theorie erweist sich als richtig«, wandte Nathalie ein, die keine Angst zu haben schien, sich einen weiteren bissigen Kommentar von Sandra einzuhandeln.

»Und wie lautet deine Theorie?«, erkundigte sich Dennis.

»Dass wir es nicht mit Selbstmord, sondern mit Mord zu tun haben.«

»Momentan spricht alles dafür, dass Charles Blake sich erhängt hat«, widersprach Sandra.

»Aber wo waren dann die Leiter oder der Stuhl? Er hätte es doch wohl kaum geschafft, sich eigenhändig an der Decke zu erhängen, ohne auf irgendeinen Gegenstand zu steigen.«

»Vielleicht hat jemand die Leiter oder den Stuhl weggeschafft?«, erwiderte Dennis.

»Wer hätte das tun sollen? Die beiden Männer vom Heimatverein waren es jedenfalls nicht.«

Sandra kam ins Grübeln. Nathalie hatte recht. Wie hätte Charles Blake sein Vorhaben durchführen sollen, ohne vorher auf ein Hilfsmittel zu klettern?

Und nach allem, was sie bisher wussten, schien Charles Blake mit beiden Beinen fest im Leben gestanden zu haben. Ihn hatten keine finanziellen Sorgen belastet, und wenn man Walters Aussage glauben durfte, war ihm auch die Aufmerksamkeit der Damenwelt nach wie vor sicher gewesen. Wenn Nathalie mit ihrer Theorie recht hatte, veränderte das die Lage drastisch.

»Ich rufe Miriam an«, beschloss sie.

»Und ich die Kriminaltechnik«, sagte Dennis.

Sie standen auf, um in entgegengesetzten Ecken des Restaurants zu telefonieren. Als Nathalie mit der letzten Garnele das Dressing von ihrem Teller wischte, kamen sie zurück.

»Fang du an«, sagte Dennis, nachdem sie sich wieder an den Tisch gesetzt hatten. »Was hat Miriam gesagt?«

»Sie hat in Charles Blakes Leiche Spuren eines Beruhigungsmittels gefunden. Und was hast du von der Kriminaltechnik erfahren?«

»Dass oben im Lotsenausguck keine Leiter oder Ähnliches stand, als Charles Blakes Leiche entdeckt wurde. Im ganzen Gebäude gab es lediglich einen Klapphocker, aber der war in einem Schrank verstaut.«

»Was schließt ihr daraus?« Nathalie schürzte die Lippen.

»Mord«, sagte Dennis.

»Mord«, bestätigte Sandra.

Kungshamn, 1. Juli 1898

Die Insel flimmerte wie eine Fata Morgana auf der Wasseroberfläche. War er endlich am Ziel? Der Junge stolperte in Richtung Ufer. Seine Hose starrte vor Dreck und hatte Löcher an den Knien, der Wollpullover war ihm zu groß. Damit du reinwächst, hatte seine Mutter gesagt. Er zog den Zettel aus der Hosentasche, den er seit über zwei Jahren bei sich trug. Dieser schwedische Fischer Samuelsson, der als Schlafgänger auf ihrer Küchenbank genächtigt hatte, war so nett zu ihm gewesen. In ihrem Küchenfenster hatte ein schmuddeliges Schild mit der Aufschrift »For rent« gehangen, und der Schwede hatte eines Nachmittags an ihre Tür geklopft. Samuelsson war nach London gekommen, um Kontakte zu englischen Kaufleuten zu knüpfen, die Salzheringe kaufen wollten, während sein Schiff in Bristol vor Anker lag.

Die Zeiten seien günstig, hatte er in gebrochenem Englisch, dem er immer wieder schwedische Wörter beimischte, erzählt. Die Heringsschwärme an der Küste vor Bohuslän seien so riesig, dass man die Fische bloß mit dem Kescher aus dem Meer zu heben brauche. Im Hafen von Smögen und vor der Insel brodele das Wasser nur so vor Heringen. So hatte Samuelsson es beschrieben. Komm nach Schweden, wenn du willst, hatte er ihn zum Abschied aufgefordert und drei Wörter auf einen Zettel geschrieben: Smögen, Samuelsson, Stolpegatan. Untereinander angeordnet. Damals war er neun Jahre alt gewesen und zu jung, um seine arme Mutter zu verlassen, die sich tagtäglich abrackerte, um ihn und seine Geschwister zu ernähren. Wo sein Vater steckte, hatte er nie erfahren.

Draußen auf dem Wasser entdeckte er einen Mann in einem Ruderboot, der von Smögen kommend aufs Festland zuhielt. Ob dies die letzte Etappe seiner Reise sein sollte? Smögen war ihm magisch erschienen, als Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Die Überfahrt vom englischen Hull nach Göteborg war eine einzige Strapaze gewesen. Er hatte seine Mutter vermisst. Seit er denken konnte, hatte sie mit krummem Rücken in der Küche gestanden und ihn umsorgt, ihm Liebe, Essen und Wärme gegeben. Aber er war jetzt zwölf Jahre alt, und das Leben, das ihm seine Mutter geboten hatte, würde nicht das Leben sein, das er eines Tages seinen Kindern bieten wollte.

»Can I go with you?«, rief er dem Mann im Ruderboot zu. Dass dieser sich täglich in die Riemen legte, war nicht zu übersehen. Sein Oberkörper war muskulös, seine Arme dick wie Baumstämme und sein Nacken breit wie der eines Stiers. Als Schutz vor der Sonne trug er einen breitkrempigen Hut.

Der Mann gab keine Antwort, hielt jedoch zielstrebig auf den Steg zu. Der Junge streckte ihm eine englische Münze entgegen und suchte im Gesicht des Mannes nach einer Reaktion, die ihm bestätigte, dass dieser sein Zahlungsmittel akzeptierte. Er hievte seinen Seesack ins Boot, den seine Mutter aus altem Wachstuch genäht hatte, und sprang hinterher. Seit er klein war, hatte er an der Themse die Matrosen mit ihren Seesäcken, Wollpullovern und Matrosenmützen bewundert, und jetzt sah er selbst aus wie einer von ihnen. Vielleicht war das der Grund, weshalb der Ruderer ihm einen gewissen Respekt gezollt hatte.

James schwang sich seinen Seesack über die Schulter. Bald würde er am Kai von Smögen entlangschlendern, aber zuerst wollte er zum Marktplatz, um sich etwas zu essen zu kaufen und sich zu erkundigen, wo er den Fischer Samuelsson fand.

2

Das Fenster zum Kai stand offen. Für Angelika und Christian, die das oberste Geschoss der Kaufmannsvilla bewohnten, war das nie versiegende Gemurmel der vorbeischlendernden Touristen ein angenehmes Hintergrundgeräusch. Für Mary und Kate, deren Privaträume im ersten Stock lagen, hingegen stellte es ein ständiges Ärgernis dar. Aber die beiden setzten niemals einen Fuß in die oberste Etage. Frühstück, Mittagessen und der Nachmittagstee wurden im großen Esszimmer im Erdgeschoss serviert. Dort befand sich auch die als Rauchersalon bezeichnete Bibliothek, wo sich zu gegebenen Anlässen – wenn es sich nicht vermeiden ließ –, die ganze Familie zu versammeln pflegte. Während Christian verpflichtet war, an den festen Familienmahlzeiten teilzunehmen, zog Angelika es vor, Frühstück und Mittagessen eine halbe Stunde nach den anderen einzunehmen. Bei dem Gedanken, was ihre Schwiegermutter und Mary sagen würden, wenn sie wüssten, dass Christian die Jugendstiltapeten auf ihr Geheiß hin weiß überstrichen hatte oder dass sich auf der Récamiere bunte Kissen aus allen Ecken der Welt türmten, lachte Angelika leise auf.

»Kate war noch nie die hellste Kerze auf der Torte«, bemerkte sie und blies ihren Zigarettenrauch aus dem Fenster.

»Sprich nicht so von meiner Mutter«, entgegnete Christian scharf und verzog angesichts der giftigen Schwaden, die seine Frau produzierte, angewidert das Gesicht.

»Rührend, wie du sie verteidigst«, erwiderte Angelika verächtlich. »Bis in den Tod, scheint mir.«

»Wir sind die Erben«, sagte Christian. »Reiß dich zusammen.«

»Sei dir da nicht so sicher. Deine Mutter wird uns noch überleben. Wart’s nur ab. Die Blake-Männer führen nur zählebige Frauen zum Altar. Sieh dir deine Großmutter an. Sechsundneunzig Jahre.« Angelika lachte bitter. »Wenn wir beide achtzig sind, wird sie vielleicht den Anstand besitzen, das Zeitliche zu segnen. Gott, wie ich diesen Tag herbeisehne!«

»Du bist geschmacklos!«, rief Christian. »Wenn Hugo wüsste, wie du über seine Großmutter redest.«

»Immerhin liebt Hugo seine Mutter über alles.« Angelika lächelte blass und schnippte achtlos ihre Zigarette aus dem Fenster.

»Die Liebe seiner Kinder muss man sich verdienen, jeden Tag aufs Neue«, gab Christian zu bedenken.

»Die Liebe seiner Ehefrau auch«, erwiderte Angelika und öffnete ihren weißen Seidenmorgenrock. »Komm!«

Das Manuskript lag vor ihr auf dem Tisch. Überarbeitung und Korrekturdurchgänge standen noch aus, aber das Gefühl war da: Sie hatte ihr erstes Manuskript vollendet. Im August würde ihre Elternzeit enden, und sie würde wieder in ihren alten Job zurückkehren. Dann war sie mit Theo und Anna zweieinhalb Jahre zu Hause geblieben, doch davon hatte Theo seine Mutter nur dreizehn Monate für sich allein gehabt. Victoria merkte, dass die beiden Geschwister sich bereits jetzt gern miteinander beschäftigten. Um andere Kinder zum Spielen einzuladen, war es noch ein bisschen zu früh, aber sie ging mit den beiden wieder regelmäßig zur Krabbelgruppe, wo die Kinder auf dem Boden herumturnten, während die Eltern, vor allem Mütter, Kaffee tranken.

Seit dem Herbst hatte sie sich jeden Tag eine Stunde fürs Schreiben abgeknapst, und ihr Buch war auf stolze dreihundertfünfzig Seiten angewachsen. Es handelte von Sotenäs und den Menschen, die seit Generationen an der Küste lebten. Genau wie es immer ihr Plan gewesen war, hatte sie die historische Kulisse in einen Krimiplot eingebettet, in dem natürlich auch Mord und Totschlag nicht zu kurz kamen. Die historischen Kapitel würden leicht gekürzt im Jahrbuch des Smögener Heimatvereins erscheinen.

Eva, die als Schwedischlehrerin einen guten Blick für Sprache und Stil besaß, hatte versprochen, das Manuskript Korrektur zu lesen, und saß schon mit gezücktem Rotstift in den Startlöchern. Victoria wollte nur noch einen letzten Durchgang machen, bevor sie es ihr gab. Anschließend würde Dennis ihr Werk aus Polizeisicht unter die Lupe nehmen, und vor dessen Feedback hatte sie mehr Muffensausen. Andererseits war es ja genau das, was sie wollte: Ihr Buch sollte ernst genommen und dementsprechend behandelt werden.

Kurze Zeit später stellte Victoria den mit Erdbeerscheiben, Sahne und Puderzucker dekorierten Schokoladenkuchen auf den Tisch, direkt neben das säuberlich zusammengelegte Manuskript. Sie hatte die Kaffeetafel mit dem schönen Geschirr gedeckt, das sie von Björns Mutter geerbt hatten. Auf den Tellern lagen rosa Servietten, eine Kerze brannte, und in der Kugelvase blühte ein Strauß aus Rosen und Ranunkeln. Ergänzt durch das Panoramafenster, das eine spektakuläre Aussicht auf die Hafeneinfahrt von Smögen bot, hätte dieser Teil des Wohnzimmers einer Ausgabe von Schöner Wohnen entsprungen sein können. Drehte man jedoch den Kopf in die andere Richtung, fiel der Blick auf einen mit Legosteinen, Holzeisenbahnen und unzähligen anderen Spielsachen übersäten Teppich. Anna und Theo spielten zur Abwechslung einmal friedlich nebeneinander auf dem Boden, ohne sich um das Spielzeug zu streiten.

»Wie schön ihr Vollzeitmütter es doch habt!«, scherzte Dennis, der das Wohnzimmer betrat.

Victoria umarmte ihren Bruder und knuffte ihn dabei sanft in die Seite.